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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

FÜR MAMI

Darf ich nach einem selbstbestimmten Leben nicht auch einen selbstbestimmten Tod haben, statt als ein dem Gespött preisgegebenes Etwas zu sterben, das nur von fernher an mich erinnert? Und dieses letzte Bild wird bleiben und überdauert für die Nachfahren auf lange Zeit die Impressionen, da ich ein »Ich« und kein »Es«, ein denkendes Wesen und kein zuckendes Muskelpaket war, kein Drahtmensch, sondern ein Wesen, dessen Stolz vielleicht in seiner Schwäche bestand – aber einer bedachten und eingestandenen Schwäche.
Walter Jens, in: Jens/Küng: Menschenwürdig sterben, 1995

I. ICH GEH DANN MAL NACH OBEN
Eine angestaubte Video-Kassette, mit rotem Kuli beschriftet. Sterbehilfe: Papi. 13. August 2001. Fernseh-Aufnahmen. Wir saßen am Neckar in einem Stocherkahn, der Hölderlin-Turm: vis-a-vis, und unterhielten uns über die letzten Dinge. Ob ein Mensch, zumal ein Christ, der unheilbar krank sei, von Schmerzen gepeinigt, nicht mehr er selbst, sich wirklich ergeben in sein Schicksal fügen müsse, bis ihn Gott endlich erlöse – oder ob es nicht doch ein Recht auf ein selbstbestimmtes Ende in Würde gäbe, ein Recht auf Euthanasie im ursprünglichen Sinne des Worts, ein Recht auf einen schönen, gnädigen Tod.
Die Sonne strahlte und der damals 78jährige, der sagte, er sei nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte, war sich seiner Sache ganz sicher. Auf dem unter der großen Trauerweide vertäuten Kahn hat er den freundlichen Tod beschworen, den ein Mensch, der auf keine Heilung mehr hoffen kann, mit Fug und Recht ersehne: dem sollte ich im Zeichen der Liebe helfen können. Immer wieder hat er, leger im weißen Hemd, auf den Arzt Max Schur verwiesen, der den todkranken Sigmund Freud mit einer Überdosis Morphium von seinem qualvollen Krebsleiden erlöste: Er wusste, einer wird Dir beistehen – wir könnten unendlich viel gelassener leben, wenn wir wüssten: ein Arzt oder eine Ärztin wird Dir helfen, den kleinen Übergang erleichtern. Und dann hat er, höchst entspannt, mit einem Lächeln hinzugefügt, dass er im Fall eines Falles auch einen Max Schur habe, der, wenn es soweit ist, aus Nächstenliebe dem Willen seines Patienten folgen wird.
Es ist düster und kalt, als ich mir das Band mit unserem Gespräch Jahre später noch einmal ansehe. Meine letzte Frage damals hatte ich lange vergessen, den Einwand, Freud habe Rachenkrebs, unerträgliche Schmerzen gehabt, was aber wäre, wenn Du Alzheimer hättest? Darf das ein Sohn fragen? Ich durfte. Und mein Vater war in seinem Element. Wenn die Autonomie des Menschen nicht mehr im Zentrum steht, wenn ich nicht sagen kann, Tilman, Du siehst selbst, es ist an der Zeit – ich sage mit dem Mann da oben – er meinte nicht Gott, sondern den Dichter des Hyperion, der in seinem goldgelben Neckarturm fast 40 Jahre lang dem Tod entgegendämmerte – ich sage mit Friedrich Hölderlin: April, Mai und Junius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne … dann möchte ich das mir von Gott geschenkte Leben zurückgeben. Was ihm Angst machte, war die Vorstellung, einer unheilbaren Krankheit, einem endlosen Siechtum wehrlos ausgeliefert zu sein: Ich will sterben - nicht gestorben werden. Seitdem sind sieben Jahre vergangen. Und kaum etwas erinnert mehr an den Mann, der mir einst im Kahn gegenübersaß.
