Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2018
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-95771-230-1
eISBN: 978-3-95771-231-8

Olaf Jahnke

Die vermisste Freundin

Ein Fall für Roland Bernau

IMPRESSUM

Die vermisste Freundin

Autor
Olaf Jahnke

Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schrift
Constantia

Covergestaltung
Marti O´Sigma

Coverbild
Marti O´Sigma; Sonnenuntergang in Afrika

Lektorat
Britta Voß

Druck und Bindung
Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
August 2018

ISBN: 978-3-95771-230-1
eISBN: 978-3-95771-231-8

Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.
Etwaige Namensähnlichkeiten sind reiner Zufall.

Für Claudia, Mara und Carolin

»Denke nicht, es gibt keine Haie, weil das Wasser ruhig ist.«

Madagassisches Sprichwort

Inhalt

Vermisst

Kirchenamt

Julia

Einsamkeit

Planung

Vorbereitungen

Flug

Tulear

Angekommen

Betioky

Suche

Tagebau

Belohnung

Angst

Schweigen

Botschaft

Zwischenlandung

Brennen

Spuren

Projekte

Druck

Gegenverkehr

Stahl

Abschiebung

Antanarivo

Rhein-Main

Kelkheim

Asphalt

Wald

Ablehnung

Koffer

Tatsachen

Erinnerung

Insider

Alibi

Schafe

Digital

Unschärfe

Negativ

Letztes Gespräch

Beweise

Blutgeld

Flucht

Letal

Sachanhang

BIOGRAPHISCHES

Vermisst

Die Menschen verließen den Saal, drängten mir entgegen, in Jacken, denen noch die Feuchtigkeit des Nachmittagsregens anhaftete. Sie schoben sich an mir vorbei, durch den gläsernen Ausgangsbereich in die frische Abendluft. Eine nicht mehr ganz so junge Frau mit Dreadlocks strömte einen unangenehmen Patschuligeruch aus. Für 21:00 Uhr hatte man mich bestellt, erstaunlich spät für ein erstes Gespräch mit dem Vorstand einer ehrenamtlichen Hilfsorganisation. Ich kam etwas früher in den Vorbau des Rathauses. Dass hier eine so große Gruppe tagte, hatte ich nicht geahnt. Der Verein »Kelkheim hilft« unterstützte Flüchtlinge bei der Ankunft und den allerersten Schritten zur Integration. Am Telefon hatte sich die Dame aus dem Vorstand kryptisch ausgedrückt, sie wüssten um meine Kompetenz und Verschwiegenheit bei heiklen Angelegenheiten. Näheres würden sie gerne bei einem Treffen im Gartensaal erörtern. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich diesen Termin überhaupt annehmen sollte, aber Susanne meinte, die Damen wären alle äußerst korrekt. Ein großer Vorteil, dass meine Büromanagerin aus Kelkheim stammte.

Die Tische mit rund 30 Stühlen standen, entsprechend der Form des Raums, zu einem Quadrat angeordnet. Am Rande, etwa einen halben Meter erhöht, reihte sich die gleiche Zahl an Sitzplätzen in zwei Linien hintereinander. Normalerweise trafen sich hier die Fraktionen und Ausschüsse des Stadtparlaments. Das Publikum, wenn es bei den Sitzungen zugelassen war, durfte auf der Empore Platz nehmen. Nach meinem Gefühl bildeten die vier Damen den Vorstand, welche von den anderen Mitgliedern des Vereins mit Aktenordnern und Papieren belagert wurden. Zwei Männer diskutierten heftig gestikulierend über ein paar Fotos, auf denen ich im Vorübergehen die schmuddeligen Wände einer Wohnung erkannte. Ansonsten waren ausschließlich Frauen anwesend. Eine davon sah mich an, erhob sich, obwohl ihr eine Dame wortreich etwas klar machen wollte, sie nickte ihr kurz zu, schob sich an den beiden Männern vorbei und reichte mir die Hand. Einen guten Kopf kleiner als ich, längere, schwarze Haare, etwas stärker geschminkt.

»Herr Bernau, wenn ich die Bilder aus der Zeitung richtig in Erinnerung habe.«

»Ja, Ihr Gedächtnis lässt Sie nicht im Stich.«

Nach dem letzten Fall stürzte sich die Presse auf mich, weil meine überraschenden Ermittlungsergebnisse die Kompetenz einiger höherer Polizisten in Frage gestellt hatten. So viel Öffentlichkeit bedeutete zwar mehr Aufträge, konnte einen Privatermittler aber nicht wirklich freuen. Mein Gesicht blieb den Menschen anscheinend im Gedächtnis.

»Ich bin Marita Lopez-Schuster, wir haben telefoniert. Ich bitte Sie um einen Augenblick Geduld, wir sind gleich soweit, nehmen Sie ruhig Platz.«

In ihrem spanischen Akzent rollte sie das R, ihre roten Lippen öffneten sich um die strahlend weißen Zähne zu einem freundlichen Lächeln. Ihr Blick haftete an mir, während sie sich zurück zur Gruppe setzte. Ich nahm mir einen Stuhl an der diagonal entgegengesetzten Ecke, um einen gewissen Anstandsabstand zu wahren, solange ich nicht Teil des Gesprächs war. Beim Setzen spürte ich meine Rippen. Die Ärzte meinten, dass in den nächsten Wochen immer mal wieder Schmerzen, schlechtesten Falls erneut Komplikationen auftreten könnten. Ein schönes Andenken an den vorherigen Auftrag.

Das Treffen war offiziell beendet, manch einer fühlte sich allem Anschein nach in der großen Runde nicht genügend beachtet oder, noch schlimmer, vollkommen missverstanden. Gemeinsam kämpften sie für eine gute Sache, bei der Ausführung tauchten allerdings, wenn ich die strittigen Punkte richtig verstand, durchaus Unstimmigkeiten auf. Der Teufel lag bekanntlich im Detail. Es dauerte rund eine halbe Stunde, bis sich die letzten Teilnehmer verabschiedeten. Die vier Frauen blieben sitzen und atmeten, wie auf Kommando, hörbar auf. Zwei lachten, schoben die Unterlagen zusammen, eine schüttelte den Kopf, die Vierte, Frau Lopez-Schuster, winkte mich heran.

»Herr Bernau, kommen Sie doch bitte zu uns.«

Ich ging die Tischreihe entlang, zog mir einen Stuhl zurecht und setzte mich über Eck zu den Damen.

»Wenn ich Ihnen meine Mitstreiterinnen vorstellen darf? Maria Kalinowsky.« Sie zeigte nach links, drehte sich zur rechten Seite. »Silke Klein und Sabine Dubois.«

Sie nickten mir zu und versuchten wahrscheinlich, mich einzuschätzen.

