Inhaltsverzeichnis
 
 
 
Den Musikern des West-Eastern Divan Orchestra
Prélude
DIE TAKTE, MIT DENEN EIN KONZERT eröffnet wird, sind im Vorteil gegenüber Zeilen wie den folgenden, die ein Buch einleiten. Man könnte sagen, dass der Klang an sich gegenüber dem Wort privilegiert ist. Der Text eines Buchs ist aus den gleichen Wörtern komponiert, die wir Tag für Tag verwenden, um etwas zu erklären oder zu beschreiben, um zu fragen, zu streiten, zu bitten oder zu loben, um die Wahrheit zu sagen oder eine Lüge zu erzählen. Unsere Gedanken nehmen in Wörtern Gestalt an, deswegen konkurrieren die Wörter, die auf einer Druckseite stehen, mit denen, die wir im Kopf haben. Musik dagegen vermag, gerade wegen ihres ambivalenten Charakters, eine viel größere Menge von Assoziationen heraufzubeschwören und sich ihrer zu bedienen; sie existiert sowohl in der Welt als auch außerhalb von ihr.
Heutzutage zeichnet Musik sich durch kakofonische Allgegenwärtigkeit aus, sie ist ständig um uns, in Restaurants, in Flughafengebäuden und an ähnlichen Orten. Doch ist es gerade diese Omnipräsenz, die das größte Hindernis für ihre Integration in unsere Gesellschaft darstellt. In keiner Schule würde man jemals den Sprach-, Mathematik- oder Geschichtsunterricht vom Lehrplan absetzen, doch die Beschäftigung mit Musik, die so viele Aspekte dieser Fächer in sich einschließt und sogar zu ihrem besseren Verständnis beitragen kann, wird oft vollkommen vernachlässigt.
Das vorliegende Buch ist weder für Musiker gedacht noch für Nichtmusiker, sondern vielmehr für alle, die etwas erfahren wollen über die Analogien von Musik und Leben – die all das entdecken wollen, was sich nur dem verständig lauschenden Ohr erschließt. Eine solche Erweiterung des Wissens ist nicht ausschließlich den talentiertesten Musikern vorbehalten, die von frühester Jugend an  eine entsprechende Ausbildung erhalten haben, sie ist auch nicht etwas, das nur den Reichen offensteht: ein schöner Luxus. Die Aufnahmefähigkeit und den Scharfsinn des Ohres zu entwickeln ist meiner Meinung nach eine grundlegende Notwendigkeit für uns alle. Wie ich noch ausführen werde, können wir aus den der Musik innewohnenden Strukturen und Gesetzen sehr viel über und für unser Leben lernen – und zwar gleichgültig ob wir ihrer als Hörer oder als ausführender Künstler gewahr werden.
Viele der Themen, denen ich mich in diesem Buch zuwende, beschäftigen mich seit Jahrzehnten, und was ich zu ihnen zu sagen habe, ist das Ergebnis von nahezu sechzig Jahren, in denen ich Musik gemacht, unterrichtet und über sie nachgedacht habe. In meinem ersten Buch, A Life in Music, das autobiografische Züge hat, ohne im eigentlichen Sinn eine Autobiografie zu sein, habe ich mich erstmals mit diesen Themen schriftlich auseinandergesetzt. Später dann, in dem von mir gemeinsam mit Edward Said verfassten Buch Parallels and Paradoxes, haben wir versucht, die Beziehungen zwischen Musik und Gesellschaft zu erforschen. Als ich schließlich im Herbst 2006 auf Einladung der Harvard University dort die Norton Lectures hielt, nahm ich die Gelegenheit sehr gerne wahr, meine Überlegungen zu den Analogien zwischen der Musik und dem Leben weiterzuentwickeln. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieser Bemühungen.
Klang und Gedanke
ICH BIN DER FESTEN ÜBERZEUGUNG, dass man über Musik nicht sprechen kann. Es gibt viele Definitionen von Musik, die aber in Wirklichkeit nur versuchen, eine subjektive Reaktion auf sie in Worte zu fassen. Für mich ist die einzig präzise und objektive Definition die des großen italienischen Pianisten und Komponisten Ferruccio Busoni, der Musik als »klingende Luft« bezeichnet hat. Das sagt alles und lässt gleichzeitig viel Raum zum Weiterdenken. Im Gegensatz zu Busoni meinte Schopenhauer, in der Musik das Wesen, das »Ansich« der Welt ausfindig machen zu können. Für die Musik gilt, was für unser Leben gilt: Wir können nur über unsere Reaktionen und unsere Wahrnehmungen sprechen.
