Hanns und Rudolf
Der deutsche Jude und die Jagd nach dem Kommandanten von Auschwitz
Aus dem Englischen von Michael Schwelien
Mit 47 Abbildungen und zwei Karten
Für Kadian
Doch jetzt schreibt dieses Lied auf! Lehre es den Israeliten! Lass es sie auswendig lernen, damit dieses Lied mein Zeuge gegen die Israeliten werde … Dann wird, wenn Not und Zwang jeder Art es [das Volk] treffen, dieses Lied vor ihm als Zeuge aussagen; denn seine Nachkommen werden es nicht vergessen, sondern es auswendig wissen.
Deuteronomium 31 : 19 und 21
Der Name des Kommandanten von Auschwitz wird auf unterschiedliche Weise geschrieben. »Rudolf Höß« ist wohl die authentische Schreibweise, so hat der Kommandant seinen Namen selbst geschrieben, also mit »ß«. Die übliche Schreibweise im Englischen ist »Rudolf Hoess«. Aber der Kommandant hat seinen Namen nie so geschrieben, und im Englischen besteht Verwechslungsgefahr mit Hitlers Sekretär Rudolf Hess. Ich habe mich deshalb für die Schreibweise »Rudolf Höss« entschieden. So, und nur so, hat übrigens auch die SS seinen Namen geschrieben, so hat ihn Hanns Alexander geschrieben.
Und noch etwas. Obwohl ich Hanns und Rudolf bei ihren Vornamen nenne, möchte ich sie nicht gleichstellen. Es ist äußerst wichtig für mich, dass es nicht zu einer moralischen Gleichsetzung kommt. Aber diese beiden Männer waren Menschen, das ist nun einmal so, und wenn ich ihre Geschichten erzählen soll, muss ich mit ihren Vornamen anfangen. Sollte dies jemanden verletzen, und ich kann mir vorstellen, dass dies passiert, dann bitte ich hiermit um Verzeihung.
ALEXANDER. Howard Harvey, liebevoll Hanns genannt, schied schnell und friedlich am Freitag, dem 23. Dezember, dahin. Einäscherung am Donnerstag, dem 28. Dezember um 14 Uhr 30, Hoop Lane, Golders Green Crematorium, West Chapel. Bitte keine Blumen. Spenden, falls beabsichtigt, bitte an das North London Hospice.
Daily Telegraph, 28. Dezember 2006
Hanns Alexander wurde an einem kalten und regnerischen Nachmittag drei Tage nach Weihnachten bestattet. In Anbetracht des Wetters und der Jahreszeit war die Zahl der Trauergäste beachtlich. Über dreihundert Menschen zwängten sich in die Kapelle. Die jüdische Gemeinde kam zeitig und in voller Zahl. Sie beanspruchte alle Sitzplätze für sich. Fünfzehn Menschen aus Hanns’ ehemaliger Bank, der Warburg-Bank, nahmen teil, darunter der ehemalige und der gegenwärtige Vorstandsvorsitzende. Seine engen Freunde waren anwesend, ebenso die große, weitverzweigte Familie. Ann, die Frau, mit der Hanns sechzig Jahre verheiratet war, saß gemeinsam mit ihren beiden Töchtern, Jackie und Annette, in der ersten Reihe.
Der Kantor der Synagoge rezitierte das Kaddisch, das im Judentum traditionell auch als Totengebet gesprochen wird. Dann legte er eine Pause ein. Mit Blick auf Ann und die Töchter hielt er eine kurze Predigt, in der er sagte, wie sehr der Verlust schmerzte und wie sehr Hanns von der gesamten Gemeinde vermisst werden würde. Dann standen zwei Neffen von Hanns auf, um gemeinsam seine Lobeshymne zu singen.
Vieles war bekannt. Hanns’ Jugend in Berlin. Die Flucht der Alexanders vor den Nazis, ihre Übersiedlung nach England. Hanns’ Dienst in der britischen Armee. Seine Arbeit als einfacher Bankangestellter. Seine enge Bindung an seine Familie und das halbe Jahrhundert des schlepping for the synagogue, seines Einsatzes für die jüdische Gemeinde.
Aber da war noch eine Sache. Kaum einer der Anwesenden wusste etwas davon: Am Ende des Kriegs hatte Hanns den Kommandanten von Auschwitz, Rudolf Höss, verhaftet.
Das erregte meine Aufmerksamkeit. Ich hatte an der Trauerfeier nicht teilnehmen können, aber die Grabrede war mir zugestellt worden. Denn Hanns Alexander war der Bruder meiner Großmutter, er war mein Großonkel. Als Kinder sind wir immer ermahnt worden, wir sollten ihn nicht nach dem Krieg fragen. Jetzt erfuhr ich, dass Hanns ein Nazi hunter war, einer, der Jagd auf Nazis gemacht hatte.
Der Gedanke, dass dieser nette, unauffällige Mann im Zweiten Weltkrieg ein Held gewesen sein soll, schien mir zunächst abwegig. Wahrscheinlich war dies nur eine weitere von Hanns’ Übertreibungen. Alle respektierten ihn. Aber er war auch ein Witzbold, ein Schelm. Einer, der gerne den Älteren Streiche spielte und uns Jüngeren schmutzige Witze erzählte, der, um ehrlich zu sein, zur Übertreibung neigte. Wenn er wirklich Jagd auf die Nazis gemacht hätte, wäre das dann nicht in dem Nachruf in der Zeitung erwähnt worden?
Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Wir leben in einer Zeit, in der die letzten verbliebenen Zeugen des Zweiten Weltkriegs versterben, in der so oft Erfahrungsberichte veröffentlicht worden sind, dass ihre ursprüngliche Eindringlichkeit verloren ging. So bleiben uns nur noch Überzeichnungen: Hitler und Himmler als Monster, Churchill und Roosevelt als glorreiche Krieger, Millionen von Juden als Opfer.
Aber Hanns Alexander und Rudolf Höss waren Männer, deren Charaktere viele Seiten hatten. Aus diesem Grund weicht dieses Buch vom klassischen Porträtmuster des Helden und des Schurken ab. Beide Männer wurden von ihren Familien vergöttert und von ihren Kollegen geachtet. Beide wuchsen in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Deutschland auf, sie liebten ihr Land – jeder auf seine Weise. Manchmal zeigte sogar Rudolf Höss, der Kommandant von Auschwitz, so etwas wie Mitgefühl. Und das Verhalten seines Jägers war nicht immer über jeden Verdacht erhaben. Dieses Buch ist also eine Erinnerung an eine komplexere Welt. Hier soll die Geschichte anhand der Lebensläufe zweier Männer erzählt werden, die in parallel existierenden, wiewohl antagonistischen deutschen Kulturen aufwuchsen.
Bei der Darstellung handelt es sich auch um den Versuch, die Lebensläufe dieser beiden Männer nachzuvollziehen, um den Versuch, zu verstehen, wie es dazu kam, dass sich ihre Lebenswege kreuzten. Dieses Unterfangen wirft schwierige Fragen auf: Wie wird ein Mensch zum Massenmörder? Warum sucht ein Mensch die Konfrontation mit seinem Peiniger? Was passiert mit den Familien dieser Männer? Ist Rache je gerechtfertigt?
