Eliot Pattison
Die Asche der Erde
ROMAN
Aus dem Amerikanischen von Thomas Haufschild
Die Originalausgabe unter dem Titel
Ashes of the Earth
erschien 2011 bei Counterpoint, Berkeley.
ISBN 978-3-8412-0400-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Mai 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 bei Rütten & Loening, einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
© 2011 by Eliot Pattison
Published by Arrangement with Eliot Pattison
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Einbandgestaltung bürosüd, München
unter Verwendung eines Motivs von
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KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
EPILOG
ANMERKUNG DES VERFASSERS
Die Gesichter der vielen Kinder, die er nach ihrem Freitod vom Ende eines Stricks geschnitten oder am Fuß einer Klippe geborgen hatte, ließen Hadrian Boone nicht mehr los. Sie suchten seinen unruhigen Schlaf heim und schlichen sich dermaßen häufig in irgendwelche grauenhaften Tagträume, dass er nun, als oberhalb auf dem Hügelkamm plötzlich ein blondes Mädchen mit einem Seil auftauchte, unschlüssig zögerte und sich fragte, ob auch das nur eines seiner Hirngespinste war. Dann blieb sie stehen und streckte die Hand nach einem kleineren rothaarigen Mädchen hinter ihr aus. Hadrian ließ die Schaufel fallen, mit der er gerade die alte Senkgrube der Kolonie leerte, raffte die Kette auf, die um seine Fußgelenke lag, und rannte los.
Stolpernd hastete er den steilen Hang der Senke hinauf, ohne sich um den überraschten Ausruf seines schläfrigen Bewachers und das wütende Schrillen der Pfeife zu kümmern. An Wurzeln und Schösslingen zog er sich bis zur Gratlinie empor, bog dort auf den Pfad ein und rechnete damit, dass jeden Moment ein Knüppel auf seinen Rücken hinabsausen würde. Dann ertönte von der anderen Seite des Kamms ein spitzer Schrei und ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er erreichte das offene Felssims. Ein Ast ragte über die Kante. An ihm baumelte ein Seil. Hadrian sprang vor und hievte das Kind mit verzweifeltem Ächzen nach oben. Dann hielt er verblüfft inne. Vor ihm auf dem Boden lag kein Kind, sondern ein alter Mantel, den man über einen Rahmen aus Stöcken gehängt hatte. Die blicklosen Augen eines Kürbiskopfes starrten ihm entgegen, und das vermeintliche Haar war getrockneter Weizen.
Das Kreischen erklang erneut, und Hadrian erkannte mit einem Mal, dass es sich um Gelächter handelte. Die beiden Mädchen hinter ihm waren ganz begeistert, weil er auf ihren Streich hereingefallen war. Weitere Kinder prusteten los, mindestens ein halbes Dutzend, verborgen im Schatten der Bäume.
»Schluss damit, Sarah«, tadelte Hadrian das ältere Mädchen und stand auf. »Nicht dieses Spiel. Ihr habt bei mir Besseres gelernt.« Er sah nun, dass an die Brust der Puppe ein Foto geheftet war, eine Werbeanzeige aus einer längst vergessenen Zeitschrift: Eine Frau fuhr ein rotes Cabrio voller fröhlicher Kinder, die Hamburger aus Tüten aßen. Viele Kinder hielten derartige Fotos für den Beweis, dass es auf der anderen Seite ein Paradies gab, und versuchten daraufhin, in das ersehnte Himmelreich zu gelangen. In der Kolonie Carthage war der Privatbesitz von Büchern und Zeitschriften aus dem letzten Jahrhundert schon seit Langem untersagt, weshalb die Kinder sie nur umso eifriger horteten. Es gab keine Autos mehr und auch keine Drive-in-Restaurants mit Fast Food, und die einzige Religion der meisten Familien war diejenige, die die Kinder sich anhand der verbotenen Annalen einer verlorenen Welt irgendwie selbst zusammenreimten.
»Was sollen die Steine?«, fragte Hadrian und bückte sich, um den Kürbiskopf herumzudrehen. Die Augenhöhlen fielen an der Figur als Erstes auf; in ihnen steckten blaue Kiesel als Pupillen.
Sarah schaute zu einem schmächtigen Jungen im Hintergrund, der größer als die anderen war. »Dax hat gesagt, seine Augen würden verschwinden. Das hat er bei den anderen gesehen, die hinübergehen. Er sagt, du nimmst deine Augen mit auf die andere Seite, denn dort lebt deine Seele.«
»Sein oder Nichtsein, Amen!«, rief das kleinere Mädchen dazwischen.
»Sein oder Nichtsein, Amen!«, wiederholten die Kinder unter den Bäumen sogleich.
Diese sonderbare, beflissen vorgetragene Gebetsformel ließ Hadrian erschaudern. Er setzte sich auf einen Baumstumpf. Seine Verzweiflung war wie eine körperliche Schwäche. Er hatte sich dagegen ausgesprochen, der jüngeren Generation die Wahrheit vorzuenthalten, hatte argumentiert, gefleht und protestiert, bis er von seinem Posten als Schulleiter der Kolonie abgesetzt worden war. Wenn man der Jugend keine Erklärungen für ihre Welt lieferte, würde sie sich stets eine eigene Wahrheit erschaffen. Für Hadrian waren die Kinder von Carthage inzwischen auch nur noch eine Schar von Gefangenen. Er warf einen Blick auf Dax und befürchtete das Schlimmste, denn der Junge schien sich mit Selbstmorden viel zu gut auszukennen. Dann musterte er kopfschüttelnd die Mädchen und fing an, die Puppe auseinanderzunehmen.
Sarah und ihre jüngere Schwester setzten die gekränkten Mienen auf, die ihm aus dem Klassenzimmer noch bestens vertraut waren. »Wir haben etwas Besonderes für Sie gefunden, Professor«, sagte Sarah und gab ihm einen kleinen Zylinder aus gerollten Ahornblättern, verschnürt mit einer Ranke. »Ich wollte es Ihnen eigentlich heute Abend ans Gefängnisfenster bringen, aber …«
Der Knüppel traf Hadrians Schulter wie ein Hammer und zwang ihn auf die Knie. Der zweite Hieb ließ ihn auf die Hände zusammensacken.
»Nein!«, rief das ältere Mädchen, senkte den Kopf und ging auf den Aufpasser los, der hinter Hadrian aufgetaucht war.
