Das Buch
Zwei Männer und ein Halleluja
Nichts regt eine Frau so auf wie ein Mann, der alles besser weiß. Schon auf dem Weg zu ihrer neuen Heimat Sylt stößt Silke mit so einem Exemplar zusammen. Lars Holm ist ein Klugscheißer vor dem Herrn. Dabei ist Silke als Pastorin wahrlich nicht auf den Mund gefallen. Nur gut, dass sie seit ihrer Scheidung von Männern nichts mehr wissen will. Als aber auch noch ein gutaussehender Naturschützer auftaucht, gerät Silkes Vorsatz arg ins Wanken. Zum Glück steht ihr eine Frau zur Seite, die nichts mehr umhaut: Oma Grete kennt jeden Trick. Und sie weiß: Zwei Männer sind für eine Frau erst das Salz in der Suppe.
Bestsellerautorin Marie Matisek unterwegs auf Sylt
Die Autorin
Marie Matisek führt einen chaotischen Haushalt mit Mann, Kindern und Tieren im idyllischen Umland von München. Neben dem Muttersein und der Schreiberei pflegt sie ihre Hobbys: Kochen, ihren Acker umgraben und Kröten über die Straße helfen.
Marie Matisek
Alles Liebe
oder watt?
Ein Sylt-Roman
List
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ISBN: 978-3-8437-0694-0
© 2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
© by Marie Matisek
Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Illustration © Nele Andresen
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden
eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Die Luft war rauchgeschwängert und waberte Pastor Schievel in dicken Schwaden entgegen, als er die Tür zum Wirtshaus öffnete. Das Preestershus war brechend voll. Sie waren alle gekommen, alle. Nicht nur die Leute aus Horssum, auch aus Lichsum, Regstedt und den anderen Weilern.
Er zwängte sich mit Mühe in den Gastraum, der ihm kaum Platz zum Stehen, geschweige denn zum Sitzen bot. Alle redeten durcheinander, aber er konnte deutlich das kehlige Lachen von Hillu Holm und das Gekreische ihrer Freundinnen heraushören. Lars Holm versuchte gerade, eine Ansprache zu halten, wurde aber immer wieder unterbrochen. Sehen konnte der Pastor den Redner ohnehin nicht.
Als die Wirtin Lise Pastor Schievel entdeckte, machte sie dem Jungbauern Knut am Tresen ein Zeichen. Dieser schob sich daraufhin bis zu Schievel durch die Menschenmassen, zog den älteren Mann am Arm und bahnte sich mit ihm einen Weg durch die volle Kneipe. Dabei setzte er nicht allein die knochigen Ellenbogen seiner mageren Arme ein, sondern auch sein spitzbübisches Lächeln. Schließlich hatte es der junge Mann geschafft, den beleibten Pastor an den ersten erreichbaren Tisch zu bugsieren. Er scheuchte einen Mann von seinem Stuhl, so dass Schievel sich schwer atmend niederlassen konnte. Der Pastor nickte grüßend in die Runde. Es war ihm unangenehm, dass er die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, eigentlich hatte er vorgehabt, nur ganz kurz bei der Versammlung vorbeizuschauen und dann wieder zu verschwinden.
Das hier ging ihn ja gar nichts an.
Die Menschen im Raum wandten sich wieder Lars Holm zu, der Schievel jetzt ebenfalls freundlich zunickte und dann mit seiner Rede fortfuhr.
»… also, wie ich gerade gesagt habe: Die Zeit ist abgelaufen. Wir sind nicht bereit, länger auf das Ergebnis zu warten. Und ich finde, Jens ist gefragt, der soll das endlich in die Hand nehmen und klären.«
Der Angesprochene, Jens Bendixen, saß links von Pastor Schievel an einem Nachbartisch und schien förmlich in sein Bier hineinkriechen zu wollen. Er duckte sich unter den Kommentaren, die auf Lars Holms Ausführungen folgten, und sah angestrengt auf die Tischplatte, als wollte er sie beschwören, damit sie sich endlich auftun und ihn verschlingen möge.
Schievel bekam nun ebenfalls ein frisch gezapftes Pils, das ihm von der Theke aus durch viele Hände nach vorne durchgereicht wurde. Er leckte sich den bitteren Schaum von den Fingern und nahm einen ersten Schluck. Wenn das sein Arzt wüsste … Ertappt sah Pastor Schievel sich um. Tadde Brockhues, der Internist, dem der Pastor seit bald dreißig Jahren die Treue hielt und der gleichzeitig mit ihm in einem halben Jahr in den Ruhestand gehen würde, war in der Menge nicht zu entdecken. Vielleicht war Tadde auch zu Hause geblieben, saß mit seiner alten Retrieverhündin am Kamin und ließ den Hubschrauberlandeplatz Hubschrauberlandeplatz sein. Er interessierte sich genauso wenig wie der Pastor dafür, wer dort was veranstalten oder bauen würde und wem das Gelände zu welchen Anteilen gehörte. Andererseits wusste kaum jemand so viel über die Beweggründe der Kontrahenten, die sich seit über vier Jahren darum stritten, wie der Arzt und der Pfarrer. Beiden kam vieles zu Ohren in ihrer Praxis beziehungsweise in der Seelsorge.
Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte weniger gewusst, dachte der Pastor und nahm einen beherzten Schluck von seinem Pils. Er trank zu schnell seit dem letzten kleinen Herzvorfall. Weil er etwas Verbotenes tat, bei dem er auf keinen Fall erwischt werden wollte.
Inzwischen hatte sich eine rege Diskussion über den Beitrag von Lars Holm entsponnen, alle redeten durcheinander und versuchten, sich bei dem Lärmpegel zu überschreien. Der Einzige außer dem Pastor, der nichts sagte, war Jens Bendixen, dem Lars eigentlich das Wort erteilt hatte.
»Lass doch den Jens in Ruhe!«, »Der kriegt doch erst recht nichts gebacken!«, »Warum hast du es denn so eilig, Holm?«, »Eilig? Nach fünf Jahren?« – das waren einige der Beiträge, die an das Ohr des Pastors drangen.
Schließlich ertönte eine sehr laute Seemannsglocke, die das Sprachgewirr augenblicklich zum Verstummen brachte.
