© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler
Umschlagmotiv: © privat
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN (E-Book) 978-3-451-80995-8
ISBN (Buch) 978-3-451-61389-0
Liebe Alice,
ich bin 27 und mache gerade meinen Master im Bereich Jura und Management. Ich werde als starke Frau bezeichnet, die alles hinbekommt. Ich bin ein sehr positiver und optimistischer Mensch, der viel Spaß am Leben hat. Ich habe ein erfolgreiches und glückliches Leben.
Was aber so gar nicht bei mir klappt, ist die Sache mit den Männern. Seit Jahren bin ich Single oder habe Beziehungen, die lediglich drei Monate halten. Ich bin mir immer sehr unsicher, ob ich mich tatsächlich an diese Männer binden möchte, da sie mir eigentlich nicht gut genug sind. Verliebt habe ich mich immer in Männer, die sehr dominant und auch nicht gerade monogam waren. Zum Beispiel in einen Arzt, der ursprünglich aus Saudi-Arabien kam. Er hat meine Trennung nicht akzeptiert und ein Drama veranstaltet, um mich zurückzuerobern.
Warum falle ich immer auf diesen Typ Mann herein? Ich bin doch stark und emanzipiert und finde die Vorstellung, zu einem Mann aufzuschauen, in der Theorie absolut schrecklich. Und trotzdem ist da ein Muster erkennbar.
Janin, 27 Jahre
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Liebe Janin,
ja, da ist zweifellos ein Muster erkennbar. Das siehst du ja selber. Offensichtlich gibt es bei dir eine Kluft zwischen Gefühl und Verstand. Dein Verstand sagt dir, du solltest vernünftig sein und gleichberechtigte Beziehungen eingehen. Dein Gefühl sehnt sich nach Unterwerfung.
Letzteres wird mit frühen Prägungen in deinem Leben zu tun haben. Vielleicht willst du dich auch »entschuldigen« für deine objektive Stärke, indem du dich subjektiv unterwirfst.
Da du unter diesem Konflikt leidest, rate ich dir, bei einer wirklich guten Therapeutin eine Art Krisenintervention zu machen. Das geht in der Regel über drei Monate, und dabei würde speziell dieses Problem bearbeitet.
Aus der Ferne kann ich dir dazu leider nicht mehr raten, Janin.
Viel Glück
Alice Schwarzer
1 http://www.emma.de/artikel/ask-alice-steh-ich-auf-den-falschen-maennertyp-330299; 3. Juli 2015, abgerufen am: 25. September 2015.
Das Problem, mit dem Janine sich an Alice Schwarzer wendet, betrifft genau die Thematik, die ich in meinem Buch »Die Sehnsucht der starken Frau nach dem starken Mann« aus der Sicht der analytischen Psychologie von C. G. Jung besprochen habe. Schon viele Jahre hilft es starken Frauen dabei, ihr konfliktreiches Verhältnis zu Männern zu klären. Doch die Probleme der starken Frauen scheinen nur eine Seite der Medaille zu sein.
Seit dem Erscheinen der »Frauen-Sehnsucht» erhielt ich immer wieder Post von Männern, die sich einen zweiten Band – jedoch aus der Sicht des Mannes – wünschten. Ich habe diesen Männern immer geantwortet, dass so einen Band keine Frau schreiben kann, sondern dass ein Mann das tun muss. Irgendwie hat mir das Thema aber trotzdem keine Ruhe gelassen, nicht zuletzt deswegen, weil die Nachfrage meiner Leserschaft nach einer »Männervariante« über viele Jahre konstant geblieben ist.
Vor einiger Zeit kamen mein Bruder Johannes und ich dann auf die – eigentlich naheliegende – Idee, diese Männervariante gemeinsam zu schreiben. Das Verhältnis von Bruder und Schwester hat einen Vorteil gegenüber dem Verhältnis von Mann und Frau in einer Partnerschaft: es ist die größere Offenheit und Ehrlichkeit. Ein Bruder schüttet der Schwester das Herz aus und umgekehrt, besonders in Liebesdingen. Und wenn die Geschwister ein gutes Verhältnis haben, dann können sie Ratgebende sein und sich gegenseitig gute Tipps geben für den Umgang mit dem anderen Geschlecht.