»Guten Abend, vielen Dank für die Einladung.«

»Nein, wir müssen uns bedanken, dass Sie um diese Uhrzeit im Rathaus vorbeischauen. Inzwischen ist es, oh, madre mia«, sie sah auf ihre Uhr, »halb zehn. Nicht gerade die üblichen Bürozeiten.«

»Für Privatermittler gelten die nicht, befürchte ich.«

»Das mag sein, trotzdem freue ich mich, dass Sie hier sind. Am Telefon mochte ich nicht so offen reden.«

Sie schaute ihre Vorstandsrunde an. So langsam schaffte sie es, eine gewisse Neugierde in mir zu erzeugen, worüber sich der Verein sorgte. Wegen Kleinigkeiten hatte mich noch nie jemand engagiert. Gewalttaten, bei denen die Polizei nach Ansicht meiner Auftraggeber nicht ausreichend oder überhaupt nicht ermittelte, gehörten zu den Hauptgründen. Hier sah eigentlich alles recht friedlich aus. Das Thema Flüchtlinge galt speziell für sogenannte besorgte Bürger schlechthin als Symbol für zukünftige Gewalt in unserem Land. Die Polizei in Hessen und besonders in Kelheim ging mit dieser Aufgabe zum Glück sehr sensibel um.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

Marita Lopez-Schuster schaute in die Vorstandsrunde. Ihre Sitznachbarin zur Linken, Maria Kalinowsky, die zwar einen polnischen Namen trug, aber eindeutig afrikanische Wurzeln hatte, ich tippte auf Eritrea, nickte ihr aufmunternd zu, sodass sie sich wieder mir zuwandte.

»Eine gute Freundin von uns, eine sehr gute Freundin, sie ist, na ja, eventuell verschwunden.«

Das klang jetzt noch nicht nach einem echten Auftrag.

»Eventuell? Können Sie mir das etwas genauer erklären?«

»Ja, natürlich.«

Das rollende R gefiel mir.

»Martina ist – Martina Weber heißt sie, entschuldigen Sie - Martina hat sich seit ein paar Tagen nicht mehr bei uns gemeldet. Normalerweise haben wir nahezu täglich Kontakt mit ihr.«

»Manchmal sogar mehrmals am Tag, Martina chattet gerne und schickt uns regelmäßig Fotos«, sagte Sabine Dubois. Selbst im Sitzen überragte sie die anderen Frauen um fast einen Kopf. In ihrem dunkelblonden Haar steckte eine Lesebrille.

»Die Polizei nimmt aber nach dieser Zeit natürlich auch Vermisstenanzeigen an. Warum fragen sie nicht auf dem Revier? Das wäre garantiert deutlich kostengünstiger.«

Marita Lopez-Schuster schob die Unterlagen vor sich auf dem Tisch mit beiden Händen zusammen, senkte ihre Augen.

»Martina ist seit drei Wochen in Madagaskar. Sie hilft bei einem landwirtschaftlichen Projekt, das unsere Kirchengemeinde finanziell unterstützt.«

»Okay. Das klingt wirklich nicht nach einem Fall für die Polizeistation Kelkheim.«

Die Runde hatte es geschafft, mich zu erstaunen. Mit skeptischen Blicken sahen sie mich an, niemand sagte etwas. Ostafrika als Ermittlungsgebiet, das fehlte noch auf meiner Landkarte. Andererseits konnte ich mir einen entscheidenden Punkt bei diesem Verein nicht vorstellen.

»Sie sehen mir bestimmt meine Überraschung an. Bevor wir tiefer in die Materie einsteigen, möchte ich auf eine kleine, aber wichtige Tatsache hinweisen. Ermittlungen stellen für mich kein Hobby dar, ich lebe davon, ebenso meine Mitarbeiterin, Frau Söllner. Dementsprechend gibt es einen festen Tagessatz für unsere Arbeit. Ich bin mir nicht sicher, ob …«

Silke Klein, die bislang nichts gesagt hatte, hob die Hand.

»Das wissen wir natürlich. Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie uns Ihr Honorar quasi spenden. Wir haben bereits mit dem Dekanat Kronberg gesprochen, zu dem unsere Gemeinde beziehungsweise das Projekt in Madagaskar gehört. Dort begreift man die besondere Situation. Der Propst hat bei der Landeskirche nachgehakt, sogar der Kirchenpräsident weiß inzwischen Bescheid.«

»Aha, und was denken die Herren?«

»In einem gewissen Rahmen hat man uns Hilfe angeboten. Es versteht sich von selbst, dass Sie nicht zum Spaß arbeiten. Wir haben uns ansatzweise darüber informiert, in welcher Höhe sich die Tagessätze von Ermittlern bewegen. Die Referentin des Präsidenten möchte allerdings gerne mit Ihnen reden, bevor das Landeskirchenamt fest zusagt. Ein paar Tage Ermittlungszeit würde man bezahlen, das Dekanat kann auch etwas beisteuern. Für den Rest kommen wir auf. Man hat uns gebeten, mit Ihnen zu sprechen, über Martina und ob Sie grundsätzlich bereit wären, den Fall zu übernehmen.«

Die Frauen wussten, was sie wollten. Sie sagten nichts mehr, sahen mich an, alle vier, womit sie es tatsächlich schafften, mich ein bisschen unter Druck zu setzen. Ihre Freundin war verschwunden, weit weg, in einem Land, das nicht gerade für seine gute Infrastruktur bekannt war. Ich versuchte, ihre Sorgen zu zerstreuen.

»Niemand kann ausschließen, dass es sich einfach nur um ein Kommunikationsproblem handelt. In Madagaskar muss nur ein Mobilfunkmast ausfallen, um eine Stadt vom Internet zu trennen.«

»Das haben wir bereits überprüft«, antwortete die Klein. »Nach drei Tagen überkam uns ein komisches Gefühl. Ohne gleich in Panik zu verfallen, haben wir dem Projektleiter eine unverfängliche Mail geschickt. Wie es um die aktuelle Situation vor Ort bestellt ist, ob ihm Martinas Wissen im Bereich der Landwirtschaft weiterhilft bei seinen Problemen mit den geplanten Anpflanzungen im Dürrebereich. Er hat uns innerhalb einer Stunde geantwortet. Also keine technische Ursache, dass Martina sich nicht bei uns meldet.«

Sie holte tief Luft, Sabine Dubois legte eine Hand auf ihre. Die Augen von Silke Klein füllten sich mit Tränen.

»Die E-Mail bewirkte das Gegenteil, der Projektleiter machte uns noch mehr Angst. Er schrieb, dass Martinas Wissen perfekt ins Projekt passt. Jedoch hätte er sie seit zwei Tagen nicht gesehen. Sie wären sich sonst mindestens einmal am Tag über den Weg gelaufen.«

Die Tränen flossen.