Nachts, wenn der große Hunger kommt und das Schlafmittel keine Ruhe mehr gibt, strampelt er sich frei. Die nasse Windel plagt. Er hat genug gedämmert. Langeweile hat er sein ganzes Leben gehasst. Er will raus hier. Irgendwohin. Unter seinem Bett steht ein beiges Kästchen, das jüngst angeschaffte Babyphon, das jede Regung des alten Mannes ins Schlafzimmer meiner Mutter überträgt. Sie habe sich an den heiseren Atem, an das Röcheln und Husten im Lautsprecher allmählich gewöhnt. Geht schon – diese verfluchten Beschwichtigungs-Formeln, an die sie selbst schon lang nicht mehr glaubt.
Er tastet sich zum Lichtschalter, schaut sich um in seinem kargen Krankenlager, das einmal das kaum weniger karge Gästezimmer meines Tübinger Elternhauses war, ein in seiner Radikalität liebenswertes Abbild protestantischer Bescheidenheit: Raufasertapete, abwaschbar. Das Klappbett, hinter Kiefernfurnier versteckt. Mein ausrangierter Schülerschreibtisch. An der Decke eine Lampe, deren Milchglas ich demolierte, als ich 13 war. Der rote Teppichboden hat Flecken bekommen. Das letzte Bild, der Butt mit den vielen Gräten, ein Geburtstags-Geschenk von Günter Grass zum 60., wurde vor zwei Jahren auf Drängen seines damaligen Pflegers von der Wand genommen: Gell, Herr Jens, das beunruhigt Sie nur. Unruhe gibt es genug, all die Menschen, die Möbel, die Sätze, die mein 85jähriger Vater nicht mehr versteht. Mir ist die Sprache gestorben, hat er gesagt, als ihm im vergangenen Frühling die Klarheit, das Bewusstsein eines Zustands ohne Hoffnung, ein paar Stunden aufgedämmert ist.
Mehr taumelnd als gehend, benommen von den schweren Medikamenten, schleppt er sich an den Bücherregalen im engen Kellerflur vorbei, bewältigt, das Geländer fest in der Hand, die sieben mit Gummimatten rutschfest gemachten Stein-Treppen hoch bis ins Parterre, rüttelt an der Haustür, die jede Nacht gleich zweifach verriegelt wird, damit er nicht fortläuft. In der Diele steht der Rollstuhl, an einen wie den gefesselt zu sein, da hatte er keinen Zweifel vor Jahren, für ihn kein Leben mehr sei, das sich zu leben lohne. Schon die Vorstellung, eines Tages inkontinent zu werden, weckte Verlangen nach dem Jenseits. Dann lieber tot. Aber in der Küche hat Margit, der Segen, die gestandene Schwäbin aus Mähringen am Fuße der Alb, seine Getreue für 12 Stunden am Tag, die nur ein Mensch ohne Herz in den Rang einer bloßen Pflegerin degradieren würde, vorsorglich ein paar Stücke Kuchen deponiert. Die findet er immer. Und Minuten später sind da nur noch viele wild verstreute Krümel.
Meist dreht er dann um und findet mit verklebten Fingern zurück in sein Bett.
Manchmal aber zieht er, im Treppenhaus vorbei am Sperrholz-Relief der Insel Sylt – ein Weihnachtsgeschenk meines Großvaters aus den 60er Jahren – in die nächste Etage. Dort ist in aller Regel Endstation. Meine Mutter, aufgewacht durch das abrupte Schweigen des Babyphons, spätestens aber durch das sich langsam nähernde Keuchen, fängt den nächtlichen Streuner ab, redet ihm, auch wenn es wieder einmal nach eins ist, gut und geduldig zu: Leg Dich wieder hin, sonst bist Du morgen müde. Der Sinn ihrer Worte erreicht ihn nicht mehr, doch der Tonfall scheint irgendwie vertraut, was nach einer Ehe, die 57 Jahre währt, nicht wirklich ein Wunder ist.