Wenn ich hier doch versuche, über die Musik selbst zu reden, dann tue ich das, weil mich das Unmögliche immer mehr gereizt hat als das Schwierige. Und wenn sich überhaupt ein Sinn darin verbirgt, dieses Unmögliche zu versuchen, dann deshalb, weil es sich per definitionem  um ein Abenteuer handelt und einen mit einem Gefühl von Tatendrang und Energie erfüllt, was ich persönlich als höchst anregend empfinde. Hinzu kommt, dass ein Scheitern nicht nur hingenommen, sondern sogar erwartet wird. Ich werde daher das Unmögliche in Angriff nehmen und versuchen, einige Beziehungen zwischen dem nicht zu beschreibenden Wesen der Musik und dem unausdrückbaren Inhalt des Lebens aufzuspüren.
Ist Musik letztlich nicht doch bloß eine Ansammlung von schönen Klängen? John Locke schrieb 1693 in seiner Abhandlung Gedanken über Erziehung: »Musik, so meint man, ist in gewisser Weise mit dem Tanzen verwandt, und Instrumente zu spielen wird von manchen Leuten sehr geschätzt. Darin aber auch nur eine bescheidene Fertigkeit zu erlangen, bedeutet für einen jungen Mann so viel  Zeitverschwendung und führt ihn so häufig in seltsame Gesellschaft, daß manche meinen, man sollte lieber darauf verzichten; und ich habe unter den befähigten Männern des praktischen und öffentlichen Lebens so selten gehört, daß jemand wegen seines musikalischen Könnens gelobt oder geschätzt worden ist, daß ich glaube, unter allen Dingen, die je in der Liste der Fertigkeiten aufgeführt worden sind, kann ich der Musik den letzten Platz zuweisen.«
Heutzutage nimmt die Musik häufig immer noch den »letzten Platz« in unseren Überlegungen darüber ein, was zur Erziehung eines Menschen wichtig ist. Doch ist Musik nicht mehr als etwas, das uns beim Zuhören ein höchst angenehmes oder sogar erregendes Gefühl vermitteln kann – ist sie nicht mehr als ein durch pure Intensität wirksames Mittel, das uns dabei hilft, unsere Existenz zu erleichtern und die Mühen des täglichen Lebens zu vergessen? Natürlich legen Millionen von Menschen, wenn sie nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommen, gerne eine CD ein, um die Gedanken an die Probleme, mit denen sie konfrontiert worden sind, zu vertreiben. Ich behaupte jedoch, dass die Musik für uns noch viel Wertvolleres zu leisten vermag: dass wir nämlich mit ihrer Hilfe etwas über uns selbst, unsere Gesellschaft, die Politik – kurz gesagt etwas über uns als Menschen erfahren können.
Aristoteles brachte nahezu zweitausend Jahre vor Locke der Musik eine viel größere Wertschätzung entgegen; der griechische Philosoph glaubte, dass sie einen wesentlichen Beitrag zur Erziehung der Jugend leisten könne: »(...) in Hinblick auf die gemeinsame Teilnahme an der Musik darf man wohl meinen, daß dies nicht nur aus diesem Grund [dass sie zur Vergnügung dienen kann] vorkommt, sondern auch, weil sie nützlich ist für die Erholung, wie es den Anschein hat. Nichtsdestoweniger hat man aber die Untersuchung zu führen, ob dies nicht eher akzidentell ist und die Natur der Musik höherwertig anzusetzen ist, als es dem erörterten Nutzen entspricht (...), sondern ob man nicht darauf sehen muß, ob sie sich nicht auch   irgendwie auf die Wesensart erstreckt und auf die Seele.« Weiter heißt es dann: »Es gibt nun zu den wahrhaft echten Naturen in den Rhythmen und Liedern außerordentliche Ähnlichkeiten von Zorn und Sanftmut, ferner von Tapferkeit und Besonnenheit und von all dem, was das Gegenteil davon ist, und dazu noch von den übrigen Charaktereigenschaften; das geht klar aus den Tatsachen hervor. Wir verändern uns nämlich in der Seele, wenn wir solches hören. (...) Aus alldem geht nun offenbar hervor, daß die Musik in der Lage ist, eine ganz bestimme Wesensart der Seele zu verleihen. Wenn sie dies aber bewirken kann, muß man klarerweise die jungen Leute an sie heranführen und sie in ihr erziehen.«
 