»Weg da, verdammtes Gesindel!«, knurrte Sergeant Kenton und verpasste dem Mädchen, das ihn gegen einen Baum drückte, eine schallende Ohrfeige. »Ich habe euch schon gestern Abend gesagt, dass es mit euren Banden ein Ende hat! Ich werde sie finden, eure …« Da erkannte er Sarah, und sein Zorn verwandelte sich erst in Verwirrung, dann in Angst. »Das war nicht so gemeint«, murmelte er. »Die Häftlinge dürfen nicht einfach weglaufen, Miss. Ihr wisst doch, dass Mr. Boone vom Gouverneur wegen Zerstörung von öffentlichem Eigentum ein weiteres Mal zu Zwangsarbeit verurteilt wurde.«
Sarah richtete sich auf und rieb sich die gerötete Wange. »Und was sollen wir unserem Vater erzählen, wenn der Häftling, den er verurteilt hat, nicht arbeiten kann, weil Sie ihn verprügelt haben?«, fragte sie mit der strengen Stimme einer Erwachsenen.
Kenton bedachte Hadrian mit hasserfülltem Blick. Sie wussten beide, dass er bereit wäre, den getrockneten Kot ab jetzt eigenhändig zu schaufeln, wenn er dafür nur die Gelegenheit erhielt, Boone mit seinem Knüppel zu malträtieren. Der stämmige Sergeant schluckte vernehmlich und nickte dem Mädchen widerwillig zu. Gouverneur Lucas Buchanan war der mächtigste Mann der Kolonie Carthage – und der ganzen Welt, soweit die Leute wussten –, aber in seinem eigenen Haus hatten die Töchter das Sagen. »Gesetzesbrecher stehen in der Schuld der Gemeinschaft«, murmelte Kenton. Das war die sicherste aller möglichen Antworten, denn es stand wortwörtlich über dem Eingang des Gerichtsgebäudes der Kolonie.
Hadrian hielt einen Moment lang seine schmerzende Schulter umklammert, stand dann auf und wischte sich vertrocknete Blätter und Erde von der Kleidung.
»Dora, hast du gewusst, dass Sergeant Kenton früher mal Schuhverkäufer war?«, flüsterte Sarah ihrer Schwester übertrieben laut zu.
Das kleinere Mädchen lachte spöttisch, hob die Halskette an und schüttelte das Amulett in Kentons Richtung, der instinktiv zurückzuckte. Es war die Rassel einer der einheimischen Diamantklapperschlangen, ein beliebtes Schmuckstück bei den Jugendbanden.
Der Polizist ballte die Fäuste und warf Hadrian erneut einen wütenden Blick zu, als müsse er derjenige gewesen sein, der die geheime Vergangenheit des Sergeants ausgeplaudert hatte. Kenton neigte vor Sarah unterwürfig den Kopf, wich zwei Schritte zurück, sprang dann plötzlich ins Unterholz und packte den schlaksigen Jungen an den Haaren. Dax versuchte sich zu befreien, aber Kenton schlug ihm brutal ins Gesicht. »Noch eine Woche und du bettelst bei den Halbtoten!«, herrschte er den Jungen an.
Dax’ Nase blutete stark, doch er strich sich nur das struppige blonde Haar nach hinten und grinste, während Kenton den Rückweg antrat. »Schakale laufen mit Geistern!«, rief Dax ihm hinterher. »Passen Sie gut auf Ihre Augen auf, Sergeant!«
Hadrian fand diese bizarren Worte genauso verstörend wie das Verhalten des Polizisten. Enttäuscht wandte er sich den beiden Mädchen zu. »Hört auf, euch mit der anderen Seite zu beschäftigen«, sagte er, wobei die Worte ihm fast im Hals steckenblieben. Nach dem letzten toten Kind hatte er eine Stunde lang nicht aufhören können zu weinen. Er wies auf die goldenen Getreidefelder und die dahinter ausgestreckt daliegende Stadt aus Holzhütten, Steinhäusern und Wellblechbaracken. »Das da ist euer Paradies.« Er hob die Kette auf und folgte seinem Bewacher.
Fünf Minuten später stand er wieder in der Grube voller getrockneter Exkremente, schaufelte den Dünger in einen verbeulten Korb und schleppte diesen dann zu dem Wagen, der ihn auf die Felder transportieren würde. Nachdem Hadrian sich vergewissert hatte, dass Kenton nirgendwo zu sehen war, zog er Sarahs geheimes Bündel hervor, wickelte es aus und fand darin mit jäher Freude ein halbes Dutzend herausgerissener Buchseiten vor. Er ging eilig zu dem großen flachen Stein im Schatten, wo zehn ähnliche Blätter zum Trocknen lagen. Er hatte sie in dem Klärschlamm gefunden und in dem Eimer gewaschen, der eigentlich sein Trinkwasser enthielt. Hadrian lehnte sich gegen einen Felsen und begutachtete die Schmuggelware, die Sarah und Dora ihm gebracht hatten. Drei Seiten aus einem Geschichtstext und drei kostbare bunte Landkarten voller Städte, Provinzen und Länder, die heutzutage nur noch in vereinzelten Erinnerungen existierten. Bekümmert schaute er zu manch anderen Blättern, die um ihn herum im getrockneten Schlamm steckten und unrettbar beschädigt waren. Bevor es die neue Papiermühle gegeben hatte, in der alte Bücher recycelt werden konnten, hatte man die Seiten direkt als Toilettenpapier benutzt. Hier im Dreck lagen die letzten Worte toter Dichter und Geschichten ganzer Zivilisationen, deren Namen nie mehr laut ausgesprochen werden würden. Außerdem lagen hier viele nutzlose kleine Gegenstände wie elektrische Uhren, Abspielgeräte für Musik und Haartrockner, denen man alles Metallische herausgerissen und sie dann weggeworfen hatte. Das Ende der Welt fand kein Ende. Das meiste war vor fünfundzwanzig Jahren binnen eines wenige Tage dauernden Alptraums ausgelöscht worden. Der Rest hingegen verging nur ganz langsam, Bruchstück für winziges Bruchstück, so wie hier.