In so einer Nacht hat er keine Chance. Der Ausreiß-Versuch ist beendet. Wenn es Not tut, lässt er sich von meiner Mutter noch windeln. Viel sagt er nicht. Manchmal aber scheint er sich seiner Situation bewusst zu werden, vor ein paar Tagen hat er weinend auf das stinkende Zellstoffbündel gezeigt. Es ist schrecklich, dass Du das jetzt tun musst. Ob er wirklich genau weiß, was er da sagt? Gelegentlich beginnt er Sätze, die eine logische Fortentwicklung versprechen: Weißt Du, ich würde jetzt gern … Weiter kommt er nicht mehr, kein Anlass zur Hoffnung, da hat sich irgendwo im Hirn ein Überbleibsel der einstigen Sprechkunst, ein vage erinnerter Konjunktiv, eine syntaktische Hohlform gelöst, so wie es John Bayley in seiner Elegie für Iris, dem Erinnerungsbuch an seine Frau, die alzheimerkranke Schriftstellerin Iris Murdoch, frei von Illusion beschrieb. Die klar verständlichen Sätze wirken wie letzte Worte, gesprochen, bevor alle Lichter ausgehen.
Er zuckt mit den Schultern, die grau-blauen Augen fixieren nichts mehr, sie schauen ins Leere. Manchmal aber wird er wütend, presst eine schmerzverzerrte Grimasse ins schmal gewordene Gesicht. Er ballt die Fäuste, noch einmal ein Aufbäumen der Vitalität. Er schreit, haut und spuckt um sich. Die Verzweiflung mobilisiert ungeahnte Kräfte. Wenn er trifft, hat meine Mutter am nächsten Morgen blaue Flecken. Mit über 80 ist auch sie eine Frau, die geschlagen wird. Häusliche Gewalt steht am Ende dieser Vorzeige-Ehe. Er kann doch nichts dafür. Wie viel Kraft mag es sie gekostet haben, sich diesen Satz einzuhämmern, der Erleichterung schafft – und die Entmündigung des Partners für immer besiegelt. Die Krankheit hat längst auch jene Friedfertigkeit zerstört, für die sein Name einmal stand – und die er lebte. Aber diese Vorzeit hat er lange vergessen. Er kennt keinen Frieden mehr. Meine Mutter sagt verstörend direkt: Er ist nicht mehr der Mann, den ich liebte.
Es gibt aber auch jene ganz einsamen Nächte, da kommt er durch – bis ganz nach oben. Wenn, selten genug, die Müdigkeit auch über meine 81jährige Mutter triumphiert, dann stromert er bis ins Obergeschoss, das früher einmal sein Reich war. Das spartanische Schlafzimmer unter der Dachschräge, mit Bett, Tisch und einer Tafel Schokolade. Die riesige Bibliothek, das Herzstück des Hauses, in der sein Fernseher steht und sich auf rund 120 Regalmetern die Weltliteratur ballt. Das meiste auf nicht eben schonende Art durchgearbeitet, zigtausend Seiten, mit wilden Kugelschreiberstrichen, Kreuzen und Ausrufezeichen traktiert. Bloß kein Lineal! Wurde ein Exemplar über die Jahre mehrfach zur Hand genommen, dann griff er einfach zu einer anderen Farbe. Der Stechlin oder der Zauberberg sind, jedem Bibliophilen ein Gräuel, zu wahren Malbüchern mutiert: Grün, schwarz, blau, rot – und Bleistift natürlich. An den Seitenrändern Kürzel und Hieroglyphen, die kein anderer entziffern konnte als er.
Selbst der Balkon: ein literarischer Ort, den er stolz und ein ums andere Mal neu ergriffen jedem Besucher zeigte, weil man von dort bei gutem Wetter auf der einen Seite Hölderlins Alb, auf der anderen die Wurmlinger Kapelle sehen kann. Ihr wisst ja, Uhland. Und die Besucher nickten artig. Traurig tönt das Glöcklein nieder, schauerlich der Leichenchor; stille sind die frohen Lieder, und der Knabe lauscht empor. Er hat es hundertfach zitiert.
Die Privatbibliothek, sein alter ego, so hat er wörtlich gesagt, das Studierzimmer, das er so schmerzlich vermisste, wenn er länger als eine Woche nicht in Tübingen war: an diesen Ort, an dem er einst Hof hielt, Freunde und Bewunderer empfing und, wenn er endlich wieder allein war, seine imaginären Dialoge vorantrieb, die von ihm so geliebten Zwei-Personen-Stücke aus dem Totenreich, in denen er Lessing und Heine, Voltaire und Friedrich den Großen miteinander parlieren ließ, an diesen Ort, an dem für meinen Vater – mir eher fremd – Lesen und Leben verschmolz, die Existenz aus zweiter Hand über die aus erster triumphierte: Vergiss nicht, Tilman, Kant ist sein Lebtag nicht über Königsberg herausgekommen! – an diesen Zufluchtsort der Bücher, den, mag sein, einzig vertrauten Winkel in dem weiträumigen Haus mit seinen sieben Halbgeschossen hat er sich zurückgezogen, selbst als er vor zwei Jahren das Lesen langsam verlernte und nicht mehr in der Lage war, die komplizierte Verriegelung zu seinem Uhland-Balkon zu öffnen: Ich geh dann mal nach oben.
