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Sarah Bosse, Jahrgang 1966, wuchs im Münsterland auf und studierte in Münster Germanistik und Nordistik. Seit ihrem Ex amen 1993 arbeitet sie als freie Kinder- und Jugendbuch-Autorin sowie als Übersetzerin für schwedische Jugendliteratur. Mit der Übersetzung „Rollenspiele“ (Autor: Hans Olsson) war sie 1997 für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Sarah Bosse veröffentlichte bisher ca. 70 Bücher. Neben vielen Erstleser-, Pferde- und Abenteuerbüchern schrieb sie zahlreiche Beiträge in Anthologien.
Sarah Bosse wohnt mit ihrem Mann und ihrem erwachsenen Sohn bei Münster.
Ein Auszug aus dem Roman “Sommergeschichten vom Ponyhof Mühlental“ von Sarah Bosse:
Anna freut sich riesig auf die Sommerferien und den Wanderritt, den sie schon lange mit Luisa geplant hat: Drei Tage darf sie nur mit ihrer besten Freundin und den süßen Ponys Zorro und Fee unterwegs sein. Besser geht’s nicht! Die Mädchen stürzen sich begeistert ins Abenteuer. Aber damit, was sie auf der Tour tatsächlich erwartet, hätten die beiden nie im Leben gerechnet ...
Mit »Ponyhof Mühlental« werden die Ferien garantiert nicht langweilig! Drei Geschichten aus der beliebten Serie erzählen vom Leben auf einem richtigen Ponyhof und vermitteln wichtiges Fachwissen durch interessante Pferde-Infos.
Schweiß rann über das rußverschmierte Gesicht der jungen Frau. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Suchend blickte sie sich um und strich sich fahrig eine klebrige Haarsträhne aus der Stirn.
Dann fiel ihr Blick auf einen Mann, der auf sie zugeeilt kam, während hinter ihm die orangefarbenen Flammen emporzüngelten. Der Mann breitete die Arme aus. Sie fiel ihm um den Hals.
„Gott sei Dank, du bist unverletzt!“, rief die junge Frau.
„Jetzt wird alles gut“, versprach der Mann zuversichtlich und strich ihr über den Kopf.
Dann, mit einem Mal, stieß die Frau den Mann von sich. „Wo ist mein Vater?“
Der Mann packte die Frau bei den Schultern und hielt sie auf Armeslänge von sich. „Dein Vater? Aber ich dachte, er sei bei dir!“
Beide fuhren herum und starrten in die Flammen.
Dann ertönte die Schlussmelodie und der Text des Abspanns flimmerte über die Mattscheibe.
Anna griff nach der Fernbedienung und schaltete das Gerät ab. „Ist ja klar, wenn es spannend wird, hört die Folge auf. Bäh.“
Luisa zuckte die Schultern. „Logisch. Die wollen doch, dass man nächste Woche wieder einschaltet.“ Sie hatte es sich im Schneidersitz auf dem Sofa bequem gemacht. Anna hockte mit angezogenen Beinen neben ihr.
„Was glaubst du, ist der Vater in den Flammen ums Leben gekommen?“, fragte Anna und streichelte dem schwarzen Kater Fridolin über das glänzende Fell. Der hatte sich verbotenerweise wieder einmal ins Wohnzimmer geschlichen und sich zu Anna aufs Sofa gekuschelt.
Luisa schüttelte heftig den Kopf und nahm einen Schluck Früchtetee, den Anna für sie beide gekocht hatte. „Nein, ich weiß zufällig, dass er überlebt, aber schwer verletzt wird. Deshalb stellt sich die Frage, wer den Gutshof weiterführen wird. Höchst dramatisch, sag ich dir.“
Anna kicherte. „Dass du schon immer in die Fernsehzeitung von nächster Woche schauen musst!“
Luisa stand auf. „Ich mache mal das Fenster zu, ja? Mir wird langsam ein bisschen kühl.“
Die Tage wurden inzwischen deutlich kürzer, und sobald die Sonne hinter den großen Pappeln, die die hintere Weide begrenzten, verschwunden war, wurde es richtig kalt.
