Windmädchen
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Neue Rechtschreibung
© Obelisk Verlag, Innsbruck • Wien 2014
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Heike Ossenkop, www.hopinxit.ch
Bild: AntonRussia/photocase.de
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg
ISBN 978-3-85197-787-5
www.obelisk-verlag.at
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Ich verschwand an jenem Sonntag, an dem mein Bruder achtzehn wurde.
Eigentlich begann der Tag ganz gut. Als ich die Treppe hinunter ging, roch es nach Kaffee und ein bisschen nach angebrannten Semmeln. Deshalb nahm ich an, dass Paps mit Frühstück machen dran war. Aufbacksemmeln sind nicht so sein Ding, aber zum Bäcker will er auch nicht fahren.
Im Wohnzimmer war der Tisch schon gedeckt, in der Mitte standen Tulpen, die mich daran erinnerten, was heute für ein Tag war. Rafaels Geburtstag. Ab heute konnte er tun und lassen, was er wollte, und als Erstes würde er vermutlich die Blumen vom Tisch entfernen, wenn man ihn ließ. Er ist mehr der anti-florale Typ.
Unter dem Tisch lag Timba. Ihre Pfoten sahen aus, als wäre sie schon draußen gewesen und hätte den halben Garten umgegraben, was Mum einem Schreikrampf nahebringen würde, der Unterhaltung versprach. Andererseits war heute ein besonderer Tag und da musste man über Dinge wie schmutzverschmierte Teppiche eben hinwegsehen können.
„Guten Morgen!“ Mum kam ins Zimmer, noch im Bademantel. Die Kaffeekanne in der Hand lächelte sie mich an. „Willst du den Großen mal aufwecken gehen?“
Ich ging also hinauf und klopfte. Natürlich kam keine Antwort, also ging ich hinein und zog meinem Bruder die Decke weg.
Rafael schnaufte unwillig, ohne sich einen Zentimeter zu bewegen.
„Was ist?“, murmelte er.
„Mum hat deine Zigaretten gefunden.“
Sofort saß er aufrecht im Bett und starrte mich an. „Was?“
Ich grinste. „War nur ein Scherz.“
„Dummes Huhn. Außerdem kann sie die gar nicht finden.“
„Moment mal“, sagte ich. „Du rauchst doch nicht wirklich, oder? Rafael?“
Jetzt war er es, der mich angrinste, allerdings ohne eine Antwort zu geben. Stattdessen warf er einen Blick auf die Uhr und gleich darauf ein Kissen nach mir.
„Halb zehn? Vergiss es!“ Damit ließ er sich wieder in die Kissen fallen und schloss die Augen.
„Okay, bitte. Ist nur dein Geburtstag. Du kannst ihn aber auch gerne verschlafen, ich hab sowieso nichts für dich.“
Das stimmte nicht, ich hatte Konzertkarten für Who is who besorgt, Rafaels Lieblingsband. Die Karten hatten mein ganzes Taschengeld vom letzten Monat verschlungen und das hatte ich nur aus drei Gründen zugelassen.
Erstens, weil ich eine nette kleine Schwester bin. Zweitens, weil sein Freund Yannik auch mitkommen würde und drittens – und das ist der weitaus wichtigste Grund – weil Bibi aus der Achten auch mit dabei sein würde. Bibi verbringt die Hälfte des Tages mit Kichern und die andere wahrscheinlich mit Lästern. Sie hat zwei lange schwarze Zöpfe und ist von Kopf bis Fuß sonnengebräunt.
Und sie war der derzeitige Schwarm meines Bruders. Rafael wäre also mit Sabbern beschäftigt und irgendwann würde er mit Bibi lieber allein sein wollen. Dabei würde es ihm vielleicht nicht einmal auffallen, wie recht mir das wäre. Yannik und ich würden den beiden ein bisschen Zweisamkeit verschaffen und könnten irgendwohin gehen, wo wir alleine wären. Was so ziemlich das Beste war, das ich mir vorstellen konnte. Abgesehen davon, endlich jemandem von ihm erzählen zu können.