Dieser Bericht zeigt, dass die Zeitgeschichte einen anderen Lauf nahm, als die Welten dieser beiden Männer aufeinanderprallten. Die Zeugenaussagen, die in der Folge gemacht wurden, erwiesen sich als von größter Bedeutung in den Kriegsverbrecherprozessen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Höss war der erste führende Nazi, der zugab, Hitlers und Himmlers Endlösung exekutiert zu haben. Und er tat dies mit schockierender Detailgenauigkeit und in größter Ausführlichkeit. Seine Aussagen, seine noch nicht da gewesene Beschreibung des menschlichen Bösen, brachte die Weltgemeinschaft dazu zu schwören, dass sich solche Gräueltaten nie mehr wiederholen sollten. Von diesem Zeitpunkt an konnten alle, die unter extremen Verfolgungen litten, auf Einmischung von außen hoffen.
Dies ist auch eine Geschichte voller überraschender Erkenntnisse. In dem ruhigen Londoner Norden, in dem ich aufwuchs, wurden Juden – ich bin einer – als Opfer des Holocaust gesehen, nicht als Rächer. Das Stereotyp habe ich nie wirklich infrage gestellt, bis ich auf die hier erzählte Geschichte stieß. Oder, um genauer zu sein, bis sie über mich kam.
Dies ist die Geschichte von Juden, die zurückschlagen. Obwohl es einige bekannte Beispiele für Widerstand gibt – Ghettoaufstände, Lagerrevolten, Partisanenangriffe in den Wäldern – , sind dies jedoch Raritäten. Jedes dieser Beispiele von Widerstand sollte gefeiert werden, als Inspiration für andere. Selbst im Angesicht absoluter Brutalität gibt es eine Hoffnung auf Überleben – und vielleicht sogar eine auf Rache.
Diese Darstellung ist zusammengetragen aus Archiven, persönlichen Briefen, alten Tonbandaufnahmen, Interviews mit Überlebenden, Biografien und historischen Abhandlungen. Für die Auskünfte zu Rudolf Höss werden seine autobiografischen Aufzeichnungen herangezogen, die in der Zeit zwischen seiner Auslieferung an Polen im Mai 1946 und der Prozesseröffnung im März 1947 entstanden sind. Die erste vollständige Fassung erschien 1956 in Polen, die erste deutsche Fassung, herausgegeben von Martin Broszat, 1958 als Band 5 der ›Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte‹ des Instituts für Zeitgeschichte, München. »Weil Höß’ Aufzeichnungen die eines durchaus kleinbürgerlich-normalen Menschen sind, machen sie so betroffen, denn sie erlauben es uns nicht länger, eine kategorische Unterscheidung zu treffen zwischen denen, die nur aus Idealismus und Pflichtgefühl bei der Sache waren, und denen, die – vermeintlich – von Natur aus grausam, das gute Wollen der anderen durch ihr teuflisches Handwerk verdarben.« (Martin Broszat, 1958)
Es ist eine Geschichte, die von den Hauptpersonen nie ganz erzählt worden ist. Beide Männer – Hanns und Rudolf – hatten dafür ihre Gründe. Diese Gründe werden, denke ich, schnell ersichtlich.
1
Rudolf
Baden-Baden, Deutschland
1901
Rudolf Franz Ferdinand Höss wurde am 25. November 1901 geboren. Seine Mutter, Paulina Speck, war 22, sein Vater, Franz Xaver, war 26 Jahre alt. Rudolf war ihr erstes Kind. Sie lebten in der Gunzenbachstraße 10, in einem weiß getünchten und rot gedeckten Haus, das in einem bewaldeten Tal ziemlich weit außerhalb von Baden-Baden stand.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es die mittelalterliche Stadt Baden-Baden eilig, endlich in der Moderne anzukommen. Baden-Baden liegt an dem sich sanft dahinschlängelnden Flüsschen Oos in einem satten grünen Tal voller gepflegter Weingärten. Fünf Hügel ragen über der Stadt auf, kleine Erhebungen vor dem sich dunkel am Horizont erstreckenden Schwarzwald.
Im 19. Jahrhundert hatten Baden-Badens Heilbäder und sein glanzvolles Nachtleben Europas Glitzerwelt angezogen. Dostojewski recherchierte in den hiesigen Kasinos seinen Roman Der Spieler, und Queen Victoria, Napoleon III. wie auch Johannes Brahms verbrachten ihre Zeit gerne in der Stadt, die eine Zeit lang als Europas Sommerhauptstadt galt. Solche Touristen brachten der Stadt großen Wohlstand. So konnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts umfassende Modernisierungsarbeiten in Angriff genommen werden. Neue Wasserleitungen wurden in die Kalksteinfundamente aus römischer Zeit gefräst, um die Kapazität der Bäder zu vergrößern; eine elektrisch betriebene Standseilbahn wurde zum Merkur, dem Hausberg, gebaut, von dessen Gipfel aus man einen wunderbaren Blick auf das umgebende Tal hat; die gusseisernen Gaslaternen am Hauptplatz wurden durch elektrische Lichter ersetzt.
Eigenheim der Familie Höss (Zentrum), Baden-Baden
In dem kleinen Eigenheim der Familie Höss außerhalb der Stadt aber blieb alles beim Alten. Franz Xaver Höss hatte als Offizier der Reichswehr in Afrika gedient – bis eine Wunde von einem vergifteten Pfeil in seiner Brust seiner Karriere beim Militär ein jähes Ende bereitete. Er kam heim nach Deutschland und wurde Ausbilder an der Militärakademie in Metz, bis er sich schließlich als Kaufmann in Baden-Baden niederließ. Abgesehen von einer gewissen romantischen Verklärung seiner Abenteuer in Afrika war er ein in jeder Hinsicht durchschnittlicher Mensch: ein patriotischer Deutscher, ein überzeugter Katholik, ein Mann, der gerade in der Mittelklasse angekommen war. Seine Familie unterschied sich in nichts von den Nachbarsfamilien. Drei Jahre nach Rudolf wurde eine Tochter geboren, Maria. Eine weitere Tochter, Margarete, folgte im Jahr 1906.
Rudolf spielte als Kind meistens allein. In der ländlichen Umgebung, in der er aufwuchs, waren die anderen Kinder meist älter als er, seine Schwestern waren dagegen zu jung für ihn. Seine Mutter war mit dem Haushalt und mit den Mädchen beschäftigt. Es wurde zu seiner Lieblingsbeschäftigung, zu dem großen Wasserspeicher der Stadt zu wandern, der etwas oberhalb des Hauses seiner Eltern lag. Da saß er dann, presste sein Ohr an das dicke Mauerwerk, hörte zu, wie das Wasser rauschte und gurgelte. Bisweilen wagte er sich auch in den Schwarzwald hinein, der ganz in der Nähe begann.