WIR WOLLEN UNS ZUNÄCHST mit dem physikalischen Phänomen beschäftigen, das es uns gestattet, ein Musikstück in uns aufzunehmen – mit dem Klang also. Dabei werden wir sofort mit einer der großen Schwierigkeiten bei dem Versuch, Musik zu definieren, konfrontiert: Musik drückt sich durch Klang aus, doch Klang an sich ist noch keine Musik – er ist lediglich das Medium, durch das die Botschaft der Musik, oder ihr Inhalt, vermittelt wird. Wenn wir einen Klang zu charakterisieren versuchen, verwenden wir oft Ausdrücke aus dem visuellen Bereich: Wir sprechen von einem hellen oder einem dunklen Klang. Das ist jedoch eine sehr subjektive Charakterisierung, denn was für den einen dunkel ist, kann für den anderen hell sein, oder umgekehrt. Klänge haben aber Eigenschaften, die nicht einer solchen subjektiven Wahrnehmung unterworfen sind. Jeder Klang ist eine physikalische Realität, die objektiv analysiert werden kann. Wenn wir das tun, stellen wir fest, dass ein Klang, sobald er aufhört, spurlos verschwindet: Er ist ephemer, kein Objekt, wie ein Stuhl zum Beispiel, den man in einem leeren Zimmer zurücklassen kann und der, wenn man später zurückkehrt, immer noch da ist, ganz genauso wie vorher. Klang hat keinen Bestand in dieser Welt – er verflüchtigt sich zu Stille.
KLANG IST KEIN UNABHÄNGIGES PHÄNOMEN – er existiert nicht  per se, sondern steht in einer permanenten und unlösbaren Beziehung zur Stille. Aus diesem Grund ist die erste Note nie der Anfang einer Komposition: Sie entspringt der Stille, die ihr vorangeht. Wenn Klang in Beziehung zur Stille steht, welcher Art ist dieses Verhältnis dann? Dominiert die Stille den Klang oder der Klang die Stille? Wer sich länger damit beschäftigt, wird feststellen, dass das Verhältnis zwischen Stille und Klang dem zwischen einem physischen Objekt, einem Körper, und der Schwerkraft entspricht. Wenn man einen Gegenstand vom Boden aufnimmt, ist eine gewisse Menge Energie nötig, um ihn in der Höhe zu halten, bis zu der man ihn gehoben hat. Wenn man nicht zusätzliche Energie aufbringt, wird der Gegenstand, da er den Gesetzen der Schwerkraft unterworfen ist, wieder zu Boden fallen. Ganz ähnlich wird ein Klang, falls er nicht »gehalten« wird, wieder in Stille zurücksinken. Der Musiker, der einen Klang hervorbringt, holt ihn im wahrsten Sinne des Wortes in die physische Welt herein. Wenn er nicht weitere Energie einsetzt, wird der Klang wieder vergehen – »verklingen«. So steht es um die Lebensspanne eines einzelnen Tons, sie ist begrenzt. Ein Ausdruck, den wir oft verwenden, trifft es genau: Der Klang erstirbt. Und hier haben wir vielleicht einen ersten Hinweis darauf, dass Musik etwas über unser Dasein aussagt: Vergehen durch Umwandlung in Stille, damit ist das zeitlich begrenzte Dasein des Klangs genau beschrieben.
 
EINIGE INSTRUMENTE, vor allem Perkussionsinstrumente, zu denen in gewisser Weise auch das Klavier zählt, bringen Klänge hervor, die zeitlich begrenzt sind. Man könnte sagen, dass sie hinsichtlich ihrer Verweildauer dem Leben entsprechen, mit anderen Worten: Nachdem der Klang erzeugt worden ist, beginnt er sofort wieder zu vergehen. Bei anderen Instrumenten, etwa den Streichinstrumenten, besteht die Möglichkeit, den Klang länger fortbestehen zu lassen, zum Beispiel, indem man die Richtung, in die man den Bogen führt, ändert, diesen Wechsel aber so sanft vornimmt, dass er unhörbar wird. Mit dem Versuch, den Klang aufrechtzuerhalten, trotzt  man aber immer der Anziehungskraft der Stille, die seine Dauer zu begrenzen versucht.
Wir wollen einmal die verschiedenen Möglichkeiten untersuchen, die sich ergeben, wenn ein Klang einsetzt. Falls davor vollkommene Stille herrschte, dann unterbrechen wir diese entweder mit einem Musikstück oder wir entwickeln sie zur Musik hin. Der Klang, der die Stille unterbricht, stellt die abrupte, der Klang, der sich aus der Stille entwickelt, eine allmähliche Veränderung der bestehenden Situation dar. Mit der Sprache der Philosophen könnten wir diesen Unterschied als den zwischen »Sein« und »Werden« bezeichnen. Der erste Takt von Beethovens Klaviersonate op. 13, der berühmten Pathétique,  bewirkt ganz offensichtlich eine Unterbrechung der Stille; der sehr bestimmte, entschiedene Akkord beendet sie, und die Musik beginnt.