Von draußen drangen gedämpft Gitarrenklänge herein. Robert, Annas großer Bruder, hatte sich mal wieder in seinen Probenraum zurückgezogen.
Adelheid, Luisas Mutter, die auf dem Ponyhof in einem alten Speicherhaus eine Tierarztpraxis führte, und Annas Mutter Isabel, die den Ponyhof zusammen mit Annas Vater Rolf betrieb, waren zusammen ausgegangen. Es war Wochen ende, daher durfte Luisa bei Anna übernachten.
Rolf saß wie so oft oben in der alten Uppkammer, wo er sich sein Büro eingerichtet hatte.
Den beiden Freundinnen war das nur recht, denn so bekam er nicht mit, worüber sie redeten und wann sie ins Bett gingen. Sie würden noch lange nicht schlafen können, denn es gab immer so viel zu besprechen. Auch wenn sie sich jeden Tag sahen.
Luisa schloss die Hand um den Fenstergriff und stutzte. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie angestrengt in die Dämmerung. Doch das Wohnzimmerlicht reflektierte in der Fensterscheibe, sodass sie draußen kaum etwas erkennen konnte.
„Ist was?“, fragte Anna.
Luisa schüttelte den Kopf. „Weiß nicht. Kam mir gerade so vor, als ob auf dem Hof jemand herumschleichen würde. Aber ich habe mich wohl getäuscht.“
Anna sprang aus dem Sessel. „Sicher?“
Luisa winkte ab. „Mach mal das Licht aus, sonst kann man nichts sehen.“
Im Dunkeln standen die beiden Freundinnen am Fenster und schauten hinaus auf den Hof, dessen Pflastersteine im fahlen Mondlicht glänzten. Alles war ruhig.
Als Anna den Blick über die Hofgebäude schweifen ließ, kamen ihr wieder die Bilder der Fernsehserie in den Sinn. Wie furchtbar, wenn ein gesamter Gutshof einem Großfeuer zum Opfer fiel und dabei sogar Tiere in ihren Ställen verendeten!
„Ich sage ja, ich habe mich getäuscht“, murmelte Luisa und knipste die Stehlampe wieder an.
Anna zupfte Luisa am Ärmel. „Komm, sagen wir den Ponys gute Nacht.“
Als sie an Roberts Probenraum vorbeikamen, zeigte Luisa mit dem Daumen über die Schulter. „Das sind ja ganz neue Klänge.“
Anna verdrehte die Augen. „Robert hat sich Skippys Bassgitarre ausgeliehen. Aber ich finde, Bass ohne alles klingt wie Spaghetti ohne Soße.“
Luisa kicherte. „Stimmt. Jetzt, wo du es sagst. Skippy, ist das der mit dem Pferdeschwanz?“
Anna nickte. „Ziemlich verrückter Kerl. Ganz nett, was mich aber total an dem stört: Er raucht.“
Luisa schüttelte sich, dann wanderte ihr Blick nach oben. In der Uppkammer brannte noch immer Licht. „Dein Dad kann einem leidtun“, sagte sie. „Dass er so oft noch bis spätabends im Büro hocken muss!“
Anna seufzte. „Stimmt schon. Aber manchmal, glaube ich, sitzt er da länger, als er müsste. Dann kann er in Ruhe seinen geliebten Jazz-Sender hören und die Büroarbeit macht er nebenbei.“
Luisa zwinkerte ihrer Freundin zu und schob die Stalltür auf. „Na, wenn das so ist, dann wollen wir mal nicht zu viel Mitleid mit ihm haben. Auf Väter sollte man ohnehin nicht allzu große Rücksicht nehmen.“
Anna schluckte. Sie fand es komisch, dass Luisa etwas Derartiges sagte. Soweit Anna wusste, hatte Luisa ihren Vater nie kennengelernt. Aber sie mochte ihre Freundin nicht darauf ansprechen. Luisa hatte auch noch nie von sich aus dieses Thema angeschnitten.