Hadrian starrte eine der Landkarten an. Sie zeigte den Ostteil der Vereinigten Staaten. Er konnte noch immer Leute benennen, die er in einem Dutzend der Städte gekannt hatte, wenngleich ihre Gesichter nur noch verschwommene Schemen für ihn waren. Sein Finger berührte einen Städtenamen nach dem anderen, während sein Mund die Worte formte, wie um sie am Leben zu erhalten. »Baltimore«, flüsterte er. »Portland, Washington, Poughkeepsie, Philadelphia …«
Dann geschahen zwei Dinge nahezu gleichzeitig. Zunächst kam ein wütender Sergeant Kenton mit einer frischen Hickorygerte aus dem Unterholz gestürmt und zeigte auf Hadrians illegalen Schatz, unmittelbar gefolgt von Sarah und ihrer Schwester, die sich ihm in den Weg stellen wollten. Doch der Zorn des Polizisten hatte die Oberhand gewonnen, und er ließ sich nicht länger von den Mädchen einschüchtern. Er wich ihnen aus, erreichte Boone mit zwei großen Schritten und schlug ihm die Gerte quer über das Gesicht, das sofort zu bluten anfing. Hadrian krümmte sich und ließ die Prügel über sich ergehen. Bei jedem einzelnen Hieb zuckte er zusammen, aber Widerstand hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Sein vom Schmerz getrübter Blick fiel auf die Mädchen. Erst nach einem Moment wurde ihm klar, dass die beiden offenbar versuchten, eine Waffe aus dem getrockneten Schlamm zu ziehen, einen dicken Stock.
Dora, die Achtjährige, zerrte so sehr daran, dass sie zurücktaumelte, als der Stock sich löste. Kenton hielt inne, als würde er darüber nachdenken, ob er der Tochter des Gouverneurs helfen sollte. Dann erhob sich aus dem Boden etwas Grauenhaftes, das durch den Stock unter der Oberfläche gehalten worden war. Dora kreischte auf und kroch auf allen vieren davon. Sarah schrie entsetzt und versteckte sich hinter Hadrian. Ein Arm, ein schwarz verfärbter, runzliger Arm kam aus dem Schlamm zum Vorschein und streckte wie Hilfe suchend die grässlichen Finger aus.
Lucas Buchanan, der Gouverneur von Carthage, trug stets schiefergraue Anzüge. Sie stammten aus der Anfangszeit der Kolonie, als man hektisch alle Kaufhäuser und Lager geplündert hatte. Hadrian beobachtete verunsichert, wie der hochgewachsene schlanke Mann von seinem Schreibtisch aufstand und sich das Jackett anzog, bevor er etwas sagte. Das war immer ein schlechtes Zeichen.
»Wir haben dich nur aus einem einzigen Grund nicht dauerhaft verbannt«, verkündete Buchanan, während er vor dem Fenster seines im ersten Stock gelegenen Büros auf und ab ging. Er schien sich nur mit Mühe beherrschen zu können. »Falls wir heute darüber abstimmen würden, würde der Rat ein wertloses Subjekt wie dich bedenkenlos fallenlassen. Man würde dich in die Camps oder den Wald schicken, wo du dann mit den anderen Ausgestoßenen dahinsiechen müsstest.« Er blieb stehen und rückte eines der vielen sorgfältig ausgewählten Fotos gerade, die an der Wand hingen. Abraham Lincoln und seine Generäle flankierten Theodore Roosevelt, der mit einem toten Büffel posierte. Das Bild eines geschäftigen Hafens mit Rahseglern und Dampfbooten hing über einem von Thomas Edison und seinem frühen Phonographen. Buchanan verfolgte entschlossen das Ziel, die letzten paar Jahrzehnte vollständig vergessen zu machen.
Hadrian biss die Zähne zusammen und reagierte nicht auf die Erwähnung des fünfzig Kilometer entfernten Gettos. Die verwahrlosten Camps dienten all jenen als Zwangsunterkünfte, die die Strahlung und die anderen Krankheiten der Apokalypse überlebt hatten. Man bezeichnete die Ausgestoßenen gemeinhin als Briketts – und auf manch andere Weise. Noch eine Woche und du bettelst bei den Halbtoten, hatte Kenton dem Jungen Dax angedroht. Sollte das heißen, man wollte sich die Anführer der Banden schnappen? Die Camps würden für den Halbwüchsigen die Hölle auf Erden bedeuten.
»Doch Jonah besteht darauf, nur mit dir zusammenzuarbeiten, da nur du wirklich verstehen würdest, was er tut. Ich habe ihn daran erinnert, dass viele von uns in der Lage sind, Blaupausen zu lesen und Entwürfen zu folgen. Aber der alte Mann setzt dann bloß sein verfluchtes Mönchslächeln auf und sagt: du oder keiner. Als wäre er unser Zauberer und du der einzige Lehrling, der seine Runen entziffern kann.« Die Verärgerung war dem Gouverneur deutlich anzuhören. »Also wirst du in seine Obhut entlassen, sobald du deine Strafe verbüßt hast«, fügte er hinzu.
Schon die Erwähnung des alten Mannes, der für Hadrian wie ein Vater geworden war, linderte seinen Schmerz. Doch nach einem Moment zog er die Augenbrauen hoch. Seit Hadrian aus dem Rat gedrängt und von seiner Aufgabe als Schulleiter entbunden worden war, hatte Buchanan ihn beständig schikaniert, ihn aus seiner Unterkunft in der Schule werfen und wegen Kleinigkeiten verhaften lassen. »Warum tust du das für mich?«
»Das sagte ich doch schon. Damit du Jonah bei den öffentlichen Bauvorhaben behilflich bist. Er hat dem Rat eine lange Liste mit Projektvorschlägen unterbreitet. Er verspricht für die nähere Zukunft eine Ziegelfabrik und sagt, er könne innerhalb der nächsten fünf Jahre sogar eine Bahnlinie zu den Minen errichten.«
»Ich kenne dich zu gut.« Hadrian stellte sich so hin, dass er die halb offene Tür hinter sich im Auge behalten konnte. Angesichts des Toten hätte hier eigentlich hektische Betriebsamkeit herrschen müssen. Schaudernd entdeckte er mehrere schmutzverkrustete Pistolen, die an Gürteln von einem Türhaken hingen und ihrer Instandsetzung harrten.
