THE DEATH - QUARANTÄNE

ein post-apokalyptischer Thriller von

John W. Vance

aus dem Amerikanischen übersetzt von

Andreas Schiffmann



Copyright © 2014 by John W. Vance
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By arrangement with John W. Vance

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Tag 190

9. April 2021

Jenks’ Grundstück, Reed, Illinois

Devin schob seinen Teller weg und schnaubte.
  »Iss, hier wird nichts weggeworfen«, sagte Tess.
  »Hab keinen Hunger.«
  »Jetzt iss!«
  »Das Zeug verkommt nicht, versprochen«, erwiderte er und stellte den Teller auf den Boden.
  Brando humpelte herbei, steckte seine Schnauze in den Haufen Pasta und schlang sie in großen Schlucken hinunter.
  »Schätze, er hat sein Versprechen gehalten, was?«, bemerkte Brianna.
  »Komm nicht auf dumme Gedanken und iss selbst«, befahl Tess.
  Das Mädchen grinste. »Das werde ich definitiv, aber was ich damit sagen wollte: Brando gehört zu unserer Familie, und wenn er etwas zu fressen bekommt, werfen wir auch nichts weg.«
  Devin lehnte sich zurück und lächelte. Sie kamen ihm tatsächlich wie eine Familie vor, obwohl sie einander noch nicht allzu lange kannten.
  »Also gut, wer ist an der Reihe, etwas davon in die Scheune zu bringen?«, fragte Tess.
  Devin hob eine Hand. »Ich«, sagte er.
  »Ich kann auch gehen, wenn du nicht willst«, bot Brianna an.
  »Nein, ist schon okay. Hoffentlich geht er diesmal auf mich ein. Wir müssen uns darüber unterhalten, was wir gegen Turners Raiders tun sollen.«
  »Devin, wir können nicht einfach herumsitzen und auf ihn warten. Falls er bis heute Abend nicht reagiert, müssen wir etwas tun.«
  »Abhauen? Das ist keine Lösung.«
  »Du kannst es nennen, wie du willst, doch diesmal hatten wir Glück. Wenn sie wiederkommen, sind es zehnmal so viele. Wir können sie nicht schlagen.«
  Devin wusste, dass Tess recht hatte, doch Daryl aufzugeben, passte ihm nicht.
  »Wir dürfen ihn nicht hierlassen und seinen Sohn mitnehmen, das ist grausam«, hielt er dagegen.
  »Grausam ist er, weil er sich verkrochen hat. Wir müssen aufbrechen, und er sollte mitkommen. Dass wir es hinauszögern, liegt an ihm, weil er sich in der Scheune einsperrt.«
  Devin neigte sich wieder nach vorne, stützte seine Ellbogen auf den Tisch und sagte: »Lass es mich heute Abend ein letztes Mal probieren; wenn er mir keine Antwort gibt, verschwinden wir.«
  Tess unterbrach sich beim Essen und entgegnete: »Abgemacht.«
  Brianna stand auf und begann, einen Teller für Hudson zu füllen. Der Junge stand immer noch unter Schock. Er verarbeitete die Schießerei und den Tod seiner Mutter nur schwerlich.
  »Ich bringe das schnell nach oben zu Huddy«, erklärte Brianna und verließ die Küche.
  »Mit dem Wagen kommen wir schneller voran«, bemerkte Tess.
  Das Mädchen stürzte zurück in den Raum und rief aufgeregt: »Hudson ist weg!«
  »Weg? Wohin?«, fragte Devin.
  »Keine Ahnung, aber in seinem Zimmer ist er nicht mehr, und in der kleinen Kammer, wo die Spielsachen liegen, habe ich ihn auch nicht gefunden. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«
  Devin stand auf und lief aus der Küche, um in naheliegenden Verstecken nachzusehen.
  Brianna hielt sich nicht auf, sondern begann selbst, fieberhaft nach dem Jungen zu suchen.
  Sie schauten in Wandschränken nach, hinter allen möglichen Möbeln, unter Betten und selbst in Regalen. Er war nicht im Haus.
  »Hudson! Wo bist du?«, rief Devin durch die Haustür auf den Vorplatz. »Hudson!«
  Brian und Tess waren in die andere Richtung gegangen, durchsuchten die kleinen Schuppen und den Hühnerstall.
  Devin ging außen herum und schloss sich ihnen an. »Bleibt nur noch die Scheune übrig. Los«, drängte er.
  »Wir schauen weiter hier nach«, rief ihm Tess hinterher.
  Als er die Scheune erreichte, schlug er kräftig gegen das große Metalltor. »Daryl, ist Hudson da drin? Er ist verschwunden. Wir können ihn nicht finden! Daryl, mach auf!«
  Keine Antwort.
  Devin fragte sich allmählich, ob der Mann tot war. Vielleicht hatte er sich umgebracht. Er ging um das große Gebäude herum, um nach einer anderen Möglichkeit zu suchen, sich Zugang zu verschaffen. Entlang der Nordseite befand sich eine Reihe von Fenstern. Er schaute hinein, konnte aber nicht viel erkennen. Hinter dem letzten Fenster gab es eine Tür. Gerümpel, alte Kisten und anderer Kleinkram lagen davor. Er begann, das Zeug wegzuräumen, als er eine vertraute Stimme hörte.
  »Was machst du da?«, rief Daryl.
  Als Devin aufschaute, sah er ihn an der Ecke der Scheune stehen.
  »Ist Hudson bei dir?«
  »Nein, aber ich glaube, ich weiß, wo er steckt.«
  Als Jenks wieder am Fuß der Treppe stand, traute Devin seinen Augen nicht. Der Mann hatte sich zurechtgemacht, als ziehe er in den Krieg, was eigentlich nicht weiter verwunderlich war.
  »Wohin genau gehen wir?«, fragte er ihn in einem Tonfall, der sowohl Neugier als auch Skepsis ausdrückte.
  »Hudson ist zum Haus seines Cousins gelaufen. Das ist keine Meile von hier entfernt«, gab Daryl an und nahm ein Gewehr aus einem Schrank.
  »Ist das Haus dieses Cousins ein gefährlicher Ort?«, bemerkte Tess sarkastisch.
  »Genaugenommen schon«, entgegnete Daryl.
  »Ich komme mit dir«, sagte Devin.
  »Nicht nötig.«
  »Ich bestehe darauf«, insistierte Devin mutig.
  Daryl schaute zu ihm hinüber und erwiderte: »Deine Entscheidung, aber ich würde ein Schießeisen mitnehmen, wenn ich du wäre.«
  »Was genau ist da los?«, wollte Tess wissen.