Heute weiß er nicht mehr, wo oben und unten ist, aber, wenn ihn niemand aufhält, dann findet er nachts den Weg in seine Bücherwelt, setzt sich noch einmal auf den schweren Sessel mit der hohen Lehne, den er sich zum 80. mit Schweinsleder hat überziehen lassen. Hier sprach er ex cathedra, hier hat er Hunderte von Fernsehstatements gegeben. Über Fußball und Fontane, über Jesu zeitlose Botschaft und Jenningers törichte Rede, über die Sympathisantenhatz im deutschen Herbst, über Beckmesser im Bayreuther Sommer, ja sogar über die Landung auf dem Mond. Mich schaudert bei dem Gedanken, er könne sich entsinnen, was er auf eben diesem Stuhl 1996 für die Totensonntags-Sendung im ZDF mit dem Ausdruck innerster Überzeugung formulierte: Ich glaube nicht, dass derjenige, der am Ende niemanden mehr erkennt von seinen nächsten Angehörigen, im Sinne des Humanen noch ein Mensch ist. Und deshalb denke ich sollte jeder bestimmen können, dann und dann möchte ich, dass ich sterben darf.
Noch so ein Archiv-Stück! Ich spule die Sätze, die mich traurig und die mich wütend machen, immer wieder auf meinem DVD-Player vor und zurück. Ja, mein Vater ist heute der, den Walter Jens auf seinem Lederthron 12 Jahre zuvor im dunklen Blazer beschrieb. Seine Angehörigen sind ihm entschwunden. Das einst so phänomenale Gedächtnis hat seine Funktion eingestellt. Er weiß nicht mehr, wer er ist. Aber ist er darum, wie in der flotten Fernsehthese behauptet, kein Mensch mehr, im Sinne des Humanen? Manchmal huscht ein Lachen über sein Gesicht, wenn wir uns sehen. Vor ein paar Wochen hat er mir beim Abschied wie früher ein leises Tschüß, mein Jung nachgerufen. Ob er sich in seinem Dunkel doch an seinen ältesten Sohn erinnert? Ich ertappe mich, wie ich mich an die Illusion klammere, dass ich ihm unverwechselbar geblieben bin, doch vermutlich wird es so grausam banal sein, wie es meine Mutter in ihrem STERN-Interview, diesem Dokument eines verstörenden Abschieds, gesagt hat: Ich bin ihm irgendwie vertraut, das spüre ich, so vertraut wie ein altes Möbelstück.
Er wird nicht mehr erwachen aus seinem tiefen Seelenschlaf. Er ist, wie er einst müde Zeitgenossen bildhaft zu charakterisieren pflegte, ein Schatten seiner selbst. Ihm, dem Gedächtniskünstler, kam sein kostbarstes Gut, das Arbeitskapital, die Macht der Erinnerung abhanden. Wie gottgleich gewiss war er sich, dass er noch auf dem Totenbett den Eimsbüttler Sturm, die Fußball-Idole seiner Hamburger Jugend, werde aufzählen können – und wie anders sollte es kommen. Die Computer-Tomographie zeigt düstere Flecken im Schädel: die untrüglichen Abbilder der Demenz, Plaques, Proteinablagerungen in den Nervenzellen, die das Gehirn eines Mannes zielstrebig zerstören, dem seine Mutter, Anna, die Volksschul-Lehrerin, von frühester Kindheit eingebimst hatte, dass er nur eine einzige Chance habe: Du bist unbeholfen, Du bist ängstlich, Du machst, gebückt durch Deine Asthma-Krankheit, eine schlechte Figur, also musst Du ein Geistesriese werden.