Der Gouverneur nahm eine marmorne Schachfigur, einen Elefanten mit einem Turm auf dem Rücken. Es war einer der zahlreichen zufälligen Gegenstände, die Buchanan sammelte. Als er schließlich sprach, war sein Blick auf den Spielstein gerichtet. »Ich habe erfahren, dass er ein geheimes Tagebuch führt. Wir haben es bislang nicht finden können.«
»Vielleicht setzt er einfach nur deine Amtszeit in einen historischen Kontext. Mir fällt da in erster Linie der Feudalismus ein.«
Buchanans Lächeln war dünn wie eine Rasierklinge. »Deine Meinung interessiert längst keinen mehr. Doch falls der geachtete Jonah Beck eine so leichtsinnige Feststellung aufschriebe und sie den Weg in unsere Zeitung fände …«
»Ich soll ihn für dich ausspionieren?«
Der Gouverneur spielte an dem Schalter einer alten Schwanenhalslampe herum. Das Regierungsgebäude zählte zu den wenigen Häusern der Kolonie, die an das Stromnetz angeschlossen waren. Es wurde von Fahrradgeneratoren gespeist, die Jonah entworfen hatte und die in den dunkleren, kälteren Monaten von Strafgefangenen bemannt wurden. »Wir wollen ihn nur vor sich selbst schützen. Er vertraut dir. Ich möchte lediglich von Zeit zu Zeit einen Bericht erhalten.«
»Ich weigere mich.« Ein Tropfen Blut fiel von Hadrians Wange auf seinen zerlumpten Schuh.
Buchanan zog das Jackett zurecht, das wie ein Sack an seinem knochigen Körper hing. In den ersten Jahren hatten alle wie Vogelscheuchen ausgesehen, aber er zählte zu denen, die es nicht geschafft hatten, danach wieder an Gewicht zuzulegen. »Wie viele Menschen gibt es noch in der bekannten Welt, Hadrian? Neun- oder vielleicht zehntausend?«
»Du lässt wie immer die Leute in den Camps und im Wald außer Acht. Mit denen dürften es eher zwölftausend sein.«
Der Gouverneur grinste, als würde der Einwand ihn belustigen. »Und du warst mal mit mir ganz oben, nicht nur ein Gründer, sondern ein Führer.«
»Ich kann mich nicht entsinnen, dass es uns gekümmert hat, wie man uns nennt. Wir waren zu sehr damit beschäftigt, die Menschen am Leben zu erhalten.«
»Du hast das Überlebensspiel am besten von uns allen beherrscht. Und jetzt sieh dich an. Du kannst nicht mal getrocknete Scheiße schaufeln, ohne Ärger zu machen.« Buchanan deutete auf einige Unterlagen, die von einer Büroklammer zusammengehalten wurden. »Falls ich genügend Papier hätte, um eine richtige Akte über dich anzulegen, wäre dieser Stapel dreißig Zentimeter dick. Du bist sogar als Versager ein Versager. Wenn ich dich in diesem Augenblick verbannen würde, gäbe es so gut wie keinen Protest. Akzeptiere meine Bedingungen, oder ich lasse dich für vogelfrei erklären. Dann gibt es keine Rückkehr mehr. Du wirst dich nie wieder an der Schulter des alten Mannes ausheulen können. Und du lässt endlich meine Kinder in Ruhe.« Der letzte Satz klang besonders nachdrücklich.
Hadrian hatte derweil ein Foto gemustert, auf dem ein alter Lastkahn von einem Maultiergespann gezogen wurde. »Ist es das, worum es in Wahrheit geht? Deine Töchter haben mit einer Schlinge hantiert.«
»Das war nur ein Spiel.«
»Du und ich haben im Laufe der Jahre eine Menge Kinder beerdigt, Lucas. So fängt es an. Sie gewöhnen sich an die Utensilien, an den Ablauf. Früher sind Kinder den Pfadfindern oder einer Fußballmannschaft beigetreten. In deiner Kolonie schließen sie sich Selbstmordkulten an. Du hast doch sicherlich nicht vergessen, wie der Hals eines kleinen Mädchens aussieht, das sich erhängt hat. Die hervorgequollenen, überraschten Augen, das Lachen, das für immer erstickt wurde. Die Kinder halten nicht in eine schönere Welt Einzug, sondern bloß in unsere Alpträume. Jeder ihrer Grabsteine ist ein Mahnmal unseres Versagens.«
Buchanan umklammerte die Schachfigur so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. »Du bist seit dem Tag, an dem man dich aus dem Rat geworfen und als Schulleiter gefeuert hat, nicht mehr für meine Kinder verantwortlich«, sagte er kalt. »Akzeptiere meine Großmut, oder ich setze noch heute die Papiere auf, um dich verbannen zu lassen. Falls du es zu weit treibst, schicke ich Jonah ebenfalls ins Exil. Ich kann ihm nicht trauen, wenn ich nichts gegen ihn in der Hand habe. Bist du bereit, dich während des Winters um ihn zu kümmern, in irgendeiner Laubhütte in den Camps? Zuerst kommen die Erfrierungen, dann die Frostbeulen. Nach zwei Monaten wird er aussehen, als hätte er die Strahlenkrankheit.«
Hadrian starrte die kleine Blutlache auf seinem Schuh an. In diesem Moment sehnte er sich fast nach den Camps, wo er in einer verqualmten Hütte sitzen und einem haar- und zahnlosen Barden zuhören würde, der die Rocksongs ihrer Jugend sang. Doch der Gedanke, für immer von Jonah getrennt zu sein, war unerträglich, und der alte Mann könnte nicht mal einen einzigen Wintermonat in den Camps überleben. Hadrian hob den Kopf, sah in Buchanans eisig und erwartungsvoll grinsendes Gesicht und nickte langsam.
Der Gouverneur setzte sich zufrieden auf seinen Stuhl und nahm einen großen silbernen Ring vom Schreibtisch. Hadrian erkannte ihn wieder. Noch vor einer Stunde hatte der Ring an einem Finger der runzligen Hand in der Senkgrube gesteckt.
»Wir hätten dieses Gespräch nächste Woche führen können, wenn meine Strafe verbüßt ist«, stellte Hadrian fest, während sein Magen sich zusammenzog. Buchanan konnte derzeit mehr Druck auf ihn ausüben und würde gleich etwas Dringlicheres von ihm verlangen.
»Ich will, dass die Leiche entfernt wird.«
Hadrian schloss kurz die Augen. Dann sah er Buchanan durchdringend an. »Dazu benötige ich mehr als eine Schaufel und einen Korb. Sag Kenton, er soll morgen Werkzeug mitbringen. Und einen Sarg, sofern er einen auftreiben kann.« Hinter dem Schreibtisch hing eine Tafel mit der Aufschrift Wir bestehen durch Stärke. So hatte damals während des ersten Wahlkampfs Buchanans politischer Slogan gelautet. Er war zu seiner persönlichen Überzeugung geworden.