Das Vorspiel zu Richard Wagners Tristan und Isolde liefert ein klares Beispiel dafür, wie der Klang sich aus der Stille entwickelt. Die Musik nimmt nicht mit dem Übergang der Note a in die Note f ihren Anfang, sondern mit der Transformation der Stille in die erste Note. Bei Beethovens Klaviersonate op. 109 hingegen hat man das Gefühl, die Musik habe schon eingesetzt – es ist, als ob man in einen Zug einsteigt, der sich bereits in Fahrt befindet. Die Musik muss schon in der Vorstellung des Pianisten existieren. Wenn er zu spielen beginnt, erweckt er den Eindruck, sich mit etwas zu verbinden, das schon vorhanden war, wenn auch nicht in der physischen Welt. Die starke Betonung der ersten Note der Pathétique-Sonate setzt der Stille mit größter Entschiedenheit ein Ende. Bei der Sonate op. 109 ist es absolut erforderlich, die erste Note nicht zu betonen, weil man damit die Stille zwangsläufig unterbrechen würde.
 
MIT DEM LETZTEN TON ist die Musik nicht zu Ende. Wenn der erste Ton in Beziehung zu der vorausgehenden Stille steht, dann muss der letzte in Relation zu der Stille stehen, die auf ihn folgt. Deswegen ist es so störend, wenn ein begeistertes Publikum zu applaudieren  beginnt, bevor der letzte Ton ganz verhallt ist. Es gibt einen allerletzten expressiven Moment, der auf jener Beziehung beruht, die zwischen dem gerade erloschenen Klang und der anschließend einsetzenden Stille besteht. In dieser Hinsicht ist Musik ein Spiegel des Lebens, denn genau wie dieses beginnt und endet sie im Nichts. Doch ist es beim Spielen eines Musikstücks möglich, einen einzigartigen Zustand inneren Friedens zu erlangen, unter anderem weil man mit Klängen das Verhältnis zwischen Leben und Tod zu kontrollieren vermag: Das ist eine Macht, die dem Menschen im Leben mit Sicherheit nicht verliehen ist. Da jeder von einem Menschen hervorgebrachte Ton etwas Menschliches an sich hat, teilt sich einem beim Verstummen eines jeden Tons eine Ahnung vom Tod mit. Aufgrund dieser Empfindung werden alle Emotionen, die diese Töne während ihres kurzen Lebens in sich tragen und ausdrücken können, transzendiert; auf gewisse Weise kommt man in direkte Berührung mit Zeitlosigkeit. Wenn ich an einem Abend eines der Bücher von Johann Sebastian Bachs Das Wohltemperierte Klavier spiele, habe ich anschließend das Gefühl, dass ich etwas erlebt habe, das die Dauer meines realen Lebens überstiegen hat, dass ich mich auf einer Reise durch die Geschichte befunden habe, die ihren Anfang und ihr Ende in der Stille hat.
Eine Art, um eine Stille vorzubereiten, besteht darin, kurz davor eine gewaltige Spannung aufzubauen, sodass die Lautlosigkeit erst dann eintritt, nachdem der absolute Höhepunkt an Ausdrucksintensität und Lautstärke erreicht wurde. Eine andere Art, sich der Stille zu nähern, besteht darin, den Klang allmählich versiegen zu lassen, das heißt, man lässt die Musik so leise werden, dass der nächste Schritt nur noch im völligen Verstummen bestehen kann. Stille kann – mit anderen Worten – noch ausdrucksintensiver als das Maximum an Lautstärke sein, aber ebenso noch leiser als das Minimum. Natürlich kann auch mitten in einem Musikstück absolute Stille vorkommen. Das ist dann so etwas wie ein vorübergehender Todeszustand, durch den sich im Anschluss die Möglichkeit zur Wiedergeburt ergibt, zur Auferstehung – dazu, das Leben neu zu beginnen. Auf diese Weise ist Musik mehr als ein Spiegel des Lebens, sie wird  durch die metaphysische Dimension des Klangs bereichert, die sie in die Lage versetzt, die physischen, mit dem Menschsein einhergehenden Begrenzungen zu transzendieren. In der Welt der Klänge muss noch nicht einmal der Tod etwas Endgültiges sein.