  »Hudson ist ungefähr genauso alt wie sein Cousin Seth, und die beiden kommen bestens miteinander aus, doch ich hatte nie viel für den Ehemann meiner Schwester übrig.«
  »Dass es Familienfehden gibt, weiß ich zwar, aber ist es bei euch so schlimm?«, fuhr Tess fort. Auch sie staunte über Jenks’ Kampfmontur.
  »Jawohl, das ist es. Ich bin mir nicht sicher, ob Devin dir davon erzählte, doch die meisten Menschen in der Stadt hassen mich aus diesem oder jenem Grund. Die Familie meines Schwagers verachtet mich aber ganz besonders.«
  »Du hast doch niemanden umgebracht, oder?«, schob Tess nach.
  »Um die Wahrheit zu sagen, habe ich das sehr wohl, Tess, und das Opfer war mein Schwager.« Damit ging Daryl zur Haustür.
  »Du hast deinen Schwager auf dem Gewissen?«, fragte Tess und folgte ihm.
  Daryl blieb unterm Vordach stehen und schaute auf das getrocknete Blut. Er ließ sich Zeit, um die rot getränkten Bohlen und Spritzer an der Mauer zu verinnerlichen. Dann setzte er seinen Weg zu der frei stehenden Garage am rechten Rand des Geländes fort.
  »Ist das eine gute Idee?«, merkte Tess hinter ihm auf.
  Devin blieb ihnen dicht auf den Fersen. Sein Herz raste in Erwartung der zweiten Schießerei innerhalb weniger Tage.
  Jenks fuhr herum und erwiderte: »Was schlägst du denn vor – ihn hierzulassen?«
  »Nein, aber lass Devin und mich gehen«, meinte Tess. »Es in einen Kampf ausarten zu lassen, obwohl es sich vermeiden lässt, muss nicht sein.«
  »Glaubst du im Ernst, die geben den Jungen einfach so heraus?«, hielt er dagegen.
  »Vorausgesetzt, er ist überhaupt dort«, warf Devin ein.
  Daryl und Tess schauten ihn daraufhin beide an.
  »Du spekulierst doch nur. Was ist, wenn er sich nicht dort versteckt? Falls Tess kann, finde ich, dass sie den Wagen nehmen sollte, um in der Gegend nach ihm zu suchen«, schlug Devin vor. »Sie kann ja Brianna mitnehmen.«
  »Zwei Frauen allein unterwegs?«, entgegnete Daryl.
  »Ich kann gut auf mich achtgeben«, gab Tess zurück. »Das tue ich jetzt schon eine ganze Weile.«
  »Daryl, ich kann ihr nur beipflichten. Sie hat einiges auf dem Kasten«, betonte Devin.
  »Na gut. Trotzdem gehen wir beide. Wir nehmen den Humvee, und falls wir Diesel finden, machen wir den Tank randvoll.« Jenks legte sein Gewehr ins Führerhaus des Wagens und stieg ein. Dann schaute er zu Devin hinüber. »Was ist, kommst du jetzt, oder wie?«
  Devin lief um das Fahrzeug herum und sprang auf der Beifahrerseite hinein.
  Als sie losfuhren, winkte er Tess und auch Brianna, die gerade aus dem Haus gekommen war.
  Die Entfernung, die Daryl angegeben hatte, stimmte genau: Sie fuhren knapp eine Meile auf der Landstraße und blieben dann 50 Fuß vor der Einfahrt zum Haus seiner Schwester stehen.
  Devin ließ den Blick über das endlos weite, flache Land voller toter Maispflanzen schweifen. Er sehnte sich danach, endlich nicht mehr die ewig gleiche Landschaft ertragen zu müssen.
  »Komm mit mir bis zur Auffahrt und warte dort. Ich gehe weiter, während du die Augen offenhältst.«
  »Worauf genau lassen wir uns hier ein?«
  »Möglicherweise einen Streit.«
  »Da dein Schwager tot ist: Über wen müssen wir uns Sorgen machen?«, fuhr Devin fort.
  »Ach, meine Schwester hat sich keinen Monat nach Ricks Tod einen anderen unsympathischen Typen angelacht. Er ist ein blödes Arschloch, macht aber ziemlich was her – angeblich Einzelkämpfer bei der Navy, aber das bezweifeln viele, auch ich.«
  »Na großartig«, stöhnte Devin, »also legen wir uns vielleicht mit einem ausgebildeten Elitesoldaten an!«
  Daryl blieb stehen und erwiderte: »Falls du nicht mitkommen willst, dann lass es, aber du brauchst keinen Schiss zu haben; der Typ ist der letzte Dreck und hat nicht in der Navy gedient, nicht einmal in einer Kombüse. Ich gehörte acht Jahre zur Army und sehe den Menschen an der Nasenspitze an, wenn sie lügen.«
  »Du warst bei der Army?«
  »Ja.«
  »Das beruhigt mich jetzt.«
  »Sollte es auch.«
  Devin musste lachen. Die Vermessenheit und das Selbstvertrauen dieses Mannes kamen nicht von ungefähr.
  Nun ging Daryl von ihm fort bis zum Rand der geschotterten Auffahrt.
  Devin folgte ihm und hielt wieder an, kurz bevor man ihn hätte entdecken können.
  »Also, bis zum Haus sind es keine 50 Fuß mehr. Dahinter stehen zwei Nebengebäude, doch Simon ist sehr wahrscheinlich drinnen bei Laura und den Kindern.«
  »Äh, ich traue mich ja kaum zu fragen, aber wie sieht dein Plan aus? Das kommt mir ein bisschen unbesonnen vor.«
  »Ganz einfach, ich gehe zur Tür, klopfe an und frage, ob Hudson bei ihnen ist.«
  »Das ist kein Plan.«
  »Und ob, nur kein ausgesprochen kluger.«
  »Befürchtest du nicht …«
  »Nein, die werden nicht sofort auf uns schießen, aber ich gehe bewaffnet, um ihnen zu zeigen, dass ich bereit bin, wenn sie es darauf anlegen, und meine Schwester wird ehrlich zu mir sein, wenn sie mir unter die Nase reiben kann, dass mein Sohn weggelaufen ist.«
  Devin nickte, ehe er noch einmal nachhakte: »Und du willst wirklich, dass ich hier stehen bleibe?«
  »Wenn ich anklopfe, trittst du vor, damit die dich sehen können. Ich will, dass sie es sich zweimal überlegen, bevor sie etwas versuchen.«
  »Kann ich machen.«
  »Gut, ich gehe jetzt.«
  Daryl betrat die Einfahrt und ging auf das Haus zu. Die Eingangstür flog auf, bevor er sie erreichte, und heraus kam ein großer, dünner Mann mit freiem Oberkörper, der ebenso wie beide Arme mit Tätowierungen übersät war.
  »Was zum Henker hast du hier zu suchen?«, rief Simon.