»Du hast mich falsch verstanden. Noch heute. Nur du allein. Ich werde Kenton anweisen, dich nach dem Abendessen bis Mitternacht auf freien Fuß zu setzen. Nimm dir aus dem Gefängnisschuppen eine Laterne und das nötige Werkzeug mit.«
Früher war Hadrian in diesem Büro willkommen gewesen. Früher hatten die beiden Männer einander vertraut. Im Laufe der Jahre hatten sie sich verändert, hatten zu überleben versucht, hatten sich jeder auf eigene Weise bemüht, aus dem Schutt der Welt die Kolonie aufzubauen. Überleben, so hatte Boone gelernt, bedeutete nicht nur Anpassung, sondern Wandlung. Wem das nicht schon früh gelang, der starb. Man musste tausendfach beiseiteschieben, was einen emotional zu überwältigen drohte, und dankbar für jede Narbe sein, die die einst weiche Seele davontrug. Jeder, der aus der alten Zeit noch übrig war, hatte mit seinem früheren Ich praktisch nichts mehr gemeinsam. Sie beide befanden sich nun im letzten Stadium ihrer Beziehung. Buchanan hatte gewonnen, und Hadrian wurde zu seinem geheimen Sklaven.
»Es war ein großer Kerl. Allein schaffe ich das nicht.«
»Aber er ist schon lange tot«, wandte der Gouverneur ein. »Es sind wahrscheinlich nur noch … Der Leichnam ist gewiss nicht mehr vollständig.«
»Der Schlamm hat ihn konserviert, wie bei diesen alten Moorleichen.«
Buchanan verzog das Gesicht und drehte sich zum Fenster, um den Blick über den Hafen und das riesige Binnenmeer schweifen zu lassen. Schließlich wandte er sich einem Porträt von Sarah und Dora zu. »Ich liege manchmal wach«, räumte er ein, kaum lauter als ein Flüstern, »und mache mir Sorgen, dass die beiden glauben könnten, wir würden die Welt ein weiteres Mal zerstören.«
»Wie denn das?«, entgegnete Hadrian. Dies war der Endpunkt der tausend Unterredungen, die sie im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte geführt hatten, eine Facette der seltsamen, vielschichtigen Persönlichkeit, die aus Buchanan geworden war. In der Öffentlichkeit prügelte er nur zu gern auf Hadrian ein, machte ihn fertig, drohte mit Verbannung, doch unter vier Augen wurde er bisweilen wieder zum einsamen Witwer und ließ sich so wie früher offen und ungeschützt auf ein Gespräch ein.
»Sarah hat neben ihrem Bett etwas an die Wand geschrieben. Wir wissen wohl, was wir sind, aber nicht, was wir werden können. Ich habe sie gefragt, woher sie das hat, aber sie wollte es nicht sagen. Was bedeutet, dass es von dir stammt.«
»Zu viel der Ehre. Ich habe ihr lediglich nahegelegt, mehr Shakespeare zu lesen.« Die Werke des großen Dichters waren nicht von der modernen Welt vergiftet und hatten sich während der frühen Bergungsarbeiten in großer Zahl angefunden. Heutzutage zählten sie zu den genehmigten Büchern der Kolonie und füllten mehrere Regale der öffentlichen Sammlung. »Findest du es nicht auch faszinierend, dass ausgerechnet Hamlet eine solche Wirkung auf sie hat? Der Untergang einer Königsfamilie.«
Buchanan musterte ihn wütend. »Du wirst die Worte, die du am Platz zerstört hast, wieder auf die Mauer malen«, knurrte er. »Sag sie laut auf. Ich möchte, dass du sie dir gründlich einprägst, damit du sie vor den versammelten Kindern wiederholen kannst.«
Hadrian erwiderte den schwelenden Blick. »Meine Strafe lautete vier Wochen Zwangsarbeit. Es war nie die Rede davon, dass ich Teil deiner Propagandamaschinerie werde.«
»Habe ich die zusätzliche Woche für deinen heutigen Fluchtversuch noch nicht erwähnt?«
»Ich weigere mich.«
»Ich sehe den alten Jonah schon vor mir, mit Frost im Haar und klappernden Zähnen.«
Hadrian senkte den Kopf. »Wir haben unsere Geschichte nicht verloren. Wir sind von ihr befreit.«
Ein siegreiches Lächeln teilte die harten Züge des Gouverneurs. Er wandte sich erneut um, diesmal zu einer Rauchfahne am nördlichen Horizont, wo ein Dampfboot seine Netze nach einem der riesigen Fischschwärme ausgeworfen hatte. »Sei bei Einbruch der Dunkelheit an der Grube. Du wirst Hilfe haben«, sagte Buchanan und wies auf die Tür.
Auf dem Flur war niemand. Hadrian ging zum vorderen Fenster und schaute hinab auf die Straße. Kenton, der offenbar annahm, dass die Audienz wesentlich länger dauern würde, drehte sich neben einer Reihe von Fahrrädern soeben eine Zigarette und betrachtete mürrisch eine Gruppe Halbwüchsiger bei einem der Pferdefuhrwerke, mit denen die Straßen gereinigt wurden. Hadrian beobachtete den Sergeanten eine Weile. Bei dem Gedanken an die bevorstehenden Prügel wurde ihm ganz anders. Dann lief er eilig die Treppe nach unten, stahl von einem Haken einen Hut, um sein Gesicht zu verbergen, und kletterte aus einem der hinteren Fenster.
Zehn Minuten später stand er im Eingang des zweigeschossigen Holzhauses, das wie eine große Scheune angelegt war und die Bibliothek der Kolonie beherbergte. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht, hielt auf der staubigen Straße nach den braunen Uniformen von Buchanans Polizisten Ausschau, zog sich den Hut tiefer in die Stirn und trat ein. Er schlich sich in einen Seitenraum, warf einen zufriedenen Blick auf die Regale voller Bücher, die von den Zensoren freigegeben worden waren, und suchte dann die Stufen und den oberen Treppenabsatz nach einem etwaigen Wächter ab, bevor er nach oben stieg. Zur Tarnung nahm er einen Band von Dickens mit.
An der Schwelle der großen Kammer blieb er stehen und sah durch die offene Tür zu einem Tisch. Dort saß ein schmächtiger Mann, der einst der Leiter einer großen Universität gewesen war. Der Anblick des graubärtigen Alten, der mit seiner Feder ein dickes handgeschöpftes Blatt Papier füllte, war stets Balsam für Hadrians gepeinigte Seele. Die Seite war Teil von Jonahs geheimer Chronik des Lebens in der neuen Welt, und immer wenn Hadrian ihn bei der Arbeit an diesem Projekt vorfand – oft des Nachts bei Kerzenschein –, kam er ihm wie ein Mönch vor tausend Jahren vor, der ein Manuskript für die Ewigkeit illuminierte. Während er nun seinen Hut auf einen Stuhl legte und sich leise näherte, erkannte er, dass sein Freund das Bild eines kleinen Segelboots am unteren Seitenrand vervollständigte. Die oberen Ecken des Blattes wurden von grünen Ranken voller Kürbisse geziert, die unteren von Herbstblumen, verbunden durch kunstvolle Schnörkel.