Schweigend schlich Anna hinter Luisa in den Stall und knipste nur die kleine Stalllampe an. Die Ponys waren schon zur Ruhe gekommen und sollten nicht zu sehr gestört werden. Gedämpftes Schnauben und Hufescharren drang ihnen entgegen.
Anna seufzte. Sie liebte es, spät am Abend in den Stall zu gehen, zu ihrer Stute Fee oder zu Mücke, dem Voltigierpferd. Oder aber zu Rose, dem Haflinger, der hier auf dem Ponyhof im Mühlental sein Gnadenbrot bekam und von Luisa versorgt wurde. Ihre Freundin kümmerte sich auch um den Connemara-Schimmel Zorro.
Fee reckte Anna den Kopf entgegen und begrüßte sie mit einem sanften Schnauben. Im fahlen Licht der Stalllampe wirkte ihr Fell viel dunkler als sonst. Anna ließ die Hand über das samtweiche Maul der Stute gleiten. „Gute Nacht, du Schöne“, flüsterte sie.
Luisa schlenderte durch die Stallgasse. Schaute links und rechts in die Boxen, in denen die Pferde sich zur Ruhe begeben hatten. Nur die Shetties waren noch draußen im Auslauf, wo sie über Nacht bleiben sollten.
In Zorros Box raschelte es. Mäuse, dachte Luisa und warf einen Blick über die Boxenwand. An Zorros Bein war noch immer eine große Narbe zu sehen, die von einem Unfall im Sommer herrührte. Doch alles war gut verheilt, und vor allem hatte der Schimmel dieses schreckliche Ereignis inzwischen vergessen. Er war wieder ganz der Alte. Das war das Wichtigste. „Wir sollten Fridolin nachts in den Stall schicken“, zischte Luisa. „Hier kann er sich nützlich machen, anstatt faul im Sessel zu liegen. Ist dir schon mal aufgefallen, dass der Gute immer träger wird?“ Da es abends frischer wurde, zog es die kleinen Nager immer häufiger in den Stall. Plötzlich stutzte Luisa. Sie meinte, die Umrisse eines größeren Tieres im Einstreu gesehen zu haben. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. „Ih“, machte sie. „Anna, ich glaube, hier läuft eine riesige Ratte rum!“
Doch plötzlich begann die Ratte zu bellen und eine zweite Silhouette löste sich aus dem Schatten, um nach dem Tier zu greifen.
„Das gibt’s doch gar nicht!“, rief Anna, die jetzt neben Luisa über die Boxenwand starrte. „Jan, was machst du denn hier drin? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
Der Nachbarjunge vermied es, die beiden Freundinnen anzusehen, und drückte sich seinen Jack-Russel-Terrier Benni an die Brust. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich wollte nur den Ponys gute Nacht sagen“, flüsterte er kaum hörbar.
Luisa stemmte die Fäuste in die Seiten. „Müsstest du denn nicht schon längst zu Hause sein? Deine Eltern machen sich doch bestimmt Sorgen.“
Jan zuckte die Schultern und streckte sein dünnes Ärmchen durch die Gitterstäbe, um die Boxentür zu öffnen. Dabei hatte er größte Mühe, Benni festzuhalten. Der kleine Hund wand sich hin und her, er wollte Anna und Luisa begrüßen. Schnell streckte Anna die Hand aus, um dem Terrier den Kopf zu kraulen, bevor er Jan vom Arm sprang und sich womöglich verletzte. Als Benni sich beruhigt hatte, setzte Jan ihn schweigend auf dem Boden ab.