  Jenks ging weiter auf das Haus zu. Er hatte den Zeigefinger am Abzug des Gewehrs, hielt es aber gesenkt.
  »Bleib sofort stehen, Daryl. Du bist hier nicht erwünscht«, zeterte Simon.
  Jenks ließ sich nicht beirren; er fürchtete sich nicht vor diesem Mann.
  Auf einmal zog Simon eine Pistole hervor. »Stopp jetzt, Wichser!«
  Daryl legte unbeirrt die letzten Meter bis zum Fuß der Eingangstreppe zurück. Nun stand er nur wenige Schritte vor Simon. Er schaute in die Mündung der Waffe und dann in die Augen seines Gegenübers. »Wo ist mein Sohn?«
  »Nicht hier?«
  »Und Laura? Ich will mit ihr reden.«
  Devin hörte die Auseinandersetzung mit an und hielt es für angebracht, sich jetzt zu zeigen. Er betrat die Einfahrt und versuchte dabei, möglichst imposant zu wirken. Simon bemerkte Devin. Er riss die Augen auf und trat instinktiv zurück. Einen zweiten bewaffneten Mann zu sehen, bereitete ihm Unbehagen.
  »Du und dein Spießgeselle dort drüben, ihr verpisst euch jetzt von hier, und zwar sofort«, drohte er.
  »Ich verpisse mich nicht, solange du mir meinen Jungen nicht gibst«, beharrte Daryl.
  »Er ist nicht hier, Mann.«
  Daryl hatte Simon nur einmal mit freiem Oberkörper gesehen. Dabei war er ihm nicht so nahe gewesen, doch nun fiel ihm auf, dass oben an seiner Brust ein Dreizack mit dem Schriftzug ›SEAL TEAM 2‹ prangte. Als er Simon vor Jahren zum ersten Mal begegnet war, hatte er ohne Zweifel gewusst, dass er heuchelte. Er erinnerte sich an den Tag, als sei es gestern gewesen. Simon hatte sich damit gebrüstet, im Krieg in Syrien viele Feinde umgebracht und seinen Zug buchstäblich im Alleingang gerettet zu haben. Ein paar unaufdringliche Fragen hatten genügt, um herauszufinden, dass der Kerl log. Nachdem Daryl ein Jahr in dem Land verbracht hatte, während er mit dem 75. Rangerregiment dort stationiert war, wusste er, wie es dort zuging. Und alles, was Simon von sich gegeben hatte, war „völliger Bullshit“ gewesen.
  »Wo ist Laura?«, fragte er nun wieder.
  »Sie ist nicht hier, verdammt!«, schrie Simon, der die Arme immer noch nach vorne ausstreckte und auf Daryl zielte.
  »Ich sag dir was. Ich setze mich einfach hierhin und warte, bis sie zurückkommt.«
  »Du verschwindest von meinem Grundstück!«
  »Zuerst einmal ist das nicht dein Grundstück, denn es gehört Laura, und zweitens: Wo könnte sie schon sein? Einkaufen bestimmt nicht.«
  »Sie ist nicht …«
  Jenks unterbrach ihn: »Sie ist nicht hier, Mann, ich weiß, ich weiß.«
  »Fick dich!«
  Er bemerkte einen kleinen Bottich in der Nähe, der an die fünf Gallonen fasste, und ging hinüber. Simon behielt ihn im Auge und nahm die Pistole nicht herunter, während sich Daryl bewegte. Dieser hatte eine Idee. Er würde ihm ein weiteres Ziel vorsetzen.
  Er schaute die Einfahrt hinunter und rief: »Devin, komm her!«
  »Kapierst du nicht, Arschloch? Verschwinde von hier!«
  Devin setzte sich in Bewegung und ging zügig auf Daryl zu.
  Simons Blick irrte herum, seine Hände fingen zu zittern an. Da er nicht wusste, auf wen er die Pistole richten sollte, schwenkte er sich zwischen den beiden Männern hin und her. Devin hielt kurz inne, als auf ihn gezielt wurde, zwang sich aber zum Weitergehen, weil er darauf vertraute, dass sein Begleiter genau wusste, was er tat.
  »Wir verschwinden nicht eher, bis ich mit meiner Schwester gesprochen habe«, stellte Daryl noch einmal klar und ließ sich auf dem Bottich nieder.
  »Sie wird eine ganze Weile weg sein; du vergeudest deine Zeit!«
  Jenks dachte darüber nach, was Simon gerade gesagt hatte. Es ergab keinen Sinn. Wo konnte sie sein?
  Devin blieb wenige Fuß vor ihm stehen und fragte: »Was ist los?«
  »Was meinst du, Dev? Er behauptet, mein Sohn und meine Schwester seien nicht hier. Was ist mit meinem Neffen? Ich frage mich, ob er auch weg ist.«
  Simon blaffte: »Niemand ist hier. Laura und Seth sind gegangen; ist schon eine Weile her.«
  »Wohin?«
  Simons Gesichtsausdruck zeigte nun deutlich, dass ihm bewusst war, dass seine Lügen gleich aufflogen.
  »Wo sind Laura und Seth? Simon, sag es mir«, verlangte Jenks und stand wieder auf. Er nahm sein Gewehr fest in die Hand.
  Simon begann nun, noch auffälliger zu zittern.
  »Devin, hör mir genau zu. Geh von mir weg.«
  Devin gehorchte, kehrte seinen Körper dabei aber weiterhin Simon zu. Der fing jetzt wieder an, seine Pistole zu schwenken. Etwas war mit Laura und Seth geschehen, wobei Daryl nun ahnte, dass Simon Schuld daran trug.
  »Wo ist meine Schwester?«
  »Mann, ich hab’s dir doch gesagt!«
  »Schluss mit dem Unfug, Simon, wo ist sie?«, forderte Daryl jetzt ärgerlich.
  Devin machte ein paar rasche Schritte. Damit lenkte er Simons Aufmerksamkeit und auch den Lauf der Pistole auf sich. Jenks erkannte die Gelegenheit. Er hob sein Gewehr und zielte auf Simon. Der fuhr hastig herum. Daryl gab drei Schüsse ab; alle trafen in die Brust.
  Simon stürzte rückwärts gegen die Tür und sackte dann zusammen. Er war tot, bevor er auf der Fußmatte liegen blieb.
  Devin hatte sich sein Gewehr gegen die Schulter gestemmt, doch das Drama war vorüber, bevor er die Waffe entsichern konnte.
  Daryl ging ohne Zögern auf die schmale Vorterrasse, hob Simons Pistole auf und schob sie sich in fest den Hosenbund. Als er das Haus betrat, wehte ihm ein strenger, ekelhafter Geruch entgegen. Es war eine Mischung aus Kot, Urin und Schmutz. In der Wohnung sah es wüst aus. Wohin man sah, lagen Müll, ungewaschene Klamotten und kaputte Sachen herum. Nun wusste er, dass seine Schwester lange nicht mehr hier gewesen war.