Jonah blickte mit sanftem Lächeln auf. »Dürfen die Zwangsarbeiter jetzt etwa Teepause machen?«, fragte er mit gespielter Entrüstung, deutete auf einen Hocker neben sich und setzte die Arbeit fort. Hadrian schaute zur Tür. Er wusste, dass ihm höchstens eine Viertelstunde blieb, bis Kenton und seine Männer nach ihm suchen würden. Nervös setzte er sich für einen Moment und schlenderte dann in der Kammer umher, die ihm so lieb wie kein anderer Ort der Kolonie war. Er studierte die ausgestopften kleinen Waldsäugetiere in einem der Regale und das Buch des alten chinesischen Dichters Su Tung-po, das neben einigen getrockneten Blumen in einem der anderen Fächer lag. Als er vor dem hölzernen Versuchsmodell eines astronomischen Observatoriums stand, einschließlich eines schwenk- und drehbar gelagerten Teleskops, musste er unwillkürlich daran denken, dass der Gouverneur nach öffentlichen Bauvorhaben zur Beflügelung seiner neuen Zivilisation verlangte, während der Zauberer von Carthage sich nach den Sternen sehnte.
Dann merkte Hadrian, dass Jonah ihn geduldig beobachtete. Die Seite war fertig.
»Du musst ein zweites Tagebuch anfangen, mein Freund«, verkündete Hadrian. »Irgendwas Einfaches, mit Entwürfen möglicher Gebäude, Wetterbeobachtungen, Notizen über die Ernteerträge und etwas maßvoller Kritik an der Regierung, damit es authentisch wirkt.«
Jonah neigte den Kopf zur Seite, wie ein neugieriger Vogel. »Der Gouverneur hat mit dir geplaudert.«
Hadrian sah erneut auf die frisch illustrierte Seite. Ließ Jonah aus Vorsicht vor Buchanan immer nur ein Blatt seiner Aufzeichnungen offen herumliegen? »Der Gouverneur wird einen Weg finden, mich zu verbannen«, erwiderte er und biss die Zähne zusammen. Es versetzte ihm einen Stich, dass er von dem gütigen alten Mann getrennt sein würde, dessen Intellekt und heiteres Gemüt ihm viele Jahre lang eine Stütze gewesen waren.
»Der Gouverneur ist vor allem ein Praktiker«, stellte Jonah mit spöttischem Lächeln fest. »Du warst letzten Monat dabei, als wir die öffentlichen Bäder eröffnet haben. Die Leute waren bereit, ihm die Hand zu küssen, weil jeder Block jetzt fließendes Wasser hat. Ich habe ihm Pläne für eine neue Getreidemühle gezeigt, ein dampfbetriebenes Sägewerk und sogar eine Bahnlinie. Solange wir immer neue Bauprojekte in Angriff nehmen, bleibt er im Amt. Und ich habe ihm erklärt, dass ich unmöglich ohne dich zurechtkomme. Falls er dich weiterhin wegen irgendwelcher Kleinigkeiten verhaften lässt, soll er mich auch in eine Zelle stecken, hab ich zu ihm gesagt, denn wir beide müssen zusammen sein.« Er hielt inne, verzog das Gesicht und massierte sich mit langen knochigen Fingern die Schulter. »Ich altere schnell, meine Arthritis wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich brauche deine Hände und Beine. Wir beide werden hier die Detailplanung erledigen. Dann schaue ich dir dabei zu« – Jonah zeigte auf das Teleskop, das auf der Veranda vor seiner Werkstatt stand –, »wie du die Arbeiten leitest. Man wird dich rehabilitieren, glaub mir. Wir erweitern für dich meine Hütte um einen Anbau und bringen den Grasmücken bei, uns aus der Hand zu fressen. Dann ist alles wieder wie früher.«
Die Worte ließen Hadrian seltsam melancholisch werden. Er blickte hinaus auf das glitzernde Binnenmeer. »Ich würde mich selbst nicht wiedererkennen«, flüsterte er.
Jonah hörte ihn dennoch. »Im Innern sind wir noch dieselben«, sagte er und neigte abermals den Kopf. »Was ist heute passiert?«
»Wir sind in der alten Senkgrube auf eine Leiche gestoßen.«
Jonah zuckte die Achseln. »Die Toten dürften dir doch gewiss keine Angst mehr einjagen.«
»Nein«, räumte Hadrian ein. »Was mich erschreckt hat, waren die Kinder. Sie haben schon wieder mit einer Henkerschlinge herumgespielt.«
Jonah nickte traurig und wissend.