Rudolf verbrachte viel Zeit dort. Aber der Wald war nicht immer so friedlich, wie er schien. Als Rudolf fünf war, wurde er am Rande des Waldes von einer Gruppe von, wie man sie damals nannte, Zigeunern mitgenommen. Er mutmaßte später, dass die »Zigeuner« ihn »verkaufen« wollten. Es war aber ein Bauer aus der Nachbarschaft zufällig vorbeigekommen und hatte ihn befreit. Nach dem Entführungsversuch wurde es Rudolf verboten, sich alleine so weit von dem Haus zu entfernen. Er durfte sich aber auf den Höfen der Nachbarn aufhalten. Dort mistete er die Ställe aus und striegelte die Pferde. Darüber entdeckte er seine Liebe für die Tiere. Er war noch klein genug, dass er unter den Bäuchen der Pferde herumkriechen konnte, aber er wurde nie von ihnen getreten oder gebissen. Er mochte auch Stiere und Hunde, aber die Pferde hatten es ihm besonders »angetan«, wie er mitteilte. Es war eine Leidenschaft, die ihm erhalten bleiben sollte.
Als Rudolf sechs Jahre alt wurde, stieg das Ansehen seiner Familie gewaltig, da sie in ein Haus in der Nähe von Mannheim umzog. Mannheim, gut hundert Kilometer nördlich von Rudolfs erstem Zuhause und rund achtzig Kilometer südlich von Frankfurt, mit einer Bevölkerung von über 300 000 und einer Industrie, welche die gesamte Region versorgte, war wesentlich bedeutender und größer als Baden-Baden. Rudolf vermisste die Tiere sehr und auch den Wald. Aber da passierte etwas, das ihm den Umzug versüßte. Zu seinem siebten Geburtstag bekam er ein pechschwarzes Pony geschenkt, das er Hans nannte. Er ritt häufig in den nahen Hardtwald, pflegte sein Pony stundenlang, nachdem er von der Schule nach Hause gekommen war. Er liebte es so sehr, dass er es manchmal sogar in sein Zimmer schmuggelte, wenn seine Eltern nicht zu Hause waren, und verbrachte seine gesamte Freizeit mit ihm. Das Pony war ihm so treu ergeben, dass es ihm nachlief wie ein Hund.
Rudolf war fasziniert von den Erzählungen seines Vaters vom Krieg. Dessen Dienstzeit in Afrika interessierte ihn am meisten: »Seine Schilderungen über die Kämpfe mit den aufständischen Eingeborenen, deren Leben und Treiben und ihrem finsteren Götzenkult«. Aber trotz der Tatsache, dass sowohl Rudolfs Vater als auch Großvater Soldaten gewesen waren, fühlte sich Rudolf mehr zu den Missionsgesellschaften hingezogen als zum Dienst an der Waffe. Er wollte unbedingt Missionar werden und dann »ins dunkelste Afrika, möglichst mitten in den finstersten Urwald« ziehen.
Von seinem Vater erfuhr Rudolf alles über die Rituale und Gebote der katholischen Kirche. Franz Xaver nahm seinen Sohn mit auf Pilgerfahrten zu Wallfahrtsstätten und Gnadenorten in seiner Heimat, nach Einsiedeln in der Schweiz sowie nach Lourdes in Frankreich. Rudolf wurde zu einem inbrünstigen Katholiken. Später erinnerte er sich, dass er »in wahrhaft kindlichem Ernst betete und sehr eifrig als Ministrant tätig war«, dass er seine »religiösen Pflichten sehr ernst« nahm.
Von Kindestagen an wurden Rudolf zahlreiche Aufgaben im Haushalt übertragen, die er ohne Widerrede zu erledigen hatte. Er wurde auch zu absolutem Pflichtbewusstsein erzogen. Für jedes Vergehen wurde er schwer bestraft. Sogar eine kleine Unfreundlichkeit gegen eine seiner Schwestern – ein hartes Wort oder eine neckende Bemerkung – führte unweigerlich dazu, dass er für lange Zeit auf dem harten Boden knien und Gott um Vergebung bitten musste.
Am Tag der Geburt seiner ersten Tochter legte Franz Xaver ein Gelübde ab. Sein drei Jahre alter Sohn sollte Priester werden. Er sollte ein Priesterseminar besuchen, er sollte keusch leben, er sollte sich dem Gebet, dem Lernen und dem Dienst an der Gemeinde verschreiben. Rudolfs Erziehung wurde auf ein einziges Ziel ausgerichtet, nämlich auf die Vorbereitung für ein frommes Leben. Er erinnerte sich später:
Ganz besonders wurde ich immer darauf hingewiesen, daß ich Wünsche oder Anordnungen der Eltern, der Lehrer, Pfarrer usw., ja aller Erwachsenen bis zum Dienstpersonal unverzüglich durchzuführen bzw. zu befolgen hätte und mich durch nichts davon abhalten lassen dürfte. Was diese sagten, sei immer richtig. Diese Erziehungsgrundsätze sind mir in Fleisch und Blut übergegangen.
Das Leben in der Nähe Mannheims brachte es mit sich, dass Rudolf nun Kinder seines Alters um sich hatte. Er hatte großen Spaß, sich mit den anderen Jungs Raufereien zu liefern. Sein Vorhaben, in der Zukunft als Missionar zu arbeiten, nahm ihm nichts von seiner Begeisterung für solche Kämpfe und er hielt sich auch mit Rache nicht zurück. Wenn ein anderer Junge ihm etwas getan hatte, ließ er nicht locker, bis er es ihm zurückgezahlt hatte. Seine Spielkameraden hatten Angst vor ihm. So seine Selbstauskunft.
Als Rudolf elf Jahre alt war, ging es jedoch bei einer dieser Rangeleien zu weit. Er und einer seiner Klassenkameraden hatten sich wie üblich am Eingang zur Turnhalle gerauft. Sie wollten beide die Ersten in der Halle sein. Dabei hat Rudolf »unbeabsichtigt« einen anderen Schüler die Treppe hinuntergestoßen. Dieser brach sich dabei einen Knöchel. Rudolf wurde mit zwei Stunden Karzer bestraft. Es war ein Samstagvormittag. Am Nachmittag ging er – wie jede Woche – zur Kirche und »beichtete auch diesen Vorfall treu und brav«. Der Beichtvater, ein guter Freund seines Vaters, war am Abend bei der Familie zu Gast. Er erzählte Franz Xaver von dem Vorfall. Der Vater stellte tags drauf, also am Sonntag, seinen Sohn zur Rede und bestrafte ihn hart, da er den Vorfall nicht sofort gemeldet hatte. Der Bruch des Beichtgeheimnisses nahm Rudolf stark mit. Er verlor seinen Glauben an die Vertrauenswürdigkeit und Verschwiegenheit der Priester.
Ich habe lange, lange Zeit immer wieder alle Einzelheiten darüber nachgeprüft, weil es mir so etwas Ungeheuerliches war. Ich war aber damals – bin es heute auch noch – fest davon überzeugt, daß das Beichtgeheimnis von meinem Beichtvater verletzt worden war. Mein Vertrauen zum geheiligten Priesterstand war zerbrochen, und Zweifel begannen sich in mir zu regen. Zu diesem, meinem bisherigen Beichtvater, ging ich nicht mehr zur Beichte.
