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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

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Was ist Tango?
Musik, ein Tanz, ein Lied, eine Weltanschauung, eine Philosophie, ein Gefühl, empfindsam und leidenschaftlich zugleich. Der Tango zeigt das Mythische im Alltäglichen. In ihm verbindet sich Wehmut mit Hingabe. Er erzählt von Trennungsschmerz und Liebesleid, von der verletzenden Gleichgültigkeit der anderen, vom Zauber der Barrios und wahrer Freundschaft. Er ist ein Stück Sozialgeschichte vom Rio de la Plata. Er lässt die Paare beim Tanzen erschauern. Die Musik weckt Erinnerungen, denn in den gesungenen Geschichten finden sich die Menschen wieder. Das alles ist Tango. Er steht für das Argentinische schlechthin.
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Der Schriftsteller Leopoldo Marechal, der Dichter Enrique Santos Discépolo und der Romancier Ernesto Sabato beschreiben den Tango so:

Der Mythos
Der Tango hat auch etwas Metaphysisches. Er erzählt von Hoffnung und Enttäuschung, von Emigranten, die sich nach der Heimat ihrer Kindertage sehnen, von der Einsamkeit des Porteño, wie die Einwohner von Buenos Aires genannt werden, und dessen Misstrauen dem Leben gegenüber – wie es Roberto Arlt und Raúl Scalabrini Ortiz in ihren Büchern beschreiben.
 
Wie bei jedem Mythos ist auch der Ursprung des Tango ungewiss. Nichts Genaues ist bekannt. Wir können uns die Anfänge daher nur ausmalen.
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Um ein Lagerfeuer herum stehen ein paar Karren. An der Uferpromenade wird getanzt. Ein Geiger unterhält mit seinen Klängen die Passanten. Eine Altklarinette gesellt sich dazu. Jemand ruft: »Spielt einen Tango« und pfeift erwartungsvoll die ersten Takte. Dazu macht ein Vorstadtcasanova sich mit komischen Verrenkungen über die Tänze der Farbigen lustig.
 
Der neue Tanz, der aus improvisierten, von den Afrikanern übernommenen Figuren besteht, hält bald Einzug in die Quartiere der Regimentshuren, in denen jeden Sonntag die Tänzer zusammenkommen.
So wie Argentinien durch die Verschmelzung vieler Nationalitäten entstanden ist, so vermischen sich auch im Tango – dem Wahrzeichen Argentiniens – verschiedene Rhythmen: die der Candombetrommel der Farbigen, die kubanische Habanera, die Milonga aus der Provinz von Buenos Aires und das madrilenische Couplet …
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In Montevideo entstehen die ersten sogenannten »Academias«. Vicente Rossi schreibt in seinem Buch Melancholie der Vorstadt: »Man tanzte im Paar, wobei sich Mann und Frau umarmt hielten, ganz so wie beim Gesellschaftstanz. Man nannte das nach ›französischer Art‹, weil man dachte, in Paris sei das so Sitte.«
In verschiedenen afrikanischen Dialekten bedeutet das Wort Tango geschlossener Raum, Kreis, Revier. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts werden auch die Sklavenghettos so bezeichnet. Vizekönig Vértiz lässt die sogenannten Tangotänze verbieten, da sie gegen die guten Sitten verstoßen...
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Kenner behaupten, das Wort Tango bezeichne die Trommel, die im Candombe den Rhythmus bestimmt.
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Ab etwa 1870 strömen die ersten Einwanderer zum Rio de la Plata. Überraschenderweise sind es die Immigranten, die mit den Jahren dem Land sein unverwechselbares Gesicht geben.
 
Lieber hätte die argentinische Oberschicht angelsächsische Handwerker und Facharbeiter im Land begrüßt. Stattdessen treffen arme, hungrige Südeuropäer ein. Auch Juden aus Russland und Mitteleuropa kommen, die vor den Pogromen in ihrer Heimat fliehen.
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Außer Italienern, Spaniern und mitteleuropäischen Juden strömen auch Araber, Franzosen, Polen, Deutsche und sogar Japaner nach Argentinien – ganz ohne behördliche Planung.
 