»Er hat seine Mitarbeiter befragt, niemand wusste etwas. Nach unserer Mail schaute er sogar in ihre Unterkunft, einer besseren Hütte am Rande der Farm. Auf den ersten Blick erschien ihm alles vollkommen normal, ordentlich. Er meinte, dass für eine Frau vielleicht zu wenig Schmink- und Waschutensilien am Waschbecken standen. Sie müssen wissen, Martina schminkt sich nicht besonders auffällig, aber dennoch jeden Tag. Sie legt Wert auf ihr Äußeres.«

Ich wollte nicht als gefühlskalter Kerl dastehen, musste meine Worte der Situation anpassen.

»Sprechen nicht die fehlenden Schminksachen eher für eine Art Tour durch das Land? Ein mehrtägiger Ausflug in die Hauptstadt oder zu einer der Inseln?«

Frau Klein empfand meine Frage eindeutig als Zumutung.

»Herr Bernau, Sie dürfen davon ausgehen, dass wir in den letzten Tagen jede Möglichkeit diskutiert haben. Ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich nur daran denke, welche Ausmaße unsere Fantasie angenommen hat. Garantiert hätte Martina den Projektmitarbeitern Bescheid gesagt, sie zieht doch nicht so mir nichts dir nichts durch das Land, ohne irgendjemanden zu sagen, was sie vorhat. Es muss was passiert sein.«

Jetzt schaltete sich auch wieder Marita Lopez-Schuster ein.

»Ich verstehe Ihre Bedenken. Eine Frau fliegt ins Ausland, ist womöglich ein paar Tage unterwegs, bricht vielleicht einfach aus, um etwas zu sehen oder zu erleben. Die Freundinnen in der sicheren Heimat sorgen sich, sind möglicherweise überempfindlich. Früher hätte niemand den Anruf aus so einem Land bezahlen können oder wollen, heutzutage erwartet man permanenten Kontakt über die sozialen Netzwerke.« Sie atmete aus, um gleich weiter zu machen. »Lieber Herr Bernau, wir sind Frauen, die mitten im Leben stehen. Was glauben Sie, was wir machen? Von früh bis spät kümmern wir uns um Menschen, die kein Zuhause mehr haben. Dafür hassen uns Viele, manchmal sogar Bekannte aus der Nachbarschaft. Die Politiker sind froh, dass es uns gibt, unterstützen uns aber nur mit Almosen. Wir sind keine Sensibelchen, schon gar keine Hausmütterchen. Zum Teil stammen wir selbst aus Gegenden, die man als unsicher einstuft. Madagaskar ist grundsätzlich kein gefährliches Land, erst in den letzten Jahren haben die Risiken zugenommen, speziell für Europäer, bei denen man sowieso immer Geld vermutet. Ich erzähle Ihnen gerne mehr über Martina, wenn Sie Interesse haben, uns zu helfen.«

Das hatte gesessen. Sie zeigte klare Kante und trat als potentielle Auftraggeberin und nicht als Bittstellerin auf.

»Okay, entschuldigen Sie, es stimmt natürlich, ich wollte nicht von oben herab den Schlaumeier spielen. Manchmal steckt noch der Polizist in mir, der erst mal alles abklopft und überflüssige Arbeit vermeiden möchte. Beschreiben Sie mir Ihre Freundin.«

Kirchenamt

Am nächsten Morgen fuhr ich nach einem kurzen Telefonat mit Carola Niemann, der Referentin des Kirchenpräsidenten, nach Darmstadt. Mit zwei Damen vom Vorstand der Flüchtlingshilfe hatte ich mich für den Nachmittag erneut verabredet, gestern war es für die Runde zu spät geworden. Die Fülle der Informationen zu Martina Weber musste ich in Ruhe aufnehmen und anschließend ordnen. Außerdem wollte ich vorher gerne das Finanzielle mit der Landeskirche klären. Ich fand es sympathisch, dass ein Präsident und kein Bischof diese Kirche leitete. Vielleicht einfach nur ein anderer Titel, wirkte es auf mich dennoch irgendwie demokratischer und zeitgemäßer. Die Kirchenverwaltung der Landeskirche befand sich am Rande der Innenstadt. Ich parkte in einer Seitenstraße vor einem schönen Café. Bevor ich nach Kelkheim zurückfahren würde, wäre ein zweites Frühstück nicht das Schlechteste. Das Amt residierte am Paulusplatz in einem herrschaftlichen, schlossähnlichen Gebäude. Der Architekt hatte sich nicht entscheiden können, ob er ein barockes oder ein Jugendstilportal bauen wollte. Zwei Atlanten aus hellem Stein spannten von der Taille bis zu den Schultern ihre unverhüllten Muskeln an. Auf dem Rücken trugen sie die Last des verschnörkelten Eingangsbogens, um ihre Lenden hatte der Bildhauer dezent Tücher gewunden. Der junge Mann am Empfang fragte mich mit ausgewählter Höflichkeit, wie er mir helfen könne.

»Ich habe einen Termin bei Frau Niemann, mein Name ist Roland Bernau.«

»Ich frage kurz an, einen Moment, bitte.« Er drückte eine Taste auf der in die Jahre gekommenen, braunen Telefonanlage. »Frau Niemann, guten Morgen, hier ist der Empfang. Herr Bernau steht vor mir. Darf ich ihn hoch schicken? Ja, sehr gerne.«

Er legte auf und schenkte mir ein Lächeln, als ob der Geldbote der Landeslotterie vor ihm stünde.

»Sie finden Frau Niemann im dritten Stock, auf der linken Seite, am Ende des Flurs, Zimmer 311. Darf ich Ihnen das aufschreiben?«

»Nein, danke, das ist lieb von Ihnen. Ich habe zwar allerhand graue Haare, darunter funktioniert es aber noch einigermaßen.«

Im großen Treppenaufgang merkte ich erst, wie hoch hier die einzelnen Etagen gebaut waren. Drei Stockwerke entsprachen gut und gerne fünf in einem Neubau. Meine Schritte hallten über die Steinstufen, hinein in die langen Gänge. Im Flur hingen Portraits der ehemaligen Kirchenpräsidenten. So ein Kirchenfürst hatte im Land einen gewissen Einfluss. Damals sicher mehr als heute, trotzdem wog die Meinung von Till Rabanus zu aktuellen Geschehnissen etwas. Nicht nur bei den Kirchgängern galt der jetzige Präsident als unabhängige Instanz im hektischen, von den Medien getriebenen Politikbetrieb. Ich klopfte an die breite, hellgraue Holztür.

»Herein!«

Durch die gegenüberliegenden Fenster strahlte die Morgensonne und blendete mich.

»Herr Bernau, es freut mich wirklich sehr, dass Sie den langen Weg auf sich genommen haben.« Eine gutaussehende Frau, ungefähr Ende dreißig, streckte mir ihre Hand entgegen. Ein dunkler Lockenkopf in einem grauen Hosenanzug.

