Sigrid Damm erzählt das Leben des wilden Träumers und ungewöhnlich begabten deutschen Dramatikers Jakob Michael Reinhold Lenz, das über die Jahrhunderte durch Halbwahrheiten und Goethes hartes Urteil in Dichtung und Wahrheit entstellt war. Kindheit im Baltikum in einem Pfarrhaus, Studienzeit in Königsberg bei Immanuel Kant, Flucht nach Straßburg und die glückvoll-produktiven Jahre dort, Freundschaft zu Goethe; schließlich Weimar und Goethes Bruch mit Lenz. Danach sein Umherirren in der Schweiz, Ausbruch der Krankheit, Rückkehr nach Livland. Und die letzten Jahre im russischen Exil, wo Lenz zweiundvierzigjährig auf offener Straße in Moskau stirbt.
Sigrid Damm, in Gotha/Thüringen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Die Autorin ist Mitglied des PEN und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Feuchtwanger-, Mörike- und Fontane-Preis.
Im insel taschenbuch liegen u.a. von ihr vor: Cornelia Goethe (it 4417), Christiane und Goethe. Eine Recherche (it 4380), Goethes letzte Reise (it 3300), Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung (it 3232), Wohin mit mir (it 4275).
Vögel, die verkünden
Land
Das Leben des Jakob Michael
Reinhold Lenz
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2015
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4418.
© Insel Verlag Frankfurt am Main 1989
Diese Biographie erschien erstmals 1985 im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar.
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Umschlagabbildung: Jakob Michael Reinhold Lenz, G. F. Schmoll, Kupferstich, um 1775. Foto: Klassik Stiftung Weimar
eISBN 978-3-458-74202-9
www.insel-verlag.de
Jakob Michael Reinhold Lenz wird in ein geknechtetes und von Kriegen verwüstetes Land hineingeboren. Das an der nördlichen Ostsee und am Finnischen Meerbusen gelegene Baltikum, Lettland und Estland, Lenzens Heimat, damals Livland genannt, ist seit Jahrhunderten Streitplatz großer Mächte, der Schweden, der Deutschen, der Polen und Russen. Eroberung und Rückeroberung, Belagerung; Krieg, immer wieder Krieg. Am Beginn des achtzehnten Jahrhunderts werden dem Land die schwersten Wunden zugefügt. Der Nordische Krieg tobt. In Schutt und Asche fällt alles, selbst die Zeugnisse der Renaissance und Ordensgotik, die in den vorherigen Kriegen verschont blieben. 1702 schreibt der russische Feldherr Scheremetew stolz über die Pflichterfüllung an seinen Zaren Peter I.: »Ich habe Dir zu melden, daß der allmächtige Gott und die allerheiligste Gottesmutter Deinen Wunsch erfüllt haben; in dem feindlichen Lande gibt es nichts mehr zu verheeren; von Paskow bis Dorpat, die Welikaja herab, die Ufer des Peipus entlang, bis an die Mündung der Narwe bei Dorpat, hinter Dorpat, über Lais bis Reval, fünfzig Werst weit gegen Wesenberg und wieder von Dorpat den Embach aufwärts zum Felliner See, gegen Helmet und Karkus und hinter Karkus bis auf achtunddreißig Werst gegen Pernau und von Riga bis Walk: alles ist verwüstet. Alle Schlösser niedergelegt. Nichts steht aufrecht außer Pernau und Reval … sonst ist von Reval bis Riga alles mit Stumpf und Stiel ausgerottet: die Orte stehen nur noch auf der Karte verzeichnet … an Deutsche habe ich hundertvierzig gefangen; wieviel Esthen, weiß ich nicht zu sagen; die Kosaken haben dieses Geschäft unter sich betrieben; ich habe ihnen die Gefangenen nicht nehmen mögen, um ihren Eifer nicht abzukühlen … Vieh und Esthen haben wir in Menge gefangen. Kühe sind jetzt um drei Altznen zu haben, Schafe um zwei Dengen, kleine Kinder um eine Denge, größere um eine Griwa, vier Stück kauft man für eine Altzne.«
In der Buchführung des Feldherrn Scheremetew findet sich auch ein säuberliches Verzeichnis all der Ortschaften, die er niedergebrannt und vernichtet hat. Das lettische Dorf Casvaine ist darunter.
Kaum fünfzig Jahre, ein Menschenalter danach wird Jakob Michael Reinhold Lenz dort am 23. Januar 1751 geboren. Elend, Fremdherrschaft und Ausbeutung, Hungersnöte und Pest, Brände und Überschwemmungen – das sind die großen erschreckenden Bilder von Lenzens Kindheit und Jugend. Die Gedichte des Fünfzehnjährigen werden davon sprechen. Zugleich ist die Nachkriegszeit eine Zeit des Aufbruchs und der Wiederbelebung, der regen Bautätigkeit und landwirtschaftlichen Sanierung. Das Land versucht, sich aus der Lethargie zu befreien. Das erstarkende Rußland, unter dessen Herrschaft Livland nun als eine Provinz des zaristischen Reiches lebt, schenkt vor allem nach dem Machtantritt Katharinas diesem Landesteil große Aufmerksamkeit.
Der Geburtsort von Lenz liegt im Gebiet Wenden, das eine Landfläche von 1750 Haaken umfaßt und 227 Güter und 29 Kirchspiele hat. Das Dorf Casvaine ist eines der größten Kirchspiele. Armselig dennoch, vom Krieg gezeichnet. Die Ruine einer alten Lettenburg, eines erzbischöflichen Schlosses später, erhebt sich in der Nähe. Im Dorf selbst die Katen, die Holzhäuser der Letten, gedeckt mit Holzschindeln oder Schilf. Die Stallungen, Scheuern, Kleeten, Badstuben und Eiskeller. Das Pfarrhaus bescheiden, nur ein wenig größer als die Bauernkaten, mit mehreren Räumen und Nebengebäuden. Die kleine, wieder errichtete Holzkirche auf einer Anhöhe. Das einzige Gebäude aus Stein ist das zum Gut Karstenbehn gehörende Haus. Andere Gutshäuser sind weiter weg, vereinzelte Gehöfte, verstreut in der Umgebung liegend. Цасвание nennen die Russen das Dorf, die Deutschen sagen Seßwegen. Und die Deutschen sind die herrschende Schicht. Von ihnen werden die Güter verwaltet, und die Besitzer sind fast ausschließlich Deutsche. Armer deutscher Landadel, der von der Ausbeutung eines fremden Volkes lebt. »Undeutsche« nennen die Gutsbesitzer anmaßend die, denen das Land eigentlich gehört. Auch die Pfarrer sprechen von »Undeutschen«, denn auch sie sind zumeist Eingewanderte aus Norddeutschland. So auch der Pastor des lettischen Dorfes Casvaine. Es ist Christian David Lenz, Lenzens Vater.
