Matthias Brasch, Polizist in Köln, hat schon bessere Tage gesehen, denn von einem auf den anderen Tag wird er von seiner Freundin verlassen. Als er eines Abends nach Hause zurückkehrt, ist Leonie ausgezogen – mit ihrer gesamten Habe. Brasch weiß weder, wo sie ist, noch, warum sie ihn verlassen hat.
Erst Wochen später taucht Leonie überraschend wieder in seinem Leben auf – als Hauptzeugin in einem Mordfall. Immer enger gerät sie in den Kreis der Verdächtigen. Brasch soll den Fall abgeben, da er als vorbelastet gilt, aber eine innere Stimme sagt ihm, dass Leonie unschuldig ist. Wider aller Vorschriften spioniert er ihr nach und macht eine furchtbare Entdeckung – Leonie schwebt in Lebensgefahr …
Auftakt der großen Köln-Krimi Reihe mit Kommissar Matthias Brasch.
Über Reinhard Rohn
Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman »Rote Frauen«, der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.
Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über »Matthias Brasch«. Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.
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Leere Spiegel
Roman
Inhaltsübersicht
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Prolog
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Zweiter Teil
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Dritter Teil
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Danksagung
Impressum
Für Christian,
der in diesem Buch nicht vorkommt.
Die Nacht war schwarz. Wie ein kleines, kaltes Stück Samt, das jemand aus einem unendlichen Tuch herausgeschnitten hat, dachte sie, als sie den schmalen Weg zur Schule hinaufging. Ein paar Sterne funkelten hier und da, aber so weit entfernt, dass man sie nicht sehen, sondern allenfalls erahnen konnte. Auch der Mond ließ sich Zeit. Nur zwei Laternen leuchteten müde herüber. Sie hatte gar nicht gewusst, wie dunkel es nachts um elf an ihrer Schule sein konnte.
Ihr war kalt. Warum hatte er sie ausgerechnet hierher bestellt? Zuerst hatte sie beinahe gezittert vor Glück, dass er sie endlich angerufen hatte. Das Warten war endlos und deprimierend gewesen. Dann, schon auf dem Weg zur Schule, hatte sie begonnen, einen unterschwelligen Zorn zu empfinden. Warum hatte er so lange nichts von sich hören lassen? Ein paar Mal hatte sie versucht, mit ihm zu sprechen, dann hatte sie sich sogar daran gemacht, einen Brief zu schreiben. Aber ihre Gedanken hatten sich verirrt, noch bevor sie über eine Anrede hinausgekommen war. Wenn sie die Augen schloss, hatte sie verbotene Träume, in denen nur er und sie vorkamen.
Sie würde nicht lange auf ihn warten. Eine Zigarette, vielleicht zwei. Wie ein Bunker sah die Schule in der Dunkelheit aus. Es konnte ihr Angst machen, dass sie ihr halbes Leben dort verbrachte. Die Fenster waren tote Monsteraugen. Morgen würde sie ihre Klasse überreden, die Fenster zu bemalen. Bunte Strichmännchen sollten auf den Fenstern entlangmarschieren, damit sich nachts hier niemand fürchten musste. Aber wahrscheinlich würde ihre Klasse sie nur auslachen.
Sie trat ihre erste Zigarette aus. Auf dem Bahndamm fuhr ein Zug vorbei und warf sein hastiges Licht herab. Wenn er sie küssen wollte, würde sie ihm Vorwürfe machen. In einer kalten Aprilnacht wartete niemand gern. Sollte er sehen, wie er sie besänftigte. Diesmal würde er ihr etwas versprechen müssen, einen neuen, ernsten Anfang.
Ich wünsche mir drei Kinder, dachte sie. Ich wünsche mir, dass wir eine lange Woche schweigen und nur mit Blicken reden. Ich wünsche mir, dass zwei Engel durch die Nacht fliegen und unsere Namen tragen. Ich wünsche mir einen kleinen, blauen See, in dem sich Wolken spiegeln.
Als sie endlich Schritte hörte, drehte sie sich nicht um. Warum kam er aus einer ganz anderen Richtung? Warum machte er aus allem ein Geheimnis? Aber eigentlich liebte sie Geheimnisse. Aus ihnen bestand die Sprache der Liebenden.
Die Schritte verklangen. Er stand nur da, drei, vier Meter entfernt. Er schaute sie an. Sie konnte seinen Blick spüren. Warm und freundlich tasteten seine Augen ihren Rücken ab.
Mit einer langsamen Drehung wandte sie den Kopf. Ihr Lächeln hielt noch, als sie ihren Irrtum schon bemerkt hatte.
»Hallo«, sagte die Gestalt vor ihr, ein gar nicht vertrautes Hallo. Dann sah sie die Pistole, ein kleines, schwarzes Ding. Fast hätte sie gelacht, weil das alles doch gar nicht zusammenpasste.
»Haben Sie meine Warnung nicht bekommen?« Die Gestalt kam einen leisen, vorsichtigen Schritt auf sie zu.
Sie nickte. Dass die Gestalt vor ihr kein Gesicht hatte, machte ihr mehr Angst als die Pistole, die auf sie gerichtet war. »Worüber wollen wir reden?«, fragte sie und wunderte sich, wie klein und fern ihre Stimme auf einmal klang.