»Alle mal Klappe halten! Jetzt redet der Jens!«, war die autoritäre Stimme von Hans Baluschek zu hören, dem Wirt des Preestershus. Er hatte neben der Theke eine große Schiffsglocke aus Messing, die angeblich ehemals auf der Padua gehangen hatte, dem legendären Segelschulschiff, auf dem der Hans-Albers-Film Große Freiheit Nr. 7 gedreht worden war.
Jens Bendixen erhob sich schwerfällig und widerwillig von seinem Stuhl, unternahm einen halbherzigen Versuch, sein zerknittertes graues Jackett glattzustreichen, und ruckelte an seiner Krawatte. »Danke, Lars, für deine Ausführungen …«
Höhnische Zwischenrufe unterbrachen den Gemeindevorsteher. Sie kamen von einem der Tische im hinteren Gastraum, den Pastor Schievel nicht einsehen konnte. Die Seemannsglocke erklang erneut einmal kurz, und ihr mahnender Klang brachte die Störer zum Verstummen.
»Es stimmt natürlich, dass sich das Verfahren hinzieht. Es sind nun schon bald fünf Jahre, im Sommer wohl, das mag so sein.«
Gelegentliches Augenrollen bei den Zuhörern. Jens Bendixen war bekannt für sein umständliches Gerede – wenn er sich um Konkretes drücken wollte.
»Wir, das heißt wir vom Amt Sylt, haben bereits eine Nachfrage gestellt zum Verlauf des Verfahrens. Leider haben wir bis heute keine Antwort erhalten.«
Damit setzte sich Jens Bendixen wieder und glaubte seiner Auskunftspflicht Genüge getan zu haben. Die Anwesenden sahen sich ratlos an, bis Lars Holm erneut das Wort ergriff.
»Jens, das ist ja wohl ein Scherz!«, donnerte er und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Pastor Schievel erschrak. Noch nie hatte er Holm, den Bauunternehmer, der vor über dreißig Jahren zu seinen ersten Konfirmanden gehört hatte, so außer sich gesehen!
»Ihr müsst aktiv werden! Nicht bloß ’ne Anfrage stellen! Wir als Gemeinde können es uns nicht leisten, das Land brach liegen zu lassen. Im Interesse aller Gewerbetreibenden in Horssum muss jetzt gehandelt werden. Wir haben ein Recht darauf zu erfahren, ob es einen Erben gibt, wenn ja, wer er ist und ob er seine Ansprüche geltend macht. Oder aber das Verfahren wird ein für alle Mal abgeschlossen und das Land fällt an die Gemeinde.«
Lars Holm stand auf und reckte eine Faust in die Höhe.
»Wir wollen den Sportpark für Horssum jetzt! Sonst geht Horssum endgültig vor die Hunde!«
Johlender Beifall brandete auf, aber auch wütende Pfiffe und Beleidigungen drangen an das Ohr des Pastors.
Lars Holm setzte sich, das Gesicht gerötet und schweißüberströmt. Er sieht nicht gut aus, dachte Schievel bei sich. Morgen geh ich auf ein Schwätzchen zu ihm. Muss ihm mal ins Gewissen reden, dem Lars. Er nimmt sich das zu sehr zu Herzen.
Mittlerweile hatte sich ein anderer Redner aufgeschwungen. Der Pastor konnte ihn nicht sehen, er musste an dem Tisch sitzen, von dem vorhin die Zwischenrufe gegen Jens gekommen waren. Aber Schievel hörte die schneidende Stimme und erkannte sie sofort. Ommo Wilkes war es, der das Wort ergriffen hatte. Der wilde Ommo, auch er einer der ersten Konfirmanden. Schon damals hatten sich Lars und Ommo in der Wolle gehabt. Der Pastor erinnerte sich an die »Konfi-Freizeit«, die mit einer wüsten Schlägerei geendet hatte, bei der er selbst ein blaues Auge davongetragen hatte, weil er sich mitten in die prügelnden Buben geworfen hatte – um zu schlichten, versteht sich. Angefangen hatte alles, weil Ommo Lars eine Blindschleiche in den Schlafsack gesteckt hatte.
»… kann von ›vor die Hunde gehen‹ und Überschuldung nicht die Rede sein!«, fing der Pastor einen Teil von Ommos Rede auf. »Ihr liefert das Pfund, mit dem ihr wuchern könntet, bedenkenlos an den Kommerz aus, bloß weil ihr Komplexe habt! Komplexe, weil Horssum nicht Keitum ist und nicht List und erst recht nicht Westerland!«
Erneute Proteste im Publikum, die sich dieses Mal allerdings gegen Ommo und nicht gegen seinen Vorredner richteten.
Ommo ließ sich von den Zwischenrufen nicht abbringen. Das hatte er noch nie getan, dachte der Pfarrer. Ommo war immer schon ein Sturkopp gewesen.
»Und es stimmt auch nicht, was Lars sagt, dass das Land brach liegt! Von wegen! Seltene Pflanzen siedeln sich an, Tiere, vom Aussterben bedroht, erobern den Landeplatz als Lebensraum!«
Höhnisches Gelächter von Lars Holms Tisch setzte ein. »Ach, erzähl mal, Ommo, was hast du denn wieder für ’n neues Tier erfunden? Uups – gefunden, wollte ich natürlich sagen!«
Gelächter im Wirtshaus.
Ommos trotzige Stimme übertönte alle. »Kreuzkröten. Eine ganze Kolonie hat sich dort ausgebreitet. Wir dokumentieren den Bestand, und wenn das erst mal beglaubigt und bestätigt ist, dann kannst du dir deinen Sportpark ein für alle Mal in die Haare schmieren, Lars! Scheißegal, ob noch ein Breckwoldt-Erbe auftaucht.«
Aus dem Nichts flog eine kleine hellgelbe Kugel durch den Raum. Und noch eine, gefolgt von drei, vier weiteren. Der Pastor hatte die Wurfgeschosse gerade als heiße Kartoffeln identifiziert, da schien sich das gesamte Wirtshaus zu bewegen. Die Masse der Horssumer schob und drückte. Arme steckten sich nach allen Seiten, Oberkörper duckten sich, es wurde getreten und gezogen, geschubst und geworfen.
