Kapitel eins
ON THE ROAD
Auch in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts stellte noch vieles in meinem Leben eine Premiere dar. Aber kaum etwas hat mich so umgeworfen wie die Frankfurter Buchmesse 2005.
Im Vorfeld hatte ich erfahren, dass dort pro Jahr etwa einhunderttausend Neuerscheinungen präsentiert würden. Unfassbar! Sagen wir mal, jedes Buch wäre auch nur zweieinhalb Zentimeter dick, ergäbe sich daraus aufeinandergestapelt ein Gebirge, das innerhalb von vierundzwanzig Monaten um ganze fünf Kilometer anwächst. Das muss man sich mal vorstellen. So viel Wissen, Fantasie, Information und Unterhaltung an einem Ort versammelt! Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das beeindruckt hat.
Und – kaum zu glauben! – mein Buch Wolkenkind, das am 6. Oktober erschienen war, trug nun auch zu diesem stetig anwachsenden Bücherstapel bei. Mit 3,2 Zentimetern Rückenbreite in der deutschen Ausgabe.
Die Tage in Frankfurt habe ich wie einen einzigen Rausch erlebt, als quicklebendig und laut, aber auch ein bisschen verwirrend.
Als Stars der Messe gelten die Autoren, auch wenn nicht alle, wie ich, die Ehre haben, von ihren Verlagen zu diesem Großereignis eingeladen zu werden. Doch im Laufe der Wochen und Monate vor Erscheinen meines Buches, der Geschichte meines bisherigen Lebens, ist mir klar geworden, dass nicht ihnen allein der Ruhm gebührt. Wir hatten – sowohl in England als auch in Deutschland – zahllose Gespräche, an denen ganz verschiedene Menschen und Abteilungen beteiligt waren. Dabei konnte ich mir einen Eindruck davon verschaffen, wie viele Personen am Entstehen und erfolgreichen Lancieren eines Buches beteiligt sind: Lektorat, Presse, Werbung, Vertrieb, die Herstellung und auch die engagierten Buchhändlerinnen nicht zu vergessen. In meinem Fall kam noch die wunderbare Vicki Mackenzie hinzu, ohne die ich Wolkenkind nie hätte schreiben können. Und ein Team des ZDF war extra zu mir nach Brighton gereist, um mich zu interviewen und einen Bericht über mich zu filmen.
Wir, deren Namen auf den Covern stehen, haben also allen Grund zur Bescheidenheit, gerade wenn wir so hofiert werden wie etwa ich auf der Messe 2005.
*
Für mich war Frankfurt nur der Anfang – ein weiterer Grund, meinem damaligen Verlag dankbar zu sein. Denn er hat eine Lese-Sing-Signier-Tour durch Deutschland und die deutsch sprechenden Nachbarländer für mich organisiert, um den Verkauf meines Buches zu promoten. Angesichts des Mount Everests von Neuerscheinungen, die ich auf der Messe gesehen hatte, wurde das bestimmt nicht für jede Autorin oder jeden Autor getan.
Wieder kümmerte man sich rührend um mich. Doch ohne einen ganz speziellen Menschen wäre mir dieser Marathon durch Theater, Konzertsäle und größere Buchhandlungen nicht möglich gewesen: Alfred Röver, ein früherer Unternehmer, ein ausgewiesener Asienkenner und passionierter Förderer junger Wissenschaftler, war mir auf der gesamten Tour in jeder Hinsicht der perfekte Begleiter. Er kutschierte mich von einem Ort zum nächsten, las bei den Veranstaltungen aus meinem Buch und zeigte einige der Dias, die er während seiner zahlreichen Aufenthalte in Tibet gemacht hatte. Seltene Aufnahmen, von denen mich besonders die des Geburtshauses Seiner Heiligkeit des Dalai Lama bei jedem unserer Auftritte tief bewegte und beinahe zu Tränen rührte.