Rudolf malte ein düsteres Bild von seiner Jugend: ein fanatischer und bigotter Vater, den er fürchtete, eine unnahbare Mutter, die sich entweder um die beiden kleinen Schwestern kümmerte und mit ihnen schmuste oder wegen irgendeiner Krankheit bettlägerig war. Er habe nie erlebt, so erinnerte sich Rudolf später, dass jemand aus seiner Familie seine Nähe suchte und ihm Wärme gab. Es mochte mal einen Händedruck oder ein paar dürre Dankesworte gegeben haben, aber er lehnte als Kind jeden Zärtlichkeitsbeweis ab. Und obwohl sich Rudolf seinen Eltern sehr zugetan fühlte, wie er versicherte, brachte er nie den Mut auf, ihnen seine kleinen und großen Sorgen zu offenbaren: »Ich machte dies alles mit mir selbst ab.«
Am 3. Mai 1914, ein Jahr nach dem Zwischenfall mit dem Priester, starb Rudolfs Vater zu Hause. Die Todesursache wurde nicht aufgezeichnet.
Ich kann mich nicht entsinnen, daß dieser Verlust mir besonders naheging. Auch war ich noch zu jung, um die ganze Tragweite zu übersehen. Und doch sollte der Tod meines Vaters meinem Leben einen ganz anderen Verlauf geben, als er es wollte.
Und auf jeden Fall zog der Tod von Franz Xaver schwere Folgen für die hinterbliebene Familie nach sich, die sich sogleich bemerkbar machten. Rudolfs Vater war der Alleinverdiener gewesen, und Rudolfs Mutter fiel es schwer, das Geld für das tägliche Leben zusammenzukratzen, zumal mit drei Kindern, die großgezogen werden wollten. Aber der Tod des Vaters befreite den Sohn auch von einer Last. So kam es, dass der junge Rudolf weit früher seinen eigenen Weg gehen konnte, als es ihm sonst erlaubt worden wäre.
Am 28. Juni 1914 fiel Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich in Sarajewo einem Attentat zum Opfer. Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn reagierte darauf mit der Kriegserklärung an Serbien. Diese Aggression löste Gegenschläge anderer europäischer Mächte aus. Russland, Großbritannien, das Deutsche Reich, Frankreich und das Osmanische Reich wurden alle innerhalb weniger Wochen in den Krieg, der somit zum Ersten Weltkrieg wurde, hineingezogen. Die Kampfhandlungen fanden anfangs nur in den westeuropäischen Ländern Deutschland, Frankreich und Belgien statt. Bald aber weitete sich der Konflikt nach Osten und Süden aus, ging quer über Europa hinweg und erreichte dann auch die Kolonien in Afrika, Asien und am Pazifik. Die Kämpfe waren besonders heftig im Nahen Osten. Diese Region wurde zu einem Schlachtfeld von strategischer Bedeutung, teils wegen der Ölvorkommen, teils wegen der großen symbolischen Bedeutung der heiligen Stätten.
Als der Krieg ausbrach, war Rudolf zwölf Jahre alt. Die Familie Höss wohnte immer noch in einem Außenbezirk von Mannheim. Von der Stadt aus konnte man mit der Bahn in zwei Stunden in den Osten Frankreichs gelangen. Rudolf war begeistert, dem Konflikt so nahe sein zu können. Er stand auf dem Bahnsteig und sah mit an, wie die ersten jungen Männer der Mannheimer Garnison ins Feld rückten. Er war hingerissen vom Krieg. Es war für ihn jedes Mal, wenn er die Soldaten sah, eine große Enttäuschung, nicht dabei sein zu dürfen.
Ein Jahr später erlaubte ihm seine Mutter nach langem Drängen, sich als Helfer beim Roten Kreuz zu melden. Nach der Schule verbrachte er so viel Zeit, wie er konnte, in den Lazaretten und bei der Truppe. Er gab Essen, Getränke und Tabak an Verwundete aus. Er sah schwerste Verwundungen, auch Sterbende und Tote. Und er war beeindruckt von dem Mut und dem Humor der Soldaten. In ihm festigte sich der Wunsch, für sein Land zu kämpfen. Sein »Soldatenblut meldete sich«, wie er das ausdrückte.
So kam es, dass Rudolf im Sommer 1916 von zu Hause weglief. Seiner Mutter erzählte er, er wolle seine Großeltern besuchen. Sowie er in die Stadt kam, setzte er sich dort mit einem alten Freund seines Vaters, einem Rittmeister, in Verbindung. Er log über sein Alter und meldete sich zum Militärdienst. Er war erst 14 Jahre alt.
Es kam damals sehr häufig vor, dass derart junge Menschen zur Truppe stießen. Offiziell war das Mindestalter für den Militärdienst in Deutschland im Ersten Weltkrieg 17 Jahre. Dieses Mindestalter galt seit dem Erlass der Reichsverfassung vom 16. April 1871. Ihr zufolge unterlag jeder Mann von seinem 17. bis zu seinem 44. Geburtstag der Wehrpflicht. Aber seit der Kriegserklärung 1914 strömten die Jungen nur so zur Reichswehr, um Soldaten zu werden. Weil die Zahl der volljährigen Einrückenden 1915 und 1916 gewaltig zurückging, da die große Mehrheit der verfügbaren Männer bereits eingezogen worden war, wurden die meisten der jungen Burschen bereitwillig aufgenommen, sofern sie gesund waren und die ärztliche Untersuchung bestanden, und sofern sie willens waren, ein Gewehr zu schultern – auch wenn ihr Aussehen ihr wahres Alter verriet. In der Folge kämpften Hunderttausende Kindersoldaten im Ersten Weltkrieg für die Deutschen.
Mit der Hilfe des Freundes seines Vaters stieß Rudolf am 1. August 1916 zum Badischen Dragoner-Regiment Nr. 21, demselben Kavallerieregiment, in dem sein Vater wie auch sein Großvater gedient hatten. Er wurde einer oberflächlichen ärztlichen Untersuchung unterzogen und ihm wurde die Standarduniform der deutschen Kavallerie ausgehändigt: kniehohe schwarze Lederstiefel; graue Wollhosen; breiter schwarzer Gürtel mit auf der Schnalle eingeprägtem Adler, dem Abzeichen seiner badischen Heimat; taschenlose graue Jacke mit Messingknöpfen; Feldmütze, ein flacher grauer Hut, der zur einen Seite abgeknickt und auf dessen Vorderseite eine kleine silberne Rosette aufgenäht war. Das Größte für ihn war, wie er später selbst schrieb, dass er jetzt der stolze Träger eines Kavalleriesäbels mit Messinggriff war, welches in einer schwarzen Scheide steckte, die ihm, wenn man sie auf den Boden stellte, bis zur Hüfte reichte. Nach nur zwei Wochen Ausbildung wurde Rudolf mit seinem Regiment auf die weite Reise in den Nahen Osten geschickt. Das Regiment hatte die Aufgabe, die türkischen Truppen zu verstärken, die sich mit den Briten eine Schlacht um die Herrschaft über die südöstlichen Regionen des Osmanischen Reichs lieferten.