Ich stand noch in der Türe, als Rafael sich aufsetzte und Anstalten machte, aus dem Bett zu steigen. Und weil ein nackter Bruder nicht unbedingt zu den Bildern gehört, die ich nach dem Aufwachen brauche, ließ ich ihn allein und ging zu Mum an den Frühstückstisch.
Paps brachte die teils verkohlten Semmeln und die Sonne schien mir durchs Fenster warm auf den Rücken. Alles in allem versprach es, ein richtig guter Tag zu werden.
Dann schlurfte mein Bruder endlich ins Zimmer und wir sangen und beglückwünschten ihn. Mum erzählte die immer gleiche Geschichte von seiner Geburt, die sie fast um den Verstand gebracht hätte. Paps lachte und stimmte zu und vermied es, zu erwähnen, dass er nach kaum einer Stunde umgefallen war, wovon es ein Foto gibt, weil eine der Hebammen Humor und eine Kamera dabei gehabt hatte.
Mein Bruder sah aus, als würde er aus unserer Familienidylle am liebsten sofort abhauen, aber dann zwinkerte er mir zu und ich merkte, dass er sich doch freute. Nächstes Jahr würde er vielleicht schon ausgezogen sein und nichts wäre mehr wie vorher.
Der Gedanke machte mich ein bisschen wehmütig. Ich mochte unser Leben zu viert und mit Rafael konnte ich sowieso den meisten Spaß haben, wenn er gute Laune hatte. Bei schlechter ging man ihm am besten aus dem Weg.
Vor lauter Gedanken hatte ich wohl einen Scherz überhört, denn alle lachten. „Volljährig oder nicht volljährig“, sagte Paps, der offenbar mitten in einer Rede war, „rauchen darfst du trotzdem nicht – hör auf, die Augen zu verdrehen! – und wenn du noch einmal so viel trinkst, dass du das ganze Bad versaust, fliegst du raus! Davon abgesehen finde ich es unglaublich, dass du schon so groß und erwachsen bist …“, und so ging es weiter, Ernst des Lebens, Abschlussprüfungen, Ausziehen, noch einmal Ernst des Lebens.
So lange, bis Rafael Paps in die Seite boxte, ihm einen Kuss auf die Wange drückte, beim Zurücklehnen an die Kaffeekanne stieß und sich der ganze Kaffee über das Tischtuch ergoss. Da waren die Reden aus und jeder rettete, was zu retten war – die Brötchen waren ein Grenzfall.
Irgendwann stand Rafael auf und verkündete, er würde sich jetzt schnellstens nach einer neuen Bleibe umsehen, denn hier halte er es keine zwei Tage mehr aus, aber ich konnte ihn grinsen sehen, als er ging.
Ich half Paps, den Tisch abzuräumen und dann ging ich hinauf, um die Konzertkarten in ein schönes Kuvert zu stecken. Dass ich nach dem Frühstück noch einmal in mein Zimmer ging, war nicht weiter ungewöhnlich. Ungewöhnlicher war, dass ich nicht mehr heraus kam.
Jedenfalls nicht für Mum und Paps und Rafael, der richtig sauer wurde, als ich bis Mittag noch immer nicht da war, um Torte zu essen. Ich schätze, die ganze Sache hat ihm seinen Geburtstag ziemlich verdorben. Allerdings nicht so sehr wie mir.
Um kurz nach zwölf hörte ich Rafael meinen Namen rufen. Gleich darauf wurde meine Zimmertür aufgerissen und mein Bruder stand grinsend im Türrahmen.
„Du sagst doch sonst nicht nein zu Torte?“
Das Lächeln in seinem Gesicht erstarb und er sah sich suchend um, viel zu suchend für mein kleines Dachzimmer. Noch dazu, wo ich mitten auf dem Bett saß.
„Ich komm ja schon“, sagte ich. Kaum hatte ich fertig gesprochen, drehte er sich um und brüllte „Hier ist sie nicht!“ die Treppe hinunter.
„Haha. Sehr lustig.“ Ich stand auf.