Die meisten Einwanderer stammen aus Italien. Zwischen 1857 und 1890 gehen 1100000 Italiener und 360000 Spanier an Land. Zwischen 1914 und 1940 sind vierzig Prozent der Einwanderer Italiener. Viele von ihnen lieben Musik. Die Mitglieder der »Guardia Vieja« sind fast alle Nachkommen der Italiener, der »Tanos«. Sie treten in La Boca auf, dem Viertel der Genuesen.
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Die meisten Immigranten kommen ohne ihre Familien. Dadurch blüht das Geschäft in den Bordellen. Wie Pilze schießen sie in den Vorstädten und in der Innenstadt aus dem Boden.
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Trios aus Flöte, Geige und Gitarre spielen auf. Dazu wird getanzt. Nur wenige Stücke sind Tangos.
Im Bordell geht es nicht nur um Sex. Es ist auch ein geselliger Ort, ein Zuhause der Einsamen. Man unterhält sich und tanzt.
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Anfangs spielen die Musiker nach Gehör. Sie können nur ein paar Stücke auswendig. Um das Publikum nicht zu langweilen, ziehen die Trios von Lokal zu Lokal – ohne zu ahnen, dass sie Musikgeschichte schreiben.
In La Boca, rund um die Straßenkreuzung Suárez und Necochea, befinden sich die meisten dieser schäbigen Cafés mit Hinterzimmern für intime Stunden.
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Überrascht,
ja verständnislos
blicken mich
die Gauner an:
Ich bin nicht
mehr der
glanzvolle
Guapo, der ich mal war.
MALEVAJE
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Aus der bunten Mischung von Einwanderern entsteht in den Vorstädten eine neue Kultur. Sie ist volkstümlich und spricht eine eigene Sprache. Der Tango spielt dabei eine entscheidende Rolle. Er ist Ausdruck des neuen Selbstverständnisses.
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Im Ranking der Männlichkeit steht der »Guapo«, auch »Compadre« genannt, ganz oben. Jeder im Viertel fürchtet, respektiert und bewundert ihn. Er hat sich seinen Titel allein durch Stärke und Mut verdient.
 
Der Guapo trägt meistens Schwarz, weil seine Arbeit ihn täglich mit dem Tod konfrontiert. Nur das weiße Einstecktuch mit den gestickten Initialen und der Schal lockern die strenge Kleidung auf. Ein anderer Aufzug wäre geschmacklos. Er muss dem Tod jederzeit mit Würde gegenübertreten können.
Der Schnurrbart leicht ergraut,
die Augen glänzen noch,
am Herzen
trägt er sein Messer.
 
Glatt glänzt das dichte Haar,
Wei ein Stier stecht er da -
den Schal über die Schultern geworfen.
Protzig blitzt der Goldring auf.
 
Prügelt sich der Pöbel,
muss er nur die Stimme heben
oder die Peitsche knallen lassen -
schon ist wieder Ruh’.
 
JORGE LUIS BORGES
Milonga de Don Nicanor Paredes
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Oft sind Guapos Leibwächter von Bandenchefs. Aber es sind auch Fuhrmänner, Schlachter und Raubtierbändiger unter ihnen. Virtuoser Umgang mit dem Messer gehört ebenso zum Handwerk wie extreme Diskretion.
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Vorlage für diese Figur ist Ecuménico López, der Held des Dramas von Samuel Eichelbaum Un guapo del 900. Der Autor über sich selbst: »Ich bin doch kein Spielball, der mal auf der einen, mal auf der anderen Seite landet. Ich lande immer da, wo echte Kerle hingehören – auch wenn der Tod schon an der nächsten Ecke wartet.«
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Guapos und Compadres wären längst in Vergessenheit geraten, wenn Jorge Luis Borges sich ihrer nicht angenommen hätte. In Gedichten und Erzählungen hat er ihnen ein regelrechtes Denkmal gesetzt. Er rühmte sie als »unerschrockene Helden des Klappmessers«. Borges sammelte – oder erfand er sie? – Geschichten von mutigen Männern, die ihr Leben einfach so – nicht für Politik, Geld oder Frauen – aufs Spiel setzten.
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Bis der Mädchenhandel im großen Stil beginnt, liegt das Geschäft in den Händen der ortsansässigen Zuhälter, den Cafishios. In die Geschichte des Tango gehen auch einige Immigranten polnischen Ursprungs ein, die junge Mädchen aus ihrer Heimat mit falschen Eheversprechen nach Argentinien lockten.
 
Gegen 1910 besitzt die Firma Zwi Migdal in Buenos Aires und Umgebung unzählige Bordelle. Sie ist unumstrittener Marktführer.
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Buenos Aires wird zum Mekka des Mädchenhandels. Auch in der Stadt Rosario wächst eine starke Mafia heran. Zwi Migdal wird 1929 der Prozess gemacht. Bis dahin stehen die Mädchenhändler im Schutz der politischen Machthaber und der Polizei.
 