Der 12. Januar 1751 nach dem alten russischen Kalender, der 23. nach dem neuen, der Tag der Geburt. Unruhe, Aufregung im Pfarrhaus. Die kleinen Geschwister in einem Raum gebannt. In der großen Stube die Vorgänge. Die Mutter Dorothea Lenz ist dreißig Jahre. Ihr viertes Kind ist es. Mehrere Tage später, an einem Sonntag, ist die Taufe. Wir sehen den kleinen Zug, der sich vom Pfarrhaus zur Kirche bewegt, Vater Lenz, der Pastor, die Mutter mit dem Kind. Die Großeltern mütterlicherseits, Marie Neoknapp und ihr Mann, Pastor in Neuhaus. Die Taufpaten, von Lenzens Vater in das Kirchenbuch eingetragen: »ein Herr Regierungschirurgus Harlebusch, der den Taufpaten Pfarrer Jakob Andreas Zimmerman vertritt und zugleich selbst Pate ist, ein Herr Obristleutenant H. Otto Reinhold von Igelströhm, Erbherr von Selbou und Kronenhof, eine Frau Baronin Catharine, Witwe von Tiefenhausen, geborene von Berg auf Gravendahl und Fräulein Helene von Berg, des Landraths von Berg auf Erlaa Fräulein Tochter, deren Stelle die Fräulein Helene von Tiefenhausen, der verwittweten Frau Baronin von Tiefenhausen älteste Tochter vertritt«.
Pastor Lenz gibt seinem Sohn den Namen Jakob Michael Reinhold (Jacob Michael Reinhold steht im Kirchenbuch) und spricht den Segen: »Heiland, bewahre dem Knaben, was Du ihm in der Taufe geschenkt hast und so ers verliert, so suche ihn wieder, und halte ihn zu Deinen Kindern und Knechten; fange Dein Gnadenwerk in seiner Seele kräftig an und führe es fort bis zum Ende seiner Wallfahrt um Deines blutigen Verdienstes willen! Amen.«
Man verläßt die kleine Dorfkirche, geht ins Pfarrhaus hinüber, sitzt noch zusammen, feiert. Ein Baron, eine Baronin, ein adliges Fräulein, ein Regierungschirurgus. Pastor Lenz allein stammt aus ganz einfachen Verhältnissen. Kupferschmied ist sein Vater, er hat eine bescheidene Werkstatt in Köslin in Pommern. Dort ist Christian David Lenz am 26. Dezember 1720 zur Welt gekommen und aufgewachsen. Er wird nicht der Erstgeborene gewesen sein, die Kupferschmiede kann nur einer übernehmen. Und so schickt der Vater den Sohn Christian David, als er fünfzehn Jahre ist, von zu Hause weg. Dem Lehrer oder dem Pfarrer ist er vielleicht aufgefallen, ein heller Kopf, Theologie sollte er studieren; nach Halle, ins Preußische also, geht er. Dort an der Alma mater schlägt er sich fünf Jahre lang ohne finanzielle Hilfe der Eltern durch. An der Franckeschen Stiftung, dem Waisenhaus, gibt er Nachhilfestunden, macht Kopierarbeiten und anderes, um Freitisch und Schlafstelle zu haben. Mit zwanzig Jahren, 1740, beendet er das Studium und geht zurück nach Köslin. In Pommern wie in Deutschland sind die Pfarrstellen knapp, und Empfehlungsschreiben und Unterstützung von Gönnern hat der Sohn des Kupferschmiedes offenbar nicht. So wandert er aus, nach Osten ins Baltikum. Über die Hälfte aller Pastorate in Livland sind damals mit deutschen Theologen besetzt. Christian David Lenz fängt als Hofmeister bei einer Familie in Öttingen in der Nähe von Wenden, der größten Stadt des gleichnamigen Gebietes, an; andere Quellen sprechen von Baron Liphardt in Nötkenhof im Serbischen Kirchspiel. In jener Hofmeisterzeit jedenfalls lernt Jakobs Vater die lettische und estnische Sprache, tritt aus dem deutschen Untertanenverband aus, legt sein Examen im Livländischen General-Konsistorium ab und wird ordiniert. 1742 erhält er eine Pfarre in Serben. Dort muß er auch Jakobs Mutter begegnet sein. Dorothea Neoknapp, Tochter eines Pfarrers. Neoknapp, der das Pastorat in Neuhaus innehat, ist auch Deutscher, aber eine Generation vor Jakobs Vater ins Baltikum eingewandert. Dorothea ist schon in Livland geboren. 1744 heiratet sie Christian David Lenz. Er ist vierundzwanzig, sie dreiundzwanzig Jahre. Im folgenden Jahr kommt das erste Kind, dann 1747 das zweite, im Jahr darauf das dritte. 1749 zieht die Familie Lenz um. Eine Pfarrstelle ist frei geworden im Kirchspiel Casvaine, ebendort, wo Jakob Lenz zur Welt kommt, wo an einem Januartag 1751 im Pfarrhaus die Taufgesellschaft zusammensitzt. Herr und Frau Pastor Lenz mit den Baronen und Erbherren von den umliegenden Gütern.
Ungewöhnlich ist die Runde nicht. Ein Dorfpfarrer in Livland, aus welch ärmlichen Kreisen er immer stammt, ist gesellschaftlich und sozial dem Landadel etwa gleichgestellt. Zu einem Pastorat gehören, neben Pfarrhaus und Garten, Land und Leibeigene oder dienstverpflichtete Bauern. Das Land erhält der Pfarrer zudem steuerfrei, was ihm dem ärmeren Adel gegenüber sogar manchen finanziellen Vorteil bringt. Ein Dorfpfarrer in Livland ist also der Besitzer eines mittelgroßen, schuldenfreien und unbelasteten Landgutes. Sein Anwesen gilt zugleich als Besoldung, andere Einnahmen hat er nicht; es sei denn durch Publikationen oder Nebenarbeiten.
Die Hinwendung der Pastorenfamilie Lenz zum Landadel der Umgebung hat aber möglicherweise auch persönliche Motive. Jakobs Großmutter, die Mutter von Dorothea Neoknapp, ist eine Adlige, ein Fräulein Marie von Rhaden. Neoknapp, der Bürgerliche, wird ihr Hofmeister gewesen sein. Sie lieben sich, sie erwartet ein Kind. Die »Verführungsgeschichte« endet mit der Heirat, mit einer Mesalliance zwischen Bürgerlichem und Adliger, eine für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Sache. Skandal, Empörung, Klatsch – und nun, nach so vielen Jahren, eine geheime Überlegenheit bei Dorothea Lenz, ein sich Dazugehörigfühlen. Wir können es nur ahnen, die Familie bewahrt Schweigen.
Jakob, der Sohn, der Enkel der adligen Dame, wird in seinem Drama »Der Hofmeister« sprechen. Sein Hofmeister wird davongejagt, so wie es üblich war, und in widerlicher Doppelmoral endet die Tragikomödie. Die Familie Lenz und die mit ihnen befreundeten Adligen werden das dem Dichter nie verzeihen. Mit Empörung und Befremden spricht man darüber, daß er sich angemaßt hat, eine intime Geschichte öffentlich auszustellen.