Im nächsten Moment steckte Paps den Kopf herein, runzelte die Stirn, sagte „Vielleicht bei Linda?“ und schloss die Tür, was ja mal richtig eigenartig war. Ziemlich verdattert stand ich allein im Zimmer.
Unten rief Rafael: „Woher soll ich wissen, wo sie hingegangen ist?“
Mum erwiderte irgendetwas und auf einmal hatte ich ein ungutes Gefühl. Dann ging ich zur Tür und als ich die Türklinke in meiner Hand spürte und daran zog, passierte gar nichts. Die Klinke bewegte sich nicht einen Millimeter und das war irgendwie gar nicht gut. Ich packte fester zu und drückte und zog. Irgendwann zerrte ich nur noch daran herum und versuchte zu verstehen, was mit der verdammten Tür los sein könnte.
Ich probierte es ein zweites Mal ohne Erfolg. Auch mein Fenster rührte sich kein bisschen, als ich danach griff. Mir fiel nichts Besseres mehr ein, als zu warten.
Eine halbe Ewigkeit lang saß ich auf meinem Bett und starrte die Tür an. Ich versuchte zu begreifen und ruhig zu bleiben, weil es ja wohl nicht sein kann, dass man am 18. Geburtstag seines Bruders plötzlich nicht mehr da ist und keiner einen hört, wenn man „Ich komme gleich, verdammt“ nach unten schreit, so wie an jedem anderen Tag auch, nur dass eben diesmal niemand antwortet.
Vom Schreibtisch ertönte ein Klingeln, ich zuckte zusammen. Mein Handy. Instinktiv griff ich danach. Das Handy vibrierte unter meinen Fingern, aber ich konnte es weder bewegen noch heben. „Mum ruft an“, erinnerte das Display. Ich biss mir auf die Lippen und dachte, Danke, darauf wäre ich auch allein gekommen.
Ich schaute an mir herunter und betrachtete meine Hände, die aussahen wie immer, vielleicht ein bisschen blass. Mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher, ob dieser Schwachsinn so schnell vorübergehen würde, wie er gekommen war und deshalb ging ich zum Spiegel, nur um sicher zu gehen. Dort stand ich und fragte mich, wo ich geblieben sein könnte, denn im Spiegel war ich eindeutig nicht.
Jetzt bekam ich ein richtig mieses Gefühl. Bei näherem Hinsehen konnte ich schließlich doch etwas Undeutliches erkennen, aber es war nicht mehr als ein silbriger Schemen, der sich in die Luft einbettete und darin verschwand, als hätte der Wind mich fortgetragen und nur meine Stimme hier gelassen. Als ich die Hand hob, sah ich die Bewegung kaum im Spiegel, so hell war dieses Etwas, das eigentlich ich sein sollte.
Irgendwann läutete unten das Telefon und Mum hob ab, sie sprach schnell und hektisch, aber verstehen konnte ich nichts. Auch nicht, wenn ich mein Ohr an die Tür presste, die glatt und kühl war wie immer und sich trotzdem nicht öffnen ließ.
Unten bellte Timba und Rafaels Stimme sagte „Jetzt nicht“ und ich hörte Timba bis nach oben winseln. Mum telefonierte immer noch und jetzt sagte Paps etwas von Warten und dann knallte eine Tür und Rafael konnte seinen achtzehnten Geburtstag vergessen.
Eine Zeitlang war es ganz ruhig. Schließlich hörte ich Schritte auf der Treppe und Paps steckte seinen Kopf in mein Zimmer und seufzte und bevor ich einen Schritt machen konnte, schloss er die Tür wieder.
„Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, rief ich ihm nach, viel lauter als beabsichtigt, aber er kam nicht zurück. Langsam kotzte mich dieses Was-auch-immer-passiert-war ziemlich an. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es aus meinem Zimmer schaffen sollte, ohne die Tür öffnen zu können. Denn hinaus musste ich, das war klar.