Wenn ein Klang einen Anfang und eine bestimmte Dauer hat, dann folgt daraus natürlich, dass er auch ein Ende hat, entweder weil er verstummt oder weil er von dem nächsten Ton abgelöst wird. Töne, die aufeinanderfolgen, sind ganz klar in den Ablauf der Zeit eingefügt. Musikalische Expressivität beruht auf der Verknüpfung von Tönen, dem, was man mit dem italienischen Ausdruck legato bezeichnet, der nichts anderes als »verbunden« bedeutet. Das macht es jedoch erforderlich, dass man es den einzelnen Tönen nicht gestattet, ein eigenes Ich zu entwickeln, dass sie die vorhergehenden »übertönen« können. Jeder Ton muss sich seiner selbst bewusst sein, ebenso aber auch seiner Grenzen.
Was für die einzelnen Töne einer Komposition gilt, trifft auch für die Regeln zu, denen die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft gehorchen müssen. Wenn man fünf miteinander verbundene Töne spielt, dann kämpft jeder von ihnen gegen das Andrängen der Stille, die ihm das Leben nehmen will, und steht daher in Verbindung zum vorhergehenden wie auch zum nachfolgenden Ton. Keiner von ihnen darf sich gegenüber den anderen durchsetzen – das heißt: lauter als die vorhergehenden sein wollen -, weil das den Charakter der Phrase, zu dem er gehört, verfälschen würde. Ein Musiker muss in der Lage sein, Töne zu gruppieren, sie zusammenzufassen. Diese sehr einfache Tatsache hat mich gelehrt, das Verhältnis zwischen einem Individuum und einer größeren Gemeinschaft besser zu verstehen. Ein Mensch muss auf seine eigene, individuelle Weise einen Beitrag zur Allgemeinheit leisten, dadurch übersteigt der Wert des Ganzen bei Weitem den der Summe der einzelnen Teile. Individualität und Gemeinschaftssinn müssen einander nicht notwendigerweise ausschließen, im Gegenteil: In ihrem Zusammenwirken sind sie in der Lage, die menschliche Existenz zu bereichern.
Der Inhalt, das, was die Musik zu sagen hat, kann nur durch Klang zum Ausdruck gebracht werden. Wie wir schon gesehen haben,  ist jeder Versuch, ihn in Worte zu fassen, nichts anderes als eine Schilderung unserer subjektiven – vielleicht sogar willkürlichen – Reaktion auf die Musik. Die Tatsache, dass der Inhalt von Musik nicht in Worte übersetzt werden kann, bedeutet aber natürlich nicht, dass es ihn nicht gäbe. Denn sonst wäre jede Darbietung von Musik vollkommen überflüssig; man würde auch kein Interesse für Komponisten wie etwa Johann Sebastian Bach, die vor mehreren Jahrhunderten lebten, verspüren. Wir dürfen also nicht aufhören zu fragen, was genau eigentlich dieser Inhalt ist, diese nicht greifbare Substanz, die nur durch Klang zum Ausdruck gelangt.
Man kann Musik nicht als etwas definieren, das einen rein mathematischen, poetischen oder sinnlichen Gehalt hat. Sie besitzt all dieses zusammen und noch viel mehr. Sie hat mit der condition humaine zu tun, mit den Bedingungen des Menschseins, da sie von Menschen erdacht, komponiert und zur Aufführung gebracht wird, die in ihr und durch sie ihre intimsten Gedanken, Empfindungen, Eindrücke und Erfahrungen artikulieren. Das trifft auf Musik in ihrer Gesamtheit zu – gleichgültig zu welcher Zeit sie entstanden ist, und unabhängig von den deutlichen stilistischen Unterschieden zwischen einzelnen Musikstücken. Bach und Boulez zum Beispiel, die durch dreihundert Jahre voneinander getrennt sind, schufen Welten, die wir als ausführende Künstler wie auch als Zuhörer in unsere Zeit hereinholen. Die Bedingungen des Menschseins können offensichtlich so viel Freiheit gewähren oder so einengend sein, wie der Einzelne es sich erwählt, und Gleiches könnte man auch mit Bezug auf jede musikalische Komposition sagen.