An jenem Taufsonntag im Januar 1751 ahnt keiner der Anwesenden, daß mit Jakob einer heranwächst, der die Stumpfheit und bornierte Intoleranz ihrer Weltsicht und Lebensweise gnadenlos zur Schau stellen wird. Noch ist nichts Absicht und Gestalt. Wünsche für den Neugeborenen lediglich, ausgesprochene oder geheime. Und je nachdem, wie sich das Fest wendet, mit Selbstgebranntem zur Ausgelassenheit, zum Überlauten, oder zur religiösen Einkehr, Nachsinnen über den Taufspruch: »Heiland, bewahre dem Knaben … fange Dein Gnadenwerk in seiner Seele kräftig an und führe es fort bis zum Ende seiner Wallfahrt um Deines blutigen Verdienstes willen!«
Jakob Michael Reinhold Lenz wächst heran.
Schon im nächsten Jahr liegt ein anderer in der Wiege, sein Bruder Johann Christian. Jakob lernt laufen, er lernt sprechen. Zwei Jahre ist er. Drei. Der Vierjährige. Fünf wird er. Kein Schattenriß der Familie des Pastors Lenz existiert, kein Bild, auf dem man sie sehen könnte, Vater, Mutter und die Kinder. Vor dem Pfarrhaus aufgestellt vielleicht, in Sonntagstracht, 1757, eben in dem Jahr, als Jakob sechs wird. Der Vater im Talar mit überernster Miene, ein Fanatisierter, der er gewesen sein muß. Einer, der seine enge Lebenssicht unverrückbar zum Wort Gottes verklärt, hart und borniert. Die Mutter daneben, mit sechsunddreißig wirkt sie schon alt, ergeben, ohne Widerspruch, aber vielleicht ist sie mild, gütig. Den einjährigen Karl Heinrich Gottlob trägt sie auf dem Arm. Die anderen Kinder rechts und links von den Eltern. Der Älteste, der zwölfjährige Friedrich David, er kommt wohl nach dem Vater. Dann die beiden Schwestern, die zehnjährige Dorothea Charlotte, die neunjährige Elisabeth. Der fünfjährige Johann Christian. Und Jakob Michael Reinhold. Blond, schmal, feingliedrig, so wie er später beschrieben werden wird. Mit großen Augen. Die Haare kindlich lang oder schon hinten zusammengebunden. Die dünnen Beine in dunklen Wollstrümpfen, die Füße in Schnürschuhe gesteckt, viel zu groß, abgelegt vom Bruder wahrscheinlich. Die Kleidung der Kinder eine seltsam steife Nachahmung der der Erwachsenen.
Vorstellung. Möglichkeit. Die Kindheit Jakob Lenzens in dem lettischen Dorf Casvaine ist durch keinerlei direkte Zeugnisse belegt. Weder eine Äußerung von ihm selbst noch eine Äußerung von anderen gibt es.
Umrisse, in denen wir ihn sehen. Die Landschaft seiner Kindheit: Wiesen und nicht endende Wälder um das Dorf Casvaine. Hügelland, sanft und weit. Ein breites Tal jenseits des Dorfes. Felder, Brachland. Flächigkeit, Ebene. Der Himmel darüber groß, endlos weit der Bogen des Horizontes. Im Sommer die Farbschattierungen, schließlich beherrschend das satte Gelb der Ähren. Bei Dürre der Anblick kahlgefressener Roggenschläge. In der Nähe fischreiche Seen, Moraste. Ein kurzer Sommer mit hellen, einer bloßen Dämmerung gleichenden Nächten. Nordlicht und Wetterleuchten, das man »Mehlthau« nennt, an warmen Abenden ist es eine fast tägliche Erscheinung. Über den Morasten Nebel, der sich wie Rauch erhebt, langsam fortrückt und weit ausbreitet. Im Herbst Regen, Nordwind, Stürme. Die Vogelschwärme am Himmel, die Dohlen und Krähen. Und der Winter ist die beherrschende Jahreszeit. Er dauert sechs Monate.
Livland – das Land des Nordens. Waräger, Wilder, Nordländer, Sohn des rauhen Nordens wird sich Jakob Lenz später nennen, wird vom »braunen Himmel« Livlands sprechen. Winter ist von Ende Oktober bis Mitte April. Die Gewässer frieren zu. Der Schnee liegt hoch. Aber der Winter bedeutet nicht Erstarrung, nicht Ruhe, im Gegenteil, im Winter beginnt das Leben. Es ist die Zeit des Reisens, des Holzeinschlages und der Jahrmärkte. Der Schlitten ist ein schnelles Fortbewegungsmittel, und die zugefrorenen Gewässer und Moraste machen Abkürzungen möglich. Im Frühjahr werden die Wege unsicher, das Überqueren der Seen ist gefährlich. Eisgang setzt ein, die Schneeschmelze beginnt, und die Flüsse treten über die Ufer. Das Frühjahr, das oft lange auf sich warten läßt, ist die Zeit der Einsamkeit. Die Wege sind aufgeweicht oder überschwemmt, einzelne Gehöfte und ganze Dörfer sind von der Umwelt abgeschnitten. Der Vorfrühling in Livland mit seiner eigenartigen Landschaft voller Wasserfläche, schwärzlich-weiß.
Die Jahreszeiten bestimmen den Lebensrhythmus des Dorfes. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, die Wiederholung der gleichen Arbeitsgänge. Im Frühjahr, sobald die Erde auftaut und das Schmelzwasser abfließen kann, wird gepflügt, Holz gesägt, Häuser werden gebaut und Zäune ausgebessert. Im Mai ist die Aussaat, die Mistfuhre und der Umbruch des Brachackers. Im Wald werden die Kohlen für die Schmiede gebrannt. Im Juni ist Heuernte, Tage und Nächte verbringen die Bauern auf den oft weit entfernten Wiesen, bis die Saden, jene kegelförmigen Haufen, oder die großen Kujen, hoch und spitz, aus zehn bis zwanzig Saden bestehend, auf der Wiese sind. Im Juli werden bei Niedrigwasser die Dämme bei den Mühlen ausgebessert. Im folgenden Monat beginnt die Kornernte. In langen formlosen Reihen, den Rauken oder Skirden, stehen Roggen und Hafer auf den Feldern, die Gerste auf kleinen Lattengerüsten. Dann die Einfuhr der Ernte. Die Fuder werden in die Riegen gebracht, später in Kleeten, Kornmagazine, weit abgelegen von den Gehöften, ein Teil nahebei in Handkleeten. Arbeiten im Spätherbst und Winter sind das Dreschen, das Bierbrauen, Mälzen, der Branntweinbrand, das Flachsen, Spinnen, die Leinwandherstellung, die Holzfuhre. Auf den zugefrorenen Seen wird das Schilf gemäht für die Dächer der Bauernhäuser, und das Eis wird gehackt und in die Keller gefüllt. Vorfrühling, Frühling, der Eisgang setzt ein, der Lebensrhythmus des Dorfes beginnt von neuem.
Lettische Leibeigene verrichten diese Arbeiten, Knechte, Mägde, Feldwächter, Bauern, Achtler, Halbhäkner, Viertler und sogenannte Lostreiber oder Landläufer, russische, estnische und lettische Gelegenheitsarbeiter. Die Lage der Leibeigenen in Livland ist schrecklich, schlimmer als in Rußland, von Deutschland zu schweigen. Selbst die Zarin Katharina muß in einem Ukas von 1765 zugeben, daß sie »wahrgenommen in wie großen Bedruk der Bauer in Liefland lebe«, sie spricht von »tyrannischer Härte« und »ausschweifenden despotisimo«. Der Bauer werde entweder »aufgerieben oder verjagt«, die »dritte Bedrückung« des Bauern sei »der Excess in der Bestrafung. Dieser ist so enorm, daß das Geschrey davon zu meinem empfindlichen Kummer bis an den Thron gedrungen«.