Das hat ihn geprägt. Er lebte mit den Gestalten, die ihn in seiner Bibliothek erwarteten, als seien diese aus Fleisch und Blut; er ist an mir verzweifelt, als ich mich mit elf Jahren noch immer nicht recht für Effi Briest und deren verhängnisvolle Affäre mit Major von Crampas zu erwärmen vermochte; er hatte viel Phantasie, eines aber hat er sich mit Gewissheit nicht vorstellen können, ein Dasein ohne Sprache, ohne polemischen Streit, ohne freundliches Gespräch – und ohne die Arbeit am Schreibtisch vor allem: Nicht-mehr-schreiben-zu-können heißt: Nicht-mehr-atmen-zu-können. Dann möchte ich tot sein. Wenn ich nicht mehr schriebe, es auf lange Zeit nicht mehr könnte, dann ist es Zeit zu sterben, ohne falsches Pathos.
Szenen meiner Kindheit werden wieder lebendig. Bei Tisch galt, schon in der Mietwohnung auf dem Waldhäuser, nur das eine Tabu: Weh Dir, Du schweigst! Wer stumm vor sich hinlöffelte, wurde wenig später – ob es sich nun um einen Spielfreund oder um einen Universitätsprofessor handelte – als dumpfer Zeitgenosse gebrandmarkt und brauchte nicht wiederzukommen. Stille, für meinen Vater, den Wortmenschen mit so viel Herz und Emotion, ein Alptraum! Das neugierige Parlieren galt als Synonym eines behaglichen Lebens. Fontanes gern zitierter Satz Wer am besten redet, ist der reinste Mensch hatte auch mich bald infiziert. Als der kaum Schulpflichtige einmal befragt wurde, was für ihn das Schönste sei, antwortete er: Unnerhalten. Was denn auch sonst!
Verpönt daheim war die Zurschaustellung des sich Anfang der 60er Jahre langsam abzeichnenden Wohlstands. Morgens wurde im Keller Kohle geschippt, um die Etagenheizung zu befeuern. Die Wohnungseinrichtung war vornehmlich praktisch. Im Hohlraum unter den harten, PVC-bezogenen Ess-Bänken ließen sich die Wintermäntel verstauen. Im Wohnzimmer stand eine Polstergarnitur in vor sich hinbleichendem Grün. Das schönste Möbel war der Fernsehapparat. Der Mann, der ab 1963 für die ZEIT unter dem Pseudonym Momos, als wiedergekehrter Antike-Gott des Tadels, das Programm von ARD und ZDF meinungsfreudig rezensierte, hielt den eigenen Bildschirm, als ob er sich seiner schäme, in einem Kiefernschränkchen versteckt, dessen Türen meist, zumal wenn Besuch kam, verschlossen waren. Dann sah das Teil wie eine heimliche Hausbar aus, die es bei Familie Jens natürlich nie gegeben hat.
Die Mahlzeiten: bescheiden, die Aufläufe meiner Mutter: gewöhnungsbedürftig, von der selbst eingekochten Marmelade zu schweigen. Bauernrauch-Mettwurst, entkernte Oliven am Abend: der Inbegriff von Luxus. Alkohol gestatteten sich die beiden allenfalls in winzigen Mengen. Drei Achtel Mosel, Brauneberger Juffer – der Hauswein Fontanes (wundert es wirklich?) – erfüllten bereits den Tatbestand der Maßlosigkeit und wurden am nächsten Morgen kleinlaut kommentiert. Sinnlos berauscht seien sie gestern gewesen.
Askese als Lebensprinzip. Selbstbescheidung noch im Sommerurlaub auf Sylt. Angestoßene Pfirsiche tun es auch. Für zwei Mark gab’s eine riesige Tüte bei Spielmann, dem sonst sündhaft teuren Obsthändler in Kampen. Sollen die Freunde und Bekannten, Augstein, Menge, Höfer und Co, doch getrost im Gogärtchen, in der Kupferkanne oder in Valeska Geerts Ziegenstall verkehren: Mutter stand in der engen Küche des Ferienhauses am Watt und hat die faulen Stellen aus dem Fruchtfleisch geschabt. Geschmeckt hat es übrigens trotzdem. Ein spätes Bemäkeln meiner Kindheit wäre grober Undank, nur ein wenig seltsam war sie halt doch.