Auf dem Weg nach Süden schrieb Rudolf seiner Mutter einen Brief, in dem er ihr mitteilte, dass er in den Krieg gezogen war. Sie hatte zuvor versucht ihn zurückzuholen, hatte, wie Rudolf sich erinnerte, »mit geradezu rührender, unendlicher Geduld und Güte versucht, mich von meinem Planen abzubringen«. Sie wollte, dass er das Gymnasium abschloss und Priester wurde. Aber jetzt, da sein Vater nicht mehr da war, machte es Rudolf nichts aus, sich über ihre Wünsche hinwegzusetzen.
Die Dragoner fuhren mit der Eisenbahn quer durch Ungarn, Rumänien und Bulgarien bis in die Türkei. Nach einer kurzen Ruhepause in Istanbul ritt das Regiment mehr als zweieinhalbtausend Kilometer südostwärts zur Front in Mesopotamien, dem Gebiet des heutigen Irak. Rudolf, der nie zuvor so weit von zu Hause weg gewesen war, verbrachte den nächsten Monat in primitiven Zeltlagern und ernährte sich von dürftigen Militärrationen. »Schon die heimliche Ausbildung, verbunden mit der steten Angst, entdeckt und wieder nach Hause gebracht zu werden, die lange abwechslungsreiche durch viele Länder führende Fahrt nach der Türkei waren eindrucksvoll genug für mich, den noch nicht Sechzehnjährigen.« Die unbekannten Länder und Völker – alles war neu und alles war auch äußerst befremdlich.
Als Rudolf und seine Kameraden endlich an der Front ankamen, fanden sie sich inmitten eines bereits ein Jahr währenden Gefechts über die Kontrolle der Ölfelder zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris wieder. Direkt an der festgefahrenen Front lag Al-Kut, eine staubige Stadt, hundertsiebzig Kilometer südöstlich von Bagdad. Im April 1916 hatten die Alliierten die Stadt aufgegeben. Mehr als 13 000 ihrer Soldaten wurden gefangen genommen und in schwere Zwangsarbeit gepresst. Das britische Oberkommando sah die Sache als äußerst beschämende Niederlage an und zog aus der Analyse der Schlacht den Schluss, dem Mesopotamien-Feldzug eine höhere Priorität in der weltweiten Gesamtstrategie einzuräumen. Es tauschte den indischen Regionalkommandanten durch einen Engländer aus. Es ließ die Bahnverbindungen sichern und schickte weitere 150 000 Soldaten ins Feld. Als Reaktion darauf ersetzten die Mittelmächte den leitenden türkischen Offizier durch einen deutschen General und beorderten neue Truppen aus Deutschland herbei, darunter Rudolfs Dragoner aus Baden-Baden.
Ende 1916 stieß Rudolfs Einheit zur türkischen 6. Armee unmittelbar außerhalb von Al-Kut. Als seine Kavallerieeinheit die ersten Befehle erhielt, wurde sie von einer Brigade indischer Soldaten angegriffen. Rudolf sprang von seinem Pferd und warf sich auf den steinigen Boden bei einer antiken Ruine, seine säuberlich gestärkte Uniform war sofort vom gelben Wüstensand überzogen. Es gab keinen Schlachtplan und die Befehlslage war unklar.
Als die Schießerei an Intensität zunahm, nahmen die türkischen Soldaten Reißaus und überließen die Deutschen ihrem Schicksal. Rudolf geriet in Panik. Die Explosionen der feindlichen Granaten wurden lauter. Um ihn herum wurden deutsche Soldaten getroffen. Zu seiner Linken fiel ein Mann verwundet nieder. Der Soldat zu seiner Rechten antwortete nicht, als Rudolf seinen Namen rief.
Als ich mich nach ihm umschaute, blutete er aus einer großen Schädelwunde und war schon tot. Mich packte das Grauen und eine unheimliche Angst vor dem gleichen Schicksal, wie ich es später nie wieder erlebt habe. Wäre ich allein gewesen, wäre ich bestimmt auch davongelaufen wie die Türken.
Als Rudolf noch darüber nachdachte, sich gemeinsam mit den Türken zurückzuziehen, sah er seinen Rittmeister, der hinter einem großen Felsen kauerte und diszipliniert und mit absoluter Gelassenheit Schuss für Schuss auf die Inder abgab. Eine bisher unbekannte Ruhe überkam nun auch ihn. Auf einmal sah er, unaufgeregt und mit klarem Blick, wie ein indischer Soldat mit einem schwarzen Bart auf ihn zu rannte, das britische Lee-Enfield-Gewehr, Kaliber .303 Inches, direkt auf ihn gerichtet. Rudolf holte tief Luft, hob sein Gewehr, zielte und schoss. Es war sein erster Toter.
Ein Augenblick später hob er sein Gewehr erneut und drückte ab, auch er jetzt schnell und beständig, Schuss für Schuss: »Der Bann war gebrochen.« Rudolf entdeckte bei sich eine Fähigkeit, die er bisher nicht gekannt hatte: Er konnte inmitten des Schlachtgetöses schnell und gezielt töten.
Rudolfs Rittmeister hatte ihm zugesehen und rief ihm nun ermunternde Worte zu. Nach kurzer Zeit erkannten die indischen Soldaten, dass sie auf ernsten Widerstand gestoßen waren. Es kam zum Gegenangriff und noch am selben Tag wurden die Inder zurückgeschlagen. Am Ende des Tages hatte die deutsche Einheit die antiken Ruinen unter ihre Kontrolle gebracht. Rudolf und seine Kameraden gruben sich ein. Von nun an wiederholte sich der Ablauf Tag für Tag: Die Briten versuchten das kleine Stück Land zurückzuerobern, die Deutschen und Türken verteidigten die mühsam eroberte Ruinenstätte.
Rudolf erinnerte sich an die widersprüchlichen Gefühle, die er während seiner ersten Schlacht empfand. Er fand es »aufregend«, aber als er später über das Feld lief, sah er sich den von ihm getöteten indischen Soldaten eher »zögernd und scheu« an, ihm »war nicht ganz wohl dabei zumute«. Als er seinem Rittmeister erzählte, er habe Angst gehabt, lachte dieser nur und sagte, er solle sich keine Sorgen machen, so etwas habe jeder Soldat schon erlebt. In den kommenden Monaten wuchs Rudolfs Zutrauen zu diesem Mann, er wurde »zu seinem Soldatenvater«, einer Autoritätsperson, die er verehrte. Rudolf hatte das Gefühl, der Rittmeister behandelte ihn wie einen Sohn. Dieser war stolz, wenn Rudolf befördert wurde, und er achtete darauf, dass Rudolf nicht auf die gefährlichsten Einsätze geschickt wurde. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Rudolf jemanden, der sich für ihn verantwortlich fühlte. Wie er zugab: »Es war ein viel innigeres Verhältnis als wie zu meinem Vater.«
Anfang 1917 wurden Rudolf und sein Regiment nach Palästina entsandt. Ihre erste Aufgabe war es, die strategisch wichtige Hedschas-Bahn zu schützen, die Verbindung zwischen Damaskus in Syrien und Medina auf der arabischen Halbinsel. Später in jenem Jahr fanden sich die Dragoner an der Front bei Jerusalem wieder. Die Offensive in Mesopotamien galt den strategisch wichtigen Ölvorräten. Bei den Kämpfen um Palästina ging es teils darum, den Briten die Kontrolle über den Suezkanal streitig zu machen, teils darum, die alten biblischen Stätten einzunehmen.