Was sieht ein Kind, das seine ersten acht Lebensjahre auf dem Dorf verbringt, von alle dem? Jakob Lenz muß Augen und Ohren dafür gehabt haben; er sieht, sieht hin, hört. Sein späteres soziales Gespür spricht dafür.
Dem Knaben Jakob begegnen sie, die Letten, bettelarm und halbverhungert, im Pastoratshaus des Vaters, in der Kirche beim Gottesdienst, im Dorf selbst, auf den Feldern, auf dem Jahrmarkt. Jahrmarkt ist jährlich dreimal in Seßwegen. Krämer kommen aus der Stadt. Salz und Eisen werden verkauft, Federvieh, Pferde. Und Menschen! Sie tragen Strohkränze auf dem Kopf. Lustig will das dem Kind scheinen. Die Kränze aber sind das Zeichen, daß sie als Leibeigene feilgeboten oder unter den Gutsbesitzern getauscht werden können, gegen Pferde oder Hunde, gegen Pfeifenköpfe, Jagdgerät und ähnliches. »Die Menschen sind hier nicht so teuer als ein Neger in den amerikanischen Kolonien«, schreibt Hupel, der bei Dorpat lebende Aufklärer und Publizist. »Einen ledigen Kerl kauft man für 30 bis 50, wenn er ein Handwerk versteht, Koch, Weber u. d. g. ist, auch wohl für 100 Rubel. Ebensoviel gibt man für ein ganzes Gesinde (die Eltern nebst ihren Kindern), für eine Magd selten mehr als 10 und für ein Kind etwa 4 Rubel.«
Und Jakob sieht die Leibeigenen im Pastorat, der Vater hat tagtäglich mit ihnen zu tun. Wenn ein Kind im Kirchspiel geboren wird, wenn geheiratet wird oder einer stirbt, müssen die Dorfbewohner zum Pastor kommen. Er hat das Seelenregister zu führen, das Verzeichnis der Getauften, Kopulierten und der Verstorbenen, hat es jährlich aus dem Kirchbuch abzuschreiben und an das Generalgouvernement Livland zu senden. Wöchentlich werden im Pfarrhaus »Dorfkatechisationen« abgehalten, und sonntags ist die Predigt in der Kirche. Im Winter macht Lenzens Vater »Hausbesuchungen«, wie es für einen Pastor üblich ist. Sie dienen dazu, den Bauern die Pflichten der sogenannten Haustafel einzuschärfen und zu prüfen, wie weit sie im Lesen und in der Erlernung des Katechismus gekommen sind. Meilenweit fährt er bei strenger Kälte, kommt in heiße, mit Rauch und Dunst von dem zum Dörren aufgesteckten Korn angefüllte dunkle Stuben der Letten, in denen Menschen und Tiere in einem einzigen Raum zusammengedrängt leben. Der Lette wird auf Stroh geboren, er schläft ohne Bettuch und stirbt auch so. Pastor Lenz wird den Sohn nicht zu seinen Katechisationen in die Bauernhütten mitgenommen haben. Aber in den Katen wird der Junge dennoch gewesen sein.
Auch im Pastorat erlebt Jakob die Bauern, wenn sie im Herbst ihre Abgaben entrichten. Wie dem Gutsbesitzer, so haben sie dem Pfarrherrn das Vorgeschriebene zu übergeben. Im September die Korngerechtigkeit. Auf Weihnachten zu den Gerechtigkeitsflachs, Garn, ein Schaf, Hühner, Gänse, Enten, fertige Leinwand. Zu anderen Jahreszeiten müssen die Bauern des Kirchspiels dem Pastor Beeren und Pilze bringen, auch Fische aus den umliegenden Seen. Fast alles, was auf dem Tisch der vielköpfigen Pastorenfamilie steht, kommt von den »Undeutschen«. Auch das, woraus die Mutter die Kleidung für die Familie macht, Garn, Schafwolle, Leinwand.
Und auf den Feldern wird er sie sehen, die Leibeigenen und die gemieteten Russen, die vom Gutsherrn für das Reinigen der Heuschläge pro Quadratmeter vier Kopeken bekommen, die estnischen und lettischen Lostreiber, die man für die Heuernte, beim Küttnisbrennen und Flachshecheln, bei der Ziegelscheune und zum Torfstechen braucht. Badstübner werden sie auch genannt, da sie oft in den Badstuben, den kleinsten Hütten auf den Gehöften, übernachten oder dort im Herbst und Frühjahr ihre Kleider trocknen, die Ärmsten der Armen.
Die Einteilung der Welt in Deutsche und »Undeutsche«. In diese Welt wächst Jakob hinein. Die einen dienen, die anderen herrschen. Der Mensch soll dem Menschen untertan sein. Gottgewollte Ordnung, die der Vater rechtfertigt und von der Kanzel herab verteidigt. Die »Undeutschen« hält er für faul, dumm und trunksüchtig, in der Bekehrung zum Christentum sieht er ihr Heil.
Nur wenige erkennen damals die Verhältnisse in ihren wirklichen sozialen Spannungen, einer davon ist der Livländer Jannau, der in seiner »Geschichte der Sklaverey und Charakter der Bauern in Lief- und Esthland« über die deutschen Prediger schreibt, »Herrschsucht« sei ihr »Beginnen und Dummheit die Fessel, die den Letten und den Esthen in der Sklaverey erhielt. Kein Einziger bildete durch die Religion, die er zu predigen doch berufen war. Ein jeder suchte Land und Leute, ward groß durch seine Thaten, und tötete die Freyheit der Unschuldigen, die er bekehren wollte.«
Das Christentum nimmt den Letten ihre heidnischen Götter, Laima, Mahte, Semkikka, Krihwe und andere, verfolgt ihre Zusammenkünfte in der Natur an heiligen Bäumen, Quellen und Hügeln. Von den Pfarrern und Gutsherren wird die Zerstörung dieser Stellen, das Abholzen der Bäume angeordnet. Unter strenger Strafe stehen die Treffen in den heiligen Hainen, auch ist es den Letten verboten, ihre Toten dort wie seit alters her zu begraben und Opfergaben, Wolle, Hanf und Flachs in Baumhöhlen zu legen. Die Christianisierung zerstört die heidnischen Bräuche, vernichtet unbarmherzig alte Volkstraditionen. Selbst das Spielen auf dem Dudelsack oder der Bockspfeife, den bei den Letten beliebten Instrumenten, wird von den deutschen Pastoren verfolgt. Oft wird den Bläsern der Dudelsack weggenommen, wird verbrannt oder zerschnitten, und die Musikanten werden vom Abendmahl ausgeschlossen. Gepredigt wird Gottesfurcht und Arbeitsamkeit. Der Pastor spricht das, was den Gutsbesitzern nützt. Und der deutsche Pfarrer wird von den Letten gesehen wie der deutsche Gutsbesitzer, als gefürchteter Herr, als Herr über ihr Leben und ihren Tod.