Wenn er abends auf der Landstraße nach Hause fuhr, dachte Brasch mitunter daran, die Musik im Radio hochzudrehen und die Scheinwerfer für ein paar Momente abzuschalten. Dann wären die Lichter um ihn herum Sterne, und er säße in einem Raumschiff, das von Musik angetrieben wurde, und raste durch die kalte, leere Nacht. Gab es einen Planeten der Einsamkeit? Gab es einen Stern, der nur für Verlorene da war? Eine Gefangeneninsel mitten im All?
Ein Polizist sollte andere Gedanken haben und wissen, dass niemand nachts ohne eingeschaltete Scheinwerfer durch die Gegend fahren durfte.
Brasch fürchtete sich vor dem verlassenen Haus, das ihm seltsam halbiert vorkam, seit Leonie mit all ihren Möbeln und Kleidern ausgezogen war. Nichts hatte er seitdem im Haus getan, als den Fernseher angeschaltet oder Wasser gekocht, um sich einen Kaffee zu brühen, wenn er nicht schlafen konnte. Er wollte Leonie wiederhaben. Eine fürchterliche Sehnsucht wuchs in ihm und wurde größer, von Tag zu Tag.
Wenn er die Tür aufschloss, spürte er zuerst ihren Geruch. Dieser milde, warme Geruch, der ihm immer gesagt hatte, dass sie in der Nähe war. Tagelang könnte er lüften oder irgendwelche Sprays versprühen; es würde Monate dauern, diesen Duft zu vertreiben. Gelegentlich fand er noch eine kleine, nebensächliche Spur von ihr, ein langes, schwarzes Haar, das irgendwo klebte, einen verlorenen Ohrring, einen Einkaufszettel, den sie geschrieben und dann vergessen hatte.
Brasch trat ans Fenster und blickte über die dunklen Wiesen. Da hinten lag der Rhein, den Leonie so sehr liebte. Manchmal, in warmen Sommernächten, waren sie zusammen zum Ufer hinuntergegangen, hatten den Mond gesehen, der sein Licht wie Perlen auf dem Wasser ausschüttete. Aber das war nicht oft vorgekommen. Brasch stellte sich vor, was er alles tun konnte, um Leonie zurückzugewinnen. Er könnte ihr Blumen schicken, ihr lange Briefe schreiben. He, könnte er schreiben, komm zurück, ich habe mich geändert, ich bin ein anderer geworden, ich weiß jetzt, was Liebe ist … Aber er wusste auch, dass er ihr nicht schreiben würde. Außerdem hatte er nicht die leiseste Ahnung, wo Leonie sich in dieser verdammten Stadt aufhielt. Sie hatte sich in Luft aufgelöst, hatte ihm nichts gesagt, kein Wort, warum sie überhaupt gegangen war.
Im Fernsehen ließ er die Kanäle hin und her flimmern, während er sich in seinem Sessel zurücklegte und hastig eine Flasche Bier hinunterkippte. Menschen, die nur Schauspieler waren, liefen hektisch auf und ab, warfen sich Worte vor oder ballerten mit Pistolen herum. Ohne eine gewisse Dosis Bier würde er nicht schlafen können. Die hatte er sich selbst als tägliche Arznei verordnet. Langsam fielen ihm die Augen zu. Dann, als er schon einem unschönen, einsamen Traum entgegenglitt, meinte er noch einen Schlüssel im Schloss zu hören und vertraute Schritte in der Diele, die sich behutsam näherten. Aber das hatte er schon oft gedacht, und es bedeutete nichts.
Das Telefon schreckte ihn Minuten später auf. Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht. Für einen kurzen, hoffnungsfrohen Moment glaubte Brasch, dass Leonie am Apparat war.
»Habe ich dich geweckt?«, fragte Mehler, sein Assistent.
»Ist schon in Ordnung.« Braschs Stimme klang müde und bitter.
»Leider kein Anruf, um dich in den Schlaf zu singen. Vor zwanzig Minuten haben zwei Spaziergänger eine Leiche gefunden.«
»Wo?«
Mehler zögerte. Einen Moment war nur ein lautes, leeres Rauschen in der Leitung, als läge da irgendwo ein Ozean zwischen ihnen, dann senkte sich Mehlers Stimme zu einem verlegenen Flüstern. »Es hat nichts zu bedeuten«, sagte er. »In Ehrenfeld an der Gesamtschule.«
Eine schreckliche Hitze erfasste Brasch, die von seinem kranken, brennenden Herz ausging. »Wer ist der Tote?«
»Eine junge Frau, Anfang dreißig, mehr wissen wir nicht«, erwiderte Mehler so langsam, als würde er sich jedes Wort von einem weißen Blatt herunterbuchstabieren. Dann fügte er hastig hinzu: »Aber es muss nicht Leonie sein. Warum sollte sich Leonie nachts an ihrer Schule herumtreiben?«
»Ich bin in zehn Minuten da«, sagte Brasch und legte auf.