Ich war Alfred Röver schon zehn Jahre zuvor, also 1995, in Indien begegnet, als ich mit jedem Westler ins Gespräch zu kommen versuchte, dem ich über den Weg lief, und der Kontakt zu ihm und seiner Frau Barbara war nie abgerissen. Auch heute noch behandeln sie mich wie ihr eigenes Kind, und ich fühle mich ihnen so eng verbunden wie meinen nächsten Verwandten.
Wochenlang waren wir in Alfreds Pkw unterwegs – von Stadt zu Stadt, von Konzertsaal zu Mehrzweckhalle, zunächst in Deutschland, später auch in Österreich und der Schweiz.
Da der Wagen damals noch über kein Navigationssystem verfügte, fiel mir, jedenfalls abseits der gut ausgeschilderten Autobahnen, die Rolle der Fährtensucherin zu – eine Aufgabe, an der ich allerdings regelmäßig scheiterte, weil ich einfach nicht in der Lage war, die Landkarte zu lesen. Allzu oft hatte ich sie falsch herum auf dem Schoß liegen, sodass Alfred immer wieder anhalten, sich den Plan richtig zurechtlegen und irgendwie zusehen musste, dass wir unser Ziel erreichten. Und wenn auch er nicht weiterwusste, haben wir angehalten, sind ausgestiegen und haben unschuldige Passanten nach dem Weg gefragt. Also eher Alfred als ich fragte – mir fiel es schon schwer, im mir ungewohnten Rechtsverkehr mein Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Zudem unterschied sich die deutsche Variante des Englischen schon sehr von meinem Tinglish, der einzigartigen Mischung mit dem Tibetischen. Und was nützt es einem, eine Frage richtig zu stellen, wenn man die Antwort nicht versteht?
Im rollenden Verkehr zeigte sich Alfred als ein hervorragender Reiseführer. Er wies mich auf landschaftlich besonders reizvolle Streckenabschnitte hin oder berichtete von der Geschichte der Ortschaften, durch die wir fuhren. Aber viel hängen geblieben ist bei mir davon nicht, muss ich gestehen. Das tägliche lange Sitzen empfand ich nicht gerade als angenehm, und eigentlich wollte ich immer nur schnell ankommen und raus aus dem Auto.
Im Kopf ging ich ständig das Programm des Abends durch, quälte mich stets aufs Neue mit der Frage, ob überhaupt Leute kommen würden, die mich singen und Alfred aus meinem Buch vorlesen hören wollten. Was, wenn sie es hinterher bereuten, das Eintrittsgeld bezahlt zu haben? Eine unbegründete Befürchtung, wie sich immer wieder herausstellte.
Immer häufiger kam mir der Verdacht, dass wir genau an dieser Straßenkreuzung vor Tagen schon einmal gestanden, in genau diesem Supermarkt schon einmal Proviant eingekauft hatten. Waren wir etwa nur im Kreis gefahren? Doch als ich Alfred abends im Hotel darauf ansprach, zeichnete er mit dem Finger gezackte und geschlängelte Linien in den Straßenatlas, um mir zu beweisen, dass schon alles seine Ordnung hatte. Doch Ortschaften, Verkehrsschilder, Brücken, Berge, Getreidefelder, Baumärkte und Videotheken, alles begann in meinem Kopf Purzelbäume zu schlagen. Und obwohl ich, wenn ich mich auf meinen eigenen Füßen vorwärtsbewege, über einen recht guten Orientierungssinn verfüge, kam ich mir jetzt ziemlich verloren vor.
So hatte ich zwar nie eine genauere Vorstellung, wohin wir auf unseren täglich drei- bis vierstündigen Fahrten unterwegs waren, konnte mich aber immer darauf verlassen, am Nachmittag in einem Hotel anzukommen, das alles bot, was ich brauchte, und oft weit mehr.
Auf ein Schwimmbad zum Beispiel hätte ich gut verzichten können. Alfred jedoch genoss seine morgendlichen Runden im lauwarmen Wasser – denn Schwimmen sei gesund. Und da ich ihm das gern glaubte, wagte ich mich auch das eine oder andere Mal mit hinein. Leider immer mit demselben Ergebnis: Ein paar Sekunden lang gelang es mir irgendwie, den Kopf über Wasser zu halten, aber dann musste ich so lachen, dass alles zu spät war. Und ich es wirklich mit der Angst zu tun bekam.