Pastor Schievel neigte den Kopf über sein Pils und hoffte, dass nicht das Gleiche geschehen möge wie vor dreißig Jahren auf der Konfi-Freizeit: eine Massenschlägerei. Er schloss die Augen und wartete ergeben darauf, dass Hans’ Glocke erneut erklang. Was sie auch tat, allerdings nicht mit sofortigem Effekt. Es dauerte ein bisschen, die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Nicht nur dem Wirt, dessen mächtige Stimme noch im hintersten Winkel seiner Kneipe erscholl, sondern auch dem beherzten Eingreifen seiner Frau Lise und Knut Larsen, dem friedfertigen Jungbauern, war es zu verdanken, dass der Tumult nicht ausartete. Die beiden hatten die Türen des Gasthauses weit geöffnet und zerrten und drängten die erboste Menge einfach nach draußen. Pastor Schievel hörte, wie Hans Baluschek einigen Gästen Lokalverbot androhte, sollten sie sein Wirtshaus nicht augenblicklich verlassen, dann nahm er seinen letzten Schluck Pils. Er wollte schleunigst nach Hause, noch bevor ihn jemand aufhalten und um seine Meinung in der Sache fragen konnte. Er legte einen Fünfeuroschein auf den Tresen, wartete nicht auf das Rückgeld und trat aus dem Wirtshaus. Er hörte noch in seinem Rücken, wie Ommo Wilkes Lars Holm provozierte: »Warte nur auf deinen Erben! Ich mach vorher Nägel mit Köpfen«, und trat dann hinaus in den kühlen Frühlingsabend.
Es war kurz nach neun Uhr abends, der Himmel dunkel und sternenklar. Die Luft war frisch und kalt, sie schmeckte nach Salz und Eisen. Pastor Schievel bildete sich gerne ein, dass man sie kauen konnte. Er liebte es, wenn der Frühling über die Nordseeinsel hereinbrach, er brachte stets Klarheit und Licht, vertrieb das Neblige, Verhangene mancher Wintertage auf der Insel.
Jemand hängte sich bei ihm ein. Er sah zu seiner Rechten und fand bestätigt, was er schon wusste. Es war die alte Oma Grete, seine Haushälterin und Freundin. Wenn man es genau nahm, hätte die zarte weißhaarige Person fast seine Mutter sein können. Er war nur unwesentlich älter als Fiete, ihr verstorbener Sohn. Aber in den letzten Jahren fühlte er sich alt neben ihr, obwohl er erst Mitte sechzig und sie bereits Ende siebzig war. Seit dem Herzinfarkt. Er hatte Bluthochdruck und war übergewichtig. Er trieb keinen Sport und saß lieber in seiner Bibliothek, las Bücher oder studierte alte Quellen. All das hatte dazu geführt, dass er sich von der quirligen alten Dame vieles abnehmen lassen musste. Sie hatte ihm trotz des hohen Alters in Sachen Fitness einiges voraus.
Seit er die Stelle in Horssum innehatte, seit dreißig Jahren, führte Oma Grete ihm den Haushalt, und sie hatte nur an einem einzigen Tag gefehlt. An dem Tag, an dem ihr Sohn Fiete und seine Frau Suna auf dem Feld vom Blitz getroffen worden und gestorben waren. Am nächsten Tag war sie nicht im Pfarrhaus erschienen, aber am übernächsten wieder und dann an jedem einzelnen Tag, den Gott der Herr werden ließ. Bis heute. Und sie hatte nie mit ihrem Schicksal gehadert. Sie war eine gläubige Christin, und manchmal, wenn er selbst zweifelte, dachte Pastor Schievel, dass sie die Gottesfürchtigere von ihnen beiden war.
»Gehen wir noch auf ein Glas, Udo«, sagte sie jetzt.
Er nickte, was sie im Dunkeln nicht sehen konnte, aber sie wusste auch so, dass er einverstanden war. Wie er immer mit allem einverstanden war, was sie vorschlug. Nein, anordnete.
Grete hatte in seiner Küche einen starken Tee gekocht, in den er sich nun einen Esslöffel voll Kandiszucker schaufelte. Sie saß ihm gegenüber, die Brauen zusammengezogen.
»Du weißt, Grete, es ist nur eine Frage der Zeit«, wagte er sich vor.
Die kleine alte Frau schüttelte energisch den Kopf. »Nee, Udo. Nu haben wir so lange dicht gehalten …«
Der Pastor seufzte. Dieses Thema stand zwischen ihnen. Der Erbe von Breckwoldt. Er hätte sich nie darauf einlassen sollen zu schweigen.
»Lars drängelt«, sagte Grete, »und das ist gut so. Wenn er Bendixen dazu kriegt, dass er beim Nachlassverwalter Druck macht …« Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. Pastor Schievel ergänzte den Satz im Geiste: »… dann wird das Verfahren abgeschlossen, weil der Erbe nicht gefunden werden konnte.« Das war es, woran sich seine Freundin stets klammerte. Es sollte keinen Erben geben. Aber sie beide wussten es besser.
»Aber wenn nun doch noch jemand kommt und ins Archiv will?«, insistierte Pastor Schievel. Er nippte an seinem Tee, verbrannte sich aber sofort die Zungenspitze.
»In fünf Jahren ist keiner gekommen, dann kommt nu auch keiner mehr auf den letzten Drücker.« Grete zog die Stirn missbilligend in Falten. Noch mehr Falten.
»Aber es ist nicht recht.« Statt des Tees schob Schievel sich einen großen Kandisbrocken in den Mund und lutschte daran. Das tröstete ihn ein bisschen über die verbrannte Zungenspitze hinweg. »Du weißt, ich lüge nicht. Und ich lasse jeden ins Archiv, der Einlass begehrt.«
Die Sache war ihm nicht recht, nie gewesen, und er wollte seinen Standpunkt noch einmal deutlich machen. Er war kein Verschwörer, und er stand auf niemandes Seite, auch wenn Grete es so sehen wollte. Ihr Blick zuckte jetzt unruhig zur Tür, hinter der sich das Archiv der Kirchengemeinde verbarg. Der Schlüssel steckte im Schloss, für jedermann sichtbar.