  Als Devin hinterherkam, rief er: »Mann, stinkt das!«
  »Nach Abschaum«, ergänzte Daryl, während er über den kleinen Flur zu den Schlafzimmern ging. Als er eine Tür öffnete, fand er nur noch mehr Müll, aber keine Spur von irgendjemandem, auch nicht Hudson. Im Elternschlafzimmer deutete manches darauf hin, dass sich Simon mit Perversionen die Zeit vertrieben hatte: An jedem Bettpfosten waren Lederriemen befestigt, und sowohl die Laken als auch das mit Stoff bezogene Kopfbrett zeigten Flecken – vermutlich Blut. Daryl durchsuchte den Raum, um irgendetwas zu finden, das darauf hindeutete, wo Laura sein konnte. Auf einer Kommode entdeckte er ihren wertvollsten Besitz – den Ring aus ihrer Ehe mit Rick und eine Halskette, die er ihr nach ihren ersten Verabredungen geschenkt hatte. Für Jenks bedeutete dies, dass ihr etwas zugestoßen war. Laura hätte den Schmuck niemals freiwillig zurückgelassen.
  »Daryl, komm schnell!«, rief Devin plötzlich aus der Küche.
  Er eilte durch den Flur zurück, wobei er beinahe über einen hohen Berg Müll gefallen wäre.
  Daryl sah das Gräuel mit eigenen Augen.
  Auf der Arbeitsfläche lag ein dicker Knochen, der aufgrund seiner Länge und Form an einen menschlichen Oberschenkel erinnerte. Ein Ende war versengt, als sei er über ein offenes Feuer gehalten worden.
  Obwohl Daryl nicht zimperlich war, entsetzte ihn der Anblick. Sofort drängte sich ihm die Frage auf, ob der Knochen Laura gehörte.
  »Ich traue mich nicht, den Kühlschrank zu öffnen«, bemerkte Devin.
  Daryl war zutiefst verstört und konnte dies auch nicht verbergen. Er fing zu zittern an, während er daran dachte, Simon könnte den Jungen verspeist haben. Er stürzte durch die Hintertür nach draußen.
  Devin versuchte, gefasst zu bleiben und suchte in der Küche nach Hinweisen, ob Hudson hier war.
  Draußen rief Daryl: »Hudson, bist du hier? Mein Sohn, bist du hier?«
  Es raschelte in einem kleinen Verschlag am rechten Rand des Grundstücks. Er lief hinüber.
  Devin kam gerade durch die Hintertür und sah, wie Daryl zu dem Schuppen eilte. Er setzte ihm nach.
  Als Daryl die Tür erreichte, bemerkte er, dass sie mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Die Geräusche drinnen wurden lauter. Zu seinem Entsetzen hörte er, dass sie von Menschen stammten. Es war ein Stöhnen und Scharren.
  Daryl hob einen faustgroßen Stein auf, der an der Mauer lag, und schlug gegen das Schloss, bis es brach. Dann schob er die Tür auf. Stechend fauliger Gestank schlug ihm entgegen. Es roch nach verwesendem Fleisch.
  Eine Frau, nackt und mehr tot als lebendig, fiel vor ihm auf den Boden. Ihre Knochen zeichneten sich unter der gräulich-dreckigen Haut ab, ihr Haar war abgeschnitten. Entsetzt von diesem Anblick wichen Daryl und Devin einen Schritt zurück. Die Frau wälzte sich auf die Seite und hob hilfesuchend einen dürren Arm.
  Daryl rechnete fest damit, dass es Laura war, doch sie war eine Fremde. Er kannte diese Frau nicht.
  Weitere Unruhe im Raum ließ die beiden aufhorchen.
  Daryl nahm seine Taschenlampe hervor, um den Verschlag auszuleuchten. In einer Ecke kauerte noch eine Frau, die nun ihr Gesicht vor dem Licht verbarg. Sie befand sich in ähnlicher ausgemergelter Verfassung.
  »Helfen Sie mir«, wisperte die Liegende.
  Devin starrte schockiert auf sie hinab. Seine innere Distanziertheit schmolz dahin. Er wandte sich ab, um zu erbrechen.
  Auch Jenks war angesichts dieser furchtbaren Entdeckung bestürzt.
  »Laura, bist du das?«
  Sie konnte ihn nicht ansehen, das Licht seiner Lampe blendete sie.
  »Laura, ich bin es, Daryl.«
  »Sie ist tot«, murmelte die Liegende.
  Er schaute auf sie hinab und fragte: »Sind Sie sicher?«
  »Er brachte sie um und aß sie. Auch ihren Sohn.«
  Diese Worte machten ihn völlig fassungslos. Sicher, der Mensch war zu Grausamkeiten fähig, doch das – das war etwas, mit dem man in Horrorgeschichten rechnete, aber nicht im wirklichen Leben.
  »Bitte helfen Sie mir«, flehte die Frau erneut, während sie zu Daryl kroch.
  In diesem Moment heulte der Motor ihres Wagens vor dem Haupthaus auf. Nun waren sie vor die Wahl gestellt: wegrennen oder kämpfen? Daryl wollte den Wagen nicht aufgeben, aber genauso wenig sterben.
  »Devin, ich weiß nicht, wer unsere Besucher sind, tippe aber auf Freunde von Simon. Nimm die Frau mit, ich helfe der anderen.«
  Devin hob die Liegende auf, die nur noch Haut und Knochen war.
  »Lauf wieder zum Maisfeld. Sobald du weit genug draußen bist, bieg rechts ab, um wieder nach Norden zurückzukehren. Irgendwann wirst du die Straße erreichen.«
  »Nein, du kommst mit.«
  »Geh jetzt, verdammt!«, beharrte Daryl, während er zu der Frau hinüber ging.
  Als er sich ihr näherte, schlug sie kraftlos um sich. Daryl schlang seine Arme um sie und flüsterte: »Ist ja gut, wir sind nicht hier, um Ihnen wehzutun. Ich werde Sie retten, bitte hören Sie auf, sich zu wehren.«
  Als er sie aus dem Schuppen führte, stand Devin immer noch davor.
  »Was soll der Mist? Verschwinde jetzt.«
  »Wir verschwinden gemeinsam.«
  »Ich will nicht, dass sich jemand an uns satt isst. Wir dürfen nicht beide ins Gras beißen, also geh jetzt!«
  Endlich setzte sich Devin mit der Frau in Bewegung und lief um sein Leben – einmal mehr durch ein Feld aus toten Maispflanzen.