Sergiu Celibidache meinte einmal, dass Musik nicht etwas werde, sondern etwas Musik werden könne. Er wollte damit sagen, dass der Unterschied zwischen Klang – einfach reinem Klang oder einer Ansammlung von unterschiedlichen Klängen – und Musik darin besteht, dass man, wenn man Musik macht, alle Elemente zu einem organischen Ganzen zusammenfügen muss. In der Musik gibt es keine unabhängigen Elemente: Der Rhythmus hängt mit der Melodie zusammen, die Melodie wiederum ganz offenkundig mit der Harmonie, und noch nicht einmal das Tempo ist unabhängig.  Da einige Komponisten in ihren Partituren metronomische Angaben machen, neigen wir zu der Annahme, es sei ausreichend, wenn wir versuchen, unser Spiel, die Umsetzung aller Noten in Klänge, einem bestimmten Tempo zu unterwerfen. Wir übersehen dabei aber, dass man nicht das Abstraktum Tempo hört, sondern Musik, die sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit entwickelt. Wenn diese Geschwindigkeit zu hoch ist, dann wird der musikalische Gehalt unverständlich, da der Ausführende nicht fähig ist, alle Töne klar zu artikulieren, oder der Zuhörer nicht in der Lage, sie alle zu vernehmen. Wenn das Tempo zu schleppend ist, dann ist der Inhalt gleichermaßen unverständlich, da weder der Ausführende noch der Zuhörer in der Lage sind, alle Beziehungen zwischen den einzelnen Tönen wahrzunehmen.
Richard Wagner hat in seiner Abhandlung Über das Dirigieren behauptet: »Nur die richtige Erfassung des Melos’ giebt aber auch das richtige Zeitmaaß an: beide sind unzertrennlich, eines bedingt das andere. Und wenn ich hiermit mich nicht scheue, mein Urteil über die allermeisten Aufführungen der klassischen Instrumentalwerke bei uns dahin auszusprechen, dass ich sie in einem bedenklichen Grade für ungenügend halte, so gedenke ich dieß durch den Hinweis darauf zu erhärten, daß unsere Dirigenten vom richtigen Tempo aus dem Grunde nichts wissen, weil sie nichts vom Gesange verstehen.« Indem er den Unterschied zwischen den Adagio- und Allegro-Sätzen in den Symphonien Beethovens zu charakterisieren versucht, führt er aus: »Wie dort [in den Adagio-Sätzen] die Schranken der schwelgerischen Tonentwickelung, so sind hier [in den Allegro-Sätzen] die Gränzen der figurativen Bewegungsrichtung durchaus ideal, und das Maaß des Erreichbaren bestimmt sich einzig nach dem Gesetze der Schönheit, welches für die äußersten Gegensätze der gänzlich gehemmten und der gänzlich entfesselten figurativen Bewegung den Gränzpunkt feststellt, an welchem die Sehnsucht nach der Aufnahme des Entgegengesetzten zur Nothwendigkeit wird.«
INTERESSANTERWEISE SPRICHT WAGNER nicht von Melodie, sondern von melos. Dieses Wort findet sich zum ersten Mal im siebten vorchristlichen Jahrhundert bei dem Lyriker Archilochos von Paros und bezeichnet den chorischen Gesang. Später definierte Platon  melos als Synthese aus Wort, Klang und Rhythmus, während die Auffassung des Aristoteles von melos sich mehr unserem Begriffsverständnis von Melodie annäherte. In seiner Politik unterscheidet Platon drei verschiedene Arten von meloi: die ethische, die praktische und die ekstatische. Wagner lehrt uns, dass das melos eines Stücks die einzige Richtschnur für die Festlegung des richtigen Tempos bei seiner Ausführung liefert, was bedeutet, dass wir hinsichtlich der Wahl des Tempos nicht von äußeren Faktoren – wie einem Metronom – abhängig sind und, was ebenso wichtig ist, dass es die letzte Wahl ist, die ein Musiker treffen sollte. Nur nachdem er alle Elemente bedacht hat, die zusammen den Gehalt der Musik ausmachen, vermag er das Tempo zu bestimmen, mit dem sie in Klang umgesetzt werden können. Eine zu früh getroffene Wahl kann den Musiker zum Sklaven des Tempos machen, wohingegen eine Entscheidung, die erst am Ende des Lernprozesses getroffen wird, alle Faktoren zu berücksichtigen vermag. Wie bei so vielen Dingen im Leben ist auch hier der Moment, in dem eine Entscheidung getroffen wird, mit ausschlaggebend dafür, ob sie die richtige ist.