Genau das haben mein Bruder und ich viele Jahre lang getan, angefangen bei der ersten Verliebtheit in der Pubertät. Und darum, so unser Gedanke, können wir beide auch ein schönes und ehrliches Buch darüber schreiben, wie es dem starken Mann geht, der mit einer starken Frau zu tun hat. Wir haben den Eindruck, dass sich viele Männer redlich bemühen, mit emanzipierten starken Frauen gut auszukommen und sich auf deren Bedürfnisse einzustellen. Über die Jahre hat sich bei diesen Männern aber auch jede Menge Zorn angestaut – je nach Persönlichkeit auch Verzweiflung oder Resignation. Diese Männer haben im Moment noch keine Lobby, denn es ist politisch nicht korrekt, über emanzipierte Frauen zu schimpfen. Auf der Ebene von Mario Barth oder Caveman darf man sich mit der Clownsnase im Gesicht über Frauen lustig machen. Aber Frauen so gründlich kritisieren, wie das die Frauenbewegung mit den Männern getan hat, das »darf« man im Moment noch nicht. Und doch ist es an der Zeit, genau dies zu tun. Wir hoffen, mit unserem Buch dem frauenfreundlichen Mann, auch »neuer Mann« genannt, eine Stimme zu geben. Wir tun dies nicht, um Rache an den emanzipierten Frauen zu üben, sondern um das längst überfällige Gegengewicht anzubieten, nach dem die starken Frauen im Übrigen ebenfalls suchen. Wir versprechen uns von diesem Buch, dass es für frischen Wind in den Beziehungen zwischen starken Frauen und starken Männern sorgt. Letztendlich, so hoffen wir, sollten beide Parteien von der Lektüre unseres Textes profitieren und ihre Kommunikation durch die darin enthaltenen Anregungen bereichern.
Mein Bruder beginnt darum mit der Bekanntgabe eines Beschlusses, den er gefasst hat und der prägnant seine Position darstellt. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, dass er seine Kapitel in einer Sprache schreibt, die seiner momentanen Stimmung entspricht und die die Verhältnisse so ausdrückt, wie er sie als Mann sieht. Leserinnen und Leser, die meinen Sprachduktus aus der »starken Frau« gewohnt sind, finden in Johannes’ Kapiteln einen deutlich anderen Stil vor – dies ist so gewollt.
Der zentrale theoretische Hintergrund, auf den wir unser Augenmerk richten, ist die Schattentheorie von C. G. Jung. Ich habe darum eine kleine Einführung in die Welt der Schatten geschrieben, die für jeden und jede gut verständlich ist und Jungs Schattentheorie kurz erklärt. Mit dieser Theorie versuchen wir im Folgenden zu erhellen, wie emanzipierte Frauen und die »neuen« Männer ihre Beziehung ausbauen und weiterentwickeln können.
Weil das vorliegende Buch auf »Die Sehnsucht der starken Frau nach dem starken Mann« aufbaut, halten wir es zudem für sinnvoll, eine Zusammenfassung der dort beschriebenen Aussagen in diesem Buch anzubieten. Für Neueinsteiger soll damit der Ausgangspunkt deutlich werden, auf den mein Bruder sich mit seiner Männersicht bezieht. Wir können hierfür ein Comic verwenden, das die Grundlage meiner Vorträge zu dieser Thematik war. Es bringt das Dilemma der starken Frau auf den Punkt und wird von meinem Bruder und mir in einem Zwiegespräch kommentiert. Im Anschluss daran vertritt mein Bruder die Sicht des Mannes und beschreibt, welche Position er sich im Lauf der Jahre erarbeitet hat.
Unsere Hoffnung ist, dass sich viele Männer in seinen Gedanken wiederfinden und dass viele Frauen in seinen Texten die ungeschminkte Wahrheit darüber nachlesen können, wie weibliches Verhalten auf Männer wirken kann. Männern, die die »Sehnsucht« gelesen haben, empfehle ich oft, ihrer geliebten starken Frau das Buch einfach auf den Nachttisch zu legen – verbunden mit der Einladung zu einem Gespräch darüber. Und genauso empfehle ich jetzt den starken Frauen, die Männervariante ihrem geliebten Partner zu geben, verbunden mit der Frage: »Sag mal ehrlich, geht es dir mit mir auch so, wie den Männern, von denen hier drin die Rede ist?«
Ich als Mann habe vor einigen Jahren für mich beschlossen, dass ich genug Lebenszeit damit verbracht habe, Frauen zu verstehen – nein, besser ausgedrückt: zu versuchen, die Frauen zu verstehen. Immer, wenn ich glaube, ich hätte eine Ahnung davon, wie die Frau an meiner Seite tickt, was sie von mir erwartet, was sie im Leben und in unserer Partnerschaft erreichen will, kommt eine Situation, ein Moment, irgendetwas Unvorhergesehenes – und ich sehe mich plötzlich einer völlig fremden Frau gegenüber. Oft genug weist sie nur noch äußerliche Ähnlichkeiten auf mit der Frau, die ich zu kennen glaube. Dieser »neuen« Frau kann ich nichts recht machen, ich enttäusche sie mit meinem Verhalten. Sie kritisiert mich dann aufs Schärfste, ist aufgebracht oder zeigt mir die kalte Schulter.