Haß gegen die Deutschen ist die Folge. Der lettische und estnische Bauer kann im Deutschen nur einen Feind sehen, »sein Schicksal hat den Haß in seiner Seele geboren, er ist und bleibt in seinem Herzen ein Widersacher des Deutschen«. Saks tulleb, der Deutsche kommt, ist ein Schreckwort, mit dem der estnische Bauer sein schreiendes Kind einschüchtert. Jannau, der das schreibt, geht auch auf die Faulheit ein, die »würklich unserm Bauer eigenthümlich ist«. Die ist »nicht angeboren, sie ist durch die Strenge der Leibeigenschaft angeerbt. Bey solchen Umständen müßte die menschliche Natur nicht das mehr seyn, was sie ist, wenn nicht Ueberdruß entstehen, und sich schnell Faulheit erzeugen sollte.«
In dieser Welt der sozialen und nationalen Spannungen, des Hasses, wächst der Junge auf. Mit Angst sieht er die Letten, denn er ist der Sohn des Pastors, er ist ein Deutscher. Und immer wieder wird er die unbarmherzig geißelnden Worte des Vaters von der Kanzel der Dorfkirche herab hören. Die Letten werden des »fleischlichen Sinnes, des Unglaubens, der verderbten Neigungen, der Gier, der überviehischen Trunkenheit und schändlichen Wollust« angeklagt, eines »faulen und leeren Maulchristentums« beschuldigt. Da ist von Sünden, von Buße, von einem Strafgericht Gottes die Rede.
Will Gott, was geschieht, wenn die Kirchgänger unter dem Geläut der Glocken das Gotteshaus verlassen? Ein Dorfpfarrer in Livland, also auch Lenzens Vater, ist für den Vollzug vom Landadel gerichtlich verhängter Strafen an den lettischen Bauern verantwortlich. Und des Sonntags nach dem Gottesdienst geschieht das. »Wenn der Gemeine aus der Kirche gehet, wird der Verbrecher an einen Phal unweit der Kirche angebunden, sein Leib von oben entblößt; der sogenannte Kirchenkerl oder Glockenläuter verrichtet die Execution; indem er allezeit mit zwo frischen schmalen Ruthen, die den Spießen und Spitzruthen ähnlich sind, drymal den entblößten Rücken des Verurteilten schlägt, dann ein Paar frische ergreift.«
»Die kleinste Vergehungen werden mit 10 Paar Ruthen geahndet, mit welchen nicht nach der gesetzlichen Vorschrift, mit jedem Paar drymal«, schreibt Katharina in dem schon erwähnten Ukas, »sondern so lange gehauen wird, als ein Stumpf der Ruthen übrig ist, und bis Haut und Fleisch herunter fallen.«
Jakob muß Zeuge solcher Exzesse gewesen sein. Aber: Die Strafen sind von den Adligen, den Freunden des Vaters verhängt, ihr Vollzug wird vom Vater selbst beaufsichtigt, muß das Kind sie nicht für gerecht halten? Und was hört es nicht alles flüstern und sprechen, wenn Pastor und Gutsherren im Pfarrhaus zusammensitzen. Angegriffen worden seien Gutsherren von Bauern mit Stöcken und Prügeln, dort und dort sei ein Gutsherr zu Tode gekommen durch seine Leibeigenen, einen anderen Adligen hätten sie in Stücke gehackt, eine Gutsherrin sei von ihren Leibeigenen erstochen worden. Vorfälle, die Hupel in seiner Chronik überliefert. Wovon Jakob hört, ist Aufbegehren einer verzweifelten, gepeinigten Masse.
Der Nordische Krieg und die Pestjahre von 1710 und 1711 haben die Bevölkerung von Livland, Estland und Kurland um die Hälfte reduziert. Die Gutsherren suchen dem wirtschaftlichen Ruin des Landes mit noch härterer Ausbeutung entgegenzuwirken. Hatten die Leibeigenen nach dem alten Wackenbuche wöchentlich eineinhalb Tage mit Anspann und des Sommers ebensoviel zu Fuß bei den Herren zu frönen, so müssen sie nun viermal soviel frönen, das heißt die ganze Woche über, zugleich aber alle anderen Abgaben entrichten. Und immer neue kommen hinzu, Reparatur von Landstraßen und Wegen, Materialzufuhr und Arbeitsleistungen an Pastorats-, Postierungs- und Krongebäuden. Abfuhr der Regimentsfurage, Kornmahlen und Viehhüten. Aber ihr Leben wird nicht besser, all ihr Schweiß und Blut verrinnt sinnlos. Sie haben nichts zu verlieren. Durch Krieg, Katastrophen und steigende Ausbeutung dreifach gequält, beginnen sie, gegen den Druck der Leibeigenschaft aufzubegehren. Das estnische Volkslied »Klage über die Tyrannen der Leibeigenen«, das der in dieser Gegend lebende junge Johann Gottfried Herder später in seine Sammlung »Stimmen der Völker in Liedern« aufnimmt, wird im Volk nicht mehr nur heimlich, sondern lauter und lauter gesungen.
Tochter, ich flieh nicht die Arbeit,
fliehe nicht die Beerensträucher,
fliehe nicht von Jaans Lande:
vor dem bösen Deutschen flieh’ ich,
vor dem schrecklich bösen Herren.
Arme Bauern, an dem Pfosten
werden blutig sie gestrichen.
Arme Bauern in den Eisen,
Männer rasselten in Ketten,
Weiber klopften vor den Türen,
brachten Eier in den Händen,
hatten Eierschrift im Handschuh,
unterm Arme schreit die Henne,
unterm Ärmel schreit die Graugans,
auf den Wegen bläckt das Schäfchen.
Unsre Hühner legen Eier
alles für des Deutschen Schüssel …
Im Gebiet Wenden, dort, wo Pastor Lenz mit seiner Familie lebt, und in den anliegenden Kreisen, im Walkschen, im Dorpatschen, brechen in jenen Jahren Bauernunruhen aus. Auch in Rußland ist es so. Katharina versucht zunächst durch einige Maßnahmen dem zu begegnen. Eine solche Politik vertreten auch in Livland einzelne aufgeklärte deutsche Gutsbesitzer. Der Landrat Baron Schoultz zum Beispiel, der Reformvorschläge macht, das Römerhoffsche Bauerngesetzbuch entwirft und auf seinem Gut praktiziert. Aber das stößt schon auf den erbitterten Widerstand der Überzahl der Landadligen. Ebenso wie die in ähnliche Richtung gehenden Vorschläge des livländischen Generalgouverneurs Browne. Sie werden 1765 vom Landtag abgelehnt. Daß die Leibeigenschaft in Livland, heißt es in den Landtagsakten dazu, »nicht aus Barbarei, sondern aus dem natürlichen Genie der … Nation abzuleiten sei« und »sehr wohl neben der Humanität stehen könne«.