Anna wunderte sich über den kleinen Nachbarjungen. Ihr selbst wäre an seiner Stelle diese Situation dermaßen unangenehm gewesen, dass sie schnell das Weite gesucht hätte. Aber Jan machte überhaupt keine Anstalten, den Heimweg anzutreten. Irgendwas an seinem Verhalten kam ihr merkwürdig vor. Vielleicht hatte er Angst, im Dunkeln allein nach Hause zu gehen, und mochte es nicht zugeben.
„Sollen wir dich zu eurem Hof bringen?“, fragte sie. „Ich meine, es ist inzwischen stockdunkel.“
Luisa zeigte mit ausgestrecktem Arm Richtung Sattelkammer. „Ich könnte eine Taschenlampe holen.“
Aber Jan schüttelte entschieden den Kopf. „Den Weg finde ich ganz allein.“
Seine Stimme klang trotzig. So, als habe ihn Annas Vorschlag gekränkt.
Diese seufzte. „Na dann.“ Entschlossenen Schrittes ging sie durch die Stallgasse und schob die Tür auf. Mit einem Kopfnicken gab sie Jan zu verstehen, dass er gehen musste. „Die Ponys brauchen jetzt ihren Schlaf.“
Jan schlüpfte, ohne ein Wort zu sagen, durch die Tür, während ihm Benni um die Beine hüpfte, als hätte er Sprungfedern in den Gelenken. Dann verschwanden beide um die nächste Hausecke.
Luisa knipste das Stalllicht aus und schob den Riegel vor die Tür. „Das soll einer verstehen!“
Anna zuckte die Schultern. „Wer weiß, vielleicht hat er was ausgefressen und wollte deshalb nicht nach Hause.“
Die beiden Freundinnen liefen dem Nachbarjungen ein Stück hinterher und spähten um die Hausecke. Sie wollten sicher sein, dass er auch wirklich den Heimweg angetreten hatte. Doch die Dunkelheit hatte Jan und den kleinen Hund längst verschluckt.
„Es ist nicht zu fassen!“ Isabel tippte mit dem Zeigefinger auf einen Artikel in der Zeitung. „Da haben sie in der Kreisstadt einer Mutter die Kinder weggenommen, einen Jungen und ein Mädchen, zwei und fünf Jahre alt. Beide waren vollkommen unterernährt!“
Anna und Luisa, die mit Rolf und Isabel am Frühstückstisch saßen, wurden hellhörig.
„Die armen Kleinen!“, rief Anna.
„Wie kann eine Mutter nur so etwas tun?“, fragte Luisa mit empörter Stimme.
Rolf, der einen anderen Teil der Zeitung in der Hand hielt, ließ diesen sinken und sah die beiden Mädchen ernst an. „Vermutlich war sie vollkommen überfordert. So einfach ist das.“
„Ich bitte dich, Rolf!“, sagte Isabel. „Wir leben doch nicht in einer Großstadt. Irgendein Nachbar muss doch was gemerkt haben.“
Rolf setzte ein spöttisches Grinsen auf. „Wer es glaubt, wird selig! Wie viele Menschen laufen mit Scheuklappen durch die Gegend. Bloß nicht einmischen, lautet die Devise! Das hört man doch oft genug.“
Anna ließ den Blick über den reich gedeckten Tisch wandern. Darauf standen Cornflakes, Müsli, frische Milch, Marmelade, Käse und Aufschnitt. Jeder konnte das nehmen, worauf er Hunger hatte. Und das alles war für sie eine Selbstverständlichkeit!
Aber noch viel wichtiger war, dass ihre Eltern immer für Anna und Robert da waren, wenn sie sie brauchten.
Was für eine gruselige Vorstellung, wenn nicht mal genug zu essen da wäre!, dachte Anna und fühlte, wie ihr eine Gänsehaut die Arme heraufkroch.
Plötzlich spürte sie einen Ellenbogen zwischen den Rippen. Mit einer Kopfbewegung forderte Luisa sie auf aus dem Fenster zu schauen.