Um mich herum sah alles aus wie immer. Ein paar Kleidungsstücke waren verstreut und mein blauer Lieblingspulli war vom Sessel gefallen. Ich bin kein sehr ordentlicher Mensch, aber in diesem Moment wollte ich ihn unbedingt aufheben. Während ich mich bückte, ahnte ich, was passieren würde. Oder eher nicht passieren. Der Stoff war weich unter meinen Fingern, als ich darüber strich, aber als ich zupackte und zog, war es, als hätte ich überhaupt keine Kraft mehr. Nicht einen Millimeter konnte ich ihn heben, nicht einmal mit dem Fuß ließ er sich wegkicken. Frustriert gab ich auf und akzeptierte den blauen Fleck am Fußboden. Um ihn würde ich mich später kümmern. Hoffte ich.
Am Schreibtisch lag mein Vokabelheft, geöffnet auf Seite drei. Soviel zum Lernen für meine morgige Schularbeit. Es kam mir fast lächerlich vor, dass ich an die Schule dachte, obwohl ich gerade unsichtbar war, aber das war wohl eine Ausnahmesituation.
Es dauerte eine gefühlte Stunde, bis wieder jemand herauf kam. Wenigstens war es Rafael, der schon seine eigene Zimmertür immer offen lässt, wie auch seine Schranktüren und seine Schubladen und den Geschirrspüler. Auch wenn er mich sonst damit in den Wahnsinn trieb, hoffte ich jetzt, dass er nicht dazugelernt hatte.
Im nächsten Moment stand er vor mir und schaute durch mich durch. Dann ging er zu meinem Schreibtisch, nahm mein Handy und begann darauf herumzutippen. Irgendwie fand ich es dreist, auch wenn er bloß wissen wollte, wo ich steckte. Offenbar fand er nichts Brauchbares.
Ich sagte „Rafael“ und meine Stimme zitterte ein bisschen. Er reagierte nicht, tippte einfach weiter auf meinem Handy herum und und ich sagte noch einmal „Rafael!“ und dachte, „das kann doch nicht wahr sein.“ Und dass ich ja wohl gleich aufwachen würde und alles wäre normal. Aber nichts passierte und zwar gar nichts, außer dass mein Bruder jetzt auch noch anfing, meinen Schreibtisch zu durchwühlen. Angesichts der Tatsache, dass er mich offenbar weder hören noch sehen konnte, war mir das allerdings ziemlich egal.
Dann richtete er sich auf und runzelte die Stirn, wie er sie nur runzelt, wenn ihm etwas gar nicht passt, aber er nichts daran ändern kann. Ich hätte mich am liebsten auf mein Bett geworfen, so schwer wurde mir zumute. Aber dann läge ich wohl heute noch dort, also zwang ich mich, aus meinem Zimmer zu gehen und die Stiegen hinunter, bevor Rafael die Tür wieder schloss. Ich hätte in diesem Moment wahrscheinlich tausend wichtigere Gedanken haben können, aber vor allem wunderte ich mich, dass die Treppe nicht knarrte wie sonst.
Unten angekommen, wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Mich zu suchen. Zu finden. Möglichst schnell.
Die Tür zur Küche stand offen. Ich schaute hinein, aber da war niemand. Nur der Geschirrspüler summte vor sich hin und tat so, als wäre alles ganz normal.
Rafael kam die Stufen hinunter und bei ihm machte die Treppe jede Menge Lärm, sie polterte und krachte und ächzte und ich fragte mich, ob er wohl die Konzertkarten auf meinem Schreibtisch gesehen hatte. Und wie wir überhaupt gemeinsam gehen sollten, wenn das so weiter ging mit mir.
Rafael schlüpfte in seine Schuhe. „Mum?“, rief er. Keine Antwort. „Mum!“
„Ich komme!“ Ihre Stimme klang dumpf. Dann ging die Kellertüre auf und sie stellte schnaufend eine Kiste ab. „Du hast doch mal nach deinen Fußballfotos gefragt“, sagte sie und strich sich eine Strähne aus der Stirn. „Ich hab sie gefunden!“
Rafael warf einen kurzen Blick auf die Kiste. „Karas Handy liegt auf ihrem Schreibtisch“, sagte er, und mit einem schiefen Lächeln: „Damit wäre wohl erklärt, warum du sie nicht erreicht hast.“
Mum seufzte. Mit dem Fuß schob sie ein Paar Schuhe zur Seite, die mitten im Raum lagen.