Lenzens Vater stellt sich in allen diesen Fragen – nach seiner späteren Karriere in der livländischen Kirchenhierarchie zu urteilen – schon sehr bald auf die Seite des reaktionären deutschen Adels. Sein Aufstieg zum ersten Mann der Kirche Livlands ist die Geschichte seiner Anpassung. Aus Halle, der Hochburg des Pietismus, kommt Christian David Lenz. Von dieser Bewegung ist er in den Jahren seines Studiums geprägt. Der Pietismus als ein letzter großer Ausläufer des Mystizismus ist mit seinem Christentum der persönlichen Religiosität und sittlichen Lebensführung gegen die starre Kirchenorthodoxie gerichtet. Er fördert Kräfte im Menschen, die der Rationalismus vernachlässigt: Gefühl, Phantasie, Gemüt, Herz. Er läßt den einzelnen seine Subjektivität entdecken, innerhalb des religiösen Bewußtseins ein neues Selbstwertgefühl entwickeln. Das Schreiben von Tagebüchern ist ein Ausdruck dafür. Auch Lenzens Vater schreibt als junger Mann ein solches.
Der Pietismus bringt auch eine radikale Bewegung hervor: die Herrnhuter. Und sie beginnen gerade in Livland eine große Rolle zu spielen. Sechs Jahre nach der Gründung der Sekte durch Graf Zinzendorf kommen 1729 die ersten Vertreter als Handwerker nach Livland, »um durch Beispiel und Belehrung auf das Landvolk einzuwirken«. 1736 unternimmt Zinzendorf eine Reise durch Livland und besucht seine Freunde. Die Ideen der Herrnhuter treffen auf die katastrophale Lage der Menschen, und in den vierziger Jahren finden sie einen gewissen Widerhall im estnischen und lettischen Volk. An einigen Orten sammelt sich sogar in der Bewegung der mährischen Brüder der Widerstand gegen die Grundbesitzer. Auch Pastoren schließen sich der Bewegung an. Radikale Führer treten offen gegen die Willkürherrschaft der Grundherren auf. Das führt 1743 – neben den ständigen Konflikten mit der offiziellen Kirche – zum direkten Verbot der Herrnhuter in Livland. Als der Vater von Lenz, zwanzigjährig, von der Universität Halle kommt, scheint er den sozialen Ideen gegenüber noch aufgeschlossen. Wie aus einem seiner Berichte an das Oberkonsistorium in Riga hervorgeht, setzt er sich für die Herrnhuter ein. Ein Jahr vor dem Verbot ist das. Bis er merkt, wie gefährlich und seiner eigenen Karriere hinderlich dieses Engagement ist. »Der schnelle Beyfall wurde durch ethliche Vorfälle, Untersuchungen usw. etwas gemildert«, teilt Hupel mit. »Einige, selbst Prediger, traten zurück. Zween Anhänger, den öselschen Superintendent Eberh. Gutsleff und einen andern dasigen Prediger, betraf wegen gewisser Anschuldigungen das Schicksal, daß sie im J. 1747 nebst zween andern Brüdern nach St. Petersburg geführt wurden, wo der erste im J. 1749 im Gefängnis starb; doch erhielt der zweyte im J. 1762 seine Freiheit.« Pastor Lenz distanziert sich auch öffentlich von den Herrnhutern. 1750 erscheint in Königsberg eine seiner Predigten. »Es war der Verfasser selbst unter die Herrnhuter geraten«, gesteht er, »da er aber den Urgrund ihres Wesens einsah, trat er von ihnen ab und schrieb die erwähnte Vorrede.« Diese will »der Reuertheologie der Herrnhuter die Larve abziehen«. Nun, da er selbst Pfarrherr ist und im Anblick von Armut und Elend der Bauern die Unversöhnlichkeit der Gegensätze ahnt, läßt er die sozialen Belange fallen. Seine Predigten werden immer orthodoxer, härter und unnachgiebiger. Man spürt kaum wirkliche Liebe zum Menschen, statt dessen aber fanatisches Eifern. So in einer Predigt, die Pastor Lenz 1751 veröffentlicht und die er drei Jahre zuvor, am 14. August 1748, im benachbarten Wenden hielt, kurz nachdem dort ein großes Feuer die Stadt verheerte, viele Häuser zerstörte und auch Menschenleben kostete. Durch ihre »schweren Sünden« hätten die Einwohner den »Zorn des Allmächtigen gereizt … Was Wunder, daß der Herr endlich seinen Grimm über euch ausgeschüttet hat?… Niemand hat je sein eigen Fleisch gehasset, sondern ernähret es und pfleget sein … Erstaunliche Sorglosigkeit! diese allein verdiente Sodoms Schwefelbrand«. Die Veröffentlichung der Wendener Predigt geschieht, so sagt Pastor Lenz in der Vorrede, da die Einwohner nach der Feuersbrunst ihr schändliches Leben fortsetzen und wieder »Holz zum Feuer tragen«. Das »Feuergericht in Wenden« sollen sie »als eine Stimme Gottes ansehen, die ihnen zuriefe: So ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also umkommen«. Ob solcher Beschuldigungen strengt die Stadt Wenden gegen Pfarrer Lenz einen Prozeß beim Oberkonsistorium und Hofgericht an und gewinnt ihn.
Pastor Lenz fährt dennoch mit seinen Straf- und Bußpredigten fort, Sonntag für Sonntag in seinem Kirchspiel Seßwegen.
Wir sehen den Knaben Lenz in der lutheranischen Dorfkirche in Casvaine sitzen. Die lettischen Bauern haben sie nach dem Krieg wieder errichtet. Aus rohen Holzbalken ist sie gezimmert, ein einfaches Schiff mit flacher Decke. Am Altar Christus am Kreuz, aus Holz geschnitzt. Im Raum selbst schwere Holzbänke, wie Abteile, mit Türen versehen, rechts die Frauen, links die Männer, am Eingang zu jeder Reihe Kerzenhalter. Der Fußboden ist aus viereckigen Ziegelsteinen. Der einzige Schmuck sind die farbigen Malereien auf dem Holz von Fenstern und Wänden, barocke Formen, Wandbespannungen vortäuschend. Die Kirchspiele sind arm, kaum eine Dorfkirche in Livland kann sich damals eine Orgel leisten. Eine Trommel, wie sie die Soldaten im Krieg mit sich führen, steht neben dem Altar, und beim Einsetzen und Singen der Kirchenlieder gibt der Trommler den Rhythmus an.
Der dumpfe Gesang, einzelne hohe Frauenstimmen sind herauszuhören. Die lettischen Bauern, die Leibeigenen sitzen in den Bänken, eine finstere, graue, gleichförmige Masse. Bis auf den letzten Platz ist die Kirche gefüllt, Pastor Lenz duldet keine Säumnisse im Kirchgang. Seine Rede (meist predigt er ein bis anderthalb Stunden) ergießt sich über die Gemeinde.
Der Vater auf der Kanzel, unnahbar, ein Richter, Gott selbst. Der Vater ist die absolute Autorität, der Welterklärer. Der Mächtige, den man lieben und fürchten muß. Davon wird Jakob Lenz sich sein ganzes Leben nicht befreien können. Die Vatergestalt bleibt immer übermächtig und erdrückend. Für den zwanzigjährigen, den dreißigjährigen, den vierzigjährigen Lenz, bis zu seinem Tode.
