1
Das hier ist nicht mein Schlafzimmer.
Wo bin ich? Während ich mir eine fremde Bettdecke bis ans Kinn ziehe, versuche ich angestrengt, meine Gedanken zu ordnen. Doch ich kann mir nicht erklären, weshalb ich mich an diesem Ort befinde.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich Mittwochabend mein Schlafzimmer in einem hellen, satten Gelb gestrichen habe. Ich weiß noch, dass Frieda, die mir ihre Hilfe angeboten hatte, sich ziemlich kritisch über meine Farbwahl äußerte. »Zu viel Sonnenschein für ein Schlafzimmer«, stellte sie in dem ihr eigenen Besserwissertonfall fest. »Wie willst du an düsteren Tagen jemals ausschlafen?«
Ich tauchte den Pinsel in den Farbeimer, streifte sorgfältig die überschüssige Farbe ab und kletterte die Trittleiter hoch. »Genau darum geht es«, erklärte ich Frieda. Nach vorn gebeugt strich ich sorgfältig entlang der hohen, schmalen Fensterrahmen.
Sollte ich mich nicht daran erinnern, was als Nächstes passierte? Merkwürdigerweise tue ich das nicht. Ich erinnere mich nicht, wie wir den Abend mit Streichen verbrachten und schließlich von der Zimmermitte aus unser Werk bewunderten. Ich erinnere mich nicht daran, dass ich mich bei Frieda für ihre Hilfe bedankt und mich von ihr verabschiedet hätte. Ich weiß nicht mehr, wie ich in dem sonnenfarbenen Zimmer eingeschlafen bin, den stechenden Geruch von frischer Farbe in der Nase. Doch ich muss das alles getan haben, denn hier liege ich nun. Und angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem Hier nicht um mein Zuhause handelt, schlafe ich offensichtlich noch.
Allerdings ist das hier keiner meiner typischen Träume. Meine nächtlichen Ausflüge neigen ins Fantastische, es sind Träume, die sich über die herkömmliche Vorstellung von Raum und Zeit hinwegsetzen. Das kommt daher, so jedenfalls meine Überlegung, dass ich so viel lese. Zuletzt habe ich Das Böse kommt auf leisen Sohlen gelesen. Dieses wunderbare Buch ist erst letzten Juni veröffentlicht worden, man rechnet jedoch damit, dass es eines der meistverkauften Bücher des Jahres 1962 werden wird. Ich dränge den Roman jedem auf, der auf der Suche nach etwas »richtig Fesselndem« Friedas und meine Buchhandlung betritt.
»Es wird Sie in Ihren Träumen heimsuchen«, versichere ich unseren Kunden. Eine selbsterfüllende Prophezeiung: Vorgestern Nacht träumte ich, ich stolperte hinter Will Halloway und Jim Nightshade her, den beiden jungen Hauptfiguren aus Bradburys Buch, als sie mitten in der Nacht von einem Jahrmarkt angelockt wurden, der eben seine Zelte in Green Town aufgeschlagen hatte. Ich versuchte, sie zu überreden, auf der Hut zu sein – doch wie dreizehnjährige Jungen nun einmal sind, achteten sie einfach nicht auf mich. Ich erinnere mich noch, wie schwierig es war, Schritt mit ihnen zu halten, wie meine Füße einfach nicht richtig funktionieren wollten. Will und Jim verschwanden im Schatten, ihre Gestalten wurden zu dunklen Punkten und lösten sich schließlich im Nichts auf, und ich konnte nur verärgert heulen.
Demnach bin ich nicht die Art Frau, die etwas derart Simples träumt, wie im Schlafzimmer eines anderen Menschen aufzuwachen.
Das Traum-Schlafzimmer ist ein gutes Stück größer und schicker als mein eigenes Schlafzimmer. Die Wände sind graugrün, ganz anders als das satte Gelb, für das ich mich bei mir zu Hause entschieden hatte. Bei dem Mobiliar handelt es sich um ein komplettes Schlafzimmerensemble, elegant und modern. Die Tagesdecke ist ordentlich am Fußende des Bettes gefaltet. Meinen Körper umhüllt weiche, farblich abgestimmte Bettwäsche. Es ist reizend, wenn auch auf eine etwas zu gewollte Art.