  Nie im Leben hätte er sich vorstellen können, dass ihm ein solches Feld Unterschlupf bieten würde. In mancher Hinsicht glich das schier endlose Gewirr einem U-Bahn-Netz, das ihn sicher von A nach B brachte. In diesem Dickicht blieb man unbemerkt.
  Die Frau hielt sich an ihm fest, indem sie ihre schwachen Arme um seinen Hals schlang. Nach einer Weile legte Devin eine Verschnaufpause ein. Seine Arm-, Bein-, und Rückenmuskeln taten höllisch weh. Er wusste nicht, wie weit er gelaufen war, hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
  Nachdem er die Frau sanft auf den Boden gelegt hatte, zog er sein Flanellhemd aus und deckte sie damit zu. Sie zog ihre dünnen Beine an die Brust, während sie weinte.
  Schweißperlen strömten von Devins Stirn. Er ließ sich selbst auf der Erde nieder und atmete beschwerlich durch seinen trockenen Mund aus.
  »Was machen wir jetzt?«, fragte er sich laut.
  »Vielen Dank«, wisperte die Frau.
  »Was?«
  Sie hob ihren Kopf ein wenig an. »Vielen Dank.«
  »Keine Ursache.«
  »Wohin bringen Sie mich?«
  »Das ist eine gute Frage. Ich hoffe, dass wir es bis zu Daryls Haus schaffen. Dort können Sie in Ruhe wieder zu Kräften kommen.«
  Sie fing wieder an zu weinen.
  »Wie heißen Sie?«, wollte er wissen.
  »Deborah.«
  »Hi Deborah, ich bin Devin.«
  Sie hustete und legte ihren Kopf wieder auf den Boden.
  In der Ferne fielen Schüsse.
  Devin sprang auf und nahm Deborah wieder sachte in die Arme. »Wir sollten weitergehen«, sagte er.
  Devin streckte den Kopf aus dem Feld und schaute sich nach beiden Richtungen auf der Straße um. In der Ferne machte er Daryls Haus aus. Bis dorthin war es vielleicht noch eine Viertelmeile, doch ihm würde der Weg um ein Vielfaches länger vorkommen. Devin taten die Gliedmaßen und das Kreuz weh, sein ganzer Körper geriet an seine Grenzen. Sein einziges Ziel bestand nun darin, Deborah ins Haus zu schaffen und selbst ausruhen zu können.
  Seit den paar Schüssen waren keine weiteren mehr gefallen und Devin hoffte, dass das nicht Daryls Tod bedeutete. Anhand des Sonnenstandes erkannte er, dass sie nun schon mehrere Stunden durchs Maisfeld gelaufen waren. Er schaute auf Deborah hinab. Sie lag still da, eingewickelt in sein Hemd und mit dem Kopf auf der Erde.
  »Ich wünschte, ich könnte jetzt auch ein wenig schlafen«, murmelte er, ging in die Hocke, schob Deborah die Arme unter und wollte sie behutsam hochheben.
  »He, aufwachen«, wisperte er und schüttelte sie leicht.
  Ihr Kopf sackte schwerfällig zurück. Er versuchte es erneut. »Deborah, aufwachen.«
  Immer noch keine Reaktion.
  Da legte er sie wieder hin und prüfte ihren Puls, indem er zwei Finger an ihren Hals legte. Nichts zu spüren. »Verflucht«, zischte er. Ein weiterer Verlust, der ihn frustrierte.
  Er ließ sich selbst auf dem Boden nieder und betrachtete Deborahs Leiche. Während der vergangenen Woche war so viel mit ihm passiert, dass er meinte, in einem Albtraum gefangen zu sein. Die Pflanzen ringsum rauschten, während eine leichte Brise aufkam, die sein Gesicht kühlte. Zu lange hatte er seine Emotionen unterdrückt. Jetzt kamen die Tränen. Er weinte um die Welt, die er verloren hatte.
  Nachdem er die lockere Erde glatt gestrichen hatte, unter der Deborah nun begraben lag, steckte Devin die Schaufel in den Boden. Er hatte sie zum Haus gebracht und unverzüglich beerdigt, nachdem er Tess erzählt hatte, was geschehen und weshalb er mit einer Leiche im Arm zurückgekehrt war. Um der Toten die letzte Ehre zu erweisen, sprach Tess gemeinsam mit Brianna ein paar Worte.
  Sie erkannte, welchen Wandel Devin im Lauf der letzten Tage vollzogen hatte. Als sie einander begegnet waren, hatte sie ihn für einen ängstlichen Mann gehalten; jetzt sah sie jemanden, der darum kämpfte, sich seine Würde als Mensch zu bewahren. Tess war stolz auf ihn und spürte, dass er sich innerhalb dieser kurzen Zeit zu einem Gefährten gemausert hatte, dem sie vertrauen konnte.
  Devin ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihr und Brianna vorbei und setzte sich auf die Veranda.
  Tess folgte ihm. »Ich sehe schon, dass dir nicht nach Reden ist, also lass mich einfach etwas loswerden. Du brauchst nicht zu antworten.«
  Er blickte nicht auf. Im Moment zerfraß ihn sein Hass auf die Welt.
  »Wie du weißt, konnten wir Hudson nicht finden, und jetzt ist auch Daryl verschwunden. Niemand kann sagen, was aus ihnen wurde. Ich habe mit Brianna gesprochen, und wir sind uns einig, gleich morgen früh von hier aufzubrechen.«
  »Abhauen? Ihr wollt jetzt abhauen?«
  »Nein, bitte lass mich ausreden. Ich meinte, wir brechen auf … wir alle drei … um die beiden zu suchen.«
  »Oh.«
  »Du bist also dabei?«
  »Selbstverständlich. Das sind wir Daryl schuldig. Wir brechen unsere Zelte hier nicht ab, bis wir wissen, was mit ihnen geschehen ist.«
  »Devin, ich habe auch darüber nachgedacht, wie anders du geworden bist. Wenn ich mich an die ängstliche Person zurückerinnere, die ich letzte Woche kennenlernte …«
  »Ich würde es Anpassung nennen«, warf er in sanfterem Ton ein. »Ich bin mir der Umstände bewusst geworden und werde um unser Überleben kämpfen.«
  »Dann berichtige ich mich: Du hast dich angepasst.«
  »Gut«, entgegnete er und zeigte ein bitteres Lächeln.
  »Hungrig?«, fragte sie.
  »Ja, schon.«
  »Dann komm.«
  »Wie geht es Brando?«, wollte er wissen.
  »Unser tierischer Patient erholt sich gut. Ihm wird es schon bald besser gehen.«
  »Freut mich zu hören. Lass uns was essen. Dabei besprechen wir, wie wir Daryl und Hudson finden können.«