Das liegt in der Kindheit. Da ist es schon in seinen zerstörerischen Konsequenzen angelegt, aber noch nicht sichtbar. Noch ist es Schrecken und Süße, Furcht und Geheimnis für das Kind.
Und immer wieder während der endlos langen Gottesdienste mag Jakob nach oben gesehen haben an die Holzdecke. Sie wird, wie die meisten Dorfkirchen damals in Livland, einen naiv bemalten Himmel haben, blau über die ganze Fläche, darauf schwebende Engelsgestalten, die zur Ehre Gottes musizieren. Engel mit Geigen, mit Tuben, mit Flöten, mit Trommeln, mit Hörnern, Trompeten und Harfen. Noch niemals hat Jakob solche Instrumente wirklich gesehen, niemals ihren Klang gehört. Seine Phantasie entzündet sich. Und auch die biblischen Geschichten, die der Vater als Gleichnisse gibt, lösen sich ab von seinem kleinlichen Eifern, berühren in ihren großen poetischen und menschlichen Bildern die kindliche Phantasie.
Jene Geschichte von Jesus von Nazareth, den die Hohepriester und Ältesten des Volkes banden und abführten, von Judas Ischariot um dreißig Silberlinge willen verraten. Jesus von Nazareth, vom Volk mit Speichel bedeckt, die Kleider vom Leib gerissen und höhnisch in einen Purpurmantel gehüllt, eine Dornenkrone auf das Haupt gedrückt, der König der Juden. Jesus von Nazareth, vom Landpfleger Pontius Pilatus übergeben, schweigend gegen seine Ankläger, unschuldig zum Tode verurteilt. Unschuldig fließt sein Blut, unschuldig wird er ans Kreuz geschlagen. Eine gewaltige, erregende, das Kind wohl bis ins Innerste treffende Geschichte. Wie auch die Visionen der alttestamentarischen Propheten, die Offenbarungen Johannis. Seine ersten Gedichte werden es bezeugen.
Große, unauslöschliche Bilder der Bibel sind es, die neben die erschreckenden Bilder der Gegenwart Livlands treten. Geprägt aber immer wieder und verzerrt durch den Vater, moralischen Zwecken untergeordnet, Geboten, Verboten, Gottgefälligkeit, Sünde, Strafe, Buße. Vorstellbar die Angst des Kindes. Vor der Strenge des Vaters, seinen Strafen, die als die Gottes ausgegeben werden. Was ist Sünde, die kleinen Vergehen, Spielen mit lettischen Kindern, Sprechen mit den »Undeutschen«, der Überdruß, ewig auf die Geschwister aufzupassen, die Regungen des eigenen Körpers, fremd, unerklärlich; die Gier nach phantastischen Geschichten, nach Worten, Sätzen, Reimen, Rhythmus, nach den Büchern, die Sucht nach Einsamkeit, das heimliche Entfernen aus dem Pfarrhaus?
Wiederum Umrisse: der Achtjährige, auf irgendeinem lettischen Bauerngehöft. Er sitzt im Versteck in der Tenne, wenn das Dreschen beginnt, der Riegenkerl gewählt wird, der die Riege mit Strauchwerk beheizt und aufpaßt. Jakob sieht, wie das Getreide zunächst durch Feuer gedörrt wird. Dann die Roggengarben mit den Händen an die Wand geschlagen werden, bis die schweren Körner, die zur Saat taugen, herausfallen. Weizen, Gerste und Hafer werden erst mit den Füßen ausgetreten, ehe man mit dem Dreschflegel schlägt. Kornlaufen heißt es. Auf dem Boden der Tenne liegt das Getreide. Knechte und Mägde bewegen sich tanzend darauf. Der Dudelsack spielt. Die nackten Füße der Mädchen im wirbelnden Tanz auf der Tenne. In heller Erregung sitzt der Junge in seinem Versteck.
Ein anderes Bild: Jakob im Sommer, barfuß, im Leinenkittel, an einem der umliegenden Seen. Er sieht den russischen und polnischen Wanderfischern zu, die diese Seen befischen und mit ihren großen Netzen Rebsen, Hechte, Quappen, Stinte, Turben, Bleie, Barse und Füdchen fangen. Wortfetzen, fremde, Russisch, Polnisch. Und die Sprache der Letten im Dorf, auch sie fremd, doch manches geläufig, vom Vater gehört. Und ein drittes Bild: Jakob entdeckt in einem hohlen Baum Wolle, Wachs, Garn, Brot, Opfergaben der Letten für ihre Götter. Getrieben von Neugier, erlebt er eines ihrer heidnischen Feste. Im Freien unter großen Bäumen auf Hügeln wird es begangen. Geheim geschieht alles. Feuerschein und seltsame Gesänge, Tänze und Riten. Jakob in schrecklicher Angst hinter einem Strauch, entdecken die Letten ihn, den Pastorssohn, wird es schlimm, und erfährt der Vater davon, wird es noch schlimmer.
Jakob ist in den ersten acht Jahren der Kindheit in Casvaine sich sicher viel allein überlassen. Der Vater ist mit Pflichten im Kirchspiel überhäuft. Durch die Einwanderung in das fremde Land ist Lenz auch von der vorhergehenden Generation, der des Großvaters und der Großmutter väterlicherseits, getrennt. Die Eltern der Mutter wohnen in Neuhaus im gleichen Gebiet Wenden, nicht allzuweit entfernt, aber nicht nah genug für ständige Begegnungen. Der Großvater Neoknapp ist dort bis an sein Lebensende Pastor. Vielleicht gelegentliche Besuche. Wenn ein Kind geboren wird, kommt die Großmutter. Bleibt eine Zeit, jene skandalumwitterte Großmutter Marie von Rhaden, verheiratete Neoknapp. Märchen, Lieder, Musik, wenn sie da ist.