Mit zitternden Händen putzte er sich die Zähne, um den schalen Biergeschmack zu vertreiben. Im Spiegel wirkte sein Gesicht seltsam alt und kantig, aber vielleicht kam ihm das nur so vor, vielleicht sahen verlassene, besorgte Männer so aus. Mehler hatte Recht: Warum sollte Leonie sich nachts an ihrer Schule herumtreiben? Er wusste nicht, was sie in den letzten sechs Wochen und drei Tagen getan hatte. Lebte sie plötzlich ein anderes Leben, lag sie Nacht für Nacht neben einem anderen Mann und erinnerte sich nicht einmal mehr an ihn? Jeder Gedanke an sie war ein heftiger, stechender Schmerz. Zweimal hatte er vor ihrer Schule auf sie gewartet – mit klopfendem Herzen und trockenem Mund wie bei einem ersten Rendezvous. Beim ersten Mal hatte er sie erst gesehen, als sie schon fast an seinem Wagen vorbeigelaufen war. Sie war dünn geworden. Müde und angespannt sah sie aus, wie jemand, der seine Nächte mit Reden oder anderen Dingen verbrachte, und sie hatte einen langen, grünen Mantel getragen, den er nicht kannte und der ihm schon deshalb nicht gefiel. Brasch war zu stolz gewesen, um auszusteigen und ihr nachzulaufen.
Beim zweiten Mal war sie nicht allein gewesen. Ein bärtiger Mann in einem schwarzen Ledermantel hatte ihr die Glastür aufgehalten und sie zum Parkplatz begleitet. Leonie hatte gelacht und ihr Lachen mit einigen zarten Gesten untermalt. Jedes Lachen war für Brasch eine Demütigung gewesen. Eigentlich hatte er vorgehabt, ihr zu folgen, aber dann hatte er nur dagesessen und abgewartet, dass sich sein Herzschlag beruhigte.
Ehrenfeld war Kölns ehrlichster Stadtteil. Hier, abseits von jeder Postkartenidylle rund um den Dom, war die Stadt sie selbst: schmutzig und verbaut und doch auch romantisch. Arbeiter und Studenten wohnten hier, Türken und Deutsche, Aussiedler, Leute, die von der Sozialhilfe leben mussten. Früher gab es hier viele kleine Handwerker und ein paar große Fabriken, aber dann hatte man die Fabriken geschlossen oder in ordentliche Gewerbeparks an den Stadtrand verlagert. Auch die Parfümfabrik war weggezogen, und nun roch es nicht mehr nach Kölnisch Wasser wie in all den Jahrzehnten zuvor. Geblieben war nur der Verkehr. Die wenigen Hauptstraßen waren eng und immer verstopft, und mitten durch Ehrenfeld rasten die Eisenbahnzüge in Richtung Hauptbahnhof. Ansonsten hatte der Stadtteil keinen ganz schlechten Ruf. Außer einigen Wohnungseinbrüchen und ein paar Schlägereien zwischen Türken und Deutschen war hier in letzter Zeit nicht viel vorgekommen. Bis vor vier Wochen zwei Mädchen in der Nähe der Gesamtschule vergewaltigt worden waren. Allerdings nicht in der Nacht, sondern am frühen Nachmittag. Von dem Täter gab es nur eine sehr ungenaue Beschreibung: schwarzes Haar, ungefähr ein Meter fünfundsiebzig groß, vermutlich deutschsprachig.
Mit durchgetretenem Gaspedal raste Brasch über die Autobahn Richtung Ehrenfeld. Schweiß tropfte ihm von der Stirn, und sein Herz pumpte so heftig, dass er meinte, im nächsten Augenblick würde ihm schwarz vor Augen. Solch ein Entsetzen hatte er noch nie gespürt. Je näher er der Schule kam, desto fester glaubte er, dass Leonie die Tote war. Ja, eine tiefe Vorahnung überkam ihn, dass sein Liebesunglück in einer solchen Katastrophe enden musste.
Schon von weitem sah Brasch, dass seine Leute sich bereits an die Arbeit gemacht hatten. Große Scheinwerfer leuchteten das Areal um die Gesamtschule aus. Hinter der Eisenbahnbrücke bog Brasch von der Venloer Straße ab und parkte quer auf dem Gehsteig. Die Schule lag in einer kleinen Grünanlage ein Stück hinter dem Bahndamm. Vorgebeugt wie ein Marathonläufer auf den letzten Metern, rannte er einen schmalen Weg hinauf. Er wollte nicht an Leonie denken, und doch hatte er die ganze Zeit ihr Gesicht vor Augen, wie sie in einer ihrer letzten gemeinsamen Nächte schlafend neben ihm gelegen hatte. Ihr Atem hatte in einem sanften Rhythmus eine schwarze Haarlocke hin und her bewegt. Das war ein Anblick wie Musik gewesen.
Als Brasch das gelbe Polizeiband vor sich entdeckte, wandte er sich nach links, um auf den Hauptweg zur Schule zu gelangen. Laute Stimmen waren in der Nacht zu hören. Routiniert und ohne jede Aufregung ging die Spurensicherung ans Werk. Brasch wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und kämpfte gegen sein Herzrasen an. Wenn Leonie die Tote war, dann wäre sein Leben in dieser Nacht zu Ende; dann hätte er nur noch die eine Aufgabe, herauszufinden, was sie in den letzten sechs Wochen getan hatte, und ihren Mörder zur Strecke zu bringen.
Mehler stand auf dem Hauptweg und rauchte. Seine Silhouette warf im Licht der Scheinwerfer einen gespenstischen Schatten. Er hatte Brasch erwartet und lächelte müde.
»Und?«, fragte Brasch. »Wer ist die Tote?« Seine Panik machte ihn so hilflos, dass er nicht einmal Leonies Namen aussprechen konnte.
Mehler schüttelte sanft den Kopf. »Es ist eine junge Frau«, sagte er, »aber es ist nicht Leonie.«
Einen Augenblick nahm die Erleichterung Brasch fast den Atem, dann formte sich in seinem Kopf ein heller, klarer Gedanke: Mein Leben ist nicht in dieser Nacht zu Ende, es geht weiter, und ich werde Leonie zurückgewinnen.