Tag 191

10. April 2021

Internationaler Flughafen von Denver

Lori ging unruhig im Raum auf und ab. Ihr wollte das Warum hinter alledem nicht einleuchten. Warum kehrte ihr David freiwillig den Rücken? Warum begleitete Eric ihn? Hatte sie etwas falsch gemacht? Ihre Beziehung jahrelang falsch eingeschätzt? Wieso wollte er immer noch diese Stelle annehmen, obwohl er nun wusste, dass sie schwanger war? Warum, warum, warum?
  Das Schloss klickte. Lori hielt inne und beobachtete, wie der Knauf umgedreht wurde. Dann ging die Tür langsam auf, und in der Annahme, es sei David, holte sie bereits Luft, um ihm einen Haufen Fragen und Vorwürfe an den Kopf zu werfen.
  Aber nicht ihr Mann, sondern Horton stand in der Tür.
  »Kanzler, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie überrascht.
  »Hallo, Lori.«
  »Moment mal. Sie kommen hier herein, ohne vorher anzuklopfen?«
  »Ich habe geklopft«, behauptete er, ohne einen Fuß über die Schwelle zu setzen.
  »Nein, haben Sie nicht.«
  »Geht das schon wieder los?«
  »Was geht los?«
  Er schüttelte den Kopf in sichtlichem Unverständnis über Loris Verhalten und drehte sich um.
  »Nein, warten Sie. Was ist denn los?«
  »Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass ich nichts mit der Anstellung Ihres Mannes in Camp Sierra zu tun habe.«
  »Und das soll ich glauben?«
  »Ich habe schon einmal versucht, Ihnen zu erklären, dass ich kraft meines Amtes Sonderrechte genieße und Einfluss üben kann, allerdings dem Rat nach wie vor Rechenschaft schuldig bin. Verstehen Sie mich als Vorsitzenden eines Ausschusses, der mich jederzeit absetzen kann.«
  »Der Rat legt so großen Wert darauf, wer an dieser Schule unterrichtet?«
  »Ja, tatsächlich. Man hat das System perfektioniert, um unsere Herkunft und andere persönliche Daten zu analysieren – den Werdegang jedes Einzelnen, sein Temperament, seine Intelligenz und so weiter – damit sich für jede Position der bestmögliche Kandidat finden lässt. Unser neuer Staat wird auf Leistung gründen, verstehen Sie? Nur, wer erwiesene Fertigkeiten an den Tag legt, darf Verantwortung übernehmen und sich Bürger nennen. Was Ihrem Gatten und Ihrem Sohn zuteil wird, ist eine Ehre, genau wie das, was man Ihnen hier bietet.«
  Sie starrte ihn ausdruckslos an und entgegnete: »Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen.«
  »Ich fasse es aufs Wesentliche zusammen: Das alte System existiert nicht mehr, da es im Zuge der Pandemie unterging. Unsere neue Gesellschaft wird anders sein – besser – und nur wenige Auserwählte erhalten exklusiven Zugang.«
  »Ich weiß immer noch nicht, was Sie meinen«, erwiderte Lori. Alles, was er sagte, widersprach dem Wertesystem der Vergangenheit, so wie sie es kannte.
  »Nun, außerdem kam ich vorbei, um mich zu erkundigen, ob es Ihnen und dem Baby gut geht.«
  Diese Bemerkung entlockte ihr ein Lächeln. »Ja, uns geht es gut, danke«, versicherte sie. »Wenigstens einer, der sich dafür interessiert.«
  »Sie hatten mich darum gebeten, Davids Anstellung zu verhindern. Ich versuchte, ihn umzustimmen, doch er besteht weiter darauf. Es ist seine freie Entscheidung.«
  »Ich bin seine Ehefrau!«
  Horton hob abwehrend die Hände. »Ich störe Sie besser nicht weiter, womit Sie auch immer gerade beschäftigt waren«, sagte er, und drehte sich wieder zur Tür um. Dabei fiel sein Blick auf die Skizzen auf ihrem Zeichentisch. »Ist das unser neues Kapitol?«
  »Ja.«
  »Darf ich es sehen?«
  »Oh, sicher. Sie sind der Kanzler, der ja so viel Macht hat«, versetzte sie sarkastisch.
  Er ignorierte diese unbedachte Spitze, ging zum Tisch hinüber, beugte sich über die Entwürfe und betrachtete sie eingehend.
  »Der Rundbau gefällt mir, besonders die gewaltigen Säulen, die rings um den Sockel verlaufen. Das gibt ein sehr starkes Bild ab.«
  »Ich ließ mich von der Architektur des griechischen und römischen Altertums inspirieren, was ja auch die Schöpfer der alten Regierungsgebäude taten.«
  »Diese Idee finde ich aber bestechend: Das Dach mit Solarzellen zu bestücken. Das ist großartig. Sie haben sich zu Herzen genommen, dass wir das Schöne mit dem Nützlichen verbinden möchten.«
  »Ich mag manchmal den Eindruck vermitteln, nicht zuzuhören, tue es aber sehr wohl.«
  Er richtete sich auf und schaute ihr in die Augen. »Das ist wunderbar – fast so wunderbar wie die Frau, die es ersonnen hat.«
  Lori wurde rot und trat einen Schritt zurück.
  Er nahm ihre Hand. »Bitte entziehen Sie sich mir nicht, wenn ich Ihnen ein Kompliment mache. Normalerweise fühle ich mich nicht so zu Frauen hingezogen, wie es bei Ihnen der Fall ist. Seit ich Sie zum ersten Mal sah, war ich … Nun ja, ich konnte nicht aufhören, an Sie zu denken.«
  »Kanzler, ich finde nicht, dass dies der angemessene Ort für solche Bemerkungen ist. Ich wohne hier und bin …«
  Er drückte ihre Hand fester und zog sie zu sich. »Lori, ich erkenne es auch in Ihren Augen; ich kann Ihnen alles schenken, was Sie sich wünschen.«
  »Alles, außer dass mein Mann hierbleibt.«
  »Ich kann Ihr Baby vor dem Tod bewahren, das garantiere ich Ihnen.«
  »Bitte gehen Sie jetzt.«
  Er zog sie noch näher zu sich und wollte sie küssen.
  Da klickte die Tür wieder und ging auf. David und Eric standen davor.
  Sie wich von Horton zurück, aber nicht schnell genug.
  David sah das, von dem er gehofft hatte, es nie wieder sehen zu müssen: Wie Lori einen anderen Mann küsste. »Als hätte ich es geahnt«, sagte er, drehte sich um und ging davon.
  Eric war alt genug, um die Geschichte seine Eltern zu kennen, und seine Bemerkung traf sie am härtesten: »Du bist eine Hure.«
  »Eric, David, es ist nicht das, was ihr denkt«, jammerte sie, stieß Horton von sich und lief den beiden hinterher.