Skippy kam mit einem klapprigen Hollandrad auf den Hof gefahren. Seine Gitarrentasche hatte er sich auf den Rücken geschnallt. Er trug eine Art Kaftan und hatte sich wie immer die langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Anna warf einen Blick auf die Küchenuhr und fragte verdutzt: „Ist Robert etwa immer noch im Probenraum?“
Isabel grinste. „Na ja, sein Bett war benutzt. Irgendwann muss er geschlafen haben. Aber gesehen habe ich ihn heute noch nicht.“
Rolf lugte über den Rand seiner Zeitung. „Wie heißt dieser Skippy eigentlich richtig?“
Anna verzog den Mund. „Ich glaube Jost oder so.“
Rolf seufzte. „Na, dann doch lieber Skippy! Die beiden haben übrigens vor eine Band zu gründen. Jetzt suchen sie einen Schlagzeuger.“
Anna verdrehte die Augen. „Eine Band? Wollen die etwa hier proben? Und wer singt? Hoffentlich nicht Robert! Dann würde noch bei Schulze Eistrups Kühen die Milch im Euter sauer.“
Luisa hörte gar nicht auf das, was ihre beste Freundin sagte. Sie fand den Gedanken superspannend!
Als Anna und Luisa wenig später das Haus verließen, um Fee und Zorro für einen kleinen Ausritt fertig zu machen, drehte Luisa plötzlich bei und steuerte auf den alten Hühnerstall zu. „Komm, lass uns mal gucken, was die Jungs da treiben!“
Anna verzog den Mund. „Ich dachte, wir machen einen Ausritt.“
„Wo ist das Problem?“, antwortete Luisa. „Heute ist Samstag, wir haben alle Zeit der Welt. Ob wir nun jetzt ausreiten oder erst in einer halben Stunde, ist doch wurstegal.“
„Die Jungs wollen uns bestimmt nicht dabeihaben“, wandte Anna ein. Sie hatte für die Musikbesessenheit ihres Bruders wenig übrig.
Luisa verdrehte die Augen. „Na, das werden wir ja sehen.“ Anna zeigte mit dem Daumen über die Schulter. „Na dann, ich kümmere mich schon mal um die Ponys.“
Luisa stieß hörbar die Luft aus. „Ist das jetzt irgendwie ein Problem für dich, oder was?“
Anna hob beide Arme zu einer abwehrenden Geste. „Schon gut.“ Sie hatte keine Lust, sich mit Luisa zu streiten. Auch wenn sie sich über deren plötzliches Interesse an Roberts Hobby ärgerte.
Mit dem Fuß schob sie die Tür zur Sattelkammer auf, um die Putzutensilien von Fee und Zorro zu holen. Mit einem Eimer in jeder Hand schlenderte sie durch die Stallgasse, als ihr plötzlich etwas vor die Füße sprang. „Benni!“, rief sie erschrocken. Das Herz pochte ihr bis zum Hals. „Verdammt, was machst du denn im Stall?“ Anna blickte sich suchend um. Wenn der kleine Hund hier war, dann war sein Herrchen sicher nicht weit. Und richtig, in der leeren Box der Shetties entdeckte sie einen dunkelblonden Haarschopf. „Kannst ruhig rauskommen, Jan. Ich habe dich gesehen. Was machst du denn schon wieder hier?“ Als sie seine strubbeligen Haare sah, in denen kleine Strohspelze hingen, ging Anna ein Licht auf. Jan hatte im Stall übernachtet. Aber sie und Luisa hatten doch gesehen, dass er nach Hause gegangen war!