Ich rutsche unter die Decke und mache die Augen zu. Wenn ich die Augen geschlossen halte, werde ich mich doch gewiss bald beim Walfischfang im Südpazifik wiederfinden, schäbig gekleidet und mit den Kerlen auf meinem Schiff Whiskey saufend. Oder ich fliege hoch über Las Vegas dahin, die Arme in gewaltige Flügel verwandelt, während mir der Wind die Haare ins Gesicht klatscht.
Doch nichts dergleichen geschieht. Stattdessen vernehme ich eine Männerstimme. »Wach auf. Katharyn, Liebes, wach auf.«
Ich öffne die Augen und blicke in tiefblaue Augen, so tiefblau, wie ich noch nie welche gesehen habe.
Und dann schließe ich meine eigenen wieder.
Ich spüre eine Hand auf der Schulter, die bis auf den dünnen Träger meines Satinnachthemds nackt ist. Es ist schon eine gute Weile her, seit mich zuletzt ein Mann intim berührt hat. Doch manche Gefühle sind unverkennbar, ganz egal, wie selten man sie erlebt.
Ich weiß, dass ich verängstigt sein sollte. Das wäre eine angemessene Reaktion, oder nicht? Selbst im Schlaf sollte man entsetzt sein, wenn man die Hand eines fremden Mannes auf der nackten Haut spürt.
Stattdessen empfinde ich die Berührung dieses imaginären Kerls merkwürdigerweise als ausgesprochen angenehm. Der Griff ist sanft, aber fest, die Finger liegen um meinen Oberarm, der Daumen streichelt mir sanft über die Haut. Ich halte die Augen geschlossen und genieße das Gefühl.
»Katharyn. Bitte, Liebes. Es tut mir leid, dass ich dich wecke, aber Missys Stirn fühlt sich warm an – sie verlangt nach dir. Du musst bitte aufstehen.«
Mit geschlossenen Augen lasse ich mir diese Informationen durch den Kopf gehen. Ich frage mich, wer Missy ist und weshalb mich ihre warme Stirn etwas angehen sollte.
Ohne jeden Zusammenhang, wie es für Träume typisch ist, werden meine Gedanken von einem Songtext abgelöst, der vor ein paar Jahren viel im Radio gespielt wurde. Ich kann zwar die Melodie hören, bin mir aber sicher, dass der Text nicht stimmt. Rosemary Clooney sang das Lied, es ging darum, auf Wolken zu schweben. Und sich nicht von der Liebe zum Narren halten zu lassen. Bei der Vorstellung muss ich lächeln. Offensichtlich verhalte ich mich hier so närrisch, wie es nur eben geht.
Ich öffne die Augen und setze mich im Bett auf, bereue diesen Positionswechsel aber sogleich, da er den blauäugigen Mann dazu veranlasst, seine warme Hand von meiner Schulter zu nehmen.
»Wer sind Sie?«, frage ich ihn. »Wo bin ich?«
Er erwidert meinen fragenden Blick. »Katharyn, geht’s dir gut?«
Der Ordnung halber sei gesagt, dass mein Name nicht Katharyn ist. Ich heiße Kitty.
Na gut – ich heiße tatsächlich Katharyn. Aber ich habe meinen Vornamen nie gemocht. Er kam mir stets zu förmlich vor. Kath-a-ryn rollt nicht von der Zunge, so wie Kitty es tut. Außerdem haben mir meine Eltern eine ungewöhnliche Schreibweise eines ansonsten gewöhnlichen Namens verpasst, und ich finde es zu mühsam, ihn jedes Mal, wenn ich danach gefragt werde, buchstabieren und erläutern zu müssen.