»Nichts, was ich in all den Jahren getan habe, hat auch nur das Geringste genützt.« Das Geständnis kam Hadrian wie von selbst über die Lippen, als hätte etwas tief in ihm es hinausgestoßen. Seine Verzweiflung war wie eine lebendige Kreatur, die sein Herz auffraß. »Ich habe mir immer vorgemacht, ich hätte aus einem bestimmten Grund überlebt. Das war gelogen. Und die Überzeugung, ich könnte etwas bewirken, war die größte Lüge von allen.«
Nach einem Moment nahm Jonah seine Hand und ließ eine vertraute Achatscheibe hineinfallen, ein Meditationsstein, der im Laufe vieler Jahre glatt gerieben worden war. »Ich leihe ihn dir«, sagte Jonah. »Geh zurück in deine Zelle, und benutze ihn. Erforsche dein Inneres. Hör auf, deinen Gefühlen zu trauen. Die Kolonie braucht dich mehr als je zuvor. Und lauf nicht dauernd weg. Falls du Sergeant Kenton weiterhin so viele Anlässe lieferst, dich zu verprügeln, wird er dir irgendwann die Knochen brechen.«
»Ich habe eingewilligt, dich zu bespitzeln, Jonah«, beichtete Hadrian und schaffte es nicht, dem alten Mann, der ihm so viel bedeutete, dabei in die Augen zu sehen. »Buchanan startet eine neue Kampagne, um sich aller zu entledigen, die ihn nicht unterstützen.«
»Deshalb habe ich ja dafür gesorgt, dass du bei mir wohnen wirst.«
»Er traut dir nicht.«
»So wenig wie ich ihm.« Jonah legte Hadrians Finger um den Stein. »Aber er ist vollständig auf mich angewiesen. Und du und ich werden uns gemeinsam überlegen, worüber du ihm Bericht erstatten kannst. Ein zweites Tagebuch ist gar keine so schlechte Idee. Wenn er das Leben unbedingt wie eine Partie Schach angehen will, ist er uns nicht gewachsen. Er hat keinen Sinn für Raffinesse.«
»Du willst einfach nicht erkennen, wie gefährlich er ist.«
Jonah reagierte wiederum mit gelassenem Lächeln. »Ich weiß, wie ich mit unserem Gouverneur umgehen muss.« Er wies mit ausgestrecktem Finger auf Hadrians Herz. »Wir haben uns nicht geändert«, beharrte er. »Jedenfalls nicht an den wichtigen Stellen.«
»Ich finde zu diesen Stellen keinen Zugang mehr«, erwiderte Hadrian, dem sich die Kehle zuschnürte. »Und ich will nicht sein, was aus mir geworden ist.« Er fuhr sich mit der Hand über das struppige blonde Haar. »Die einzige Hoffnung, die ich noch habe, alter Mann, ist die Hoffnung auf deine Fähigkeit zur Zuversicht.«
Jonah winkte ihm, er solle ihm hinaus auf die Veranda folgen. Der Ausblick war spektakulär: Unterhalb erstreckte sich die Stadt, im Norden das riesige schimmernde Binnenmeer, im Süden die Ställe und Felder, eingerahmt von karmesinrot gestreiften Hügeln.
»Das ist die bisher beste Ernte«, sagte der alte Mann mit weit ausholender Geste in Richtung der Felder. »Mit Mehrertrag«, betonte er.
Hadrian sah ihn an. Er wusste, wie sorgfältig Jonah seine Worte zu wählen pflegte. »Du meinst, es ist genug, um einen Teil ins Umland der Kolonie zu liefern.«
»Ich habe dem Gouverneur gesagt, dass gleichzeitig mit der neuen Ziegelfabrik, die du und ich für ihn bauen sollen, ein weiteres Projekt in Angriff genommen werden muss. Unsere Brücke.«
Als Hadrian begriff, was das bedeutete, beschleunigte sich sein Herzschlag. Sie träumten schon seit Jahren von einer Brücke über die steile Schlucht, damit die Reise zu den Camps der Unberührbaren nicht mehr einen ganzen Tag in Anspruch nehmen würde.
»Unsere Brücke!«, wiederholte Jonah freudig. »Der Anfang der neuen Welt, nach der du und ich uns gesehnt haben.« Er kehrte an seinen Tisch zurück, durchstöberte einen Stapel Papiere und zog schließlich den Entwurf einer hölzernen Auslegerbrücke hervor. »Buchanan hat sich bereiterklärt, dass die ersten Fuhrwerke, die sie überqueren, Getreidetransporte für die Camps sein werden! Für manche der Ältesten wird das den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten!«
Hadrian sah das Funkeln in Jonahs Augen. Vor allem würde es den Kontakt zwischen Jung und Alt bedeuten, der die lange schwärenden Wunden heilen könnte, und eine Freisetzung der Wissensflut, die sich während der vielen Jahre in den Camps aufgestaut hatte.
»Du siehst also, es wird bereits besser, mein Sohn«, sagte Jonah und hielt inne, um eine verwelkende Blüte von einer der Topfrosen zu pflücken, die er auf der Veranda zog. »Du und ich, wir werden etwas bewirken. Das hier ist der Weg zur Veränderung. In den Camps gibt es Ingenieure, Lehrer und Dichter. Sobald wir ihnen die Freiheit ermöglichen, wird alles anders. Wir werden eine neue Schule errichten, sogar ein College, und du wirst der Leiter sein. Es musste erst das finstere Mittelalter kommen, bevor es eine Renaissance geben konnte.«
Hadrian hatte ihn selten so beseelt erlebt, so glücklich. Jonah war seit fast zwei Jahren nicht mehr in der Lage gewesen, die anstrengende Reise zu den Camps anzutreten. Er wusste nicht, wie verzweifelt die Lage dort inzwischen sein mochte oder wie viele ihrer betagten Freunde gar gestorben waren. Und er kam nicht mal ansatzweise auf den Gedanken, dass Buchanan ihn womöglich nach Strich und Faden belog. Doch beim Blick in seine strahlenden Augen brachte Hadrian es einfach nicht übers Herz, ihn darauf anzusprechen. »Eine Renaissance«, wiederholte er und rang sich ein Lächeln ab. Dann ließ er sich von Jonah umarmen.
Die Hütte war von blühenden Kletterpflanzen bedeckt und von einst gepflegten, aber längst überwucherten Kräuterbeeten umgeben. Als Hadrian seinen Armvoll Feuerholz an der steinernen Schwelle ablegte, erschien eine Frau im Eingang und nickte ihm bekümmert und zugleich dankbar zu. Sie war haarlos, verhärmt und weit vor ihrer Zeit gealtert, wenngleich ihre hohen Wangenknochen und die auffallend grünen Augen ihn daran erinnerten, dass sie damals in der alten Welt ein Mannequin gewesen war. Er reichte ihr ein Dutzend Blätter frisch gebleichten Papiers, das er von einem Schreibtisch des Regierungsgebäudes gestohlen hatte. »Für deine Gedichte, Nelly«, sagte er.
Drinnen, auf einem Strohlager unterhalb des einzigen Fensters, lag ein alter Mann mit asiatischen Gesichtszügen. Seine mühevollen Atemzüge waren lang und rasselnd, und sein Blick ging ins Leere. An einem Hocker neben ihm lehnte das lebensechte, beinahe fertiggestellte Gemälde einer Drossel auf einem Weidenzweig. »Er hat schon seit Tagen keinen Pinsel mehr in die Hand genommen«, sagte die Frau über Hadrians Schulter hinweg. »Ich versuche, ihn zu füttern, aber er sagte, es schmeckte wie Matsch. Das ist alles, was ich habe.«
Hadrian sah eine Holzschüssel auf dem Boden stehen, halb gefüllt mit einer gelben klebrigen Substanz, einer Schleimsuppe aus Rohrkolbenwurzeln. Letzten Winter hatte Nelly den geliebten Hund getötet, um ihren Ehemann zu ernähren, und behauptet, es sei Eichhörnchenfleisch. Den ganzen Sommer lang hatte der kurzsichtige alte Künstler, ein früherer Fernsehreporter, bei jeder Bewegung im Schatten den Namen des Hundes gerufen und gelacht.