Ist der Sturm schließlich vorübergezogen, verwandelt sie sich gewöhnlich wieder zurück in die mir vertraute Partnerin. Aber bei mir bleibt die Unsicherheit, einfach nicht genau zu wissen, mit wem ich es eigentlich zu tun habe. Ein Gefühl, das sich tief in mir eingeprägt hat und das in mir einmal mehr den Eindruck verstärkt, dass es nicht möglich ist, eine Frau wirklich zu erfassen. Von Männerfreundschaften kenne ich das völlig anders. Mein bester Freund Ernst ist für mich in seinem Verhalten immer prima einzuschätzen. Ich weiß, woran ich mit ihm bin, wo seine wunden Punkte liegen und wie ich ihm eine Freude machen kann. Ich kenne unsere Themen und kann mit seiner Offenheit, aber auch mit seinem Schweigen umgehen. Bei Frauen kenne ich eine solche Sicherheit nicht.
Da ich diese Wechselbäder über lange Zeit hinweg mit völlig unterschiedlichen Frauen und in ganz unterschiedlichen Altersstufen meinerseits und ihrerseits gemacht habe, bin ich mittlerweile zu folgender Erkenntnis gekommen: Die einzige Person, die ich wirklich kenne, bin ich selber. Es ist deshalb das Einfachste, ich selbst zu bleiben. Dann gibt es in der Partnerschaft zumindest eine feste Komponente, nämlich mich.
Wohlgemerkt – damit habe ich den Faktor Frau immer noch nicht verstanden! Ich bin auch künftig nicht vor unvorhergesehenen Reaktionen gefeit. Aber ich kann jetzt für mich klarer entscheiden, ob ich mir das Wechselbadtheater noch einmal antun will. Oder ob ich meinen Koffer packe und von dannen ziehe. Ich habe beschlossen, dass ich mein Restleben nicht mehr mit aussichtslosen Projekten verschwenden will. Vielmehr möchte ich ein glückliches und zufriedenes Leben führen – mit einer Frau an meiner Seite, die zu mir passt und die mir das Gefühl gibt, das Richtige zu tun (zumindest meistens). Wenn ich diese Frau gerade nicht finden kann, bleibe ich eben Single, anstatt mich erneut einer Beziehung auszusetzen.
Was meinen Bruder zu seinem Beschluss getrieben hat, ist – in seinen Worten – ein Wechselbad, das er in mehreren Beziehungen mit starken Frauen erlebt hat. Er beschreibt, dass eine Frau, die auf den ersten Blick autonom wirkt, plötzlich zu einem anderen Wesen wird: Sie vertritt andere Werte und kann extrem biestig und zickig werden, wenn der Mann diese neuen Werte nicht auf Anhieb begreift und sein Verhalten danach ausrichtet. Das Problem bei diesem Wechselspiel: Die beiden Wertesysteme, die in einer Frau lebendig werden, können sich völlig widersprechen. Als hätte man es mit Dr. Jekyll und Mrs. Hyde zu tun. In der einen Rolle ist die Frau selbstständig, denkt und spricht sachlich, klar und logisch. Sie führt ein eigenständiges Leben, und zwar nach Regeln, die für den Mann transparent und nachvollziehbar sind. In der anderen Rolle ist sie klammernd und möchte, dass man ihr die Wünsche von den Augen abliest. Sie zeigt eine Palette von Gefühlen, die einem Mann in hohem Maße irrational erscheint. Zusätzlich hat sie nahe am Wasser gebaut, kann vom Weinen aber auch blitzschnell zur Boshaftigkeit switchen.
Viele Männer erklären sich diese weiblichen Mutationen mit den Hormonen: Entweder hat ihre Frau ein prämenstruelles Syndrom, oder sie hat gerade ihre Tage, oder ihre Tage sind gerade vorbei. Irgendwas ist immer. Das ist bei Frauen so, damit muss ein Mann sich abfinden wie mit schlechtem Wetter.