„Könntest du bei Linda vorbeischauen?“, fragte sie. „Dann werde ich mal bei Jenny und Ines nachfragen, ob sie sich mit Kara treffen wollten, vielleicht hat sie ja die Zeit vergessen.“
Rafael deutete auf die Schuhe an seinen Füßen. „Hatte ich vor“, sagte er knapp und ich nahm an, dass Linda in seiner Beliebtheitsskala nicht gerade gestiegen war.
Obwohl er selbst nie erreichbar war, fand mein Bruder, es sei eine Sache des Anstandes, zumindest mit einem Festnetztelefon ausgestattet zu sein. Lindas Mutter sah das anders, sie sah vor allem die Strahlung und die Überwachbarkeit. Deshalb würde Linda wohl erst mit vierzig ein Handy haben, wenn sie sich endlich durchgesetzt hätte. Bis dahin musste man vorbeikommen und klopfen wie im Mittelalter. Von unserem Haus braucht man mit dem Rad keine zehn Minuten zu Linda und es ist komplett verrückt, dass mein Bruder das ganze Wochenende Fußball spielen und dabei zehn Kilometer laufen kann und das bisschen Radfahren ist ihm zu viel. Aber es geht ums Prinzip, sagt er. Irgendwann wird er Linda so sehr nerven, dass sie sich zumindest heimlich ein Handy anschaffen wird. Mein Bruder steht eben auf Herausforderungen.
„Ich warte mal, was Jenny und Ines sagen“, sagte Rafael gedehnt. „Bevor ich da umsonst hinfahre“. Er lehnte sich gegen den Türstock und ich verdrehte die Augen und wünschte, er könnte es sehen.
Mum hielt sich das Handy ans Ohr, wartete, fuhr sich mit der freien Hand durch die Haare. Dann sagte sie: „Jenny? Susanne hier. Ist Kara bei dir?“
Sie begann mit dem Handy in der Hand in Richtung Wohnzimmer zu wandern. „Oder weißt du, wo sie sein könnte?“ Ich konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass Jenny keine Idee hatte. Tatsächlich hatten wir noch nie am Wochenende etwas zusammen gemacht. Jenny mochte Linda nicht besonders und Linda war eben meine beste Freundin.
„Danke, trotzdem“, sagte Mum und ließ sich auf der Sofakante nieder, während sie die nächste Nummer wählte.
Ich setzte mich neben sie. Ich wollte wissen, was gesprochen wurde, immerhin ging es um mich. Außerdem … Vielleicht hatte jemand tatsächlich eine Idee, was passiert war? Irgendetwas Seltsames musste ja geschehen sein.
Ich erkannte Ines an der Stimme, sie schreit immer so ins Telefon. Mum zuckte zusammen, wie ich es tat, wenn ich kurz vergessen hatte, wen ich gerade anrief. Mum wiederholte ihre Frage.
„Kara?“, sagte Ines. „Wo soll sie sein?“
Ines ist nicht gerade die Schnellste und wenn jemand ganz bestimmt nicht wusste, wo ich sein könnte, dann war sie es. Jeden Dienstag war Chorabend in der Schule, seit vier Jahren jeden Dienstag, und jeden zweiten Dienstag vergaß Ines das. Bei ihr konnte man froh sein, wenn sie sich nicht selbst verlor. Was ich wohl gerade geschafft hatte, schoss mir durch den Kopf. Das war kein sehr aufbauender Gedanke.
„Wann war sie denn noch da?“, fragte Ines jetzt.
„Beim Frühstück“, sagte Mum. Ihre Augen huschten zur Wanduhr, die zwölf anzeigte, „und jetzt ist sie seit zwei Stunden weg. Normalerweise würde sie Bescheid sagen. Rafael hat doch heute Geburtstag.“ Ab da war Ines ganz sicher nicht mehr zu gebrauchen, weil sie so komplett in meinen Bruder verschossen war, dass es richtig nervte. Vor allem, weil Rafael regelmäßig vergaß, dass er sie überhaupt kannte.