Wenn man die wechselseitige Abhängigkeit verschiedener musikalischer Elemente voneinander erfassen will, muss man sich über die Beziehung zwischen Raum und Zeit Klarheit verschaffen, oder, mit anderen Worten, über den Zusammenhang, der zwischen dem Inhalt und der Geschwindigkeit besteht. Auch das Tempo, das man für etwas halten könnte, das der Musik selbst nicht innewohnt, ist keine unabhängige Größe. Es kommt darauf an, Textur und Lautstärke des Klangs auf der einen Seite und akustische Transparenz der Musik auf der anderen Seite in ein ideales Verhältnis zueinander zu bringen, und dafür wiederum ist das korrekte Tempo von entscheidender Bedeutung. Man muss sich bewusst sein, dass in der tonalen Musik die Bewegungsabläufe auf den Ebenen von Rhythmus, Melodie und Harmonie unterschiedlich schnell vonstattengehen können.  Man kann sich unendlich viele Variationen des Rhythmus ohne irgendwelche harmonischen Veränderungen denken, aber eine Bewegung auf harmonischer Ebene, die sich nicht verändernd sowohl auf die Melodie als auch den Rhythmus auswirkt, ist nicht vorstellbar. Diese Trinität von Rhythmus, Melodie und Harmonie bringt es mit sich, dass ein Musiker eine individuelle Auffassung von einem Musikstück entwickeln muss; man könnte ihn mit einem Filmregisseur vergleichen, der eine Kamera so aufstellt, dass sie die Situation in der Weise einfängt, die ihm am besten erscheint. Wenn es auch einem Diktum Nietzsches zufolge »keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen« gibt, bedarf Musik keiner Interpretation im Sinne von Deutung. Nötig ist nur die genaue Betrachtung des »Texts«, die physische Umsetzung sowie die Fähigkeit, mit dem Werk eines anderen vollkommen eins zu werden.
Nichts existiert außerhalb der Zeit, in der Musik gibt es ebenso wie im Leben eine unauflösbare Verbindung zwischen Tempo und Substanz. Die Geschwindigkeit einer harmonischen Entwicklung beispielsweise kann über ihr Voranschreiten und ihre Wirkung entscheiden, das heißt letztlich darüber, wie sie sich auf die Realität auswirkt, die sie zu beeinflussen versucht. Für sie gilt also dasselbe wie für einen politischen Prozess: Mag sein, dass beim Osloer Friedensprozess zwischen Palästinensern und Israel in den einzelnen Verhandlungen Fehler gemacht wurden; ich bin aber überzeugt, dass das ganze Unterfangen ohnehin zum Scheitern verurteilt war, weil das Verhältnis von Inhalt und Zeit – von Substanz und Tempo – nicht stimmte. Die Gespräche wurden viel zu hastig vorbereitet, doch nachdem sie dann begonnen hatten, kamen sie viel zu langsam voran und wurden zu häufig unterbrochen, was die Aussichten auf Erfolg verschwindend gering werden ließ. Auf die Musik übertragen, wäre das so, als böte man eine langsame Einleitung viel zu schnell und undurchdacht dar und würde den folgenden schnellen Satz viel zu stockend und mit Unterbrechungen spielen. In dem einen wie dem anderen Fall ist »Timing«, das Festlegen des Zeitpunkts und des Zeitmaßes, kein beiläufiger äußerer Faktor, sondern einer, der unwiederbringlich das Gesicht dessen prägt, was kommen wird.
In der Musik muss alles ständig und auf Dauer miteinander verbunden werden: Der Akt des Musizierens besteht darin, alle der Musik inhärenten Elemente miteinander zu einem Ganzen zu verschmelzen. Wenn man nicht Tempo, Klangfülle und Klangdichte in das richtige Verhältnis zueinander bringt, dann ist die Integration nicht vollständig – in so einem Fall kann man nicht von Musik im eigentlichen Sinn des Wortes sprechen. Alle einzelnen Elemente müssen aufeinander bezogen sein. Natürlich variiert der Stil verschiedener Komponisten und damit auch der Darbietungsstil: Einige Ausdrucksmittel wie etwa die flexible Handhabung von Lautstärke und Tempo sind bei Puccini erlaubt, bei Bach hingegen nicht. Die Grundnotwendigkeit jedoch, die verschiedenen Bestandteile und Vorzeichen der Musik in Einklang zu bringen, besteht immer, gleichgültig ob das Werk von Bach oder von Schönberg, von Puccini oder von Wagner ist.