»Ich glaube, es geht mir gut«, erkläre ich Blau-Auge. »Aber ich meine es ernst, ich habe keine Ahnung, wer du bist oder wo ich mich befinde. Es tut mir leid.«
Er lächelt, und seine schönen Augen funkeln. Abgesehen von den Augen sieht er recht durchschnittlich aus. Mittelgroß, mittel gebaut, ein leichter Rettungsring um die Hüften. Rotbraunes, lichtes Haar, das allmählich ein bisschen grau wird. Ich würde ihn auf um die vierzig schätzen, ein paar Jahre älter als ich. Ich atme ein und bemerke einen waldigen Seifengeruch an ihm, als hätte er sich eben rasiert und geduscht. Er riecht köstlich, und mein Herz setzt einen Moment aus. Du meine Güte, kann dieser Traum noch absurder werden?!
»Du musst sehr tief geschlafen haben, Liebes«, sagt er. »Du weißt doch, wer ich bin. Ich bin dein Ehemann. Du bist in unserem Schlafzimmer in unserem Haus.« Er macht eine ausladende Bewegung mit dem Arm, wie zur Bestätigung seiner Worte. »Und im Moment hat unsere Tochter – deren Name übrigens Missy lautet, falls du das auch vergessen haben solltest – wahrscheinlich Fieber und braucht ihre Mutter.«
Er hält mir die Hand entgegen. Instinktiv lege ich meine hinein.
»Okay?«, fleht er. »Bitte, Katharyn.«
Ich runzele die Stirn. »Es tut mir leid, du hast gesagt, du bist …?«
Er seufzt. »Dein Ehemann, Katharyn. Ich bin dein Ehemann Lars.«
Lars? Sonderbarer Name. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einem Menschen mit diesem Namen begegnet zu sein. Unwillkürlich muss ich ein wenig über mein ach so erfinderisches Gehirn lächeln. Es konnte nicht einfach einen Harry oder Ed oder Bill ins Leben rufen. Nein, Ma’am, mein Hirn hat einen Ehemann namens Lars fabriziert.
»Na gut«, sage ich. »Ich komme gleich.«
Er drückt meine Hand und lässt sie los, beugt sich dann zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. »Ich werde schon mal Fieber messen, während wir auf dich warten.« Er erhebt sich und verlässt das Zimmer.
Wieder schließe ich die Augen. Jetzt wird es in meinem Traum doch gewiss einen Schauplatzwechsel geben.
Aber als ich die Augen wieder öffne, bin ich immer noch dort. Immer noch in dem grünen Schlafzimmer.
Da es wohl sein muss, stehe ich auf und durchquere das Zimmer. Anhand der Fenster hoch über dem Bett, der gläsernen Schiebetür, die aussieht, als führe sie auf eine Art Terrasse, und des großen angrenzenden Badezimmers schließe ich, dass dieses Zimmer, wäre es denn real, sich in einem recht modernen Wohnhaus befindet. Moderner – und vermutlich größer – als meine Zwei-Zimmer-Maisonettewohnung aus den 1920er-Jahren, die im Viertel Platt Park in Denver liegt und wo ich zur Miete wohne.
Ich spähe ins Badezimmer. Es ist hellgrün, glänzend und chromverziert. Der lange Toilettentisch hat zwei Waschbecken, helle Holzschränkchen, die spitz zur Wand hin zulaufen, und eine goldgesprenkelte Resopalplatte. Der geflieste Boden besteht aus einem frischen Mosaik aus Minzgrün, Rosa und Weiß. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich noch in Denver befinde, aber falls ja, ist das hier ganz gewiss nicht das gute alte Platt Park, wo seit der Vorkriegszeit nichts Neues mehr gebaut worden ist.
