Als ich vor sechs Jahren die Werke Friedrich
Nietzsches kennen lernte, waren in mir bereits Ideen
ausgebildet, die den seinigen ähnlich sind. Unabhängig von ihm und
auf anderen Wegen als er, bin ich zu Anschauungen gekommen, die im
Einklang stehen mit dem, was Nietzsche in seinen Schriften:
„Zarathustra“, „Jenseits von Gut und Böse“, „Genealogie der Moral“
und „Götzendämmerung“ ausgesprochen hat. Schon in meinem 1886
erschienenen kleinen Buche „Erkenntnistheorie der
Goetheschen Weltanschauung “ kommt dieselbe
Gesinnung zum Ausdruck, wie in den genannten Werken
Nietzsches.
Dies ist der Grund, warum ich mich gedrängt fühlte, ein Bild
von dem Vorstellungs- und Empfindungsleben Nietzsches zu zeichnen.
Ich glaube, daß ein solches Bild Nietzsche am ähnlichsten dann
wird, wenn man es seinen erwähnten letzten Schriften gemäß schafft.
So habe ich es gethan. Die früheren Schriften Nietzsches zeigen uns
ihn als Suchenden . Er stellt sich uns in
ihnen dar als rastlos aufwärts Strebender. In seinen letzten
Schriften sehen wir ihn auf dem Gipfel angelangt, der eine seiner
ureigenen Geistesart angemessene Höhe hat. In den meisten der bis
jetzt über Nietzsche erschienenen Schriften wird dessen
Entwickelung so dargestellt, als ob er in den verschiedenen Zeiten
seiner Schriftstellerlaufbahn voneinander mehr oder weniger
abweichende Meinungen gehabt hätte. Ich habe zu zeigen versucht,
daß von einem Meinungswechsel bei Nietzsche nicht die Rede sein
kann, sondern nur von einer Aufwärts-Bewegung, von der naturgemäßen
Entwickelung einer Persönlichkeit, die noch nicht die ihren
Anschauungen entsprechende Ausdrucksform gefunden hatte, als sie
ihre ersten Schriften schrieb.
Das Endziel von Nietzsches Wirken ist die Zeichnung des Typus
„Übermensch“. Diesen Typus zu charakterisieren, habe ich als eine
der Hauptaufgaben meiner Schrift betrachtet. Mein Bild des
Übermenschen ist genau das Gegenteil des Zerrbildes geworden, das
in dem augenblicklich verbreitetsten Buche über Nietzsche von Frau
Lou Andreas-Salomé entworfen ist. Man
kann nichts dem Nietzscheschen Geiste mehr Zuwiderlaufendes in die
Welt setzen, als das mystische Ungetüm, das Frau Salomé aus dem
Übermenschen gemacht hat. Mein Buch zeigt, daß in Nietzsches Ideen
nirgends auch nur die geringste Spur von Mystik anzutreffen ist.
Auf die Widerlegung der Ansicht von Frau Salomé, daß Nietzsches
Gedanken in „Menschliches, Allzumenschliches“ von den
Ausführungen Paul Rées , des Verfassers
der „Psychologischen Beobachtungen und des Ursprungs der
moralischen Empfindungen“ u. s. w., beeinflußt seien, habe ich mich
nicht eingelassen. Ein so mittelmäßiger Kopf wie Paul Rée konnte
auf Nietzsche keinen bedeutenden Eindruck machen. Ich würde diese
Dinge auch hier nicht berühren, wenn nicht das Buch von Frau Salomé
so viel beigetragen hätte, geradezu widerwärtige Ansichten über
Nietzsche zu verbreiten. Fritz Koegel ,
der ausgezeichnete Herausgeber von Nietzsches Werken, hat im
„Magazin für Litteratur“ diesem Machwerke die gebührende
Abfertigung angedeihen lassen.
Ich kann diese kurze Vorrede nicht beschließen, ohne
Frau Förster-Nietzsche , der Schwester
Nietzsches, herzlichst zu danken für die vielen Freundlichkeiten,
die ich von ihr während der Zeit erfahren habe, in der meine
Schrift entstanden ist. Den im „Nietzsche-Archiv“ in Naumburg
verlebten Stunden verdanke ich die Stimmung, aus der heraus die
folgenden Gedanken geschrieben sind.