»Und ich glaube auch, wir machen einen Fehler.« Pastor Schievel fasste sich ein Herz. Diese Sache bedrückte ihn, ja sie lag ihm auf der Seele. Er hatte lange geschwiegen, Oma Grete zuliebe. Er hatte sich stets damit beruhigt, dass er nicht gelogen hatte – es hatte ihn einfach nie jemand gefragt. Aber wenn er ehrlich war, musste Schievel sich eingestehen, dass sein Schweigen in den letzten Jahren die Last einer Lüge angenommen hatte. »Die Wahrheit muss ans Licht, Grete. Sonst kann meine Seele keinen Frieden finden.«
Die alte Frau sah ihn erstaunt an. Er hatte den letzten Satz nicht sagen wollen, er war ihm entfahren, was ihm jetzt leidtat, denn der Pastor erkannte, dass er Grete damit Angst eingejagt hatte. Er stand auf. »Es ist spät«, sagte er sanft. »Wir wollen morgen weiterreden.«
Auch Oma Grete stand nun auf. Sie räumte schnell den Tisch mit den Teetassen ab und trug das Geschirr zur Spüle. Der Pastor legte ihr begütigend eine Hand auf den Rücken. »Und ich bitte dich, schlaf noch einmal drüber und bewege die Sache in deinem Herzen.«
Seine Haushälterin seufzte, nickte aber ihm zuliebe und verabschiedete sich in die tiefschwarze Nacht.
Pastor Schievel nahm noch einen Atemzug der klaren, kalten Vorfrühlingsluft und schloss die Tür.
Als Oma Grete am nächsten Tag die Haustür aufschloss, lag tiefer Frieden über dem Haus. Die alte Dame war sehr beunruhigt, weil der Pastor nicht zur Taufe erschienen war, und sie hatte, um die Familie des Täuflings zu besänftigen, behauptet, der Pastor hätte bestimmt verschlafen, das passiere nicht das erste Mal (was durchaus eine handfeste Lüge war). Skeptisch betrat sie das Pfarrhaus und rief den Namen des Pastors, aber niemand antwortete. Einen Raum nach dem anderen suchte sie ab, aber alles lag so da, wie sie es verlassen hatte.
Im Schlafzimmer schließlich, das sie nicht betreten hatte, ohne vorher zu klopfen, waren die Vorhänge noch zugezogen. Oma Grete sah, dass der Pastor im Bett lag. Die Augen geschlossen, die Hände auf der Bettdecke gefaltet, und der Mund stand offen.
Sie ging zum Bett, und die kalte Haut des Pastors Udo Schievel bestätigte, was sie bereits auf den ersten Blick gesehen hatte: Er lebte nicht mehr. Er war im Schlaf gestorben. Das kleine Lächeln in den Mundwinkeln zeigte an, dass seine Seele durchaus in Frieden den Körper verlassen hatte.
Oma Grete spürte die Tränen kommen, sie streichelte eine Hand des langjährigen Freundes, sprach ein Gebet und ging dann mit raschen Schritten hinunter in die gute Stube, um den Arzt Tadde Brockhues zu benachrichtigen.
Auf dem Weg kam sie an der Tür zum Archiv vorbei und mit einer beiläufigen, beinahe gedankenlosen Bewegung zog sie den Schlüssel ab und steckte ihn in die Tasche ihrer Kittelschürze.
Wenige Tage später in Köln
»Jaaa?!«
Genervt klemmte Silke sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr. Sie hatte eigentlich gar nicht rangehen wollen, schließlich war sie nach einem langen Arbeitstag gerade erst nach Hause gekommen. Sie warf einen Blick in die Küche, die aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen, wie immer, wenn sie die Kinder mal den ganzen Tag alleine gelassen hatte und diese sich selber verpflegen sollten. Zum Glück kam das nicht allzu oft vor.
»Guten Tag, Brombacher. Ich bin die Biologielehrerin Ihres Sohnes.«
Sohn, Sohn, wo steckte der überhaupt? Silke nickte stumm und streifte sich die Schuhe von den geschundenen Füßen. Sie war heute den ganzen Tag herumgehetzt und fühlte sich, als wäre sie den New York Marathon gelaufen. In acht Stunden statt in vier. Zusätzlich zu den gefühlten Stunden, die sie im Stau verbracht hatte. An solchen Tagen hasste sie das Großstadtleben.
»Frau Denneler?« Die Stimme der Lehrerin klang zunehmend gereizt.
Silke versuchte, sich auf das Telefonat zu konzentrieren, vielleicht könnte sie es rasch hinter sich bringen, wenn sie bedingungslos alles abnickte, was diese Bio-Tante von ihr wollte. Es würde sowieso der immer gleiche Sermon sein, sie kannte diese Telefonate zur Genüge.
»Ja, Entschuldigung. Ich bin ganz bei Ihnen.«
Wie oft hatte sie diesen Satz heute schon gesagt?
Ein hörbares Einatmen am anderen Ende der Leitung ließ darauf schließen, dass eine längere Beschwerdepassage der Lehrerin folgen würde.
»Hat Paul Ihnen den Zettel gegeben?«
»Was?« Welchen Zettel? Silke hatte keinen Schimmer. »Natürlich hat er ihn mir gezeigt.« Für diese Lüge drei Vaterunser, gesetzt den Fall, sie wäre katholisch.
»Aha. Ja. Und warum hat er ihn dann nicht wieder abgeliefert?«
Frau Brombacher war auf Krawall gebürstet, das konnte man deutlich hören. »Sie haben doch unterschrieben, oder nicht?!«
Dieses Telefonat sollte eine Anklage werden und kein Gespräch. Silke spürte, wie sich ihre kleinen Härchen am Unterarm aufstellten. Sie dachte an ihre eigene schreckliche Schulzeit.
»Das ist meine Schuld.« Silke versuchte, die Fahrt aufnehmende Pädagogin durch bedingungslose Ergebenheit freundlich auszubremsen. »Ganz und gar meine Schuld. Ich habe den Zettel unterschrieben, natürlich habe ich unterschrieben, und dann auf dem Schreibtisch vergessen. Der muss einfach irgendwo unter meinen Bürosachen … Ich habe einfach zu viel um die Ohren. Morgen bringt er ihn mit.«
»Es wäre Pauls Aufgabe gewesen, Sie daran zu erinnern.« Frau Brombacher hatte gar nicht vor, auf Silkes Entschuldigung einzugehen. »Ich habe ihm deshalb heute einen Verweis erteilt. Zweimal hatte er die häuslichen Aufgaben nicht präsent, daraufhin musste ich ihn verwarnen. Diese Verwarnung hat er auch nicht unterschrieben zurückgebracht. Nun also der Verweis. Das muss sein. Sonst lernt er es nie.«
Der schnippische Unterton war nicht zu überhören. Silke rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf, bemühte sich aber, ihre aufsteigende Wut nicht herauszulassen. Sie wusste schließlich, wie es ausging. Ihre Kinder hatten sie stets gebeten, sich in Sachen Schule zurückzuhalten. Gab es Ärger, wurde Ansgar vorgeschoben, der wesentlich diplomatischer war als sie.