Als ich mich im Spiegel über dem Toilettentisch mustere, rechne ich halb damit, einen völlig anderen Menschen zu erblicken – wer weiß, wer diese Katharyn ist? Doch ich sehe genauso aus wie immer. Klein, vollbusig, mit rotblonden Haaren, die mich regelmäßig zum Verzweifeln bringen, weil sie sich über meiner Stirn zu eine Schmachtlocke kringeln und sich am ganzen Kopf kräuseln, egal, wie oft ich sie waschen und legen lasse. Ich fahre mit den Fingern hindurch und bemerke dabei, dass sich am Ringfinger meiner linken Hand ein glitzernder Diamant und ein breiter goldener Ehering befinden. Tja, natürlich, denke ich. Wie optimistisch von meinem Gehirn, einen Ehemann zu erfinden, der sich einen derart großen Klunker leisten kann.
Beim Herumstöbern im Wandschrank finde ich einen marineblauen Steppbademantel, der perfekt sitzt. Während ich mir den Gürtel um die Taille schlinge, betrete ich den Flur auf der Suche nach dem Mann mit dem seltsamen Namen Lars und seinem kranken Kind Missy.
An der Wand direkt vor mir, offensichtlich so platziert, dass man es vom Schlafzimmer aus sehen kann, hängt ein großes Farbfoto. Es zeigt eine Berglandschaft: Die Sonne ist bereits hinter dem Horizont versunken, beleuchtet aber noch die Berggipfel in Rosa- und Goldtönen. Entlang der ganzen linken Seite der Fotografie ragen Gelbkiefern auf. Ich lebe seit meiner Geburt in Colorado, aber ich habe keine Ahnung, welche Gegend der Rocky Mountains hier abgebildet ist oder ob das Bild überhaupt die Rockys darstellt.
Noch während ich dieses Rätsel zu ergründen suche, packt mich jemand von rechts um die Taille. Es kostet mich einige Mühe, mein Gleichgewicht wiederzuerlangen und nicht nach hinten zu kippen.
»Aua!«, sage ich und drehe mich zur Seite. »Lass das und stell dich gefälligst richtig hin. Du bist zu groß, um dich einfach an andere Menschen zu lehnen. Du musst dich schon selbst auf den Beinen halten.«
Was in aller Welt …? Wer ist die Frau, die diese Dinge äußert? Ich kann das nicht sein. Diese Worte klingen nicht wie etwas, das ich jemals sagen oder auch nur denken würde.
Ein kleiner Junge blickt zu mir hoch. Er hat die durchdringenden blauen Augen von Lars und eine ordentliche Kurzhaarfrisur, die aber eine rötlich blonde Schmachtlocke über seiner Stirn nicht verbergen kann. Sein Pfirsichgesicht ist sauber geschrubbt. Er sieht aus, als käme er direkt aus einer Werbung für Milch oder Eis am Stiel. Ja, so süß ist er, und während ich ihn betrachte, schmilzt mein Herz ein wenig.
Er lässt mich los und entschuldigt sich. »Ich habe dich bloß vermisst, Mama«, sagte er. »Ich hab dich seit gestern nicht gesehen.«
Ich bin sprachlos. Dann rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ich schließlich träume, und lächele den Jungen an. Ich beuge mich zu ihm runter und drücke versöhnlich seine Schulter. Ich gebe mich diesem Traum jetzt einfach hin. Warum nicht? Bisher ist er eine ziemlich angenehme Angelegenheit.
»Bring mich zu deinem Vater und Missy«, sage ich und ergreife die weiche, rundliche Hand des Kindes.
Wir gehen den Flur entlang und eine kurze Treppe hoch. Oben befindet sich ein Mädchenschlafzimmer mit rosaroten Wänden, einem kleinen weißen Holzbett und einem niedrigen Bücherregal voller Bilderbücher und Stofftiere. Aufrecht im Bett sitzt ein ebenso engelhaftes Kind, eine weibliche Version des Jungen, der meine Hand hält. Ihre Miene ist verloren, die Wangen sind gerötet. Sie ist ungefähr so groß wie der Junge. Ich bin eine Niete im Erraten, wie alt Kinder sind, aber ich würde tippen, dass diese beiden um die fünf oder sechs Jahre alt sind. Zwillinge?