»Hallo Frau Niemann, nein, ganz so weit ist es von Kelkheim hierher nun auch nicht. Der Berufsverkehr fließt um diese Uhrzeit eher in die andere Richtung.«

»Ja, das macht sehr viel aus. Bitte, setzen sie sich.«

Sie wies auf eine Sitzecke, bei den Stühlen tippte ich auf Thonet, ebenso alt wie das Gebäude. Hier hatte alles etwas länger Bestand.

»Das Verschwinden von Martina Weber sehen wir als eine absolut sensible Angelegenheit. Dementsprechend wollte ich das ungern zwischen Tür und Angel besprechen. Das verstehen Sie sicherlich.«

Ich nickte, wir setzen uns. Sie legte ein paar engbedruckte Blätter auf den runden Holztisch.

»Der Kirchenpräsident nimmt die Sorgen unserer Gemeinde in Kelkheim sehr ernst. Die Projekte in Entwicklungsländern leben nicht nur durch die Geldspenden der Kirchenmitglieder, oft bringt der persönliche Einsatz vor Ort die Dinge erst entscheidend voran. Wir sehen uns in der Verantwortung, wenn etwas Derartiges passiert. Zum aktuellen Zeitpunkt können wir überhaupt nicht einschätzen, wie es um Frau Weber steht.«

»Das ist auch …«

»Ich habe der deutschen Botschaft in Antanarivo eine Mail mit der Bitte um dringliche Bearbeitung geschickt. Dort weiß bislang niemand von ihrem Verschwinden. Hätte es einen Unfall gegeben, hätte man Frau Weber in irgendeinem misslichen Zustand gefunden, der Botschafter wüsste mit hoher Wahrscheinlichkeit davon. Deutsche tragen im Ausland so gut wie immer ihre Papiere mit sich.«

Sie schob mir ihre Unterlagen herüber.

»Die Details zum Projekt. Die Gemeinde fand es sinnvoll, wir natürlich auch, kleine Landwirte in einer besonders ärmlichen Region zu unterstützen. Betioky, im Süden der Insel, in der Gegend regnet es fast nie. Frau Weber hat früher in Norddeutschland für ein Saatzuchtunternehmen gearbeitet. Ihr Wissen um spezielles Saatgut für trockene Landschaften mit schlechten Böden prädestiniert sie für exakt diese Aufgabe.«

Ich nahm die Blätter. Fotos von glücklichen Menschen, deutsche Geländewagen, dunkelhäutige Kinder mit schmalen Augen. Eine Auflistung der Spendengelder. Eine Tabelle, der ich entnehmen konnte, wie die Erträge der Bauern durch die Maßnahmen stiegen.

»Frau Niemann, Sie haben mir, so ich den Fall übernehme, schon viel Arbeit abgenommen. Wie stellen Sie sich unsere Zusammenarbeit konkret vor?«

Sie lehnte sich zurück, soweit es die runde Rückenlehne des Caféhausstuhls zuließ.

»Die Kirche hat natürlich keinen festen Haushaltsposten für Ermittlungsaufgaben. Die Gremien haben einem gewissen Betrag zugestimmt, den ich Ihnen anbieten kann. Er sollte ausreichen, Sie für eine Woche zu finanzieren. Flugtickets besorge ich. Wenn das Ganze Sinn machen soll, wäre ein Flug morgen oder übermorgen angebracht.«

Sie wusste wirklich, was sie wollte. Der Gedanke, dass es eventuell überhaupt nicht mit meinen Vorstellungen und meinem Terminplan kompatibel war, kam ihr anscheinend nicht.

»Können Sie mir den Betrag nennen?«

Sie schob mir ein weiteres Blatt entgegen, auf der unten eine fettgedruckte, unterstrichene Zahl stand. Die evangelische Kirche war nicht für ihre Verschwendungssucht bekannt.

»Darüber kann man reden, ob es eine Woche dauert, vermag ich jetzt natürlich nicht zu beurteilen.«

»Wir sind keine Großbank, auch wenn viele Menschen das immer wieder behaupten. Es würde mich sehr freuen, wenn unser Angebot für Sie akzeptabel ist. Die Gemeinde und der Propst haben uns signalisiert, möglicherweise ebenfalls etwas beizusteuern. Das ginge leider vom Spendenvolumen an das Projekt ab.«

Die liebe Frau Niemann klang, als ob sie vorher bei einem deutschen Autokonzern als Chefeinkäuferin gearbeitet hätte. Ihr gerader Blick bohrte ein Loch zwischen meine Augen. Schielte sie ein wenig? Die große Holztür zum Nebenzimmer rumste, flog mit Schwung auf, ein großgewachsener Mann in schwarzem Anzug, Till Rabanus, der Kirchenpräsident, schaute sich die Messingschließe der Tür an.

»Der Kleiber muss endlich mal das Schloss ölen. Sie sind Herr Bernau, wenn ich richtig im Bilde bin.«

Er streckte mir die Hand entgegen, ich stand auf und staunte, ausnahmsweise mal der Kleinere zu sein. Ich tippte auf Zweimeterfünf. Sein Händedruck würde zu einem Schmied passen.

»Genau, Roland Bernau.«

»Ich freue mich, dass Sie für uns arbeiten, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Madagaskar ist bestimmt eine schöne Abwechslung zu Ihren sonstigen Fällen. Sie hatten ja in letzter Zeit ordentlich Presse.«

Meine Anonymität war wirklich dahin.

»Ja, Frau Söllner, meine Büromanagerin, beschwert sich bereits über die vielen Anfragen. Expansion wäre eine Idee.«

»Nicht schlecht, nicht schlecht.«

Er drehte den Kopf zu Carola Niemann. Der Hals ragte aus einem zu engen, weißen Kragen, wie ihn Pfarrer trugen. Alles andere an ihm war schwarz, von den Schuhen bis zu den glatten, gescheitelten Haaren. Am Revers des Sakkos steckte ein schlichtes Silberkreuz.

»Sie haben die finanziellen Dinge geklärt, Frau Niemann?«

»Wir haben über den Rahmen der Möglichkeiten gesprochen.«

»Aha. Schön.«

Er bemerkte meine Unentschlossenheit. Sein Auftritt kam mir etwas aufgesetzt vor. Hatte er an der Tür gelauscht oder eine Gegensprechanlage angelassen? Die Beiden führten für mich einen Tanz vor. Arbeit für den guten Zweck, wer würde da nein sagen wollen? Rabanus beugte sich zu mir herunter.