Mehler machte eine unbeholfene Geste und berührte ihn freundschaftlich an der Schulter. »Ich kann mir denken, wie du dich fühlst«, sagte er. Frank Mehler war fast einen halben Kopf größer als Brasch. Er schien ein geheimes Abkommen mit seinem Friseur zu haben, denn er trug sein braunes Haar immer streichholzlang. Ansonsten hatte sich bei ihm eine Vorliebe für schwarze Kleidung durchgesetzt.
Brasch nickte nur, statt etwas zu erwidern. Gemeinsam gingen sie zu den Scheinwerfern hinüber. Brasch sah, dass sich doch einige Anwohner neugierig an das Absperrband der Polizei drängten. Auch die Reporterin des Stadtanzeigers war schon aufgetaucht: eine schöne rothaarige Frau, von der er nur den Vornamen kannte: Ina. Sie lächelte ihm zu. In der Hand hielt sie einen Fotoapparat.
»Noch keine Fotos von der Toten!«, rief Mehler in ihre Richtung.
Ina knipste wieder ihr Lächeln an und warf ihre rote Mähne hin und her, aber was das bedeuten sollte, wusste Brasch nicht. Vielleicht hatte sie ihr Foto schon bekommen.
Die Männer der Spurensicherung sahen in ihren weißen Papieranzügen wie Geister aus, die aus der Nacht in viel zu grelles Licht gefallen waren. Die Tote lag drei, vier Schritte abseits vom Weg auf dem mit braunen Blättern übersäten Boden. Oben war der Bahndamm, auf dem ein leerer Zug vorbeidröhnte. Die Tote war noch jung, vielleicht Ende zwanzig. Ihr langes, dunkles Haar hatte sich in den Zweigen verfangen. Wie eine bleiche, geheimnisvolle Ophelia sah sie aus, eine Schönheit, die sich tot stellte, weil sie dadurch noch schöner wirkte. Ihre großen Augen schienen zu einem roten Schuh hinaufzustarren, der über ihr an einem Ast hing. Die Tote trug schwarze, unauffällige Halbschuhe. Der Reißverschluss ihrer Jeans war aufgerissen. Ihre Unterwäsche blitzte weiß hervor, aber wie eine Vergewaltigung wirkte das Ganze nicht, eher, als hätte jemand eine falsche Spur legen wollen.
»Sie hatte nichts bei sich? Kein Portemonnaie? Keine Papiere in der Tasche?«, fragte Brasch.
Mehler war neben Brasch getreten. »Nur einen Bund mit vier Schlüsseln«, sagte er. »War auch ein Autoschlüssel dabei, wahrscheinlich ein Golf. Pia sucht die Autos in der Umgebung ab.«
Pia Krull war die Jüngste in Braschs Kommissariat. Eine wortkarge, eisige Blonde, die sich nur für zwei Dinge interessierte: ihre Arbeit und Extremklettern. Am liebsten wäre sie am Wochenende den Dom rauf- und runtergeklettert und hätte in jeden Winkel ihre Steigeisen hineingeschlagen.
»Und die Todesursache?«
»Sie ist von hinten erschossen worden. Aus nächster Nähe. Ein ziemlich kleines Kaliber, wenn man sich die Schusswunde anschaut.«
»Ist sie hier getötet worden?«
»Vermutlich. Der Mörder hat im Gebüsch auf sie gewartet.«
Brasch wandte den Blick vom Gesicht der Toten. Mit einer langsamen, vorsichtigen Bewegung fischte ein Mann der Spurensicherung den roten Schuh aus dem Geäst und ließ ihn in einer Plastiktüte verschwinden. Jetzt erst erkannte Brasch, dass es ein Kinderschuh war.
»Was ist mit den Leuten, die sie gefunden haben?«
Mehler blickte stirnrunzelnd in seinen Notizblock. »Harmlose Passanten, die ihren Hund hier pinkeln ließen. Haben nichts mitgekriegt. Auch sonst hat offenbar niemand etwas gehört. Aber wenn oben auf den Bahndamm ein Zug vorbeifährt, versteht man hier unten sein eigenes Wort nicht mehr.«
Auf dem Hauptweg stand Ina, die Reporterin. Sie schaute Brasch schweigend an, fast als erwartete sie, dass er sie über die Tote aufklärte. Das Mondlicht stand ihr gut; sie sah ein wenig unwirklich aus, eine bleiche Theatergestalt, die ins Leben herausgestiegen war. Auch wenn die beiden überhaupt keine Ähnlichkeiten hatten, musste Brasch sofort wieder an Leonie denken.
»Sie kriegen morgen ein offizielles Foto von der Toten, wenn wir wissen, wer sie ist«, sagte Brasch förmlich.
Ina lächelte. Lippenstift glänzte auf ihren Lippen. »Ich kenne die Tote«, sagte sie. »Vor ein paar Jahren habe ich sie einmal getroffen. Da hieß sie Maruscha und arbeitete in einer Bar im Friesenviertel.«
Brasch wollte schon fragen: Was haben Sie im Friesenviertel verloren? Doch diese Frage schien ihm plötzlich viel zu intim.