»Mama ist hier!«, sagt der Engelsjunge und klettert aufs Bett. »Missy, Mama ist hier, und alles wird wieder gut.«
Missy wimmert. Ich setze mich neben sie und berühre ihre Stirn, die sich erschreckend heiß anfühlt. »Was tut dir weh?«, frage ich sie sanft.
Sie beugt sich zu mir. »Alles, Mama«, sagt sie. »Vor allem der Kopf.«
»Hat Daddy Fieber gemessen?« Ich fasse es nicht, wie mühelos mir diese Worte, diese mütterlichen Handlungsweisen zufliegen. Ich komme mir wie ein alter Hase vor.
»Ja, er wäscht gerade das Ther-mo-neter ab.«
»Thermometer«, verbessert der Engelsjunge sie. »Es heißt Ther-mo-meter. Nicht Ther-mo-neter.«
Sie verdreht die Augen. »Kümmer dich um deinen eigenen Kram, Mitch.«
Lars erscheint im Türrahmen. »Achtunddreißig sieben«, berichtet er.
Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet. Oh, ich weiß natürlich, es bedeutet, dass ihre Temperatur 38,7 Grad Celsius beträgt. Aber ich weiß nicht, was jetzt zu tun ist: welche Medikamente zu geben sind, ob Bettruhe richtig ist oder in die Schule gehen.
Weil ich keine Kinder habe. Ich bin keine Mutter.
Ich will damit nicht andeuten, dass ich nie Kinder haben wollte. Ganz im Gegenteil. Ich gehörte zu den kleinen Mädchen, die ihre Babypuppen liebten, ihnen im Spiel das Fläschchen gaben und sie wickelten und in einem winzigen Kinderwagen herumschoben. Als Einzelkind habe ich meine Eltern um ein Geschwisterchen angefleht – nicht weil ich eine große Schwester sein, sondern weil ich jemanden bemuttern wollte.
Lange dachte ich, ich würde Kevin heiraten, meinen festen Freund seit dem College. Er zog ’43 in den Pazifikkrieg, genau wie beinahe jeder andere junge Mann, der nicht bereits fort war. Ich hielt ihm die Treue – damals machten die Mädchen das, die Treue halten. Kevin und ich schrieben einander fleißig Briefe. Ich schickte ihm Carepakete mit Keksen, Strümpfen, Rasierseife. Im Haus meiner Studentinnenvereinigung steckten wir Reißnägel in eine Karte des Südpazifiks, um das Vorankommen unserer Jungs zu markieren. »Das Warten ist schwer, aber es wird die Sache wert sein, wenn sie erst einmal wieder zu Hause sind«, versicherten wir Mädchen einander. Wir schluchzten in unsere Taschentücher, wenn uns zu Ohren kam, dass der Liebste einer anderen nicht zurückkehren würde. Doch gleichzeitig schickten wir insgeheim ein kleines Dankesgebet gen Himmel, weil es nicht unser Liebster war, diesmal nicht.
Sehr zu meiner Erleichterung kehrte Kevin unversehrt und anscheinend unverändert aus dem Krieg zurück, begierig darauf, sein Medizinstudium wieder aufzunehmen und Arzt zu werden. Wir waren weiterhin ein Paar, doch er machte mir nie einen Antrag. Man lud uns zu einer Hochzeit nach der anderen ein, und jeder fragte, wann wir an der Reihe wären. »Oh, ihr wisst schon, eines Tages!«, sagte ich dann in unverhohlen fröhlichem und beiläufigem Tonfall. Kevin wechselte einfach das Thema.
Die Jahre verstrichen. Kevin beendete sein Medizinstudium und begann, als Assistenzarzt zu arbeiten. Ich war Lehrerin und unterrichtete Fünftklässler. Doch was unsere Beziehung betraf, verlief ein Jahr so statisch wie das nächste. Schließlich wurde mir klar, dass ich ihm ein Ultimatum stellen musste. Ich erklärte Kevin, falls er mich nicht heiraten wolle, sei unsere Beziehung am Ende.