Die Frauen, denen solche Mutationen widerfahren, fühlen sich jedoch in den meisten Fällen selbst sehr unwohl. Nach dem Erscheinen meines ersten Buches hatte ich unzählige Kontakte mit Frauen, die sich in dieser Beschreibung wiedererkannt haben. Und alle waren mit sich selber in dieser Hinsicht überhaupt nicht einverstanden. Die meisten dieser Frauen waren reflektiert und selbstkritisch – und sie waren sich völlig darüber im Klaren, dass man einem Mann so etwas eigentlich nicht zumuten kann. Aber sie waren diesem Geschehen ebenfalls hilflos ausgeliefert. Alle Einsicht, alle Verstandeskraft, alle guten Vorsätze konnten sie nicht davor bewahren, dass die andere Frau in ihnen in völlig unvorhersehbaren Rhythmen in Erscheinung trat. Als seien sie von einem bösen Geist besessen, der ein Eigenleben führt.
Besonders unangenehm machen sich diese zwei Seiten bemerkbar, wenn sich die Frau verlieben möchte oder wenn sie auf der Suche nach einer langfristigen Beziehung ist. Vom Kopf her weiß sie, dass sie genau nach dem Typ Mann suchen möchte, den mein Bruder selber darstellt. Eingangs habe ich ihn als den neuen Mann beschrieben, manchmal nenne ich ihn auch den Mann mit dem Alice-Schwarzer-Gütesiegel: einer, der Kinder will, der völlig selbstverständlich seinen Teil im Haushalt erledigt, der ihr den Rücken freihält, wenn sie im Job viel um die Ohren hat, der keine Probleme mit seiner Männlichkeit kriegt, wenn sie mehr verdient als er. Kurzum: ein emanzipierter Mann mit jenen Werten, die die Frauenbewegung für die Frauenwelt erkämpft hat. Das Dumme ist nur, dass dieser Männertyp auf viele Frauen nicht gerade umwerfend sexy wirkt. Sie lassen sich mit dem politisch korrekten Mann vielleicht aus Vernunftgründen ein – aber bei anderen Männern schmelzen sie dahin. Das sind dann durchwegs Typen, die in Alice Schwarzers Magazin unter der Rubrik »Pascha des Monats« erscheinen könnten.
Eine Frau, die ich kenne, hat sich unsterblich in den muskelbepackten Türsteher eines Clubs verliebt, der einen Mustang mit vier Auspuffrohren fährt. Ein habilitierter Chemiker erzählt mir, dass seine Frau ihn wegen eines chilenischen Straßenmusikanten verlassen habe. Er muss ausziehen, die Frau bleibt mit den drei Kindern im Haus. Unterhalt für Frau und Kinder bezahlt selbstverständlich er, den Spaß im Bett mit seiner Frau hat hingegen der Südamerikaner. »Und was das Beste ist«, berichtet er mir, »das Sexleben in unserer Beziehung war absolut auf Sparflamme, ich hatte auf Handbetrieb umgestellt. Entweder hatte sie keine Lust oder keine Zeit oder zu viel Stress oder war nicht in Stimmung. Mit dem Südamerikaner poppt sie jeden Tag, und das reibt sie mir auch noch unter die Nase! Ich sei ein Langweiler im Bett, hat sie gesagt!« Ganz ähnlich ergeht es einem Versicherungskaufmann, dessen Frau mit einem Kollegen in die Kiste springt, der allerorten als Hallodri bekannt ist: »Sie sagt, der Typ sei ihr magic lover. Ich könnte zum Serienkiller werden, echt.«
Wir wollen jetzt nicht den Fehler begehen und die Frauen, denen so etwas widerfährt, als gewissenlos und eiskalt bezeichnen. Natürlich gibt es auch diese Sorte. Aber für die ist dieses Buch nicht geschrieben. Worüber wir in diesem Buch sprechen, sind die Frauen, die mit sich selber nicht im Reinen sind, wenn sie auf solche Männertypen abfahren. Die sich zwar unwiderstehlich hingezogen fühlen zur erotischen Aura dieser Spezies Mann, die aber gleichzeitig genau wissen, dass sie diesen Typen niemals ihrer Freundin vorstellen möchten.