Weimar , April 1895.
Rudolf Steiner.
Nietzsches Werke.
Ich führe hier zur Orientierung die bis jetzt erschienenen
und für meine Ausführungen in Betracht kommenden Schriften
Nietzsches an und füge zu jeder einzelnen die Jahreszahl des
Erscheinens der ersten Auflage hinzu.
Die Geburt der Tragödie. Oder:
Griechentum und Pessimismus.
Die 1. Aufl. erschien 1872.
Eine neue Ausgabe mit vorgedrucktem „Versuch einer
Selbstkritik“ erschien 1886.
Unzeitgemäße Betrachtungen.
Erstes Stück: David Strauß, der Bekenner und Schriftsteller.
1. Aufl. 1873.
Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das
Leben. 1. Aufl. 1874.
Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. 1. Aufl.
1874.
Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth. 1. Aufl.
1876.
Menschliches, Allzumenschliches.
Ein Buch für freie Geister.
1. Band. 1. Aufl. 1878.
Eine neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede erschien
1886.
Menschliches, Allzumenschliches.
Ein Buch für freie Geister.
2. Band. Die beiden Abteilungen dieses Buches: „Vermischte
Meinungen und Sprüche“ und „Der Wanderer und sein Schatten“
erschienen zuerst jede als besonderes Buch. Die erste 1879 unter
dem Titel: „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie
Geister. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche“, die zweite
1880. Beide Abteilungen wurden 1886 zu einem Bande vereinigt, der
mit einer einführenden Vorrede versehen wurde und der den Titel
trug: „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister.
Zweiter Band. Neue Ausgabe mit einer einführenden
Vorrede.“
Morgenröte. Gedanken über die
moralischen Vorurteile.
1. Aufl. 1881.
Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede
1887.
Die fröhliche Wissenschaft („La
gaya scienza“). 1. Aufl. 1882.
Neue Ausgabe mit einer Vorrede 1887.
Also sprach Zarathustra. Die
Teile erschienen zuerst einzeln: 1. Teil 1883; 2. Teil 1883; 3.
Teil 1884. Die erste Gesamtausgabe der drei Teile erschien 1886.
Der vierte Teil erschien 1885 in 40 Abzügen bloß für Freunde und
erst 1891 als 1. Aufl.
Jenseits von Gut und Böse.
Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. 1. Aufl.
1886.
Zur Genealogie der Moral. Eine
Streitschrift. 1. Aufl. 1887.
Der Fall Wagner. Ein
Musikanten-Problem. 1. Aufl. 1888.
Götzendämmerung oder Wie man
mit dem Hammer philosophiert. 1. Aufl. 1889.
Nietzsche contra Wagner.
Aktenstücke eines Psychologen. Erschien 1895 in der
Gesamtausgabe zum ersten Mal. 1888 bereits einmal gedruckt, aber
nicht ausgegeben.
Der Antichrist. Versuch einer
Kritik des Christentums. Das erste Buch des unvollendeten Werkes
Nietzsches „Der Wille zur Macht“. In der Gesamtausgabe (1895) zum
erstenmal gedruckt.
Gedichte. In der Gesamtausgabe
1895.
Eine Gesamtausgabe von Nietzsches
Werken in 8 Bänden ist 1895 bei C. G. Naumann in Leipzig
erschienen. In derselben sind enthalten: Die Geburt der Tragödie 4.
Aufl.; Die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ 3. Aufl.; „Menschliches,
Allzumenschliches“ 1. u. 2. Bd. 4. Aufl.; Morgenröte 2. Aufl.;
Fröhliche Wissenschaft 2. Aufl.; Zarathustra 4. Aufl.; Jenseits von
Gut und Böse 5. Aufl.; Genealogie der Moral 4. Aufl.; Der Fall
Wagner 3. Aufl.; Götzendämmerung 3. Aufl.; Nietzsche contra Wagner;
Antichrist; Gedichte.
Die Veröffentlichung der noch ungedruckten Arbeiten
Nietzsches, sowie seiner Entwürfe zu Arbeiten, seiner Fragmente u.
s. w. steht bevor.