Er seufzte tief. »Das ist wahrscheinlich das Beste«, sagte er. Sein Abschiedskuss war flüchtig, oberflächlich. Kein Jahr später hörte ich, er habe eine Krankenschwester geheiratet, die im selben Krankenhaus wie er arbeitete.
Tja, in meiner Traumwelt spielt all das – die vergeudeten Jahre mit Kevin, seine gefühllose Zurückweisung – offensichtlich überhaupt keine Rolle. In dieser Welt habe ich irgendwann das große Los gezogen. Schön für dich, Kitty, höre ich die Glückwünsche meiner Freundinnen aus der Studentinnenverbindung. Schön für dich.
Der Gedanke kommt mir absurd vor, und ich unterdrücke ein Lachen. Beschämt halte ich mir die Hand vor den Mund. Dies ist zwar bloß ein Traum, aber trotzdem gibt es hier ein krankes Kind. Ich sollte mich angemessen benehmen. Ich sollte mir, wie es sich gehört, mütterlich Sorgen machen.
Ich blicke von Missys Bett auf und sehe Lars in die Augen. Er starrt mich voll Bewunderung und – interpretiere ich das etwa richtig? – Verlangen an. Sehen Eheleute sich wirklich auf diese Weise an? Selbst mitten in einer Kind-hat-Fieber-Krise?
»Was meinst du?«, fragt Lars mich. »Du weißt bei so etwas immer, was zu tun ist, Katharyn.«
Tue ich das? Dieser Traum ist wirklich interessant. Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und sehe allem Anschein nach einen Wintermorgen. Die Fensterscheibe ist vereist, und es schneit leicht.
Und auf einmal, auch wenn ich nicht erklären kann, warum, weiß ich tatsächlich genau, was zu tun ist. Ich stehe auf und durchquere den Flur zum Badezimmer. Ich weiß, wo ich auf dem Regal im Arzneischränkchen die winzige Plastikflasche mit St. Joseph’s-Kinder-Aspirin finden werde. Ich ziehe einen Pappbecher aus dem an der Wand befestigten Spender und lasse ein wenig kaltes Wasser hineinlaufen. Nachdem ich den Wäscheschrank im Badezimmer geöffnet habe, entnehme ich einen Waschlappen, halte ihn unter kaltes Wasser und wringe ihn aus.
Entschlossenen Schrittes trage ich das Arzneifläschchen, Waschlappen und Becher in Missys Zimmer. Ich lege ihr den Waschlappen auf die Stirn und drücke ihn behutsam gegen ihre warme Haut. Ich reiche ihr zwei Aspirintabletten. Sie schluckt sie folgsam und nimmt den Becher mit Wasser, um sie hinunterzuspülen. Mit einem dankbaren Lächeln lehnt sie sich in ihr Kissen zurück.
»Wir sollten ihr jetzt etwas Ruhe gönnen.« Ich decke Missy zu und hole etliche Bilderbücher aus dem Regal. Sie fängt an, in Madeline’s Rescue zu blättern – einem Band aus der entzückenden Kinderreihe von Ludwig Bemelmans über eine Pariser Internatsschülerin namens Madeline und ihre elf Klassenkameradinnen – das Haus rankenbewachsen, die Mädchen in zwei geraden Reihen. Missys Finger fahren die Wörter auf jeder Seite nach, während sie sie mit heiserer Flüsterstimme vor sich hin spricht.
Lars tritt näher und ergreift meine Hand. Wir lächeln gemeinsam unserer Tochter zu und verlassen leise das Zimmer, unseren bezaubernden Sohn an unserer Seite.
Aber dann ist der Traum auch schon wieder zu Ende, so jäh, wie er eingesetzt hat.
Der Wecker an meinem Bett klingelt schrill. Mit geschlossenen Augen strecke ich die Hand aus und drücke fest auf den Knopf, um den Alarm auszuschalten. Ich öffne die Augen, und das Zimmer ist gelb. Ich bin zu Hause.