Außerhalb von Reed, Illinois

Devin, Tess und Brianna suchten das Gelände sorgfältig mit den Augen ab, auf dem er Daryl zuletzt gesehen hatte. Sie hielten sich zwischen Bäumen und Maispflanzen versteckt. Nach einer Weile kamen sie überein, dass das Grundstück verlassen war.
  »Tess, gib mir Deckung, und kommt nicht nach, bis ich grünes Licht gebe«, sagte Devin.
  Tess schaute ihn an. »Wir halten dir den Rücken frei, dir passiert nichts.«
  Devin stand auf und ging zu dem Schuppen, in dem sie Deborah und die andere Frau gefunden hatten. Die Tür stand auf, ein weiterer Beleg dafür, dass niemand mehr zugegen war. Als er den Verschlag erreichte, steckte er den Kopf hinein und sah sich um, entdeckte aber nichts. Etwa 25 Fuß entfernt stand das zweite Nebengebäude. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, lief er hinüber. Es handelte sich um einen kleinen Schuppen ohne Fenster. Als er die Tür aufzog, wehte ihm ein ekelerregender Gestank entgegen. Schnell schlug er sie wieder zu und schloss die Augen. Er verspürte den starken Drang, sich zu übergeben. Da er sich gut vorstellen konnte, wozu das Gebäude verwendet worden war, lag es ihm fern, das genauer zu untersuchen.
  Nun wollte er im Haus nachzuschauen und lief zur Hintertür. Dabei stolperte er über etwas im hohen Gras, das den Garten überwucherte, und fiel zu Boden. Als er sich hinsetzte, um zu sehen, worüber er gestürzt war, entdeckte er die Leiche einer weiteren Frau. Ein kurzer Blick auf ihre Wunden genügte, um zu wissen, dass sie erschossen worden war. Er entsann sich der Schüsse, die er am Vortag gehört hatte, stand wieder auf und lief zur Treppe hinter dem Haus. Als er die Terrasse betrat, bemerkte er, dass die Tür aufgebrochen worden war. Er schaute dorthin, wo Tess mit Brianna wartete, und nickte, ehe er die Tür ein Stück weit öffnete, um einen Blick in die Wohnung zu werfen.
  »Zähl bis drei, Dev«, flüsterte er. »Eins, zwei, drei!« Daraufhin stieß er die Tür ganz auf und ging mit dem Gewehr an der Schulter hinein. Weder in der Küche noch im Wohnzimmer fand er jemanden. Der Rest des Gebäudes war schnell durchsucht, aber keine Menschenseele anzutreffen.
  Devin suchte nach Hinweisen auf Jenks’ Verbleib, allerdings vergeblich. Nach einer Weile kehrte er zu Tess und Brianna zurück.
  »Warum hast du uns nicht gerufen?«, fragte Tess.
  »Ihr braucht das nicht zu sehen.«
  »Wir hätten dir helfen können«, hielt sie dagegen.
  »Dort ist nichts. Verschwinden wir.« Er machte sich auf den Weg zurück zum Geländewagen.
  »Bist du sicher?«
  »Jawohl. Aber ich glaube, es gibt da jemanden, der uns ein paar Fragen beantworten kann.«
  »Wer soll das sein?«, erwiderte sie.
  »Der Bürgermeister.«