»Natürlich übernehmen wir die Kosten für Flug und Hotel, ein Mitarbeiter der evangelischen Kirche steht für Sie dort zur Verfügung, ebenso ein Fahrzeug, das ist bereits geklärt. Wenn alles gut läuft, haben Sie Frau Weber nach zwei bis drei Tagen gefunden.«

»Das kann sein, muss aber nicht.«

Till Rabanus nickte, griff leicht meinen Ellbogen und brachte mich zum Fenster, aus dem sich der Blick über den Paulusplatz öffnete. Vor dem Gebäude ein Parkplatz, auf dem zur Zeit der Bauherren wahrscheinlich noch die Kutschen vorfuhren, eine Balustrade, in deren Mitte eine Freitreppe zur Grünanlage darunter führte. Darin ein Wasserbassin, umrahmt von mächtigen Bäumen, die Blätter leuchteten beim kurzen Aufblitzen der Sonne durch die Wolkendecke in allen Grüntönen. An den Seiten des Platzes schauten zwei steinerne Damen von ihren Sockeln herab. Drei Frauen schoben Kinderwagen vor sich her, ein älteres Paar saß eng nebeneinander auf einer Parkbank.

»Die Kirche darf die Menschen nicht enttäuschen. Sie investieren ihre Zeit, zeigen vollen Einsatz, riskieren auch was, wenn sie in solche Länder fahren. Die Gemeinden sammeln für diese Projekte, jeden Sonntag wartet am Ausgang der Klingelbeutel. Münze für Münze wachsen die Dinge. Alle benötigen unendlich viel Geduld.« Er drehte sich zu mir um, sah mir direkt in die Augen. »Jetzt passiert auf einmal etwas. Wir wissen noch nicht, was wirklich mit Frau Weber geschehen ist. Womöglich ist sie nur für ein paar Tage ausgestiegen. Um es sich gutgehen zu lassen, in einem schönen Hotel, um eine Pause von den Widrigkeiten der Dritten Welt einzulegen. Um Abstand zu gewinnen. Vielleicht hatte sie die Situation bei ihrer Planung zuhause falsch eingeschätzt, und die Armut in dem Dorf belastet sie. Wir wissen von alldem nichts. Unsere Leute vor Ort konnten sie nicht finden. Ich brauche Ihre Hilfe, die Professionalität, mit der Sie vermisste Personen aufzuspüren. Falls doch etwas ist. Das bin ich unseren Helfern schuldig.«

Er hielt mir regelrecht eine Predigt, appellierte an mein Verantwortungsgefühl, nicht nur gegenüber den Menschen in Afrika, sondern gegenüber allen, die ihren Teil dazu beitrugen, die Lebenswirklichkeit dort zu verbessern. Till Rabanus wirkte überzeugend, mit seiner ruhigen Stimme, die trotzdem Energie ausströmte. Seine volle Aufmerksamkeit galt mir. Es fiel mir schwer, mich dem zu entziehen. Kein Wunder, dass man diesen Mann an die Spitze der Landeskirche gewählt hatte. Er hatte mich, fast zwangsläufig nickte ich. Sein Blick ruhte weiter auf mir, nur langsam legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Beinahe hätte ich es übersehen, dass er mir erneut die Hand entgegenhielt. Der Druck war nicht mehr ganz so hart.

»Ich danke Ihnen.«

Er drehte sich um, schaute kurz in Richtung der Referentin und verschwand wieder im Nachbarzimmer.

»Sie haben einen beeindruckenden Chef.«

»Er überzeugt mit leisen Worten. Viele unserer Besucher zeigen sich überrascht, nachdem sie einige Zeit mit ihm gesprochen haben.«

»Ja, ich glaube, so was ist mir auch gerade passiert. Am späten Nachmittag telefonieren wir nochmal, um die Details für den Flug zu besprechen. Falls ich nicht erreichbar bin, meine Mitarbeiterin Frau Söllner ist in den üblichen Zeiten im Büro.«

Ich klaubte die Unterlagen über das Projekt vom Tisch, sie schob mir das Blatt mit dem Angebot rüber. Jemand hatte sich informiert, wie hoch die möglichen Kosten für einen privaten Ermittler lagen, allerdings nicht bei mir. Eine Liste von Tagessätzen der bekannten Detekteien, die sich im Rhein-Main tummelten. Meiner war inzwischen ein Stück höher. Weder verfolgte ich Ehemänner, denen die werten Gattinnen nicht mehr über den Weg trauten, noch beschattete ich krankgeschriebene Arbeitnehmer. Das sollte nicht mein Lebenszweck sein. Ich verabschiedete mich von Frau Niemann, verließ das Gebäude, schlenderte durch die Grünanlage, bevor ich mich nicht mehr dagegen wehren konnte, einen Blick in das Café zu werfen, vor dem mein Wagen parkte. Die Leckereien in der Auslage sahen bestimmt nicht nur gut aus.

Julia

Mein Bauchgefühl konnte sich zum Fall Weber, so ich ihn denn übernahm, nicht so recht entscheiden. Litten die Freundinnen unter übertriebener Vorsicht oder bestand tatsächlich Anlass zur Sorge? Eigentlich sollte mir das egal sein, das Angebot der Landeskirche stimmte einigermaßen, auch wenn die Summe eher einem Einsatz von rund vier Tagen entsprach. Madagaskar wäre ein Langstreckenflug, ein Tag Anreise, ein Tag zurück. Eine Exkursion in die südliche Sonne war nicht zu verachten, vielleicht ließe sich sogar ein Abstecher ans Meer organisieren. Natürlich müsste Frau Niemann den Termin für den Rückflug offenlassen, je nachdem, ob und wann ich Martina Weber finden würde. Oder falls ich mir ein paar Tage Strandurlaub genehmigte. Madagaskar gehörte nicht zu den typischen Urlaubsländern, nicht mal für Touristen, die gerne Afrika besuchten. Was ich so las, wenn man denn überhaupt etwas über dieses abseitige Land erfuhr, klang nicht gut. Die Armut bekam niemand in den Griff, Naturschutz ein absolutes Fremdwort. Vor der Reise musste ich mich genauer informieren. Ich sollte beim Gespräch mit den beiden Frauen vom Vereinsvorstand nachhaken, ob Martina Weber nicht abenteuerlustiger war, als es ihre Freundinnen ahnten. Eventuell hatte sie früher schon spontane Trips unternommen, ohne es jemandem mitzuteilen. Wäre bei mir ähnlich. Natürlich würde ich im Büro Bescheid sagen, als Chef vollkommen verständlich, Susanne führte sowieso meinen Terminkalender.

Privat sah die Sache anders aus. Julia verlangte von mir keine Rechenschaft über jede einzelne Stunde, die ich nicht mit ihr verbrachte. Es sollte ja Frauen geben, bei denen das andere Formen annahm. Sie wirkte auf mich nicht sehr eifersüchtig, hing vielleicht mit unserer Situation zusammen. Julia verfluchte meinen Beruf und die damit zusammenhängenden Probleme. Erst neulich ließ sie ihrer Wut freien Lauf, als ich sie wegen eines Termins, der sich immer weiter in die Länge zog, versetzt hatte. Alleine im Restaurant zu sitzen ist nicht schön. Meine letzten beiden großen Fälle, bei denen sie mich unterstützt hatte, trugen eher zu ihrer Skepsis bei, was meine Arbeit und unsere Beziehung anging. So rückte das Thema gemeinsame Wohnung weit in den Hintergrund. Eine Woche Afrika ohne sie wäre unserer Beziehung möglicherweise zuträglich, aber irgendwie auch schade. Ich beschloss, sie auf dem Weg von Darmstadt nach Kelkheim zu überraschen, falls sie zuhause war.