Es gab damals noch vieles, von dem ich überzeugt war, dass ich es in diesem Leben würde nie und nimmer lernen können, und dazu gehörte auch das Schwimmen.
Nun, inzwischen habe ich es doch gelernt, in einem See im Berliner Umland. Aber seinerzeit hatte ich noch die Haltung: Ich bin kein Fisch, sondern ein Mädchen aus den Bergen, und was die Leute dazu bewegt, sich freiwillig dem Element Wasser anzuvertrauen, wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben.
Vor ein Rätsel sah ich mich auch in manchen Badezimmern gestellt, insbesondere in den großen, schicken Cityhotels, in die wir manchmal eingebucht waren. Wie schmutzig sollte ich mich denn machen, um all die Handtücher verschiedener Größe zu benutzen, die dort fein säuberlich übereinandergestapelt in den Regalen lagen?
Da stand ich nun also, in Flensburg, Wolfenbüttel oder Paderborn, ließ die Finger über den herrlich flauschigen Frottee gleiten und wunderte mich.
Unwillkürlich musste ich an das Kind Soname denken, das über Jahre die gesamte Wäsche eines Vierpersonenhaushalts sauber halten musste. An die Waschfrauenhände, wund gescheuert im eiskalten Wasser.
Natürlich wusste ich, dass in diesen Hotels wahrscheinlich hochmoderne Industriewaschmaschinen benutzt wurden und kein kleines Mädchen im Keller stand, über einen Bottich gebückt, und jedes Teil einzeln schrubbte, auswrung, in klarem Wasser spülte, auf die Leine hängte. Und mir war ebenfalls bekannt, dass die Benutzung der Handtücher im Zimmerpreis enthalten war (den zumal der Verlag entrichtete). Aber sollte das ein Grund sein, mich ohne Sinn und Verstand an den Handtüchern zu bedienen und so dazu beizutragen, dass völlig sinnlos Ressourcen verschwendet wurden? Wasser ist doch so kostbar, wir sollten achtsam damit umgehen.
So eine Tour wie die von Alfred Röver und mir ist ein eigener Kosmos und unterliegt besonderen Gesetzen. Nichts läuft wie sonst. Man ist »on the road«, mehr oder weniger weit von zu Hause entfernt, hat die Menschen, mit denen man das Leben teilt, nicht in seiner Nähe, ist darauf angewiesen, auswärts zu essen, schläft in fremden Betten. Und trotzdem entsteht in dieser Zeit des Umherziehens auch schnell so etwas wie ein neuer Alltag.
Ich stand pünktlich jeden Morgen um sieben Uhr dreißig auf und machte mich fertig, um eine halbe Stunde später zum Frühstücken zu gehen.
Haben Sie schon einmal ein deutsches Frühstücksbüffet in einem Hotel gesehen? Mich jedenfalls hat es vollkommen überwältigt, obwohl ich inzwischen ja schon einiges gewohnt war. Aber was da alles aufgetischt wurde! Allein die verschiedenen Brot- und Brötchensorten. Käse aus aller Welt, in allen möglichen Aggregatszuständen. Aber dann erst die Wurstauswahl, einfach unglaublich. In Wurst müssen die Deutschen Weltmeister sein. Wobei ich sagen möchte, dass mir das Konzept »Wurst« auch heute noch etwas fremd ist, selbst nach fünf Jahren in Deutschland. Aber niemand hat mir je genau erklären können, was da alles drin ist … Und Bezeichnungen wie Jagd- oder Blutwurst sind auch nicht gerade dazu angetan, meine Experimentierfreude anzuregen.
Ich hätte stundenlang vor dem Überangebot an mir großenteils unbekannten süßen und salzigen Speisen stehen bleiben können, mit dem Teller in der Hand; doch ich wollte die Geduld derer, die hinter mir in der Schlange standen, auch nicht über Gebühr strapazieren. Deshalb beschränkte ich mich im Allgemeinen auf Tee und etwas Müsli mit frischem Obst.