Wir wissen es nicht. Auch nicht, welchen Einfluß die Mutter auf die Kinder hat, besonders auf Jakob. Über ihr Äußeres und ihren Charakter ist nichts überliefert. Einen einzigen Brief von Dorothea Lenz an den Sohn gibt es. Ein kleines Schreiben voller orthographischer Unbeholfenheiten. Vierundzwanzig ist Lenz da und schon Jahre im Ausland. »Mein allerliebster Jakob«, schreibt die Mutter, »wie vergeblig habe ich nun so viele Jahre auf Deine Zu hause Kunft gewartet, wie oft habe ich nicht umsonst aus dem Fenster gesehn, wenn nur ein Fragtwagen ankam, ob ich Dich nicht erblickte, allein vergebens. Wie manche Tränen und Seufzer, habe ich nicht zu Gott geschickt, daß er Dich führen und leiten mögte. Ach wenn ich Dich auch noch einmahl sehen könnte, vor meinem Ende, und Dich segnen, ehedem ich sterbe, so wolte ich zufriden sein. Wie lange wiltu so herum irren, und Dich in solche nichtswürdigen Dinge vertifen, ach nimm es doch zu Herzen was Dein Vater Dir schreibt, es ist ja die Wahrheit, nimm es nur zu Herzen, und denke nach, was wil aus Dir werden? ich billige alles was Papa geschrieben hat.« Kein Vorwurf ist in ihrem Ton. Leiden, mütterliche Ängste. »Melde mir auch«, fährt sie fort, »ob Du jetzo ganz gesund bist mit Deinen Halse und Zähnen; ich bin Deinetwegen sehr besorgt gewesen.« Und am Schluß: »Uebrigens grüsse und küsse ich Dich zährtlig mein liebes Kind. Gott segne Dich und leite Dich auf seinen Wegen.« Die Mutter wird Jakob nicht wiedersehen, im Sommer 1778 stirbt sie, ein Jahr bevor er nach Livland zurückkommt. Von Kränklichkeit und Schwäche seiner Frau ist bei Lenzens Vater schon sehr zeitig die Rede, von nichts anderem. Auch Jakob äußert sich nicht über seine Mutter. Sicher spricht sie ihm die ersten Verse vor, singt ihm Kirchen- und Volkslieder. Sie ist in Livland aufgewachsen, kennt die schwermütigen und eigenartigen Gesänge der Esten und Letten. Zweistimmig gesungen, der Refrain besteht gewöhnlich aus den Wörtern Kassikenne, Kannikenne, mögen sie auf den Inhalt passen oder nicht. Die Neigung zur Musik, die Freude am Tanz mag die Mutter Jakob eingegeben haben. Bald wird der Junge Klavier spielen lernen (»Candid. Hoffmann, d. euch auf dem Claviere informirte« wird erwähnt), später lernt Lenz das Lautenspiel. Und Märchen mag die Mutter ihm und den Geschwistern erzählt haben. Vielleicht tut es aber auch eine alte lettische Magd, die es in den meisten deutschen Pastorenfamilien gibt. Sie berichtet Jakob, was sie selbst als Kind und junges Mädchen in der Korndarre oder an den langen Winterabenden in der Spinnstube hörte, da das Feuer wärmte und der Kienspan brannte. Die Märchen von Pikne Dudelsack, vom Galgenmännlein, vom Bäumling und Borkeline, von der schnellfüßigen Königstochter und der Aschentrine, die Geschichten von Kaval-Ants, dem schlauen Ants, und von den gewitzten Darren- und Tennenwarten und Riegenaufsehern, die Märchen von Vanatulu, dem Teufel, vom Tontlawald, dem Gespensterwald. Und von der Vogeltäuschung. Nach einem alten Volksglauben muß man gleich früh am Morgen einen Bissen essen, Vogelstimmen auf nüchternen Magen zu hören bringt Unglück.
Der Vater wird das alles nicht gern gesehen haben, und ganze Tage und lange Abende muß das Kind sicher in seiner Studierstube an den Hausandachten und Selbstbesinnungen teilnehmen, die pietistische Atmosphäre der Prüfungen, Tröstungen, Erleuchtungen, der Bußen von weltlichen Sünden in sich aufnehmen. Dort wird er, nachdem wohl die Mutter ihm die Anfänge des Lesens und Schreibens beigebracht hat, vom Vater den ersten Unterricht erteilt bekommen. Zusammen mit dem ältesten Bruder, den der Vater in seiner wenigen freien Zeit unterrichtet. Griechisch, Latein, Religionsgeschichte. Jakob ahmt nach, bekommt vom Vater sicher zuweilen eigene Aufgaben, löst sie überraschend, glänzt im Auswendiglernen.
Als der Bruder zwölf Jahre alt ist, verläßt er das Haus. General Berg bringt ihn nach Königsberg, dort soll er sich am Fridericianum auf das Theologie-Studium vorbereiten. Das ist 1758.
Anfang des Jahres 1759 gibt es große Bewegungen im Seßwegener Pfarrhaus. Unruhe. Flüstern, Sprechen der Eltern, Besuch vom Oberkonsistorium aus der Stadt. Vorstellung eines Nachfolgepastors. Lenzens Vater wird befördert. Eine Stadtpfarre in Südestland, in Dorpat, ist frei geworden. Pastor Lenz erhält sie. Im Januar wohl steht es fest. Ende Februar zieht die Familie um. Der mobile Hausrat wird verpackt. Viel ist es nicht, was ihnen gehört. Küchengerät, Töpfe, Bücher, Schreibsachen, Kleider, Bettzeug, die Wiege. Die Mutter erwartet das nächste Kind.
25. Februar 1759. An diesem Tag setzten sich vor dem Pfarrhaus die Schlitten in Bewegung. Beladen bis obenan, Körbe, Truhen, die Federbetten in Fässern. Die Kinder dick vermummt. Dorothea Charlotte zwölf, Elisabeth elf, Lenz acht, Johann Christian sieben. Der Pastor und seine Frau. Die lettischen Bauern stehen schweigend. Abschied. Hinter dem Dorf öffnet sich für Jakob eine Welt und eine zweite und eine dritte. Unendlichkeiten. Eine Schneelandschaft. Hügel an Hügel, eine sanfte Landschaft. Rechts und links der Wege kahle Erlen und Birken, die von der Bewegung des Gefährtes, auf dem er sitzt, willkürlich verändert werden, übergroß in der Nähe, in der Ferne sich verkleinernd, schließlich im Fluchtpunkt scheinbar vereint. Seltsames Spiel. Und der Himmel, der »braune Himmel Livlands« darüber aufregend und ruhelos, ein großer Himmel, der alle Erwartungen und Hoffnungen des Kindes birgt.
Schon ist die Silhouette von Dorpat erkennbar. Aber es dauert noch Stunden, bis die Schlitten die Stadt erreichen.
Dreitausend Einwohner zählt Dorpat, auch Tarbat, Tartu, Tarbeten, Dorpt oder russisch Jurjew genannt, im Süden Estlands gelegen. An der Straße nach Sankt Petersburg befindet sich die Stadt, ist von Riga 226 Werst, von Reval 185 Werst und von Narwa 174 Werst entfernt. Es ist die älteste Stadt überhaupt, älter als Riga und Reval. Wie das gesamte Baltikum hat das 1012 gegründete Dorpat eine schmerzliche und wechselvolle Geschichte. Eroberung durch den deutschen Orden, 1558 dann Einnahme der Stadt durch den Zaren Iwan Wassiljewitsch. Im siebzehnten Jahrhundert mehrfache Belagerungen durch die Polen, durch die Russen, durch die Schweden, vierzehn Belagerungen und elf Eroberungen insgesamt. Die Schweden sind die Sieger; lange lebt Dorpat unter schwedischer Herrschaft. Schließlich, am Ende des über zwanzigjährigen Nordischen Krieges fällt Estland und der nördliche Teil Lettlands an Rußland.
Im Krieg wird Dorpat 1707 durch »springende Minen beynahe zum Steinhaufen« gemacht. Ein Jahr danach werden vom Zaren Peter I. alle deutschen Einwohner Revals, Narvas und Dorpats nach Rußland verschleppt, da sie der Verräterei mit den Schweden beschuldigt werden. Sieben Jahre liegt Dorpat wüst und öde, nur wenige Letten sind in der Stadt, in den Ruinen leben Tiere, 1721, im Jahr des Nystädter Friedens, dürfen die Exilierten zurückkehren, Peter I. gibt der Stadt ihre Rechte und Privilegien wieder. Aber nur langsam erholt sich Dorpat, 1724 zählt die Stadt siebzehn neue Bürger, ein Jahr später kommen zehn hinzu.