Jan tat so, als habe er Annas Frage nicht gehört. „Kann ich dir helfen? Wo ist denn Luisa, ihr reitet doch samstags immer zusammen aus!“
Anna stutzte einen Moment. Der kleine Knirps schien ja bestens Bescheid zu wissen! Aber wenn er schon mal da war, dann konnte er auch mit anpacken. Sie reichte ihm einen Führstrick. „Klar, holst du Zorro aus der Box? Kannst du das?“
„Logisch!“, rief Jan, riss Anna den Strick aus der Hand und verschwand in der Box des Schimmels.
Als Luisa von ihrem Abstecher in den Probenraum in den Stall kam, hatte Jan das Pony bereits geputzt. Um besser an Zorros Rücken zu gelangen, hatte er sich sehr zu Annas Vergnügen einen kleinen Schemel aus der Sattelkammer geholt. Er hatte offenbar immer gut zugeschaut, denn er erledigte seine Arbeit, als habe er sie schon tausendmal gemacht.
„Nanu, das ist ja ein Service!“, staunte Luisa. „Jetzt brauche ich Zorro ja nur noch aufzuzäumen und zu satteln.“
Jan nickte ein wenig verlegen.
Adelheids Händedruck war kräftig. „Hallo, Anna. Na, bist du auch so aufgeregt, weil du uns verrückte Hühner jetzt als Nachbarn kriegst?“
Anna fühlte sich ertappt und lächelte verlegen. „Iwo.“
„Das klang übrigens ziemlich gruselig, was Robert und Skippy da geklimpert haben“, meinte Luisa grinsend.
Anna warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Sag ich doch.“
Luisa zuckte die Schultern. „Was nicht ist, kann ja noch werden. Sie sind erst am Anfang. Und bei dem Ehrgeiz, den Robert an den Tag legt … Der muss ja heute schon in aller Frühe in den Probenraum gegangen sein.“
„Um halb sieben“, sagte Jan ganz beiläufig.
Anna schluckte und suchte Luisas Blick. Die sah genauso erstaunt aus. War Jan tatsächlich über Nacht auf dem Mühlental-Hof gewesen?
„Danke für deine Hilfe, Jan!“, rief Luisa, als sie sich kurz darauf in den Sattel schwang.
Dann klapperten die Hufe über das Pflaster und bald darauf trabten die Ponys fröhlich den Feldweg entlang durch das Mühlental.
Die Sonne strahlte vom Himmel, sodass sie keine Jacken anzuziehen brauchten. Nur ihre praktische Weste hatte Anna sich über das Sweatshirt gezogen. In der hatte sie immer allerlei Sachen verstaut, neben Pflastern, Taschentüchern und ihrem Handy auch zwei kleine Karotten für die Ponys. Die gab es aber immer erst am Ende ihrer Tour.
„Dieser Skippy ist übrigens wirklich ganz nett. Ich durfte vorhin sogar mal probeweise auf seiner Bassgitarre spielen“, durchbrach Luisa die Stille. Sie schüttelte ihre Hand. „Puh, der muss eine ganz schöne Hornhaut auf seinen Fingern haben. Ich fand, das tat ziemlich weh.“
Anna warf ihrer Freundin einen belustigten Blick zu. „So, so, du findest Skippy also nett.“
Luisa machte eine wegwerfende Handbewegung. „Pah! Jetzt fang nicht an zu spinnen.“
Anna hatte jedoch bemerkt, dass Luisa ein wenig rot geworden war und verlegen wirkte. Sie kannte ihre Freundin schließlich so gut wie kaum ein anderer. Doch anstatt weiter auf diesem Thema herumzureiten, richtete sie Fee gerade, drückte den Po tief in den Sattel und die Fersen in Fees Flanken. Dann gab sie Zügel nach. „Kleiner Galopp gefällig, meine Gute?“
Fee zögerte keinen Moment. Sie wusste, dies war die Stelle, an der sie richtig Tempo machen konnte. Der Weg führte leicht bergauf aus dem sanften Tal hinaus.
Luisa setzte sich fest in den Sattel, denn Zorro folgte seiner Pferdefreundin auf dem Huf, dass ihm die Erdklumpen nur so um die Beine flogen.