Ines gab trotzdem nicht auf, sie hatte wohl auch nichts gegen Herausforderungen, das war bisher die einzige Gemeinsamkeit der beiden.
„Tut mir Leid, ich sage Bescheid, wenn ich etwas höre“, sagte Ines so laut, dass Rafael es wahrscheinlich bis zur Treppe hören konnte und Mum nickte und sagte: „Ja, danke, das ist nett, wahrscheinlich hat sie es einfach nur vergessen.“ Sie hörte sich nicht sehr überzeugt an, auch ich musste zugeben, dass die Idee nicht sehr plausibel war. Ich bin vielleicht nicht mutig oder fleißig oder gut in Mathe. Aber ich vergesse keine Geburtstage. Es gibt ziemlich viele Dinge, die meine Eltern nicht über mich wissen, schon allein mit Yannik könnte ich ein Buch füllen, doch soweit kennen sie mich schon.
Yannik. Ich verdrängte ihn aus meinem Kopf, im Moment hatte ich wirklich andere Probleme. Außerdem würde ich mich nur noch im Kreis drehen, wenn ich jetzt auch noch an ihn dachte.
Rafael stand im Türrahmen und strich sich durch den Bart, den er sich neuerdings stehen ließ, um erwachsener auszusehen.
„Ich fahre jetzt zu Linda“, sagte er und seine Stimme klang noch ein bisschen tiefer als sonst. Mum nickte und sagte, dann würde sie noch die Wäsche waschen, irgendetwas müsse sie ja tun. Ich ging mit ihr ins Bad und sah zu, wie sie die Wäsche sortierte und die Maschine einschaltete. Ich stellte mich ans Fenster, um nachzusehen, wo Paps eigentlich steckte, und dann fiel hinter mir eine Tür ins Schloss.
Ich drehte mich um, Mum war weg und ich stand allein im Badezimmer mit einer ganz schlechten Vorahnung. „Scheiße“, sagte ich. Schon stand ich an der Tür, hämmerte dagegen und brüllte: „Mum kannst du mich hören?“
Ich hämmerte weiter und natürlich hörte mich niemand. Mir wurde heiß vom Schreien und dann schmeckte ich Salz auf der Zunge. Erst jetzt bemerkte ich die Tränen, die mir die Wangen hinunter liefen und von meinem Kinn tropften.
Keine erreichte den Boden. Sie wurden einfach immer durchsichtiger, während sie fielen und mir wurde schwindlig beim Zusehen.
Ich ließ mich zu Boden sinken und stützte den Kopf in die Hände, bis ich nicht mehr weinen konnte. Danach bewegte ich mich keinen Zentimeter. Vor lauter Hilflosigkeit hätte ich auch gar nicht gewusst, in welche Richtung. Wie war ich nur in dieser Situation gelandet?
Hinter mir rumorte die Waschmaschine und machte es unmöglich, etwas von draußen zu hören. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie alle verschwunden waren.
Wie konnten sie überhaupt so ruhig bleiben? Jetzt wurde ich wütend, auf Mum und Paps und Rafael, der wissen müsste, dass ich ihn nicht im Stich lassen würde! Und dass ich nicht einfach so abhaute, wo wir gestern noch bis in die Nacht geplant hatten, wohin wir heute Abend zum Feiern gehen würden!
Ich saß da und kämpfte den Zorn nieder, der richtig praktisch sein kann, wenn man jemandem die Meinung sagen will. Aber jetzt und hier half er mir gar nichts und deshalb war es wohl besser, mich zusammenzureißen und tief ein und aus zu atmen, wie Mum immer sagte, wenn wir uns zu sehr aufregten. Irgendwann würde wohl wieder jemand hereinkommen, immerhin lief die Waschmaschine. Der Gedanke beruhigte mich ein bisschen.
Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand und schaute der Wäsche zu, die in der Trommel umhergewirbelt wurde und dann sah ich den Socken.
Einen roten Socken, mitten in all den weißen Sachen. Ich dachte an Mum, die wohl doch ziemlich durch den Wind war. Und wusste, ich musste so schnell wie möglich wieder auftauchen. Nicht nur wegen Mum.