Ina berührte ihn flüchtig am Arm. »Ich habe damals eine Reihe Frauenporträts für den Stadtanzeiger gemacht. Bei Maruscha war alles gelogen. Sie hat mir von einem kleinen Kind erzählt, von einem Mann, der als Künstler durch Afrika fahren würde. Deshalb müsse sie in einer Bar arbeiten.«
»Es war alles gelogen?«
Ina runzelte die Stirn und schaute ihm in die Augen. »Wenn ich jemals eine Lügnerin gesehen habe, dann diese Frau. Deshalb habe ich das Porträt auch nicht gebracht.«
»Wir werden das überprüfen«, sagte Brasch. Vielleicht war die Tote tatsächlich eine Edelnutte. Aber warum hatte sie sich dann an diesem verlassenen Ort zu einem Rendezvous verabredet?
Plötzlich hatte Brasch das Gefühl, die Müdigkeit wäre ihm wie eine unheilbare Krankheit in die Glieder gekrochen. Er hatte wegen Leonie in letzter Zeit zu wenig geschlafen, und wenn, dann hatten ihn schlechte Träume gequält. Vielleicht hätte er Ina fragen sollen, wie eine Frau von einem Tag auf den anderen einen Mann verlassen konnte. Ina war eine kluge Frau; vielleicht hätte sie es ihm erklären können.
»Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie einfach in der Redaktion an.« Konnte Ina Gedanken lesen? Sie drehte sich herum und lief den Weg hinunter. Ihr rotes Haar schimmerte im Scheinwerferlicht. Für einen Moment vergaß Brasch, warum er an diesem gottverlassenen Ort stand.
Mehler stand unvermittelt neben Brasch und grinste. »Klassefrau«, sagte er und schaute Ina nach.
»Ja«, sagte Brasch und wandte sich um. Die Tote wurde vorsichtig, als könnte man ihr wehtun, in einen Zinnsarg gelegt. Plötzlich fiel ihm ein, was Leonie zuletzt gesagt hatte – ein paar Tage, bevor sie auszog, als sie noch einmal wirklich miteinander gesprochen hatten. »Ich möchte fliegen lernen«, hatte sie gesagt. Im ersten Moment hatte Brasch wirklich geglaubt, sie redete von einem Flugschein, vom Fallschirmspringen. Erst viel später begriff er, dass sie etwas ganz anderes gemeint hatte.
Mit Mehler ging Brasch noch einmal zur Spurensicherung hinüber. Pia war noch nicht aufgetaucht. Offenbar machte es Schwierigkeiten, den Wagen der Toten in der Gegend zu finden.
»Wann wissen wir, um welche Uhrzeit die Frau getötet worden ist?«
»Morgen Mittag«, sagte Mehler. »Aber sicher ist, dass sie noch nicht lange hier gelegen hat. Es gibt übrigens noch etwas.« Der Assistent hielt einen Augenblick inne und schaute Brasch an, als sei er froh, dass sein Chef sich endlich ganz und gar auf den Fall konzentrierte. »Um zwei Minuten nach elf hat jemand die Notrufstelle angerufen und eine Meldung durchgegeben – eine halbe Meldung, genauer gesagt. ›In Ehrenfeld liegt eine …‹ Dann hat der Unbekannte aufgelegt. Unsere Leute haben natürlich nichts unternehmen können.«
»Natürlich«, sagte Brasch. In kleinen Plastiktüten hatte die Spurensicherung all die Dinge sichergestellt, die um die Tote gelegen hatten. Zwei Bierdosen, eine leere Schachtel Zigaretten, eine rostige Speiche von einem alten Fahrrad, ein zerfetzter Regenschirm mit irgendeiner Reklameaufschrift und ein verdrecktes, aufgeweichtes Schulbuch: Algebra fürs siebte Schuljahr. Brasch war sicher, dass nichts davon einen Aufschluss geben würde. Außer der rote Kinderschuh.
»Die Tatwaffe haben wir nicht gefunden«, sagte Mehler, der Braschs nachdenklichen Blick missdeutete.
Brasch hielt die Plastiktüte mit dem roten Kinderschuh hoch. »Hat es heute Nachmittag nicht geregnet?«
Mehler richtete seinen Blick auf den Schuh, der in der Plastiktüte zu schweben schien, als wäre er ein kleiner, lebender Fisch. »Ja, aber ich verstehe nicht ganz …«
»Der Schuh«, sagte Brasch, »ist nagelneu. Ich wette, dass das Leder noch keinen Tropfen Regen abgekriegt hat.«
»Du meinst …«
Brasch nickte. »Der Schuh hat der Toten gehört. Oder dem Mörder.«
Es musste neben der wirklichen noch eine unsichtbare Welt geben, dachte Brasch, eine Welt, in der sich nur Geister aufhielten, ein Reservat für alles Vergangene und Verschollene: Mütter und Väter, die gestorben waren, verschüttete Phantasiegestalten aus der Kindheit und verlorene Lieben, die aus der Wirklichkeit geflohen waren. Leonie drohte in diese unsichtbare Welt einzugehen. Er redete in Gedanken mit ihr, gab ihr Recht, machte ihr Vorwürfe und versuchte sie zu überreden. Komm zurück, sagte er, aber sie lächelte nur stumm, mit einem leichten Zittern ihrer Lippen und einem undurchdringlichen Blick. Sie war ein wenig größer als er, einen Meter achtzig, und wenn sie ihre langen schwarzen Haare nach vorn warf und ausbreitete, war es, als wäre sie eine Tänzerin, die hinter ihrem eigenen Schleier aus Seide tanzte.