Auf dem Frankfurter Kreuz bog ich auf die A3 in Richtung Offenbach, um kurz danach die Abfahrt Frankfurt Süd zu nehmen. Vorbei am Waldstadion, durch den großen Kreisel am Oberforsthaus, drückte ich ihren Namen auf dem Display im Auto.

»Guten Morgen, Roland, was verschafft mir die Ehre deines frühen Anrufs?«

»Ich wollte einfach mal deine Stimme hören.«

»Ehrlich? Du bist ein charmanter Lügner.«

»Natürlich reicht mir deine Stimme nur für den Augenblick. Ich habe dich seit zwei Tagen nicht gesehen. Das kann so nicht weitergehen. Wo treibst du dich gerade rum?«

Sie lachte.

»Ich bin zuhause, ganz brav, und versuche, einen ordentlichen Text zustande zu bringen.«

»Worum geht es?«

»Ach, für eine Frauenzeitschrift. Partnerschaft und so ein Kram, das Übliche eben. Die bezahlen unterirdisch, dafür veranstalte ich keine großangelegte Feldforschung oder üppige Recherchen.«

Ich stoppte vor der alten Villa in der Reichsforststraße.

»Bist du unterwegs? Klingt so nach Auto?«

»Ja, ein möglicher neuer Fall. Eine Frau aus Kelkheim ist verschwunden.«

»Ach, eine ganz normale Frau, kein Banker oder Chefarzt?«

Ihre Stimme klang ein wenig zynisch, Julia spielte auf meine letzten beiden Fälle an, die sich mit der Zeit als besonders schwierig und zunehmend brutal herausgestellt hatten.

»Du, es hat gerade geklingelt, ich schau mal, wer das ist, bestimmt nur der Paketbote, bleib mal dran.«

Ich hörte über das Telefon, wie sie den Türöffner drückte. Ein paar Schritte auf der knarzigen Holztreppe in das Dachgeschoss. Sie öffnete die Tür.

»Das darf nicht wahr sein, du Gauner!«

Ich steckte mein Handy ein, nahm sie in den Arm. Wir gaben uns einen wunderbaren Kuss.

»Das ist typisch, mir was erzählen und voll auf die Schippe nehmen. Schäm dich.« Sie grinste über das ganze, schöne Gesicht. »Komm rein, du Chaot. Hier sieht es wüst aus, ich bin die letzten Tage nicht dazu gekommen aufzuräumen. Schau einfach nicht so genau hin. Obwohl, du bist es ja nur, da muss ich mich nicht genieren.«

Im Flur lagen tatsächlich relativ viele Schuhe herum, die auf den ersten Blick nicht zueinander passten. Die passenden linken oder rechten Stücke verbargen sich wahrscheinlich unter der Sammlung von Handtaschen. Schwarze, Braune, Blaue, zum Einkauf, für Schick und für die Arbeit. Frauen konnten nie genug davon besitzen, sagten sie zumindest selbst. Was war bei Männern eigentlich das entsprechende Gegenstück? Technikspielzeug, wie Kameras oder Computer führten auf der Beliebtheitsskala. Ich zog meine Schuhe aus und stellte sie neben den Berg aus Leder.

»Es duftet nach Kaffee. Hättest du einen für mich übrig?«

»Wenn es sein muss. Bedien dich, die Kanne steht in der Maschine. Zum Texten brauche ich eine größere Dosis, deswegen ist genug da.«

Ich ging in die Küche, nahm eine Tasse aus dem Schrank, goss einen ordentlichen Schuss Milch ein und füllte mit Kaffee auf. Ohne Zucker schmeckte mir Kaffee eigentlich gar nicht, seit ein paar Wochen verzichtete ich aber lieber darauf, damit mir meine Hosen wieder besser passten. Aus dem Büro hörte ich die Tastatur vom Laptop. Ich schlurfte in Strümpfen über das Parkett ins Arbeitszimmer. Julia beugte sich vor.

»Kann es sein, dass du eine Lesebrille brauchst?«

»Quatsch, der Bildschirm ist viel zu hochauflösend, da erkennt doch kein Mensch was. Guck, wie klein die Buchstaben sind.«

»Ja, ne, is klar. Es gibt so eine Senioreneinstellung im Betriebssystem. Dort lässt sich die Schriftgröße einfach verstellen.«

»Du wolltest schon gehen?«

Alter, ein ganz sensibles Thema. Ich stellte mich hinter Julia, strich ihre langen, braunen Haare in der Mitte zusammen und begann, vorsichtig ihre Schultern zu massieren.

»Du darfst doch noch etwas bleiben. Weiter links … Ja, schön.«

»Tipps für Frauen, die wieder auf die Piste wollen. Die freie Wildbahn ab 50. Dein Text klingt ja gefährlich.«

»Vorgabe der Chefredakteurin, ich bin nicht schuld an der Überschrift. Was tut frau nicht alles, um den Vermieter zu bezahlen.«

Sie hatte leider Recht, die Verlage knauserten immer mehr, manche hatten auch jeden Grund, miserable Honorare rauszurücken. Das Internet sorgte für stetig fallende Abozahlen.

»Der neuer Fall, die verschwundene Frau, warum überlässt das dein Auftraggeber nicht der Polizei?«

»Würde nichts bringen, befürchte ich. Die Frau hält sich im Ausland auf.«

»Wozu gibt es Interpol?«

»Ja, eigentlich keine schlechte Idee.«

Julia drehte sich zu mir um.

»Sie ist nicht in Frankreich oder Italien verschwunden?«

»Nein, etwas weiter weg. Ich bin noch nicht sicher, ob ich den Fall überhaupt übernehme. Sie taucht bestimmt wieder von alleine auf. Drei Tage, die Aufregung ist übertrieben.«

»Welches Land? Somalia, Jemen, Afghanistan?«

In Julia baute sich Aggression auf, das spürte selbst ich. Ein Mann, der sich ständig in Gefahr begab, gehörte nicht zu ihrer Idealvorstellung einer Partnerschaft.

»Nein, keine so krasse Gegend. Madagaskar.«

»Sag, dass das nicht wahr ist!«

Was war jetzt los? Das Land hatte keinen guten Ruf, einen so miserablen allerdings auch nicht. Manche Menschen verbrachten sogar ihren Urlaub dort.