Yannik schlich sich nun doch wieder in meine Gedanken. Ob Rafael auf die Idee kommen würde, bei ihm nachzusehen? Ich wusste nicht, ob mir diese Idee gefallen würde oder nicht.
Die Waschmaschine rumpelte ein letztes Mal, dann war sie still. Ich hörte Schritte und dann wurde die Tür geöffnet und Paps kam mit einem riesigen Wäschekorb herein. Er wirkte müde, seine Haare waren zerzaust. Wenn Paps aufgeregt ist, fährt er sich andauernd durch seine Locken.
Einen Augenblick lang erwartete ich, dass er mich anschaute und vielleicht fragte, warum ich so verheult aussah. Aber er sagte nichts, also stand ich auf und drückte mich an ihm vorbei. In dem Moment drehte er sich um und knallte mir seinen Ellbogen an die Schläfe. „Au verdammt!“, brüllte ich. Paps reagierte kein bisschen und ich machte, dass ich aus dem Badezimmer kam. Dann stand ich im Vorraum, fluchte vor mich hin und befühlte die Beule an meinem Kopf. Noch mieser konnte der Tag wirklich nicht mehr werden.
Ich musste an die frische Luft, bevor ich hier drinnen noch verrückt wurde. Außerdem hatte ich keine Lust, Paps noch einmal im Weg zu stehen.
Die Haustüre stand zwar nur einen Spalt offen, aber besser als nichts. Ich konnte hinaus.
Die nächste Stunde verbrachte ich im Freien und ging ziellos durch die Straßen. Es war kaum jemand unterwegs. Meine Füße fühlten sich trotz der Socken an, als würde ich direkt auf dem Asphalt gehen, der warm von der Sonne war. Überhaupt war es ein eigenartiges Gefühl ohne Schuhe. Ich versuchte, nicht zu sehr auf den Schotter zu treten, der am Straßenrand lag, aber in die Straßenmitte traute ich mich auch nicht. Ich wollte wirklich nicht herausfinden, wie mein Körper auf eine Kollision mit einem Auto reagierte.
Am Waldrand blieb ich stehen und schaute zurück auf die Straße, die in die Kleinstadt führte, in der wir wohnten und die ich immer langweilig gefunden hatte. Mit ihren Reihenhäusern und Kastanienalleen und den spießigen alten Leuten, die stundenlang ihren Garten gossen. Ich musste mir eingestehen, dass ich gegen ein bisschen Normalität in diesem Moment nichts gehabt hätte.
In den Baumwipfeln rauschte der Wind so laut, dass ich den Kopf hob, um zu sehen, ob ein Gewitter heranzog und tatsächlich wurde der Himmel dunkler. Obwohl ich Regen eigentlich mag und eine kalte Dusche vielleicht nicht schlecht gewesen wäre, drehte ich um und ging zurück. Wahrscheinlich mehr aus Gewohnheit und weil ich keine Lust hatte, in den Wald zu gehen, um mich dort noch einsamer zu fühlen. Außerdem ist Waldboden nicht gerade der ideale Untergrund, um fast barfuß zu gehen und wenn ich an die Ameisen dachte, kribbelten meine Füße schon von allein.
Der Regen holte mich zwei Straßen vor unserem Haus ein. Ich wunderte mich kaum noch, dass mich die Tropfen nicht wirklich berührten und meine Haut sich anfühlte, als wäre sie mit einer hauchdünnen Schicht aus Eis überzogen, nicht einmal dick genug für eine Gänsehaut.
Die Haustür war geschlossen, aber immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Ich setzte mich neben unseren Holunderbüschen ins Gras, das nass war, aber als ich mit den Fingern den Stoff meiner Hose befühlte, war er nicht einmal feucht geworden. Um mich herum wuchsen Gänseblümchen, die ihre Blüten dem Himmel entgegenstreckten. Ich versuchte, mit den Fingern eines umzuknicken, es widerstand mühelos. Plötzlich wurde die Türe geöffnet und Timba rannte ins Freie.