Als Brasch die Tasse zum Mund führte und den kalten Kaffee trank, spürte er wieder, dass ihm ein paar Momente Wirklichkeit fehlten. Irgendjemand hatte ausgerechnet hinter der Kaffeemaschine einen kleinen Spiegel aufgehängt. Brasch sah sein blasses, bärtiges Gesicht darin. Mit ernster Miene nickte er sich zu. Draußen wurde es langsam hell. Die Tote hieß Charlotte Frankh.
»Frankh mit H. Sie ist Lehrerin«, sagte Mehler. »Ausgerechnet. Lehrerinnen haben am Tag drei Millionen Kontakte. Schüler, Eltern, Kollegen. Freunde. Und wahrscheinlich gibt es auch eine Menge Leute, die sie nicht leiden können.«
Pia stand mit rot geäderten Augen da und schaute Brasch wartend an. In der Nacht hatte sie den schwarzen Golf entdeckt; nagelneu mit getönten Scheiben, CD-Player, Bordcomputer. Auf dem Beifahrersitz hatten eine Modezeitschrift und ein Buch gelegen, »Liebe in den Zeiten der Cholera« von Gabriel Garcia Marquez, aber sonst hatte sich keine einzige verwertbare Spur gefunden, nur ein paar Fingerabdrücke, die fast alle von der Toten stammten.
»Ihr Vater ist schon gestorben, aber sie hat noch eine Mutter. Jemand muss es der Mutter sagen«, fuhr Mehler ungerührt fort.
»Mach’s doch, wenn du so scharf darauf bist«, sagte Pia. Irgendwie schien es, als hätten die beiden einen heimlichen Streit miteinander gehabt. Sie hatten sich die ganze Zeit gegenseitig keines Blickes gewürdigt.
Brasch blickte auf die Uhr. Zehn Minuten nach sieben. »Ich besuche die Mutter«, sagte er leise, »aber zuerst fahre ich noch einmal zur Schule.«
Wie schnell konnte sich das Wetter ändern! Köln tat geheimnisvoll. In den frühen Morgenstunden war Nebel aufgekommen, der die Stadt einhüllte. Nebel im April. Brasch fuhr über die Innere Kanalstraße und hatte das Gefühl, als kämen sie überhaupt nicht voran. Nur manchmal huschte links ein dunkler Schatten an ihnen vorbei. Im Radio riet man, das Auto stehen zu lassen oder einfach abzuwarten, bis der Nebel sich verzog.
»Mehler hat es mir erzählt.« Pia klang, als würde Braschs Schweigen ihr etwas ausmachen. »Dass Ihre Frau … Ihre Freundin ausgezogen ist und dass sie zu den Lehrern an der Schule gehört.«
Leonie war keine Lehrerin, sie gab keinen Unterricht, sondern war Sozialpädagogin; diesen kleinen Unterschied hatte Mehler immer noch nicht begriffen, aber Brasch lag nichts daran, Pia zu korrigieren. »Damit habe ich kein Problem«, entgegnete er und tat, als müsse er sich auf den Verkehr konzentrieren. Mehler war im Präsidium geblieben. Jemand musste sich um das Tonband des anonymen Anrufers kümmern.
»Manchmal geht Mehler mir auf die Nerven«, sagte Pia laut vor sich hin. Plötzlich lachte sie. Wenn sie ihren Kopf zurückwarf und ihr helles Lachen sang, sah sie hinreißend aus. Kein Wunder, dass Mehler sie in heimlichen Momenten intensiver als nötig betrachtete. »Er ist immer so korrekt, so adrett, dass man verrückt werden könnte. Aber er hat noch keinen korrekten, adretten Weg gefunden, wie er mich am besten zum Essen einlädt. Obwohl er es gerne möchte.«
»So sind wir Polizisten«, sagte Brasch. Es sollte ironisch klingen, aber dann fiel ihm ein, dass auch Leonie ihn so beschreiben würde: Ach, er war immer so korrekt und adrett, und er hatte keine Ahnung, wie man fliegen lernte.
Brasch bog hinter der Eisenbahnbrücke von der Venloer Straße ab. In der Grünanlage vor der Schule verteilte sich noch eine Hand voll Polizisten und streifte mit Taschenlampen durch den Nebel. Brasch hatte sie weiter suchen lassen, obwohl er wusste, dass sich nichts ergeben würde. Nicht eine brauchbare Fußspur hatten sie gefunden. Manchmal aber ging es auch für einen Polizisten nur darum, sein Gewissen zu beruhigen.
An ein paar lärmenden Schülern vorbei liefen sie in den Lehrertrakt. Brasch kannte sich aus. Vor fünf Jahren, als Leonie an der Schule angefangen hatte, war er einmal mit ihr auf einem Schulfest gewesen. Danach nie wieder. Lehrer langweilten ihn, ihr dumpfes Gerede von Lehrplänen und Erlassen oder ihre Schwärmerei vom letzten Tauchabenteuer in der Karibik oder dem Bildungsurlaub in der Ägäis.
Ein Mann stand da vor einer riesigen Fotografie, auf der anscheinend das gesamte Lehrerkollegium abgebildet war. Er trug ein graues abgetragenes Jackett, eine grüne Cordhose und rauchte hektisch. Brasch brauchte ein paar Momente, um ihn zu erkennen. Es war Grupe, der Direktor. Leonie hatte sie einander auf dem Schulfest vorgestellt. Grupe war auf eine hoffnungslose Art alt geworden.