»Ich habe bislang nicht zugesagt.«

»Das solltest du sofort, und ich komme mit. Du brauchst eine Assistentin!«

Aus Julia schlau zu werden, gestaltete sich für mich zunehmend schwieriger. Umso mehr freute ich mich über ihre Begeisterung für das Land.

»Die Finanzen meines Auftraggebers sehen dummerweise keine Assistentin vor. So leid es mit tut.«

»Nein, ich komme mit.«

Ihre Augen leuchteten, sie legte ihre Arme um mich.

»Eine ganz tolle Idee, der Flug ist allerdings für morgen oder übermorgen geplant. Wenn ich den Fall übernehme, das ist im Moment noch nicht klar.«

»Morgen! Ich muss sofort telefonieren!«

Sagte es und schob mich zur Seite.

»Was hast du vor? Warte, ich bin mir nicht sicher, ob …«

»Wo liegt das Telefon? Bestimmt im Wohnzimmer.«

Ich trottete ihr hinterher.

»Nur nichts überstürzen, vielleicht findet sich die Frau ja wieder auf, bevor wir im Flieger sitzen.«

»Das glaubst du doch selbst nicht. Ah, es liegt auf dem Sofa.«

Sie nahm es, marschierte zurück ins Büro, rief auf dem Computer eine Liste mit Kontaktdaten von Redaktionen auf und tippte eine Nummer. Es dauerte, bis sich jemand meldete.

»Hallo Birte, hier ist Julia, Julia Zeiss aus Frankfurt.«

Die Dame am anderen Ende hatte anscheinend erst mal viel zu berichten. Julia nickte, begann allmählich, etwas herum zu zappeln, weil sie nicht zum Zuge kam mit dem, was sie erzählen wollte.

»Du, Birte, vor einem Jahr hattest du mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, ein Portrait von Leuten zu schreiben, die in ferne Länder gegangen sind, um dort was auf die Beine zu stellen. Jetzt hätte ich was.«

Julia liebte Nägel mit Köpfen. Die Redakteurin schien interessiert zu sein.

»Ja, genau. Madagaskar, ein tolles Land. Afrika mit einem Schuss Asien. Lemuren und Reisterrassen, Fischerboote und Dschungel. Nur wenig Urlauber, keine ausgelatschten Pfade durch Pauschaltouristen. Verschiedene ethnische Gruppen, eine spannende Gesellschaft, ohne die großen Konflikte anderer afrikanischer Länder. Ein Projekt einer deutschen Kirchengemeinde, also exakt passend zu deiner Zielgruppe.«

Woher nahm sie das alles? Ein wandelndes Lexikon. Julia nickte in einer Tour, während sie ihrer potentiellen Auftraggeberin zuhörte. Ihre Lippen formten sich zu einem immer breiteren Lächeln.

»Ja, bestens, so machen wir das. Ich melde mich nachher nochmal, schaue nach den Details. Ganz super, ich freue mich.«

Sie beendete das Telefonat, schaute mich verschmitzt an.

»Ich möchte seit Jahren, ach, Jahrzehnten dorthin, es hat sich nur nie ergeben. Niemand wollte mit, alleine erschien es mir zu unsicher. Jetzt passt alles!«

Sie legte ihre Arme auf meine Schultern, lachte mich an und gab mir einen Kuss. Ich zog sie enger an mich, ließ mich auf das Sofa fallen, ohne loszulassen.

»Hey, du Wüstling, es ist noch nicht mal Mittag, ich muss arbeiten.«

»Ich auch. Komm her.«

»Du grober Klotz, lass uns nach nebenan gehen.«

Ihr Duft lag auf meiner Haut, ihre Haare streichelten meinen Rücken, die Fingerspitzen fuhren meinen Arm entlang.

»Hattest du nicht einen Termin mit diesem Verein?«

»Ich kann nicht.«

»Was ist denn?«

»Ich glaube, ich muss im Bett bleiben. Es fühlt sich so gut an.«

»Nein, du musst jetzt los. Komm schon.«

»Ist doch so schön. Noch ein kleines Bisschen.«

Sie legte sich auf mich, knabberte an meinem Ohrläppchen und drückte ihre Beine zwischen meine.

Einfach liegenzubleiben wäre jetzt wirklich das Beste. Eingekuschelt, ihren Duft, ihren Atem spürend. Irgendwo musste meine Uhr liegen, keine Ahnung, wie spät es war.

»Willst du aufstehen?«

»Von Wollen kann keine Rede sein. Meine Damenrunde wartet auf mich.«

»Du fährst von einer zur anderen, das finde ich bedenklich. Wenn ich da was merke.«

»Ich bin eine so treue Seele. Außerdem schüttle ich als Profi jeden Beschatter problemlos ab.«

Julia griff sich das Kopfkissen und begann, es mir wieder und wieder auf den Kopf zu schlagen.

»Ich gebe auf, lass es, natürlich bin ich dir ewig treu!«

»Das wollte ich hören. Jetzt darfst du gehen.«

Sie verpasste mir einen dicken Kuss, ich rollte mich aus dem Bett.

»Brutale Methoden, hier wird man zum Glück gezwungen!«

»Ja, manche Männer brauchen das. Beeil dich, sonst wird der Kaffee bei deiner Damenrunde kalt.«

Ich zog mir meine Sachen an, Julia legte sich auf die Seite und schaute mir dabei zu.

»Seitdem du den Zucker beim Kaffee weglässt, sitzt die Hose ganz schön locker.«

»Kein Zucker, kaum Wurst, weniger Schoko und den Bierkonsum halbiert. Das Leben verliert an Reizen.«

»Dafür bin ich in dein Leben getreten. Mir gefällt das, endlich sieht man wieder Bauchmuskeln. Ich wusste gar nicht, dass du welche hast.«

»Doch, sie hatten sich nur gut versteckt.«

Julia stand auf, zog sich einen Morgenmantel über und brachte mich zur Tür.

»Sag mir sofort Bescheid, wenn du den Auftrag übernimmst. Wir müssen uns um die Flüge kümmern, außerdem habe ich noch eine andere Idee, wer an Geschichten aus Madagaskar interessiert sein könnte.«

Einsamkeit

Natürlich würde ich gerne mit Julia ein paar Tage in den Süden reisen, am liebsten noch länger, zwei, drei Wochen. Privatvergnügen und Berufsleben trennte ich aber normalerweise voneinander, deswegen gefiel mir der Gedanke, zusammen mit ihr zu fliegen, nicht so richtig. Andererseits half sie mir in letzter Zeit immer mehr bei meinen Fällen, was allerdings schon einmal mächtig ins Auge gegangen war. Vielleicht tauchte Martina Weber innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden wieder auf, und die ganze Sache löste sich von alleine.