»Ich habe auch schon mit Pauls Vater telefoniert …«
Ah. Na wunderbar. Und warum rief die Zimtzicke dann auch noch bei ihr an?
»… der mir durchaus beipflichtet. Paul muss lernen, sich zu disziplinieren.«
Silkes Magen krampfte sich ganz ungut zusammen. Natürlich hatte Ansgar, dieser Wicht, der Bio-Tussi zugestimmt – und alles auf die überforderte Mutter geschoben, die seit der Scheidung gar nichts mehr hinkriegte. Und sie hatte diesem Vorurteil mit ihrem Märchen vom chaotischen Schreibtisch und ihrer Überforderung soeben aufs allerschönste Nahrung gegeben! In Wirklichkeit feixte ihr Exmann doch; der Verweis war an sie gerichtetet, die Exfrau, die es alleine nicht hinkriegte mit den Kindern.
Zu allem Überfluss entdeckte Silke jetzt auch noch unter dem Haufen Werbung und Wochenzeitungen, die sie aus dem Briefkasten gefischt hatte, einen sehr, sehr dicken Brief von ihrem Anwalt. Scheidungsunterlagen und eine fette Rechnung – Silke würde es nicht übers Herz bringen, diesen Umschlag auch noch heute zu öffnen. Das wäre der Dolchstoß an einem ohnehin anstrengenden Tag.
»Und warum rufen Sie mich dann auch noch an, wenn Sie bereits mit meinem Exmann gesprochen haben?« Silkes Stimme war honigsüß.
»Nun, ich dachte, schließlich sind ja Sie diejenige, bei der Paul hauptsächlich ist, und Ihr Mann meinte auch …«
Vorbei. Aus und vorbei. Jetzt konnte Silke Denneler sich nicht mehr am Riemen reißen.
»Was mein schwachsinniger Mann meint, geht Sie einen feuchten Kehricht an!«, brüllte sie ansatzlos in den Hörer. »Sie haben Ihrer Pflicht doch Genüge getan und einen Erziehungsberechtigten benachrichtigt. Was wollen Sie denn noch?!«
»Frau Denneler …«, heilige Empörung am anderen Ende der Leitung.
»Ein Exempel statuieren, das wollen Sie! Strafe ist Ihnen nicht genug, Sie wollen auch Genugtuung!« Silke hing noch mit einem Arm in ihrem Trenchcoat, während sie erbost in dem kleinen Flur auf und ab lief. Die Post hatte sie wütend zu Boden geschleudert und trampelte mit ihren Seidenstrümpfen darauf herum. »Sie wollen ein kleines Kind demütigen und verletzen, weil Sie sich rächen wollen. Dafür, dass er keinen Anteil an ihrem Fach nimmt, dafür, dass er Ihre Aufgaben und Strafen missachtet, dafür, dass er Ihnen signalisiert, dass Sie eine beschissene Pädagogin sind, für die es zur Unikarriere nicht gereicht hat! Bio und Sport, ha, wie armselig!«
»Im Übrigen muss ich Ihnen sagen, dass Ihr Sohn die Klassenstufe wohl wiederholen muss«, grätschte die Lehrerin dazwischen.
Silke sah rot und beschloss, ihrem Herzen mal so richtig Luft zu machen, da hörte sie nur ein kommentarloses Klicken – die Brombacher hatte aufgelegt.
Silke schmiss das Telefon auf das Sideboard, wo schon Schlüssel, Schals, leere Batterien, zwei Taschenlampen, Hundekotbeutel, Visitenkarten und ein goldener Buddha lagerten, wohl wissend, dass sie ebendieses Telefon bald wie verrückt suchen würde, weil es mal wieder nicht in seiner Ladestation stand, wo es hingehörte. Sie fuhr sich verzweifelt mit der Hand durch ihr halblanges Haar, das daraufhin aus dem Haargummi hüpfte. Der Knoten, den sie heute Morgen mühsam aus ihrem glatten Spaghettihaar zusammengezwirbelt hatte, war vollständig hinüber.
»Mama?« Die Tür des Kinderzimmers öffnete sich behutsam einen Spalt, und Paul steckte vorsichtig seine Nase durch den Schlitz. »Wo warst du denn?«
Statt einer liebevollen Begrüßung riss Silke die Tür ganz auf und erkannte auf einen Blick, warum ihr Jüngster sie bislang nicht begrüßt hatte – ihr Laptop lag zwischen seinen Kleidern und Comicheften am Boden, irgendein Ballerspiel oder das, was sie dafür hielt, lief.
»Das gibt’s doch nicht! Wie oft habe ich dir gesagt, Hände weg von meinem Laptop.«
Mit einem Satz war sie im Zimmer, klappte den Computer zu und riss am Kabel, um es aus der Steckdose zu ziehen. Was aber nicht gelang, stattdessen brach die Buchse aus der Wand.
»Und was soll der Saustall in der Küche? Mensch, ihr seid zwölf und siebzehn! Ihr werdet doch wohl das Geschirr wegräumen können, wenn ihr was gegessen habt?! Wo ist überhaupt deine Schwester?«
»Mit der Clique weg.« Paul stand hilflos im Zimmer, Kopf und Schultern waren nach unten gesackt. Man sah ihm an, dass er am liebsten im Erdboden verschwinden würde, um den Wutanfall seiner Mutter nicht noch länger erdulden zu müssen. Seine Stimme war ganz leise.