Der Direktor drehte sich um. Er war vollkommen bleich im Gesicht, wie ein Albino oder jemand, der die letzten Monate eingeschlossen in einem Keller verbracht hatte. »Polizei?«, rief er und drückte seine Zigarette in einem Blumenkübel aus. Seine Hände zitterten. Er schien Brasch nicht wieder zu erkennen.
Brasch nickte und holte seine Dienstmarke hervor.
»Es ist eine Tragödie …«, stammelte Grupe, während er sich umständlich eine neue Zigarette ansteckte. »Nein, mehr als eine Tragödie … Wir sind alle fassungslos.« Sie folgten ihm in ein kleines Büro, das nur aus drei Stühlen, einem leeren Schreibtisch mit Aschenbecher und ein paar Regalen bestand. Es sah nicht so aus, als würde hier irgendjemand arbeiten.
Einer seiner Ausbilder hatte Brasch beigebracht, die Menschen, mit denen man es bei einem Mordfall zu tun hatte, in zwei Kategorien einzuteilen: diejenigen, die ein Glaskinn hatten und bei einem verschärften Verhör sofort zusammenbrechen würden, und diejenigen, die Nehmerqualitäten aufwiesen und denen man hart zusetzen musste, um etwas herauszukriegen. Grupe hatte zweifelsfrei ein Glaskinn.
Pia stellte eine Frage nach der Toten, aber Grupe schaute nur Brasch an, seine Augen waren so grau wie seine Haut. Mussten Lehrer jeden Tag so viele graue, trostlose Dinge sehen? Grupe war so nervös, dass es ihm nicht einmal gelang, die Asche seiner Zigarette ordnungsgemäß im Aschenbecher abzustreifen.
»Frau Frankh war das jüngste Mitglied unseres Kollegiums. Sie war beliebt, überall beliebt. Die Schüler mochten sie, weil sie zu … unkonventionellen Methoden neigte. Bei den Schülern hat sie sich bestimmt keine Feinde gemacht.«
»Und bei den Lehrern?« Brasch fand seine Frage nahe liegend, jedenfalls hatte sie nichts von einem psychologischen Trick an sich. Und doch erschrak Grupe. Er wischte sich über die Stirn, als müsste er Schweißperlen vertreiben. »Kollegin Frankh war auch beim Lehrpersonal durchaus geachtet«, sagte er schließlich in gestelztem Behördendeutsch.
»Hat Frau Frankh häufiger spätabends in der Schule gearbeitet?«, fragte Pia. Brasch konnte an ihrem Tonfall erkennen, dass sie sich längst eine Meinung über Grupe gebildet hatte. Für sie war er eine Niete, ein frustrierter Pauker, der sich auf einen Verwaltungsposten gerettet hatte und der für diesen Fall so gut wie wertlos war.
»Wir haben alle einen Schlüssel für den Haupteingang«, erklärte Grupe. Er richtete sich in seinem Stuhl auf. Das Gespräch hatte wieder sicheres Terrain erreicht. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Kollegin Frankh so spät noch in der Schule gearbeitet hat.«
»Gibt es Kollegen, die privat mit Frau Frankh zu tun hatten, die sie besser kannten?«
Zuerst tat Grupe, als hätte er die Frage nicht gehört oder als müsste er nachdenken. Er blickte aus dem Fenster. Draußen schien sich der Nebel zu lichten. Wie auf einem Polaroidfoto, das man gerade aus der Kamera gezogen hatte, tauchten die Konturen einer Häuserfront auf der anderen Straßenseite auf. Dann schaute Grupe wieder Brasch an und führte seine Zigarette in einer unendlich langsamen Geste zum Mund, die aussah, als hätte er Mühe, sich in seiner zu eng geratenen Haut zu bewegen. Er nahm einen tiefen Zug. »Zwei Kollegen fallen mir ein. Kollege Stocker und Frau Stiller, unsere Sozialarbeiterin.«
Leonie. Ihr Name traf Brasch hart und unvorbereitet, so wie ein müder Boxer einen Schlag einsteckt, den er nicht kommen sieht, der für ihn aus dem Nichts heranfliegt und ihm wacklige Knie beschert. Nie hatte er den Namen der Toten aus Leonies Mund vernommen. Oder hatte er einfach nicht zugehört? Er beobachtete sich selbst, wie er etwas ganz und gar Lächerliches tat. Er holte sein Notizbuch hervor und schrieb tatsächlich ihren Namen auf. Stocker, schrieb er und Stiller, Leonie.
Brasch war ein guter Polizist. Er ging langsam und analytisch vor, wurde nie nervös, verlor nie die Übersicht. Er hatte schon ein paar Mordfälle aufgeklärt, weil er vor allem daran glaubte, dass banale Dinge das Leben eines Menschen bestimmen und manchmal auch seinen Tod. Die meisten Morde ließen sich in den ersten vierundzwanzig Stunden lösen: Eifersuchtsdramen, in denen der Ehepartner aus plötzlich aufflammender Wut zugestochen hatte, vielleicht floh er noch, versuchte ein kurzes, verzweifeltes Versteckspiel, das aber rasch zu Ende ging. Oder misslungene Raubüberfälle, in denen dem Täter die Sache schon in den ersten Sekunden aus der Hand geglitten war, weil sein Opfer sich anders verhielt, als er erwartet hatte, und er nur noch eine Lösung sah, abzudrücken oder zuzuschlagen. Da musste man nicht lange nach dem Motiv suchen, es fand sich schnell und mit ihm der Mörder. Aber dieser Fall war anders; das hatte Brasch schon gespürt, als Mehler ihn angerufen hatte und zum ersten Mal Leonies Name gefallen war.