Während der Schlacht um Jerusalem wurde Rudolf eine Kugel ins Knie geschossen, es war eine äußerst schmerzhafte Verwundung. Er wurde in das deutsche Feldlazarett in der deutschen Kolonistensiedlung Wilhelma zwischen Jerusalem und Jaffa gebracht. Wegen einer Malariaerkrankung fiel er ins Delirium, der Rückschlag einer Infektion, die er sich bereits früher auf diesem Feldzug zugezogen hatte. Die Fieberanfälle waren so heftig, dass er vom Pflegepersonal streng überwacht werden musste.
Während seiner Genesung im Krankenhaus wurde Rudolf von einer jungen deutschen Schwester gepflegt. Sie ging sanft mit ihm um, richtete ihn sorgsam im Bett auf und achtete darauf, dass er kein Unheil anrichtete, wenn ein Malariaanfall ihn überkam. Anfangs war er von ihrer Zärtlichkeit verwirrt, »bis auch ich in der Zauberkreis der Liebe geriet und die Frau mit anderen Augen sah«. Einige Wochen später, als Rudolf wieder gehen konnte, fanden sie etwas abseits der geschäftigen Krankenstation ein Versteck. »Diese Zuneigung wurde für mich ein wundersames, unerhörtes Erlebnis in allen Graden bis zur geschlechtlichen Vereinigung, zu der sie mich brachte«, erinnerte er sich. »Ich selbst hätte nicht den Mut dazu aufgebracht. – Dieses erste Liebeserlebnis mit seiner ganzen Zartheit und Lieblichkeit wurde für mein ganzes ferneres Leben zur Richtschnur.« Dies war nicht nur das erste sexuelle Erlebnis des erst 15-jährigen Jungen, es war auch das erste Mal, dass er so etwas wie körperliche Nähe erfuhr: »Da ich allen Zärtlichkeitsbeweisen seit meiner frühesten Jugend stets aus dem Wege gegangen war.« Rudolf schwor sich, so teilte er mit, dass er nur dann Geschlechtsverkehr haben würde, wenn dieser mit echter Wärme verbunden war, und dass er niemals Bordelle aufsuchen würde, wie es seine Kameraden taten, dass er niemals Affären mit den Freundinnen oder Frauen anderer Männer haben würde.
Sobald er von seinen Verwundungen genesen war, wurde Rudolf wieder zu seiner Einheit zurückbeordert. Er sollte die Krankenschwester nie wiedersehen.
In den kommenden Monaten wurde Rudolf noch zweimal verwundet: am 17. November 1917, ein paar Tage vor seinem 16. Geburtstag, durch eine Kugel in seinen Oberschenkel; am 28. Februar 1918 mit Verletzungen an Händen und Knien. Keine dieser Verletzungen hielt ihn davon ab, an den weiteren Kriegshandlungen teilzunehmen.
Für seinen Dienst im Ersten Weltkrieg wurde Rudolf vom Deutschen Reich das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen, vom Osmanischen Reich für seinen Dienst im Irak und in Palästina der Eiserne Halbmond I. Klasse, von der Stadt Baden-Baden die Badische Verdienstmedaille. Der Krieg hatte den Schulbuben in einen abgehärteten Soldaten verwandelt. In seinen eigenen Augen war Rudolf durch den Krieg »weit über meine Jahre hinaus äußerlich wie innerlich zum Manne gereift«.
Er war jetzt auch bald ausgewachsen. Mit einem Meter fünfundsechzig war er nicht übermäßig groß, und er war auch nicht so kräftig wie einige andere Männer in seiner Einheit. Er war eher etwas zu dünn, aber zäh. Er hatte nun nicht mehr den Körper eines Kindes, sondern den eines Soldaten. An die Schmerzen und Grausamkeiten des Krieges war er gewöhnt, er vermochte seine Gefühle zu beherrschen – vielleicht war dies eine Art von Betäubung – , Verwundungen zu überstehen und in den Kampf zurückzukehren. Und er hatte etwas gesehen, das er für Führungsfähigkeit hielt und das nicht vom Dienstrang abhängig war, sondern vom »besseren Können«, »eiskalte, durch nichts zu erschütternde Ruhe« angesichts des Gegners nach außen zu kehren, bemüht, »stets ein Vorbild zu sein und das Gesicht zu wahren, auch wenn es im Inneren anders aussieht«.
Das Frühjahr 1918 brachte ihm jedoch einen Verlust, über den er sich nicht so einfach hinwegsetzen konnte. Der Rittmeister, zu dem er in dem vergangenen Jahr so sehr aufgeblickt hatte, wurde in der Schlacht am Jordan getötet. Sein Tod war ein schwerer Schlag für Rudolf: »Ich trauerte ihm schmerzlich nach, sein Tod ging mir wirklich nahe, ich trauerte um ihn.«
Wieder einmal war er allein auf sich gestellt.
2
Hanns
Berlin, Deutschland
1917
Hanns Hermann Alexander wurde am 6. Mai 1917 fünfzehn Minuten vor seinem Zwillingsbruder in der weitläufigen Wohnung seiner Eltern in der Kaiserallee im Westen von Berlin geboren. Die beiden Jungs waren Kriegskinder, empfangen, als ihr Vater, Dr. Alfred Alexander, der das Militärkrankenhaus in der Stadt Zabern im damals deutschen Elsass leitete, auf Urlaub zu Hause war.
Kurz nach der Geburt der beiden Söhne schickte Alfred nach seiner Familie. Seine Frau Henny, seine beiden kleinen Töchter Bella und Elsie und seine beiden Jungen, die Zwillinge, sollten zu ihm an die Front kommen. Es war eine riskante Entscheidung, da das Lazarett nahe bei den Schlachtfeldern lag. Aber Alfred insistierte. Seine Familie blieb dort für 18 Monate, genug Zeit für die beiden Mädchen, um die örtliche Schule zu besuchen. In den letzten Tagen des Oktober 1918, als das Ende des Krieges in großen Schritten nahte, drohten elsässische Freischärler mit einem Sturm auf das Hospital. Dem Arzt blieben nur ein paar Stunden, um seine Patienten und seine Familie zum Bahnhof zu bringen. Es war ein schwieriges Unterfangen, aber Alfred und seine Mitarbeiter zeigten sich der Aufgabe gewachsen. Nicht ein einziger Patient wurde zurückgelassen. Sie stiegen in den letzten Zug in Richtung Berlin.
Die Familie schaffte es nur bis Ulm, hundert Kilometer südöstlich von Stuttgart. Angespornt von der Revolution, die im Jahr zuvor durch Russland gefegt war, hatten Arbeiterräte die Bahnlinien bei Ulm besetzt. Sie forderten nicht nur ein Ende des Krieges, sondern auch die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. Ähnliche gewalttätige Proteste waren überall im Lande entflammt. Matrosen meuterten im Norden. Im Hafen von Kiel weigerten sie sich, für eine weitere Seeschlacht auszulaufen. Eine kleine Schar von Linkssozialisten hatte den König von Bayern gestürzt. Tausende von Arbeitern beteiligten sich an gewaltsamen Aufständen in Berlin. Der Zug mit der Familie Alexander musste rückwärts wieder aus dem Bahnhof rollen und wurde in Richtung Frankfurt geleitet. Dort fand die Familie Unterschlupf bei Hennys Eltern, bis sie sicher weiterreisen konnte.