Spätestens jetzt wäre der Zeitpunkt gewesen, ihren Kleinen in den Arm zu nehmen, hallo zu sagen und sich wieder zu beruhigen. Das wusste Silke selbstverständlich, und der Klumpen in ihrem Magen, der sich weiter verkrampfte und schon gefühlte zehn Kilo wog, war ein weiteres Warnsignal. Aber sie konnte nicht aus ihrer Wuthaut. Sie war so in Fahrt, sie musste Druck ablassen. Den Druck, der sich seit Wochen und Monaten angestaut hatte.
»Und wann wolltest du mir sagen, dass du einen Verweis kassiert hast?« Sie stürmte mit ihrem Laptop unter dem Arm an ihm vorbei aus dem Zimmer.
»Aber das war doch erst heute …«, gab die kleine Stimme in ihrem Rücken zurück.
»Und der Zettel? Verdammt, Paul, ich hatte keine Ahnung, wovon deine Lehrerin redet!«
Silke stand nun mitten in der Küche. Schmutziges Geschirr, verschüttete Cornflakes am Boden. Eine dreckige Pfanne auf dem Herd, daneben Eierschalen. Die Butter stand auf dem Tisch und war weich und dunkelgelb, ebenso wie die Wurst, die seit Stunden zurück in den Kühlschrank gemusst hätte. Leere Milchkartons, eine Geschirrspülmaschine, die signalisierte, dass sie ausgeräumt werden musste, und ein leerer Kasten Wasser vervollständigten das Bild. Jetzt erst nahm Silke wahr, dass sich Balu, der Bobtail, vor ihrem Wutanfall unter dem Tisch versteckt hatte und zaghaft mit dem Schwanz wedelte. Mit Sicherheit war er ebenfalls längst überfällig. Es war halb acht Uhr abends, und Silke Denneler wünschte sich nichts mehr, als nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag die Füße hochlegen zu können und sich zu entspannen. Stattdessen empfing sie das Chaos, das im Moment ihr Leben war. Zu einem großen Teil selbst verschuldet, wie sie nur zu gut wusste.
»Es tut mir leid, Mama.«
Silke drehte sich um und wurde butterweich. Was war denn bloß in sie gefahren! Warum hatte sie ihren Ärger über die Lehrerin und den anstrengenden Tag an Paul ausgelassen? Der konnte nun weiß Gott nichts dafür. Er hatte es ohnehin schwer seit der Trennung von Ansgar. Und er war erst zwölf.
»Nee!«, rief Silke und war mit einem großen Schritt bei ihrem Sohn. Sie zog ihn an sich, und erleichtert ließ sich Paul in ihre Arme fallen. Sie drückte ihn ganz fest. »Mir tut es leid«, sagte sie und küsste ihn auf seinen Haaransatz. Dabei stellte sie fest, dass ihr der »Kleine« schon bis zur Nasenspitze reichte. Bald würde er ihre mickrigen 1,68 überholt haben. »Es war total stressig heute, und der blöde Anruf von deiner Lehrerin war der Overkill.«
Paul versuchte ein schräges Grinsen. »Die ist eigentlich gar nicht scheiße, die Brombacher.«
Silke lächelte ihn an und fasste einen Entschluss. »Zieh dir Schuhe an. Wir drehen eine Runde mit Balu, und dann lad ich dich ins Il Castagno ein, okay?«
»Geil!« Paul verschwand im Flur und flutschte in seine Sneakers. Der Italiener war sein Lieblingsladen, und sie waren schon sehr lange nicht mehr dort gewesen. Es war allerhöchste Zeit, dachte Silke, sich mal wieder etwas zu gönnen, einfach so, ohne Anlass. Sie nahm die Leine von der Heizung, woraufhin Balu vor Freude kurz aufheulte. Dann löschte sie das Licht in der chaotischen Küche.
»Ich helf dir dafür auch nachher mit dem Aufräumen.«
Paul stand vor ihr und nahm ihr die Leine aus der Hand. Silke sah ihn voller Liebe an. Vielleicht sollten sie einen Cut machen, einfach umziehen zum Beispiel?! Sie dachte daran, was Klaus ihr heute erzählt hatte. Ob Sylt eine Option sein könnte?
Vier Monate später
Die Hitze in dem bis unters Dach vollgepackten VW Passat war unerträglich, und das Hecheln von Balu, dem Bobtail, machte die Luft nicht besser. Silke fächerte sich mit der zehn Jahre alten ADAC-Deutschlandkarte Luft zu, was zwar Bewegung, aber keinerlei Abkühlung brachte. Sie blickte neben sich auf den Beifahrersitz; gerne hätte sie jetzt Beistand gehabt, aber der Anblick, den ihre Tochter Jana bot, war seit dem Start in Köln heute Morgen der gleiche. Die Siebzehnjährige hatte Kopfhörer im Ohr, die Hände um ihren iPod gelegt und die Lider halb geschlossen. Offensichtlich war sie in der Lage, sich in den vegetabilen Zustand eines Kaktus zu versetzen, sie brauchte kein Wasser und ertrug die Hitze im Dämmerschlaf. Silke dagegen hatte bereits drei große Literflaschen stilles Wasser geleert, ihr Oberteil so nass geschwitzt, dass sie an jedem Wet-T-Shirt-Contest teilnehmen könnte, und das Gefühl, als säße sie nicht auf dem Kunstledersitz ihres Wagens, sondern in einer zehn Zentimeter tiefen Pfütze.
Ein Blick in den Rückspiegel brachte ebenfalls keine Entlastung. Silkes Sohn Paul lag quer über der Rückbank, den Kopf unter dem sabbernden Hund, und war in Katatonie erstarrt. Den Anschein hatte es zumindest. Tatsächlich hypnotisierte er seit vielen Stunden den winzigen Bildschirm seines Daddeldings und tippte in rasender Geschwindigkeit auf kleinen Pfeiltasten herum.
Silke seufzte und konzentrierte sich auf die Blechlawine vor ihr. Sie hatte noch eine knappe halbe Stunde, um Niebüll zu erreichen. Ein Kuhkaff am Ende der Welt, das im Sommer aber zentrale Wegscheide der Nordseeurlauber wurde. Amrum und Föhr oder aber Sylt – hier trennten sich die Wege. Silkes uralter Passat-Kombi war eine Ausnahmeerscheinung unter den sie umgebenden Autos. Er war das älteste, das vollgepackteste, das tiefliegendste und vermutlich auch das einzige mit halbem Auspuff. Die andere Hälfte, ein Stück vom durchgerosteten Rohr, lag kurz hinter der Autobahnauffahrt Köln-Lövenich. Sobald Silke aufs Gaspedal trat, setzte ein ohrenbetäubendes Röhren und Knattern ein, das die Blicke sämtlicher sie überholender Autoinsassen auf sich zog. Aber da sie bereits seit neun Stunden unterwegs waren, hatten sie sich alle vier daran gewöhnt. Oder besser: Ihre Kinder hatten beschlossen, sich in andere Sphären zu beamen, um sich der Peinlichkeit nicht aussetzen zu müssen.