Fröhlich und etwas außer Atem parierte Anna die Ponystute auf der Hügelkuppe durch. „Puh, das tat gut, was?“
Luisa schob sich die Reitkappe aus der Stirn. „Sag mal, vorhin im Stall, das war merkwürdig, oder?“
Die Freundinnen lenkten die Ponys im Schritt nebeneinanderher. Schnaubend verscheuchten die Tiere mit ihren Mähnen lästige Fliegen. Zum Glück waren es jetzt schon deutlich weniger geworden als noch im Sommer.
„Du meinst, dass Jan wusste, wann Robert in den alten Hühnerstall gegangen ist?“, fragte Anna und nickte. „Allerdings. Du wirst es nicht für möglich halten, aber als ich in den Stall kam, war Jan schon da.“
Luisa presste die Lippen aufeinander und dachte einen Moment nach. „Willst du damit sagen, dass er gestern Abend doch nicht nach Hause gegangen ist, sondern im Stall geschlafen hat?“
Anna zuckte die Schultern. „Könnte sein.“
„Na hör mal!“, rief Luisa und warf den Kopf in den Nacken. „Der Knirps hat doch schließlich Eltern. Die hätten ihn doch vermisst und überall rumgefragt, wo er wohl sein könnte.“
Anna stieß Luft durch die Schneidezähne. „Ts, du hast doch vorhin gehört, was in der Zeitung steht. Nicht alle Eltern kümmern sich so um ihre Kinder, wie sie sollten. Überleg doch mal, wie das damals war, als Jan zum ersten Mal auf den Hof gekommen ist.“
Das hatte Luisa nicht vergessen. Einfach dagestanden hatte der kleine Junge, mit seinem Hund auf dem Arm. Der arme Benni war angefahren worden und Adelheid hatte ihn in ihrer Praxis versorgt. Der Jack-Russel-Terrier war ihr erster Patient in der neuen Praxis gewesen. „Ja, das war schon komisch“, sagte Luisa gedankenversunken. „Dass der Zwerg ganz allein kommen musste und seine Eltern ihm nicht geholfen haben.“
Wieder dachte Anna, wie gut sie es doch hatten. In solchen Fällen hätten ihre Eltern sie nie und nimmer allein gelassen. Anna drehte sich im Sattel zu ihrer Freundin um. „Vielleicht sollten wir uns in den nächsten Tagen einfach ein bisschen um ihn kümmern. Was meinst du?“
Luisa nickte zustimmend. „Das kann ganz sicher nicht schaden.“
Später, als Anna und Luisa zum Ponyhof zurückgekehrt waren, streckte Luisa plötzlich den Arm aus und zeigte lachend auf Skippys altes Fahrrad, das hinter dem Schuppen abgestellt war. „Na, dazu taugt die alte Rostschleuder allemal!“
Die Hühner hatten das Fahrrad in Beschlag genommen, saßen verteilt auf Lenk- und Querstange und gackerten um die Wette. Kichernd hielt sich Anna die Hand vor den Mund. „Hauptsache, die kacken nicht auf den Sattel!“
Sarah Bosse:
Sommergeschichten vom Ponyhof Mühlental
Ab 8 Jahren
ISBN (Buch) 978-3-649-61287-2
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Da war es wieder. Anna spürte ganz deutlich dieses merkwürdige Kribbeln im Bauch. Wenn sie das Robert, ihrem älteren Bruder, anvertrauen würde, hätte der sicher nur ein spöttisches Grinsen für sie übrig. Vielleicht spürt Robert das Kribbeln ebenso, dachte Anna, schließlich ist für ihn auch alles neu. Aber das würde er natürlich niemals zugeben. Jungs in dem Alter sind so. Die sind immer einfach nur abgebrüht und cool. Außerdem hatte Robert sowieso nur seine Musik im Kopf. Was kümmerte ihn da, was um ihn herum geschah?