Wie kann man diese merkwürdigen Vorgänge erklären? Die Schattentheorie von C. G. Jung bietet hierfür die plausible Erklärung. Jung geht als analytischer Psychologe davon aus, dass die menschliche Psyche aus bewussten und unbewussten Anteilen besteht. Im Unbewussten eines Menschen tummeln sich allerlei Inhalte, von denen der Besitzer oder die Besitzerin bewusst keine Kenntnis hat. Das könnte uns eigentlich egal sein, doch das Dumme ist, dass diese unbewussten Inhalte beträchtlichen Einfluss auf die Handlungssteuerung nehmen können. Die bekannten Freud’schen Fehlleistungen sind ein Beispiel für solch eine Einflussnahme. Die Person, der diese Fehlleistung geschieht, ist oft peinlich berührt und schämt sich für das, was ohne ihre bewusste Absicht an die Öffentlichkeit getreten ist. Es ist kein Wunder, dass wir uns für die Offenbarungsaktionen des Unbewussten schämen. In vielen Fällen entspricht der Inhalt dessen, was da das Tageslicht erblickt hat, nämlich nicht dem Wertesystem, das wir öffentlich vertreten.
Jene Werte und Ansichten, die der bewussten Einstellung zuwiderlaufen, fristen in der menschlichen Psyche eine Art Schattendasein. Darum hat C. G. Jung diesen Anteil der Persönlichkeit auch den Schatten genannt. Der Schatten ist das Gegenteil der Persona – jenes Teils unserer Psyche, den wir gerne allen zeigen und zu dem wir auch öffentlich stehen können. Der persönliche Schatten eines Menschen entsteht nach Jung zunächst durch die Erziehung. Die Einflussnahme erfolgt aber auch durch die Kultur der Gesellschaft, in der wir aufwachsen, durch die Werte der Gleichaltrigen, mit denen wir befreundet sind, und durch den Zeitgeist, den wir in uns aufnehmen, ohne ihn bewusst zu reflektieren. Eltern, Kultur, Gleichaltrige, Zeitgeist – sie alle sind daran beteiligt, dass ein Heranwachsender ein Wertesystem ausbildet, nach dem er das Leben ausrichtet. Eigenschaften, die zu diesem Wertesystem passen, werden Teil der Persona. Sie werden gelebt und nach außen gezeigt. Eigenschaften, die nicht zum erlernten Wertesystem passen, werden jedoch unterdrückt und verdrängt. Handlungsbestrebungen, die mit dem Wertesystem kollidieren, werden gehemmt. Wir verbieten uns eine solche unerwünschte Handlung entweder bewusst oder ganz unbewusst und automatisch.
Wenn wir eine als unpassend erlebte Handlung unterdrücken, bedeutet das jedoch nicht, dass wir sie damit aus dem psychischen System verbannt hätten. Sie wird zwar unterdrückt, ist jedoch nach wie vor präsent – und wirksam. Sie lebt jedoch nicht im Licht, wie die Persona, sondern im Schatten, dort, wo niemand sie sieht. Wenn eine solche Hemmung unerwünschter Handlungsimpulse völlig automatisiert ist, spricht man davon, dass der Handlungsimpuls ins Unbewusste verdrängt wurde. Als Metapher für diese Aufbewahrungssituation von Schattenanteilen und Persona können wir uns ein Geschwisterpaar vorstellen, ein Mädchen und einen Jungen. Das Mädchen ist ein wundervolles Kind: Sie hat gute Schulnoten, spielt Cello im Schulorchester, hat kürzlich den ersten Preis in einem Poetry Slam nach Hause gebracht und benimmt sich höflich und wohlerzogen, wenn Tante Hertha zu Besuch weilt. Sie möchte später einmal Medizin studieren, um ein Mittel gegen Krebs zu erfinden. Ganz anders der Bruder: Er ist der Schrecken aller Lehrer, schon zweimal sitzengeblieben, kifft und dealt auch ein bisschen, um an Geld zu kommen. Einen Berufswunsch hat er nicht, am liebsten wäre er nach eigener Aussage ein Rentner, denn er hat beobachtet, dass Rentner zwar Geld bekommen, aber nichts arbeiten müssen. Ehrgeiz entwickelt der junge Mann nur im Hochleveln seines Avatars im Computerspiel. Wenn Tante Hertha kommt, ringt er sich mit mürrischem Gesicht einen Gruß ab. Dann lümmelt er auf der Couch herum, wo er sich mit dem Handy beschäftigt, anstatt einen konstruktiven Beitrag zur Konversation zu leisten. Sein Zimmer stinkt wie ein Iltisbau, seine Turnschuhe ebenso.