Silke schob sich mit dem Passat langsam auf der Landstraße voran. Einige Wagen vor ihr tuckerte ein Traktor gemächlich in Richtung Niebüll, und immer wenn gerade kein Gegenverkehr kam, überholte ein Auto nach dem anderen in teils waghalsigen Manövern das langsame Gefährt. Als Silke schließlich an der Reihe war, setzte sie zwar ein paarmal den linken Blinker, traute sich aber nie, den Überholvorgang tatsächlich zu wagen. Wenn Rudi, wie die Familie den geliebten Passat nannte, leer war, beschleunigte er in gefühlten zehn Minuten von null auf hundert. Mit dem fünffachen Gewicht aber würde es eine halbe Stunde dauern, bis sie den Trecker überholt haben würde.
Die Autos hinter ihr wurden ungeduldig, und Silke fühlte sich gedrängelt. Sie sah auf die Uhr. Nur noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt des Autozuges, und noch lagen knappe zehn Kilometer vor ihr. Jetzt war die linke Spur leer und gut einsehbar. Kurz entschlossen riss Silke das Steuer nach links – um sofort wieder rechts einzuschwenken, weil von hinten ein schwarzes Geschoss mit Affenzahn angerast kam und links an Rudi vorbeizog.
»Mama!« Jana stemmte den gestreckten Körper in den Sitz und hatte die Augen weit aufgerissen. Der Passat schwankte nach dem Hin und Her gefährlich, und Silke hatte alle Mühe gegenzulenken.
»Ein Irrer!«, stöhnte sie und umklammerte krampfhaft das Steuer, bis Rudi sich so weit beruhigte, dass er nicht mehr wie ein Dampfer bei Windstärke zwölf schaukelte.
»Audi. Q3«, kam es seelenruhig vom Rücksitz.
Silke guckte jetzt in den Rückspiegel und sah, dass auch die anderen hinter ihr in der Schlange nach und nach zum Überholmanöver ansetzten. Sie beschloss ihrerseits, darauf zu verzichten. Ihr Herz schlug von dem Schock noch bis zum Hals, und sie würde nicht das Leben ihrer Kinder wegen eines Autoreisezuges aufs Spiel setzen. Es war nicht der letzte, der den Hindenburgdamm überquerte.
Aber der liebe Gott war ihr gnädig und ließ den Traktor kurz darauf in einen Feldweg abbiegen. Silke gab Gas. An einer Tankstelle sah sie den schwarzen Audi, der sie so lebensgefährlich überholt hatte, und Silke überlegte kurz, ob sie anhalten und den Fahrer zur Rede stellen sollte. Aber nach einem Blick auf die Uhr entschied sie sich dagegen und erreichte noch in allerletzter Minute den Bahnhof.
Sie traute ihren Augen kaum, wer vor ihr noch schnell in die Schlange drängelte: Erneut war es der SUV, hinter dem sie nun eingewiesen wurde. Wie Hase und Igel, dachte sie und gestikulierte wild durch die Frontscheibe, in der Hoffnung, dass der Fahrer sie erkennen und sich schämen würde. Aber die Scheiben des großen Fahrzeugs waren verdunkelt, und es war nicht möglich, irgendeine Reaktion auszumachen.
»Was machst du denn da?« Ihre Tochter schüttelte missbilligend den Kopf.
»Schön, dass du aufgewacht bist«, gab Silke zurück und ignorierte Janas Kommentar. Sie wies mit dem Kinn durch die Frontscheibe. »Das ist der Verrückte, wegen dem wir vorhin beinahe im Straßengraben gelandet wären.«
Ihre Tochter stöhnte nur. »Du hattest doch keinen Blinker gesetzt.«
»Hab ich wohl!« Seit Jana ihren Führerschein machte, kritisierte sie laufend den Fahrstil ihrer Mutter, was Silke mehr traf, als sie zugeben wollte. Eigentlich sollte sie lächeln und darüberstehen.
»Du fährst so verboten, echt mal.«
Lächeln und darüberstehen. Silke verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.
Zehn Minuten später setzte sich der Autoreisezug in Bewegung, und Silke löste die verkrampften Hände vom Lenkrad. Endlich konnte sie sich entspannt zurücklehnen und die Aussicht genießen. Sie freute sich über die Strecke auf dem Hindenburgdamm. Vor vielen Jahren war sie selbst als Kind mit den Eltern nach Sylt gereist, einmal. Die Fahrt über das Meer, so war es ihr vorgekommen, war wie ein Wunder gewesen. Links und rechts nur Wasser, so weit das Auge reichte, und mittendrin der stampfende Zug.
»Paul, mach doch bitte mal das Fenster runter, dann kommt ein bisschen Luft rein.«
Wie zur Bestätigung bellte Balu dreimal, dann streckte er den zotteligen Kopf aus dem Fenster und ließ die Schlabberzunge im Wind flattern.
Wie schön wäre es, wir würden einfach nur Urlaub auf der Insel machen, dachte Silke. Stattdessen fürchtete sie sich ein bisschen vor dem, was ihr bevorstand. Sie fuhr ins Ungewisse, in ein großes Abenteuer. Sie war nur einmal vor drei Monaten auf der Insel gewesen, um sich ihren neuen Arbeitsplatz anzusehen. Alles andere hatte sie von Köln aus erledigt: einen Schulplatz für Paul organisiert und die Termine für das nächste halbe Jahr festgelegt. Das Grußwort auf die Website gestellt und sich mit den Kollegen aus den Nachbargemeinden besprochen. Paul hatte zum Glück noch drei Wochen Sommerferien, um sich ein bisschen zu akklimatisieren, bevor er in der neuen Schule startete. Für sie aber ging es nach dem Wochenende gleich los. Der erste Arbeitstag. Jana würde ohnehin nur drei Wochen bleiben, und auch die hatte Silke ihr nur mit Mühe abgerungen. Ihre Tochter hatte gerade Abitur gemacht und wartete im Moment auf einen Studienplatz für Tiermedizin. Nach Sylt zu ziehen war für sie gar nicht in Frage gekommen.