Ich hatte mich mit zwei Frauen aus dem Vorstand für 15 Uhr verabredet, eine halbe Stunde hatte ich noch Zeit für den Weg. Auf dem Frankfurter Kreuz spürte man bereits die ersten Pendler, entweder arbeiteten sie nur halbtags oder fingen verdammt früh an. Die ewige Baustelle auf der A66 hatten die Arbeiter in den letzten Tagen endlich abgeräumt, trotzdem fuhren einige wie die Fahranfänger, wahrscheinlich wegen der Reste von den alten Fahrspuren auf dem Asphalt. In der Abfahrt auf die B8 stockte es. Die einzige mir bekannte Autobahnabfahrt mit einer Querung für Fußgänger vor dem Beschleunigungsstreifen zur Schnellstraße. Es glich einem Wunder, dass der Notarztwagen hier nicht täglich Kundschaft einsammelte.

Sabine Dubois hatte ihre Vorstandskollegin und mich zu sich nach Kelkheim-Hornau eingeladen. Da ich aus gutem Grund auf das Mittagessen verzichtet hatte, hoffte ich auf ein schönes Stückchen Kuchen. Sie wohnte in einem der nagelneuen Mehrfamilienhäuser am Gagernring, direkt zwischen dieser Hauptverkehrsstraße und der Bahnlinie. Um die Zeit fand ich ein paar Meter weiter ohne Probleme einen Parkplatz. Das Wetter wollte nicht besser werden, bevor ich ausstieg, zog ich mir die Regenjacke über, was hinter dem Steuer dauerte. Meine angeknacksten Rippen meldeten sich bei solchen Übungen sofort.

Ich drückte die Klingel, Sabine Dubois lebte im Dachgeschoss. Ein schickes Gebäude, strahlend weiß, mit großen Glasflächen und einem merkwürdig schrägen Dach. Drei LED-Lichter strahlten mich an. Ehe ich was in die Gegensprechanlage mit Videoüberwachung sagen konnte, summte die Tür. Die Stockwerke fühlten sich höher als in anderen Häusern an.

»Hallo, Herr Bernau, der Kaffee wartet schon auf Sie.«

»Guten Tag, Frau Dubois, das freut mich. Ich ziehe meine Schuhe lieber aus, Ihr Parkett sieht so neu aus.«

»Ein Mann, der mitdenkt. Hier stehen Filzschlappen, wenn Sie mögen. Frau Lopez-Schuster schmeckt der Kaffee bereits.«

Von innen erklärte sich mir die eigenartige Form des Daches. Im Wohnzimmer hätte der Höhe nach ein Sprungturm aus dem Freibad Platz gehabt, ich schätzte die Deckenhöhe auf fünf Meter.

»Herr Bernau, guten Tag. Ich musste auch beim ersten Besuch staunen, eigentlich staune ich immer noch.« Frau Lopez-Schuster mit ihrem rollenden R.

»Hallo, ja, das übertrifft jeden Altbau, es sei denn, man lebt in einem Schloss.«

»Setzen Sie sich zu mir, darf ich Ihnen Kaffee einschenken?«

»Mögen Sie gedeckten Apfelkuchen?« Sabine Dubois kam mit einer Platte voller herrlicher Kuchenstücke aus der offenen Küche.

»Ich liebe ihn.«

»Das freut mich. Etwas Sahne vielleicht?«

»Nur einen kleinen Klecks.«

Frau Lopez-Schuster definierte Klecks eindeutig anders als ich. Sie hieb mir zwei ordentliche Portionen mit dem Sahnelöffel auf den Kuchen.

»Martina mag Sabines Backkünste auch so gerne.«

Ich nahm einen Schluck vom Kaffee. Er eignete sich für Erweckungserlebnisse. Hier wurde an nichts gespart.

»Ja, Martina«, murmelte Sabine Dubois. »Wir sind es ihr schuldig, alles zu unternehmen, um sie zu finden. Sie ist unsere beste Freundin.«

Ich vermied es, sie mit vollem Mund zu unterbrechen, weil ich fliegende Kuchenkrümel befürchtete.

»Wir sind jeden Punkt mehrfach durchgegangen. Wie es ihr in letzter Zeit ging, welche Veränderungen sie durchgemacht hat und was das in ihr ausgelöst haben könnte.«

»Ihr Apfelkuchen schmeckt ausgezeichnet, so leckeren findet man heutzutage in keinem Café.«

»Dankeschön, Sie sind ein Charmeur. Ein Rezept von meiner Oma.«

»Zu welchem Ergebnis sind Sie bei Ihren Überlegungen gekommen?«

Die beiden Frauen sahen sich an, Sabine Dubois nippte dabei an ihrer Porzellantasse, Marita Lopez-Schuster drehte sich zu mir um.

»Martinas Mann ist vor rund einem Jahr ausgezogen. Er lebt nun mit einer Jüngeren zusammen. Gerade mal ein paar Hundert Meter entfernt wohnt er jetzt bei der. Martina hasst es, sie gemeinsam in ihrer nächsten Umgebung zu sehen. Im Supermarkt, auf dem Marktplatz, im Freibad.«

»Wie hat sie das verarbeitet?«

Sabine Dubois stellte die Tasse etwas zu laut ab.

»Gar nicht, zumindest zuerst, würde ich sagen.«

»Besteht für Sie in dieser Situation ein Zusammenhang zur Reise nach Madagaskar?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

So, wie sie es sagte, weckte es mein Interesse. In ihrer Stimme lag Traurigkeit.

»Ich hab Zeit.«

»Mögen Sie noch ein Stückchen?«

Marita Lopez-Schuster stellte diese Frage rein rhetorisch, sie balancierte bereits ein besonders großes Stück auf dem Tortenheber.

»Sehr gerne.«

Ohne zu fragen, dekorierte sie die Portion natürlich mit viel Sahne. Die Dubois begann zu erzählen.

»Martina wusste überhaupt nicht, wie ihr geschah. Ihr Mann, Stefan heißt er, hatte sie ohne jede Vorwarnung mit den Tatsachen konfrontiert. Aus meiner Sicht eiskalt und lange geplant. Er teilte ihr seinen Entschluss mit und zog am nächsten Tag aus. Martina erlitt regelrecht einen Schock. Es gab nach ihrer Meinung gar keinen Anlass für das eklige Verhalten ihres Mannes. Alles lief gut, dachte sie zumindest bis zu diesem Moment.«

»Hat sie sich daraufhin zurückgezogen, kamen irgendwelche Warnsignale, die auf eine gewisse psychische Instabilität hingewiesen haben?«

»Na, ich möchte mal wissen, wie es Ihnen gehen würde, wenn Ihre Frau sich nach 20 Jahren Ehe sang- und klanglos verabschiedet und um die Ecke zu einem anderen Typen zieht.«

»Entschuldigung, natürlich. Ich wollte es nur nicht so drastisch formulieren. Empfanden Sie Ihre Freundin als suizidgefährdet? Gab es Momente, wo die Verzweiflung überhandnahm?«

Beide schüttelten den Kopf.