Bella, Elsie, Hanns und Paul Alexander
Als die Alexanders in der ersten Dezemberhälfte endlich wieder in der Hauptstadt ankamen, fanden sie ein Chaos vor. Wenige Wochen zuvor, am 9. November 1918, war die Abdankung von Kaiser Wilhelm bekannt gegeben worden. Somit war das Ende des deutschen Kaiserreichs offiziell besiegelt. Seither wurde das politische Vakuum von einer losen Allianz, bestehend aus Sozialdemokraten und Offizieren der Streitkräfte, mit dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert an der Spitze gefüllt. Aber diese Übergangsregierung war nicht in der Lage, für Ordnung zu sorgen. Linksradikale gingen auf die Straße, um den Wandel zu beschleunigen, während rechtsradikale Gruppierungen, wütend über den verlorenen Krieg, sich zu losen Verbänden zusammentaten und den Kommunisten und Arbeiterräten Straßenschlachten lieferten. In der Folge schuf das Militär Brigaden mit gerade erst entlassenen Kriegsveteranen, um die Aufstände der Linksradikalen zu unterdrücken; mit ihrer Brutalität erreichten diese aber nichts anderes, als das Feuer der Revolution noch weiter zu schüren.
Des Nachts war es zu gefährlich, das Haus zu verlassen. Die Lebensmittel waren knapp. Alfred konnte seine Arztpraxis wegen der Gewalt, die ständig in der Stadt ausbrach, nicht wieder eröffnen. Und es kam alles noch viel schlimmer, da die Wirtschaft, die in den vier Jahren des Kriegs ohnehin schon ruiniert worden war, nun kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch stand.
Die äußere Situation schien jederzeit zu einer Explosion führen zu können. In der Wohnung der Alexanders aber herrschte Ruhe und Ordnung. Henny brauchte nicht viel Zeit, um die Laken wieder von den Möbeln abzunehmen, abzustauben und die Speisekammer, so gut es ging, zu füllen. Innerhalb weniger Tage fühlten sie sich wieder zu Hause. Für Hanns und Paul, nun 19 Monate alt, war die Wohnung der Mittelpunkt der Welt. Unbeeindruckt von der brisanten Lage draußen begannen sie diese Welt zu erobern.
Die Wohnung der Alexanders nahm die gesamte erste Etage des Hauses Kaiserallee 219/220 ein, das auf halbem Wege zwischen der Schaperstraße und der Ecke Spichernstraße und Regensburger Straße lag. Die Kaiserallee, 1950 in Bundesallee umbenannt, war eine der besten Adressen in Berlin, eine Straße, die als Hauptschlagader die Stadt durchzog und sich vom Arbeiterviertel Friedenau im Süden bis zur wohlhabenden Stadt Berlin-Wilmersdorf, ab 1920 ein Berliner Bezirk, erstreckte. Die Wohnung war riesig, selbst am großzügigen Standard des Viertels gemessen. Alles in allem hatte sie 22 Zimmer, darunter fünf Schlafzimmer, drei Wohnzimmer, ein Bad, zwei Mädchenzimmer und eine große Küche. Die Wohnung diente auch als Praxis für Dr. Alexander. Mit Beginn des neuen Jahres empfing er seine Patienten in einem Salon, der vom vorderen Flur abging. Ein anderes, ganz nach vorne gelegenes Zimmer war so breit wie die ganze Wohnung. Hier fanden vierzig Leute zum Essen Platz. Es hatte zwei Balkone hin zur Kaiserallee.
Ecke Kaiserallee/Spichernstraße, Berlin
Das Tor zum Gebäude war aus brauner Eiche gefertigt und zwei Etagen hoch. Das Haus hatte, wie die meisten Berliner Gebäude aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, einen Innenhof, der das Licht auch in die Mitte der Wohnungen einließ. Hinter dem Gebäude lag ein kleiner Garten mit Rasen und ein paar Bäumen. Dort spielten Bella, Elsie, Hanns und Paul mit den andern Kindern aus der Nachbarschaft.
Das Zuhause war ideal gelegen, im Herzen der jüdischen Gemeinde im Berliner Westen. Und im Kreise dieser Gemeinde verbrachten die Alexanders viel Zeit, mit Plaudereien in einem der Kaufhäuser, die den Kurfürstendamm säumten, mit Picknicks auf dem gepflegten Rasen des Tiergarten oder mit Besuchen des Berliner Zoos – diese Orte lagen alle nur ein paar Schritte von der Wohnung entfernt.
Hanns’ Vater Alfred kam zwar aus einer Familie von Ärzten und Rechtsanwälten, der es recht gut ging, aber die Härten des Lebens waren ihm nicht unbekannt. Er war gerade fünf, da starben sein Vater an Leukämie und seine Schwester an einer Lungenentzündung. Als er in seinen Zwanzigern war, erlitt seine Mutter einen schweren Asthmaanfall, dem sie kurz darauf erlag. Trotz dieser Tiefschläge schaffte es Alfred, sein Medizinstudium an einer der berühmtesten deutschen Universitäten zu absolvieren und seine eigene Praxis in Berlin zu eröffnen. Er war ein launischer Mensch, gelegentlich neigte er dazu, seine Frau anzuschreien und sich in seine Bibliothek mit seiner Sammlung zerfledderter Krimis zurückzuziehen, zu anderen Zeiten aber war er liebevoll und herzlich bis zum Überschwang. Er war ein sentimentaler, vielleicht auch ein weicher Mann, dem der Mund zuckte und dem die Tränen die Wangen herabkullerten, wenn seine Gefühle beim Lauschen einer Arie auf dem Grammofon mit ihm durchgingen oder wenn bei einer Geburtstagsfeier eine herzergreifende Rede gehalten wurde.
Seine Frau hatte es in ihrer Jugend viel leichter. Sie stammte von zwei der erfolgreichsten jüdischen Familien in Europa ab. Ihr Vater, Lucien Picard, war ein hoch angesehener Bankier und schweizerischer Konsul in Frankfurt, während ihre Mutter Amalie aus dem begüterten Clan der Schwarzschilds kam. Diese Familie war in ihrer Heimatstadt so bekannt, dass die Kinder dort ein Liedchen über sie sangen:
Wenn du nicht so reich bist wie ein Rothschild,
kannst du in Frankfurt, in Frankfurt,
immer noch so reich werden wie ein Schwarzschild.
Henny war eine stattliche Dame mit einem rundlichen Gesicht und kräftigen Armen. Obwohl sie weder schlank war noch sich übermäßig modisch gab, war sie eine attraktive Erscheinung. Außerdem hatte sie einen ausgeprägten Sinn für Humor. Auch war sie bekannt für ihre Güte und ihre Hilfsbereitschaft. Sie war eine eingefleischte Raucherin, die stets mit einer Zigarette gesehen wurde, die ihr senkrecht von der Unterlippe hing, auch in der Küche, wo sie sich in die Arbeit der Köchin einmischte. Es kam sogar vor, dass Henny ihre Zigarette am Rand eines Topfs abstreifte und die Asche in das Essen fiel. Sie war willensstark und rechthaberisch, sie war der matriarchalische Mittelpunkt der Familie.