»Falls ich heute Nachmittag weg kann, müsste ich zum Abendessen ein paar Kaulquappen auftreiben können«, sagte die Frau.
Noch während sie sprach, explodierte Hadrians Bauch förmlich vor Schmerz.
»Hoch mit dir, du Hurensohn!«, herrschte Kenton ihn an.
Hadrian richtete sich keuchend auf und hielt sich den Leib. Der Sergeant stand in der Dämmerung über ihm und drehte das Ende des Schlagstocks in der Handfläche. Lucas Buchanan lehnte soeben ein Fahrrad an einen Baum.
»Hör auf zu träumen!«, befahl der Gouverneur.
Doch Hadrian hatte nicht geträumt, während er wartend in der Senke lag. Er hatte einfach nur seinen letzten Besuch in den Camps an sich vorüberziehen lassen.
Der Gouverneur nahm eine Spitzhacke und eine Laterne von dem Stapel Werkzeuge, der dort im Schatten lag, schickte Kenton zu einem großen Felsblock am Straßenrand und winkte Hadrian, ihm nach unten zu folgen. Boone wagte nicht zu fragen, weshalb Buchanan beschlossen hatte, ihm höchstpersönlich bei der schaurigen Aufgabe behilflich zu sein. Er nahm sich eine Schaufel und eilte den Pfad hinunter. Dabei entging ihm nicht, dass Kenton ihm von seinem Wachposten aus einen lodernden Blick zuwarf. Zwei eigenmächtige Ausflüge am selben Tag bedeuteten später am Abend eine doppelte Tracht Prügel.
Hadrian bemerkte, wie niedergeschlagen der Gouverneur auf den Anblick reagierte. »Du hast ihn gekannt«, stellte er fest, während Buchanan die Laterne entzündete. »Du wusstest, wer er war, als du den Ring gesehen hast.«
Hadrian beugte sich vor und nahm den Ring genauer in Augenschein. In ihn waren ein Vogel und ein Baum eingraviert – Möwe und Kiefer, die Symbole der Flagge der Kolonie. »Er hat für dich gearbeitet.«
Hadrian dachte an das letzte Frühjahr zurück. Normalerweise gab es vor solchen Erkundungsmissionen öffentliche Ankündigungen und Bankette. »Du hast ihren Auftrag geheimgehalten.«
Er musterte den Toten. »Dieser hier hieß Hastings und war einer unserer erfahrensten Waldläufer. Micah Hastings. Er hat sich sofort freiwillig gemeldet, als ich erwähnte, ich wolle vielleicht neue Scouts aussenden. Seine Mutter kommt jede Woche und fragt, ob wir etwas von ihm gehört haben.«
Buchanan ignorierte die Frage. »All die Monate habe ich mir ausgemalt, er hätte eine Straße gefunden, die passierbar und nicht vollständig zugewuchert ist. Dass er weit nach Süden vorgedrungen wäre und neue Bergungsquellen kartografieren würde.« Bergungsquellen. Das war einer der Euphemismen, mit denen in der Kolonie die Ruinenstädte bezeichnet wurden, die man wegen des dort vorhandenen Metalls schätzte. Der technische Fortschritt der Menschheit war an die Entdeckung neuer Schrottplätze gebunden. Als Buchanan fortfuhr, klang seine Stimme irgendwie wehmütig. »Vor ein paar Nächten habe ich geträumt, Hastings habe eine kleine Herde Elefanten gefunden, die aus irgendeinem Zoo geflohen war, und würde sie herbringen.« Versonnen betrachtete er den aufgehenden Mond. »Glaubst du, es gibt noch Elefanten auf der Erde?«
Darauf folgte eine sonderbare Stille. Der Gouverneur umrundete den Leichnam. »Das Vieh, das sich gerade in seine Hand vergräbt«, murmelte er angewidert. »Schaff es weg.«
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er.
Buchanan starrte das Amulett beunruhigt an und warf es dann beiseite in die Schatten. »Nichts. Ein Zufall, ein Stück Abfall, das an dem Leichnam hängengeblieben ist.«
Buchanans Augen weiteten sich, und er schaute über die Schulter, als sei er plötzlich verängstigt. Dann murmelte er eine leise Verwünschung und stützte sich auf seine Spitzhacke. »Der Narr hat bei dem Abendessen zu viel getrunken. Das war noch vor der Eröffnung des Badehauses.« Während Hadrian sich wieder an die Arbeit machte, sprach Buchanan leise und besonnen weiter, als würde er seine offizielle Verlautbarung einstudieren. »Danach ist er hergekommen, um den öffentlichen Abort unweit der Hütte seiner Mutter zu benutzen. Er ist hineingefallen und versunken. Er war betrunken, und das Geländer dort ist schon immer zu niedrig gewesen.«
»Was redest du da für einen …?« Die Worte erstarben dem Gouverneur auf den Lippen. Er hob die Laterne und bemerkte die Klinge aus aufgearbeitetem Metall, die zwischen den Rippen des Mannes steckte. »Neeiin!«, stöhnte er. »Nein«, wiederholte er nach einem Moment etwas entschiedener und nachdenklicher, als würde er von sich weisen, was er sah. Er starrte das behelfsmäßige Messer so lange an, dass Hadrian fortfuhr und die Beine des Mannes ausgrub.
»Er wurde ermordet.«
»Jonah und ich müssen seinen Leichnam untersuchen, um herauszufinden, was geschehen ist.«
»Er wurde ermordet«, wiederholte Hadrian.
»Keine Geschichte. Keine Morde. Wie lautet deine nächste Verordnung? Keine Krankheiten mehr?«
»O Gott, nein!«, rief Hadrian, als er die Flammen in einem knappen Kilometer Entfernung sah. Sein Blick richtete sich auf das Fahrrad des Gouverneurs, das an einem nahen Baum lehnte. Er wirbelte herum und stieß Buchanan gegen Sergeant Kenton. »Findet Jonah!«, rief er, als er auf das Fahrrad stieg und sich dann duckte, um dem Hieb von Kentons Schlagstock zu entgehen. »Er wird wissen, welche Bücher am wichtigsten sind und unbedingt gerettet werden müssen! Er bewahrt dort so manchen Schatz der Kolonie auf!«