Ein »Gefühl für Musik« kann als instinktives oder intuitives Gespür für Klang als Ausdrucksmittel definiert werden. Ein solches musikalisches Empfinden reicht jedoch nicht aus, wenn nicht das Denken hinzukommt. In der Musik kann man nicht emotional im Ausdruck sein, wenn man nicht »verstanden« hat, auf der anderen Seite kann man sich nicht rational mit ihr auseinandersetzen, wenn man sie nicht in sich fühlt – erneut haben wir hier eine klare Parallele zum Leben vor uns. Wie können wir gleichzeitig diszipliniert und leidenschaftlich sein? Wie können wir das, was unser Gehirn uns vorschreibt, und das, was unser Herz uns eingibt, vereinen? In der Musik drücken wir Leidenschaft durch Dehnen oder Steigern des Tempos aus, indem wir die Lautstärke, die Art des Klangs verändern, oder auch die Artikulation, das heißt bestimmte Töne verkürzen oder verlängern. Wenn Musik als die Vereinigung von Klang und Gedanken definiert werden kann, dann darf keines dieser Ausdrucksmittel nur aus rein formalen Gründen angewendet werden. Jede Technik muss dann dem höheren Zweck dienen, das, was die Musik ausdrücken will, zu vermitteln; und der ausführende Künstler muss der Maestro sein, der die verschiedenen Elemente aufeinander abstimmt, sie unablässig miteinander verbindet  und keinem von ihnen gestattet, von den anderen unabhängig zu bleiben.
Mithilfe des Denkens vermögen wir es auch, die Bedeutung des Muts innerhalb der Musik zu erfassen: Ein Crescendo bei Beethoven, nach dem ein subito piano verlangt ist, erfordert mehr, als einfach nur immer lauter zu spielen und dann abrupt wieder leiser zu werden. Es verlangt vielmehr die Fähigkeit, die Lautstärke auf eine Art und Weise anschwellen zu lassen, dass das Ohr erwartet, zu einem Höhepunkt hingeführt zu werden. Auf der Enttäuschung ebendieser Erwartung beruht also die eigentliche Wirkung des subito piano. Es muss aber noch etwas hinzukommen, denn das italienische subito bedeutet »plötzlich«. Das Unerwartete muss also jäh eintreten. Das Crescendo verlangt ein strategisches, allmähliches Anwachsen der Lautstärke während seiner gesamten Dauer.
Die Schwierigkeit für den Musiker ergibt sich in erster Linie daraus, dass er den Grad der Zunahme und die Geschwindigkeit, mit der dies geschieht, genau kontrollieren muss. Wenn der Klang zu schnell und zu stark anschwillt, dann wird es ihm in den späteren Phasen des Crescendos unmöglich sein, die Steigerung aufrechtzuerhalten. Wenn die Lautstärke nicht genügend ansteigt, dann wird sich das entweder bis in die späteren Phasen fortsetzen, oder es wird dort zu einer sprunghaften Zunahme kommen, die dem Allmählichen, dem Sukzessiven des Prozesses zuwiderläuft. Es ist daher absolut notwendig, sich – schon bevor man mit dem Crescendo beginnt – darüber im Klaren zu sein, auf welchem Lautstärkeniveau man an seinem Ende angekommen sein will. Genauso wichtig ist es aber auch, dass man weiß, wie weit die Lautstärke dann in der subito piano-Passage reduziert sein soll. Außerdem ist es unerlässlich, ganz abrupt von der lautesten Stelle des Crescendos, seinem Ende, zu der leisesten des subito piano, dessen Anfang, überzugehen.
Dies ist der Moment, an dem der Musizierende Mut aufbringen muss. Denn wenn man sowohl in musikalischer als auch in physischer Hinsicht den Weg des geringsten Widerstands beschreiten wollte, müsste man die Lautstärke nicht mehr in dem Grad anschwellen lassen wie zuvor; so würde der Übergang vom Crescendo  zum subito piano formal leichter. Mut bedeutet in diesem Fall, dass man den Weg des größten Widerstands wählt, den höchsten Berg erklimmt, indem man die Lautstärke konsequent immer weiter anschwellen lässt, ohne an die Folgen der Abruptheit des Wechsels in die subito piano-Passage zu denken. Das ist ungefähr so, als ob man auf eine tiefe Schlucht zuliefe und erst im allerletzten Moment, schon an deren Rand angekommen, anhielte. In Bezug auf den Klang kann man Mut somit als Bereitschaft und Fähigkeit sehen, dem, was kommt, die Stirn zu bieten. Oder, wie Arnold Schönberg meinte: »Der Mittelweg ist der einzige, der nicht nach Rom führt.« Jeder Künstler muss in sich selbst den Willen ausbilden, der erforderlich ist, um in der Welt des Klangs den Schwierigkeiten zu trotzen – und vielleicht auch außerhalb von ihr den Weg des größten Widerstands zu gehen.