Hanns und Paul verbrachten zwar viel Zeit mit ihren Eltern und Geschwistern, wurden aber meistens von ihrem geliebten Kindermädchen Anna versorgt. Obwohl Anna aus einer konservativen Gegend im Südwesten Deutschlands kam, glaubte sie, den Kindern sollte es erlaubt sein, ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln, womit sie eine weit liberalere Haltung einnahm als viele ihrer an eine starke Hand glaubenden Zeitgenossinnen.
Eine relative Ruhe herrschte, bis die Zwillinge laufen lernten. Im Alter von fünf hatten »die Jungs«, wie sie genannt wurden, ihren Ruf weg. Es herrschte Highlife, wenn sie mit ihrem roten Holländer, einem Kettcar, mit großer Geschwindigkeit den Flur herabfuhren, in das Esszimmer hinein, um den Esstisch herum, hinüber ins Wohnzimmer, zurück auf den Flur, dabei die Wände streiften, hier und da den Putz abschlugen, die Farbe ruinierten und das überraschte Personal anschrien.
Hanns und Paul entdeckten auch bald den Vorteil ihrer Ähnlichkeit. Wenn Gäste geladen waren, wurde von den Kindern erwartet, dass sie diese am Eingang begrüßten. Aber es stand immer nur einer der Zwillinge mit umgebundener Schürze bereit, es gab nur einer der beiden dem Besucher die Hand. Dann ging er aus dem Raum, kam ohne Schürze wieder und begrüßte den nächsten Besucher. Ohne Schürze wurde er für seinen Bruder gehalten. Währenddessen hielt sich der andere Zwilling in der Küche auf und verlustierte sich an den Köstlichkeiten, welche die Köchin Hilde für die Gäste zubereitet hatte.
Hanns und Paul Alexander, 1920
Eines der Lieblingsbücher der Jungs war ›Max und Moritz‹, die beliebte Kindergeschichte von Wilhelm Busch über die beiden ungezogenen Burschen, die ihren Nachbarn grausame Streiche spielen, die sich totlachen, nachdem sie die Balken eines Stegs angesägt haben und der Schneidermeister ins Wasser gefallen ist, die sich in das Haus des Lehrers schleichen, seine Meerschaumpfeife mit Schießpulver füllen und zusehen, wie sie explodiert und das Haar des Lehrers versengt.
Das Buch regte die Jungs zu immer dreisteren Streichen an. Sie ließen die Badewanne überlaufen, setzten dabei das Sprechzimmer ihres Vaters unter Wasser; sie zündeten Feuerwerkskörper in der Küche, was dazu führte, dass Hilde ein perfekt vorbereitetes Mittagsessen auf den Boden fallen ließ; sie machten ein Feuer im Wohnzimmer und tanzten darum herum wie Indianer, bis ihre Schwester Elsie den Rauch roch und das Feuer mit einem Eimer Wasser löschte. Sie hatten nur Unfug im Kopf. Besonders gern ärgerten sie Bella, die sich bereits für erwachsen und kultiviert hielt und gerne etwas erhaben gab. Wenn Bella Gäste zum Tee einlud, versteckten sich Hanns und Paul unter dem Tisch, stibitzten die teure Schokolade und Kuchenstücke und schauten den Mädchen, wenn möglich, auch noch unter die Röcke. Die Mädchen kreischten und Bella verscheuchte die Jungs, aber in kürzester Zeit saßen sie wieder unter dem Tisch.
Die Zwillinge wurden für ihr schlechtes Benehmen nicht ein einziges Mal streng bestraft. Ganz im Gegenteil, sie wurden nachsichtig behandelt. Bis auf einen gelegentlichen Ausbruch überließ Dr. Alexander die Durchsetzung der Disziplin seiner Frau, und Henny, die vorgab, von den Streichen ihrer Jungs schockiert zu sein, diese aber nicht wirklich unterband, ermunterte sie dadurch indirekt.
Wenn Hanns einmal nicht für Ärger sorgte, dann stöberte er in der Wohnung herum, suchte nach den Andenken an die Zeit seines Vaters im Ersten Weltkrieg. Im Salon blätterte er Fotoalben durch: Alfred hoch zu Ross auf einem Kavalleriepferd; Alfred im Schützengraben bei einem Frontbesuch; Alfred vor dem Krankenhaus im Elsass. Er inspizierte die Uniform seines Vaters – ordentlich gebügelte graue Jacke und Hose, eine glänzende Pickelhaube mit silberner Spitze, kniehohe Lederstiefel – , die in einem Schrank im Flur hing. Aber sein Lieblingsstück war das Eiserne Kreuz I. Klasse, eine Bronzemedaille an einem schwarz-weiß gestreiften Band, die in einem grünen Kästchen auf dem Schreibtisch seines Vaters aufbewahrt wurde. Wenn niemand in der Nähe war, öffnete Hanns das grüne Kästchen, schlang sich das Band um den Hals und versuchte sich vorzustellen, wie man sich als deutscher Kriegsheld fühlt.
Dr. Alfred Alexander mit Eisernem Kreuz, 1917
Im Jahre 1922 war die Zahl der Patienten von Dr. Alexander so gewachsen, dass mehr Raum für die Praxis benötigt wurde. Obwohl der Arzt sich wegen seiner Finanzlage Sorgen machte, investierte er in ein neues, großes Krankenhaus. Er fand eine geeignete Immobilie in der Achenbachstraße 15, ein Gebäude von vier Etagen direkt neben dem damaligen Rankeplatz, der heute nach dem Komponisten Friedrich Hollaender benannt ist, das um die Ecke von der Wohnung lag. Er beauftragte einen Architekten, lieh sich Geld von Hennys Eltern und verwandelte das Gebäude in ein Sanatorium, das er mit den neuesten Instrumenten ausstattete, darunter Röntgengeräte, einem Labor sowie mit einem Dachgarten, wo sich die Patienten an der frischen Luft erholen konnten. Er holte drei weitere Ärzte in das Unternehmen, stellte Krankenschwestern und medizinisch-technische Assistenten ein. Die Eröffnung kam im Jahre 1923. Innerhalb kürzester Zeit waren alle Betten belegt. Alfred Alexander machte es sich zur Gewohnheit, tägliche Visiten abzuhalten. Das Pflegepersonal wusste immer, wo er zu finden war, denn er legte seine brennenden Zigarren in den Aschenbechern vor den Krankenzimmern ab.
Dr. Alexander in der Berliner Klinik, 1922
Es war allerdings eine schlechte Zeit, um große Investitionen zu tätigen. Die Wirtschaft war seit dem Krieg im Verfall. Anfang der Zwanzigerjahre kam es zu einer dramatischen Abwertung der Währung: Eine Goldmark war Ende 1921 noch zehn Mark in Banknoten wert; ein Jahr später war sie 10