Silkes Gedanken schweiften ab, sie schloss die Augen, genoss den Fahrtwind, der durch das geöffnete Fenster hereinströmte, und sog den salzigen Duft der Meeresluft durch die Nase. Endlich entspannt!
»Was ist das für ein rotes Seil?«, fragte Paul von der Rückbank, und noch bevor Silke antworten konnte, gab es einen scharfen Ruck, und der gesamte Zug kam zum Stehen.
»Die Notbremse«, wollte sie antworten, aber die Antwort blieb ihr im Hals stecken, denn der Passat rumste mit einem kräftigen Satz nach vorne. Auf den schwarzen Audi.
»Was zum …?!« Silke sah erschrocken auf das Hinterteil des Wagens vor ihr, welches nun bedrohlich nahe an ihrer Frontscheibe war.
Jana rollte mit den Augen. »Die Handbremse. Du hast sie nicht angezogen.«
Silke holte tief Luft, um das nun anstehende Donnerwetter durchstehen zu können. Während es aus dem Wagen vor ihr noch keine Reaktion gab, hatten der Fahrer im Auto vor dem Audi und der vor diesem bereits die Türen geöffnet, und die beiden Männer brüllten Unverständliches nach hinten. Ganz offensichtlich hatte Rudi, der schwere Passat, den Audi bei dem Aufprall auf den Wagen davor und diesen auf den noch davor geschoben. Eine kleine Massenkarambolage also. Und Silke war schuld. Sie ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
»Mami, nicht sagen, dass ich an dem Seil gezogen habe, okay?«, kam von der Rückbank das piepsige Zitterstimmchen ihres Sohnes, der nun plötzlich wieder ganz klein war.
Silke schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich das nicht machen kann, Paulchen. Aber mach dir keine Sorgen. Wir sind versichert.«
»Aber die schimpfen bestimmt.«
Silke drehte sich zu ihrem Sohn nach hinten und streichelte ihm liebevoll über die Wange. Sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihm für die Eselei Vorhaltungen zu machen, obwohl es eine denkbar blöde Idee gewesen war, an dem Seil zu ziehen. Aber Paul hatte es im Moment schon schwer genug. Und ich auch, dachte Silke, als sie sich wieder nach vorne drehte und zwei Mitarbeiter der Bahn auf sie zustapfen sah. Außerdem hatte sich die schwere Tür des Audi geöffnet, und zwei Jeansbeine schickten sich an, das Auto zu verlassen.
»Niemand steigt hier aus!«, rief einer der Bahnangestellten und scheuchte die Fahrer vor Silke wieder zurück in ihre Wagen. Als er aber bei dem schwarzen SUV vor ihr ankam, winkte er freundlich und blieb neben der geöffneten Tür stehen. Verstehen konnte Silke nichts, aber der Bahnmitarbeiter und der Audifahrer schienen ein vertrautes Schwätzchen miteinander zu halten. Dann lachte der Angestellte lauthals, die Fahrertür ging zu, und der Bahnangestellte setze eine grimmige Miene auf, als er auf Rudi zuschritt. Silke setzte das liebreizendste Gesicht auf, das sie zur Verfügung hatte, aber nach neun Stunden Autofahrt in einer Saunahölle würde auch dieses wirken, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
»Haben Sie die Notbremse gezogen?« Der Mitarbeiter steckte den Kopf durchs Fenster, fixierte die Insassen des Passat streng und bemühte sich noch um einen neutralen Tonfall.
Silke nickte. Ihre Kehle war staubtrocken, und sie brachte kein Wort hervor.
»Der Grund?« Der Bahnmitarbeiter ließ sie nicht aus den Augen. Paul bückte sich hinten in den Fußbereich und gab vor, etwas zu suchen, Jana starrte aus dem Beifahrerfenster. Einzig der Hund zeigte eine Reaktion und versuchte, durch eifriges Bellen den imaginären Angreifer zu vertreiben – was die Sache für Silke nicht besser machte. »Hören Sie, es tut mir leid. Mein Sohn wusste nicht …«
Aber der Mann ließ sie nicht ausreden. Er zog den Kopf zurück und sagte trocken: »Dann kann’s ja weitergehen. Sobald wir drüben sind, halten wir Ihre Personalien fest, Sie bekommen dann den Bußgeldbescheid. Und die andere Sache«, er wies knapp über die Autoschlange, »müssen Sie auch noch regeln.«
Damit drehte er sich um und winkte mit der roten Kelle nach vorne zur Spitze des Zuges.
Willkommen in Norddeutschland, dachte Silke und war fast dankbar, dass sie nicht eine ellenlange Standpauke über sich hatte ergehen lassen müssen.
Diese blieb jedoch nicht aus. Außer Rudi und dem Audi waren noch zwei weitere Wagen in das Unglück involviert, und kaum hatten die Autos in Westerland den Reisezug verlassen, brach ein Donnerwetter über Silke Denneler herein.
Der Mann im Audi behielt erstaunlicherweise noch einigermaßen die Nerven, aber sein herablassender Tonfall machte die Auseinandersetzung nicht angenehmer. Während die beiden Urlauber in den anderen Fahrzeugen ein riesiges Bohei veranstalteten und Silke ankündigten, dass horrende Forderungen auf sie zukämen, da die Wagen noch auf Sylt in die Werkstatt mussten – denn keinesfalls würde man mit den leicht eingebeulten Stoßstangen die Rückfahrt antreten können –, war der SUV-Fahrer lässig aus seinem Wagen gestiegen, hatte Silke keines Blickes gewürdigt und stattdessen den Schaden ausgiebig studiert. Dann war er mit einem süffisanten Lächeln auf Rudi zugeschlendert, nicht ohne bei dessen Anblick leicht den Kopf zu schütteln, und hatte Silke eine Visitenkarte überreicht.
»Ich hoffe, Sie sind versichert?«, fragte er und legte eine Reihe perlweißer Zähne frei.