Nach dem Frühstück blieben mir vor dem Auschecken mitunter noch einige Minuten, um mich einer Herausforderung zu stellen, die wie so viele andere mit der Lesereise neu in mein Leben getreten war: Manchmal sollte ich nach unserer Vorstellung noch Bücher signieren. Vor dem Tischchen, an das ich gesetzt wurde, bildete sich dann eine wirklich lange Schlange von Menschen, darunter auffallend viele Frauen, die Wolkenkind erworben hatten, was schon gereicht hätte, mich in Verlegenheit zu bringen. Denn gern hätte ich jede(n) persönlich begrüßt, mich für sein oder ihr Kommen und den Kauf des Buches bedankt und mich nach dem Wohlbefinden erkundigt. Aufgrund des großen Andrangs ging das jedoch nicht, und diese unwillentliche Unhöflichkeit empfand ich als unangenehm und respektlos von mir. Doch bald kam eine weitere Peinlichkeit hinzu: Die Schlange erwartete eine Unterschrift der Autorin (wie mir erklärt wurde, gibt es in Büchern dafür eigens die sogenannte Dedikationsseite), und zwar keine in lateinischen Buchstaben. Eine solche hätte ich problemlos leisten können, die hatte ich mir schon vor Jahren angeeignet und verwende sie zum Unterzeichnen offizieller Dokumente und Verträge. Aber eine tibetische Unterschrift? Darauf war ich nicht vorbereitet. In Tibet hatte ich nie gehört, dass es so etwas überhaupt gab. Also nutzte ich jede freie Minute, um so lange »Soname Yangchen« zu üben, bis der Namenszug jedes Mal in etwa gleich aussah. Wie eben zum Beispiel, wenn vor dem Verlassen des Hotels noch etwas Zeit blieb, bis wir das nächste Ziel unserer Reise ansteuerten, Köln oder München oder Hanau.
Waren wir am frühen Nachmittag immer noch auf der Straße, wurde ich allmählich unruhig, denn für Viertel nach vier hatte ich montags bis freitags eine feste Verabredung. Und zwar mit Julia, der blonden Schönheit.
Wie wir alle war auch Julia auf der Suche nach dem Glück, und an den Wegen, die sie einschlug, um es zu erreichen, ließ sie mich teilhaben, äußerst verlässlich an allen Werktagen bis um fünf.
Ich verstand zwar kein Wort von dem, was mir Julia, die ungefähr in meinem Alter zu sein schien, sagen wollte, was sie hauchte oder stammelte, aber das war auch nicht nötig. Ihre Gesten, ihr unschuldiger Augenaufschlag verrieten genug. Und wenn ich in ihrem hübschen Gesichtchen mal nichts lesen konnte, dann half mir die Musik. Sekunden vor jeder Wendung des Schicksals schwoll sie dramatisch an (sobald Julia von irgendwoher Gefahr drohte, was mir vor allem montags, mittwochs und freitags der Fall zu sein schien). Wähnte sich meine derzeit engste Freundin dagegen dem Glück oder dem, was sie dafür hielt, mal wieder ganz nah (irrtümlich wahrscheinlich, alles andere wäre das Ende des Liedes gewesen), merkte ich es daran, dass die Töne melodiös angeschlichen kamen und sich an einer Attacke auf mein Herz versuchten.
Pass doch auf!, hätte ich Julia jeden Nachmittag mindestens einmal zurufen wollen. Oder besser: Denk doch mal nach! Und überleg auch mal, ob die Wege, auf denen du da entlangstolperst, dich tatsächlich ins Glück führen können.
Aber dann kam auch schon immer der Abspann und ich musste zusehen, dass ich das Hotel verließ, um am Veranstaltungsort des Tages zu überprüfen, ob der Diaprojektor richtig funktionierte, genügend Exemplare meines Buches vorlagen und auch sonst alles die Ordnung hatte, die sein musste, um einen reibungslosen Ablauf des Abendprogramms zu gewährleisten.