Natürlich, den Hof im Mühlental kannte Anna ja schon lange, denn er gehörte früher Mamas Bruder Martin, dem Maler, dem es im Münsterland zu kalt war. Deshalb hatte er seiner Schwester den elterlichen Hof vor einigen Monaten überlassen und war nach Gran Canaria gezogen, um dort Bilder mit viel Sonne drin zu malen.
Schon bei ihren früheren Besuchen hatten Anna und Robert jeden Winkel des Gehöfts erkundet. Hier kannten sie sich gut aus. Aber jetzt selbst auf diesem Hof zu leben, das war etwas ganz anderes! Auch wenn Anna mit ihrer Familie bereits seit zwei Wochen hier wohnte, war doch immer noch alles rund um sie herum neu, vor allem die Gerüche und die Geräusche. Daher das Kribbeln.
Doch wenn Anna ganz ehrlich zu sich selbst war, dann gab es heute noch einen anderen Grund dafür, dass das Kribbeln wieder stärker wurde. Der Grund hieß Luisa.
Luisas Mutter Adelheid war Tierärztin und eine gute Freundin von Annas Mutter Isabel. Als Annas Familie sich entschloss den Hof im Mühlental zu übernehmen, war die Idee gewachsen, den alten Kornspeicher zu renovieren. Adelheid wollte dort eine Tierarztpraxis eröffnen.
Nun war es so weit. Das Werk war vollbracht. Das alte Backsteinhaus mit seiner Fachwerkfassade erstrahlte in neuem Glanz. Mit dem Haupthaus, den Stallungen und der alten Scheune, die nun zur Reithalle umfunktioniert worden war, schmiegte es sich zwischen die sanften Hügel der Baumberge.
Heute würde Adelheid einziehen und mit ihr Luisa. Anna und Luisa hatten sich früher einige Male gesehen. Anna musste zugeben, dass sie sich gut verstanden hatten, und deshalb freute sie sich zuerst auch, als sie hörte, dass Luisa in den alten Speicher ein ziehen würde.
Doch jetzt, da der Tag gekommen war, beschlich sie ein sonderbares Gefühl. Sie würden zusammen auf einem Hof leben und das bedeutete, dass sie zukünftig viel Zeit miteinander verbrachten. Wer wusste schon, ob sie sich auch dann noch gut verstanden, wenn sie sich ständig sahen? Anna war sich nicht im Klaren, ob sie sich freuen oder fürchten sollte. Vielleicht tat sie beides zugleich.
Als der große Umzugstransporter die abschüssige Zufahrt ins Mühlental herabgerumpelt kam, verschwand Anna im Haus. Lieber wollte sie sich erst einmal alles aus der Ferne angucken.
Die Seitenwände des Lkw streiften die Bäume, die rechts und links des Weges wuchsen, und Blätter flogen wild durch die Luft. Auch ein dunkelbraunes Huhn, das am Wegesrand nach Würmern gepickt hatte, flatterte aufgeregt davon.
Wie ein Wirbelwind kommt sie in unser Tal gesaust, dachte Anna und wartete auf den Moment, da Luisa aus dem Kombi steigen würde, der dem Lastwagen vorausfuhr.
Ihre Eltern standen natürlich längst im Hof, um Adelheid und ihre Tochter zu begrüßen. Auch Robert hatte sich breitschlagen lassen, seine Gitarre wegzulegen und beim Möbelschleppen zu helfen. Die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben, stand er etwas gelangweilt neben seinen Eltern. Inzwischen wurde das Kribbeln beinahe unerträglich.
Anna zwirbelte sich nervös den Gardinenzipfel um den Finger, als Luisa endlich aus dem Wagen sprang und den Eltern fröhlich entgegenhüpfte. Sie redeten kurz miteinander, dann zeigte Annas Mutter zum Haus. Bestimmt hatte Luisa nach ihr gefragt!