Internationaler Flughafen von Denver

Der Wind brauste in Böen über die Rollbahn und spielte wild mit Loris Haar. Der wolkenverhangene Himmel trug zu ihrer düsteren Stimmung bei, passte aber auch zu der Szene, die sich zwischen David, Eric und ihr abspielte.
  »Bitte glaub mir«, flehte sie.
  »Das war’s, Lori – einmal zu viel. Ich glaube, du hast eine Schwäche für Männer mit Macht.« David bezog sich auf ihr voriges Techtelmechtel mit einem Ratsmitglied aus Denver.
  »Dafür habe ich mich entschuldigt. Wie oft willst du mir noch vorhalten, dass ich einen Fehler begangen habe?«
  Er sah sie wütend an. »Das wird nun das letzte Mal gewesen sein.«
  »Tu das nicht. Unsere Familie bedeutet mir so viel.«
  »Ich war dafür, dass du hier arbeitest, so wie ich alle Schritte unterstützte, die du in deiner Karriere gemacht hast, doch diesmal ging es wirklich darum, der Familie zu helfen. Ich stellte meinen Stolz völlig hintan und sagte mir, du würdest dich einzig darauf konzentrieren, dafür zu sorgen, dass wir aus diesem Lager kämen. Doch das war ein Irrtum. Du bist hierher gekommen und konntest … konntest deine Gier nicht zügeln. Mein Gott, Lori! Du bist keine Woche weg und liebäugelst schon mit anderen Männern. Ich kann ja noch nicht einmal sicher wissen, dass das Kind von mir stammt!«
  »Wie kannst du es wagen, mir so etwas zu unterstellen? Natürlich ist es dein Kind!«
  »Wie soll ich das sicher wissen? Du wolltest hier etwas dafür tun, dass wir eine Chance erhalten …«
  »Ich bin unschuldig. Was ihr gesehen habt, war er, nicht ich.«
  »Männer legen es nicht so verbissen darauf an, wenn sie keine Gelegenheit wittern. Mir fiel schon etwas bei unserer Ankunft auf, und weißt du, was das war?«
  Lori wusste nicht, worauf er hinaus wollte. Sie konnte nur dastehen, eine Verbalattacke nach der anderen über sich ergehen lassen und hoffen, dass David sich abreagieren würde.
  »Keine Ahnung? Tja, du hattest deinen Ehering nicht an, wie praktisch.«
  »Nein, so war das nicht. Ich zog ihn aus, weil meine Finger anschwellen. In meinem Gewebe sammelt sich Wasser und …«
  »Bla, bla, bla – genug dummes Geschwätz!«, brüllte er. »Du willst dieses Leben, du willst Männer mit Macht und Einfluss, nicht zu vergessen die Anerkennung als ach so tolle Architektin. Also gut, du sollst sie haben. Doch alles gebe ich dir nicht. Du wirst nicht gewinnen, nicht diesmal.«
  Die emotionale Anspannung zeichnete sich in Davids Zügen ab. Tränen glitzerten in seinen Augen.
  Lori entging das nicht. Sie streckte einen Arm nach ihm aus.
  Er schlug ihre Hand weg. »Rühr mich nicht an! Du wirst mich nie wieder verletzen.«
  »Bitte verlass mich nicht. Ich brauche dich, das Baby braucht dich.«
  »Keine Sorge, ich werde mich vergewissern, wie es dir geht. Aber sei dir gewiss, nur wegen des Kindes. Sobald es auf die Welt kommt, verlange ich einen Vaterschaftstest. Sollte es von mir stammen, werde ich mich darum kümmern. Aber zwischen uns beiden ist es aus.«
  Sie begann, am ganzen Körper zu zittern, und streckte sich abermals nach David aus.
  Er trat zurück und drehte sich zu Eric um, der scheinbar teilnahmslos wartete.
  »Mach’s gut, Lori, genieß das Leben, das du schon immer haben wolltest«, sagte David und wandte sich ab. Er ging zu Eric hinüber und berührte seine Schulter.
  Der Junge hob den Kopf, nickte und schaute dann hinüber zu seiner Mutter. Nachdem er ihr einen bösen Blick zugeworfen hatte, ging er mit seinem Vater auf einen Helikopter zu.
  Lori schaute ihnen hinterher. Sie weinte bittere Tränen, während ihre Familie ihr den Rücken kehrte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, wollte ihnen nachlaufen und betteln. Aber sie kannte David gut genug, um zu wissen, dass man ihn nicht umstimmen konnte, wenn er so wütend war. Ihr würde nichts Anderes übrig bleiben, als Zeit verstreichen und hoffentlich auch die Wunden heilen zu lassen, die sie vor Jahren aufgerissen hatte.
  Die Rotorblätter des Hubschraubers drehten sich immer schneller. Die Heckklappe wurde eingefahren.
  Wie sollte sie ihre Arbeit erledigen und ein Kind allein großziehen? Sie musste einen Weg finden, ihre Familie wiederzugewinnen.

Reed, Illinois

Als Devin die letzte Abzweigung nahm und das Rathaus sah, dämmerte ihm, dass es wohl keine so gute Idee gewesen war, mit dem Geländewagen in die Stadt zu fahren. Die wenigen Menschen, denen er begegnete, bedachten das Militärfahrzeug mit langen, argwöhnischen Blicken.
  »Erklär mir noch einmal, warum es etwas bringen soll, diesen Bürgermeister aufzusuchen?«, bat Tess.
  »Hast du einen besseren Vorschlag?«, erwiderte er.
  »Es ergibt durchaus Sinn, mit ihm zu sprechen«, bemerkte Brianna, »um herauszufinden, ob er irgendwie helfen kann.«
  »Ich weiß bloß nicht, womit er uns helfen könnte, geschweige denn, ob er überhaupt will. Nach dem, was du mir über Daryls Zerwürfnis mit den Bewohnern der Stadt erzählt hast, glaube ich einfach nicht, dass er sich darum scheren wird.«
  »Mag sein, aber falls du eine bessere Idee hast, würde ich sie gerne hören.«
  Tess stierte Devin an. Sie wunderte sich zusehends über sein Verhalten. Nein, sie hatte keine bessere Idee.
  Nachdem er auf den Parkplatz eingebogen war, bremste er und schaltete den Motor ab.
  »Ich möchte, dass ihr zwei hier bleibt«, sagte er und stieg aus. »Haltet die Augen offen.«
  »Ich denke, wir sollten mitkommen«, hielt Tess dagegen.
  »Nein, bleibt hier und haltet euch bereit. Seht euch nach Daryl und seinem Auto um, aber achtet auch auf diese Kiste; mir ist aufgefallen, dass uns ein paar Typen auf dem Weg in die Stadt böse Blicke zugeworfen haben.«
  »Na gut.«
  Brianna stieg ebenfalls aus und streckte sich. Sie sah sich auf den leeren Straßen um und fasste die wenigen Sehenswürdigkeiten von Reed ins Auge. Wenngleich sie schon durch den Ort gefahren war, hatte sie ihn für jemanden, der aus relativ naher Umgebung kam, selten aufgesucht.
  Tess tat es ihr gleich, indem sie ihre Glieder ausgiebig dehnte. Als Devin im Rathaus verschwand, fühlte sie sich ein wenig einsam. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass er ständig in ihrer Nähe war.
  Plötzlich hallte das Brummen mehrerer Wagenmotoren von den Ziegelsteinmauern der Gebäude wider. Einige große Pick-ups kamen herangefahren und blieben nicht weit entfernt vorm Rathaus stehen. Die lauten Autos erinnerten sie sofort an die Gruppe, die sie angegriffen hatte und später auf dem Hof von Devins Cousin aufgetaucht war.
  Die Motoren wurden abgestellt, und eine Schar Männer stieg aus den geräumigen Kabinen der Wagen, aber auch von den Ladeflächen. Einige schauten in ihre Richtung, begannen dann, miteinander zu reden und zeigten auf sie.
  Tess zog sich ihre Baseballmütze ins Gesicht, um nicht erkannt zu werden, doch der Geländewagen ließ sich nicht verbergen. Sie ging davon aus, dass er der Gesprächsgegenstand der Typen war. Ein paar von ihnen gingen ins Gebäude, während der Großteil draußen blieb und weiter auf die beiden Frauen starrte.