Brasch ließ Grupe einen halben Schritt vorausgehen. Wie ein Clown, der sich in unförmigen Schuhen bewegte, setzte Grupe seine Schritte; seine Hacken schlugen beinahe zusammen, während seine Zehen nach außen wiesen. Erst als sie sich dem Lehrerzimmer näherten, reckte er den Kopf, so als wüsste er, welche Rolle er sich im nächsten Moment abverlangen musste. Das Lehrerzimmer war ein länglicher, hässlicher Raum mit grauen Betonwänden links und einer beinahe ebenso tristen Fensterfront rechts. Es roch nach Kaffee und kaltem Zigarettenrauch. Hier war Brasch nie gewesen. Ungefähr sechzig Gesichter wandten sich ihnen zu, als sie eintraten. Es muss irgendeinen Erlass geben, der es Lehrern verbietet, helle, farbige Kleidung zu tragen, dachte Brasch. Vielleicht schadet das den Schülern; vielleicht musste ein Lehrer ganz hinter den Inhalten, die er vermitteln sollte, verschwinden.
Wo nur war Leonie? Während Grupe eine kleine Trauerrede hielt und ihn und Pia vorstellte, tasteten seine Augen die Gesichter ab, aber an keinem Gesicht machten sie Halt. Brasch spürte, wie sein Herz wieder Fahrt aufnahm, wie es in ihm zu hämmern und pochen begann. Leonie war nicht da. Aber wenn er ehrlich war, hatte er zuerst die Schule aufgesucht, um sie zu sehen, um einen Grund zu haben, endlich mit ihr zu sprechen.
Dann war Brasch an der Reihe. Unkonzentriert schilderte er, was sie bisher herausgefunden hatten – viel war es nicht –; am Ende seiner kurzen Ansprache bat er das gesamte Kollegium um Mithilfe und sachdienliche Hinweise. Brasch bemerkte, wie Pia einige Male ihre hübsche, blonde Stirn runzelte. So fahrig hatte sie ihren Chef noch nie gesehen. Seinen knappen, ungelenken Worten schlug auch nur Schweigen entgegen. Allein ein älterer, weißhaariger Mann, der aussah, als trüge er seinen Pensionsbescheid schon bei sich, gleich vorne in der Aktentasche neben der Butterbrotdose, räusperte sich und fragte: »Wann dürfen wir unsere verehrte Kollegin Frau Frankh zu Grabe tragen?«
Die Frage war unangebracht und feindselig, aber niemanden im Raum schien das zu stören. Brasch bestrafte die sechzig Gesichter vor ihm mit drei Sekunden Stille, die sie beinahe reglos absaßen. »Das kann noch ein paar Tage dauern«, sagte er dann. »Und vorher haben wir ihren Mörder gefunden.«
Grupe führte Pia und ihn hinaus. Es schien auf eine geheimnisvolle Weise etwas Leben in den Direktor geraten zu sein. Er rang sich ein Lächeln ab, das wohl eine Entschuldigung sein sollte. »Sie müssen es ihm nachsehen«, sagte er.
»Wer war das?«, fragte Pia.
»Geißler, unser Lateinlehrer. Er mag keine Kinder und Leute, die viel jünger sind als er. Dreißig Jahre in der Schule haben ihn zermürbt.«
»Gibt es noch andere Ihrer Kollegen, die Frau Frankh solch eine besondere Sympathie entgegenbringen?« Pias tiefblaue Augen nahmen Grupe ins Visier.
Der Direktor steckte sich wieder eine Zigarette an. Ganz wie ein hoffnungslos verlorener Raucher saugte er an ihr, als enthielte sie irgendeine lebenserhaltende Substanz. »Frau Frankh war sehr eifrig, mehr als eifrig. Sie wollte die Schule neu erfinden, das geht natürlich nicht.«
»Verstehe«, sagte Brasch. Sie standen wieder vor der großen Fotografie, auf der das Kollegium abgebildet war. Brasch suchte Leonie. Er entdeckte sie sofort; in ihrem Sommerkleid stach sie wie eine weiße Blüte auf einer dunklen Wiese hervor. Das Bild musste vor drei oder vier Jahren aufgenommen worden sein. Leonie hatte die Eigenschaft, vor einer Kamera ganz ungezwungen und natürlich zu wirken. Sie sah jünger aus, beinahe mädchenhaft in einer Schar von alten Frauen und Männern.
»Können Sie mir sagen, wo ich Frau Stiller finde?«, fragte Brasch. Es war ein einfacher, kühler Satz, in dem aber hinter jedem Wort die Sehnsucht lauerte.
»Bedauere.« Grupe schien ernstlich betrübt; er tröstete sich mit einem tiefen Zug aus seiner Zigarette. »Sie ist heute nicht gekommen. Dabei hätten wir sie heute besonders dringend gebraucht. Unsere Schüler sind ganz durcheinander.«
»Sie fehlt?«
»Unentschuldigt. Leider.«
»Aber Sie können Herrn Stocker zu uns bitten?«