Mit welchem der beiden Geschwister lässt sich mehr Staat machen? Ganz klar mit der Schwester. Sie entspricht einfach dem Klischee von gelungener Erziehung – zumindest für die meisten Menschen, die sich selbst als normal bezeichnen. Der missratene Bruder, der nicht der Norm entspricht, ist uns hingegen peinlich. Und manchmal, insgeheim, wäre es einem lieber, er wäre nie geboren und würde nicht als Schandfleck die saubere Weste der Familie beschmutzen.
In vielen Märchen findet sich dieses Motiv: Ein Mensch, der aus der Familie oder der Dorfgemeinschaft ausgestoßen wurde und einsam im dunklen Wald oder in einer Höhle lebt. Dort haust der Ausgestoßene völlig verwildert und erschreckt mit braunen Zähnen, zottigen Haaren und langen, krummen Fingernägeln die vorbeiziehende Wanderer zu Tode. Diese von der Zivilisation abgeschiedenen und Furcht einflößenden Orte sind in Märchen Metaphern für das Unbewusste der menschlichen Psyche. Das Dorf mit dem Polizeibeamten, der auf die Einhaltung der Ordnung achtet, dem Bürgermeister, der die Verwaltung regelt, und den befestigten Straßen, die jeden Samstag gefegt werden, steht für das Bewusstsein. Der verwilderte Bewohner des tiefen Waldes ist der Schatten, die sauber herausgeputzten, ordentlichen Menschen, die am Sonntag in die Kirche marschieren und dort Hosianna singen, stehen für die Persona.
Übertragen wir nun diese Metapher auf die Psyche der starken Frau, wie ich sie in meinem Buch beschrieben habe. Starke Frauen sind durch oder in der Tradition der Frauenbewegung sozialisiert worden. Autonomie und ein Bewusstsein der eigenen Stärke sind hohe Werte für diese Frauen. Egal, ob sie Vollzeit oder Teilzeit arbeiten, ob mit Kindern oder ohne Kinder, und auch wenn Frauen dieses Typs vorübergehend nicht arbeiten, um daheim die Familie zu managen: Immer begreifen sich diese Frauen als selbstständig – und nicht als Anhängsel ihrer Männer.
Was in solch einem auf Autonomie und Stärke ausgerichteten Wertesystem keinen Platz hat, sind die Themen Anlehnungsbedürfnis, Hingabe und Abhängigkeit. Sie werden aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen und wandern ab in den dunklen Wald. Dort leben sie aber natürlich weiter, sie sind ja nicht gestorben, sondern wurden nur abgeschoben. Als Bild für die typische Schattengestalt der emanzipierten Frau habe ich in meinem Buch den Begriff der Tussi gewählt. Ein typisches Tussiverhalten zeigt zum Beispiel dieser Dialog mit einer jungen Frau, mit der ich über ihr Studium ins Gespräch gekommen bin. Ich wollte wissen, was sie denn studiert: »Ach, im Moment Kunstgeschichte …«, antwortete sie verträumt.
»Oh, interessant! Und wie möchtest du später mit diesem Studium Geld verdienen? An was für ein Berufsbild hast du gedacht?«, fragte ich.
»Geld verdienen muss ich mit meinem Studium nicht«, wurde mir gelassen mitgeteilt. »Weißt du, ich heirate mal einen reichen Mann, dann muss ich nicht arbeiten. Ich mache das mit dem Studium nur zum Spaß.«
Ich muss gestehen, mir hat es damals die Sprache verschlagen. Und auch heute finde ich diesen Lebensentwurf für eine junge Frau befremdlich. Aber meine Reaktion basiert natürlich auf dem Wertesystem der Frauenbewegung. Diese junge Frau hat offenbar ein völlig anderes – eben das einer Tussi. Eine Tussi hat kein Problem mit Abhängigkeit, im Gegenteil, sie findet es angenehm, wenn der Mann den Buckel krumm macht und sie dafür seine goldene Kreditkarte benutzen kann. Sie kann nur verständnislos den gepflegten Lockenkopf schütteln, wenn sie sieht, wie berufstätige Frauen sich aufreiben, um Job und Kinder unter einen Hut zu bringen. Sie verbringt ihre Zeit lieber auf dem Tennisplatz, im Fitnessstudio oder am Pool, das ist auch besser für die Figur.
Spannend wird es nun, wenn sich eine emanzipierte Frau klarmachen muss, dass sie in ihrer Psyche als Schattengestalt solch eine Tussi beherbergt – und dass es diese Tussi ist, die für das Wechselbad der Gefühle verantwortlich ist, das starke Frauen und ihre Partner regelmäßig erleben.