Evaristo Carriego (1883-1912) war ein anarchistischer Dichter. Jorge Luis Borges hat eine viel beachtete Biographie über ihn geschrieben. Carriego richtete als Erster den Blick aufs Barrio, auf dessen Bewohner und ihre Nöte: Er beschreibt den Guapo, die verlassene Näherin, die Tuberkulosekranke …
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DER GUAPO
Das Barrio liegt ihm zu Füßen. Gewissenhaft bereitet sich der Guapo auf die verschiedenen Mutproben vor. Besteht er sie erfolgreich, dann ist er jemand. Und die anderen Raufbolde achten ihn. Der Knast bringt noch mehr Ruhm und Ehre. Danach legt sich keiner mehr mit ihm an.
Beide Bücher von Evaristo Carriego Misas herejes und La canción del barrio waren anderen Dichtern und selbst Jorge Luis Borges Quelle der Inspiration. Auch berühmte Tangotexter wie Homero Manzi und Cátulo Castillo schöpften daraus.
In den Tangobars mischen sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts noch Möchtegern-Compadres, die scherzhaft in der Verkleinerungsform Compadritos genannt werden, und junge Männer aus gutem Hause. Tanzen zu können ist in allen Gesellschaftsschichten Ehrensache.
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Ein paar herausragende Persönlichkeiten der Oberschicht vom Rio de la Plata wie Ricardo Güiraldes und Eduardo Madero bringen den Tango nach Europa. Die Franzosen staunen nicht schlecht über diesen lasziven Tanz aus den Bordellen von Übersee.

Die Seele der Musik
Allmählich verdrängt das Bandoneon die Flöte aus den Trios der weit abgelegenen Vorstädte. Der deutsche Instrumentenbauer Heinrich Band entwickelte es 1835 aus der Konzertina, um die Orgel bei Kirchenfesten im Freien zu ersetzen. Der religiöse Ursprung ist längst vergessen. Populär wurde das Bandoneon durch anrüchige Tanzmusik.
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Das Bandoneon ähnelt der Ziehharmonika, verfügt aber über tiefere Tonlagen. Auf beiden Seiten befinden sich Knöpfe, die unterschiedliche Töne erzeugen, je nachdem, ob man das Instrument auseinanderzieht oder zusammendrückt. Es hat zwei Resonanzkörper, in denen systematisch angeordnete Metallzungen durch Druckluft zum Vibrieren gebracht werden.
Es wird vermutet, dass ein Seemann das Bandoneon nach Buenos Aires brachte. Erstmals hört man es in den Schützengräben des blutigen Tripel-Allianz-Kriegs (1865-1870). Fünf Jahre lang kämpfen Argentinien, Brasilien und Uruguay gegen Paraguay, das sich schließlich ergibt.
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Anders als die Ziehharmonika und das Klavichord hat das Bandoneon einen tiefen, klagenden Ton. Genau das richtige Instrument für die Immigranten, um ihrer Sehnsucht und der Trauer über die Entwurzelung ihrer Kinder Ausdruck zu verleihen.
Wie eine unerfüllte Liebe ist dein Lied,
wie der einst erträumte Himmel,
wie ein im Sturm der Leidenschaft
ertrunkener Freund und Bruder.
Grundlos steigen manchmal
bittre Tränen hoch.
Mit Schnaps lässt sich
die Einsamkeit der Seele
nicht betäuben – Ché Bandoneon!
HOMERO MANZI
Ché Bandoneon!
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Besser als jede gelehrte Abhandlung bringt der Klang des Bandoneons die Poesie des Tango auf den Punkt. Sie setzt sich aus Sehnsucht und Erinnerungen zusammen, aus der mit Schwermut und altem Liebesleid getränkten Nacht. Der unverwechselbare Ausdruck von Buenos Aires.
Sehnsüchtig schnarrt und seufzt das Bandoneon. Es drückt dem Tango seinen Stempel auf, prägt seinen charakteristischen Klang. Im Lauf der Zeit macht die anfangs noch fröhlich unbekümmerte Spielart einer schwermütigen Platz. Es ist durchaus kein Zufall, dass es das Instrument par excellence von Buenos Aires wird und später zahlreiche großartige Interpreten hervorbringt, darunter Eduardo Arolas, Pedro Maffia, Pedro Laurenz, Anibal Troilo, Astor Piazzolla und viele mehr.
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Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts ist das Hansen die erste Adresse für Tango. Es liegt im Palermo-Viertel, gegenüber vom heutigen Planetarium. Manche Zeitgenossen behaupten, man habe dort nur der Musik gelauscht, andere wiederum versichern, dass dort gelegentlich auch getanzt wurde.