Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Zitat
  7. Karte 1
  8. TEIL EINS: FINDE DEN WEG
    1. Komm nach Hause
    2. Der blinde Passagier
    3. Zweite Chancen
    4. Zimmernachbarn
    5. Sturmreiter
    6. Beschlüsse
    7. Noahs Arche
    8. Nalas Welt
    9. Ein Segen
  9. Bildteil
  10. Karte 2
  11. TEIL ZWEI: AUF UND AB
    1. April, April
    2. Schwester Nala
    3. Der Spiderman von Santorini
    4. Getrennte Wege
    5. Die Schnecke
    6. In die Wildnis
    7. Nalas Netzwerk
    8. Eine andere Welt
    9. Teestunde
  12. Karte 3
  13. TEIL DREI: NEUE WEGE
    1. Ghost
    2. Lokalheld
    3. Ein Mann und seine Katze
    4. Der größte Fan
    5. Russisches Roulette
    6. Der gute Reisende
    7. Danksagung

Über das Buch

Zwei freie Geister. Eine lebensverändernde Freundschaft. Eine ganze, weite Welt zu entdecken. Als Dean von seiner Heimat Schottland aus zu einer Weltreise aufbrach, wollte er so viel wie möglich über den Zustand unseres unruhigen Planeten erfahren. Er war schon eine Weile unterwegs, hatte keinen richtigen Plan mehr und etwas Heimweh, als er auf einem Berg zwischen Bosnien und Montenegro auf ein zerrupftes Kätzchen mit klaren Augen und struppigem Fell traf. Dean nahm das kleine Bündel an Bord, nannte es Nala, und seitdem sind die beiden unzertrennlich. Gemeinsam erleben sie unvergessliche Freundschaften und die unglaubliche Freundlichkeit von Fremden, sie retten Hunde, säubern Strände und verbringen Zeit mit Flüchtlingen. Wo sie hinkommen, bewegen sie etwas im Leben der Menschen, die ihnen begegnen. Ihre Clips auf TheDodo und Youtube bezaubern die Menschen auf der ganzen Welt. »Bevor ich mich auf diese epische Fahrradreise begab, drohte ich den falschen Weg in meinem Leben einzuschlagen. Seit ich mich mit Nala zusammengetan habe, hat sie mir einen Lebenszweck und einen Grund gegeben, erwachsen zu werden. Ich bin ein 100 % besserer Mensch.«

Über den Autor

Dean Nicholson startete im September 2018 in seiner schottischen Heimatstadt Dunbar. Seine Mission:
Einmal um die Erde, auf dem Fahrrad. Anfang 2019 postete er ein Video von seiner ersten Begegnung mit Nala auf Instagram. The Dodo, die website für Tierfans aus aller Welt, wurde darauf ­aufmerksam, teilte das Video und löste damit eine Welle der Begeisterung aus. Das Video wurde bis heute über 130 Millionen Mal angesehen.

Dean Nicholson

Mit Garry Jenkins

NALAS WELT

Ein Mann, eine Straßenkatze und
eine Freundschaft, die alles ändert

Aus dem Englischen von
Elisa Valérie Thieme

Das Schicksal ereilt uns oft auf den Wegen,
die man eingeschlagen hat, um ihm zu entgehen.

JEAN DE LA FONTAINE

Gibt es ein größeres Geschenk
als die Liebe einer Katze?

CHARLES DICKENS

TEIL EINS


FINDE DEN WEG

Bosnien – Montenegro –
Albanien – Griechenland

KOMM NACH HAUSE

In Schottland gibt es ein weises altes Sprichwort: Whit’s fur ye’ll no go past ye. Das bedeutet so viel wie: »Was für dich bestimmt ist, wird nicht an dir vorbeiziehen.« Manche Dinge im Leben sollen einfach passieren. Was sein soll, wird sein. Es ist Schicksal.

Von Anfang an hatte ich das Gefühl, dass Nala und ich auf diese Weise zusammengeführt wurden. Es konnte kein Zufall sein, dass wir im selben Moment am selben gottverlassenen Ort waren. Oder dass sie im perfekten Augenblick in mein Leben tapste. Es kam mir so vor, als hätte jemand sie mir gesandt. Sie schenkte mir den Sinn, den ich bis dahin vermisst hatte. Ich werde es natürlich nie genau wissen, aber ich stelle mir gerne vor, dass ich Nala ebenfalls das gegeben habe, wonach sie gesucht hat. Je mehr ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich von dem Gedanken. Für jeden von uns beiden sollte diese Freundschaft einfach sein. Wir waren dazu bestimmt, gemeinsam erwachsen zu werden und die Welt zu sehen.

Drei Monate bevor wir uns trafen – im September 2018 – war ich von meiner Heimatstadt Dunbar an der Ostküste Schottlands zu einer Fahrradtour rund um den Globus aufgebrochen. Ich war kurz zuvor dreißig geworden und wollte mich von der Routine in meinem Leben freimachen, meiner kleinen Ecke der Welt entfliehen und endlich etwas Sinnvolles erreichen. Man kann wohl sagen, dass die Reise nicht gerade wie geplant verlief. Ich hatte es durch Nordeuropa geschafft, aber der Trip war eine einzige Ansammlung von Umwegen und Ablenkungen, von Fehlstarts und Rückschlägen, wovon einige auf mein Konto gingen. Eigentlich wollte mein Freund Ricky mich begleiten, aber irgendwann drehte er um und radelte wieder nach Hause. Das war vermutlich kein Fehler. Wir haben nicht immer den besten Einfluss aufeinander.

Als ich in der ersten Dezemberwoche durch den Süden Bosniens in Richtung Montenegro, Albanien und schließlich Griechenland fuhr, hatte ich endlich das Gefühl, Fortschritte zu machen. Ich war bereit für die Erfahrung, auf die ich ursprünglich gehofft hatte. Langfristig träumte ich davon, entlang der uralten Seidenstraße durch Kleinasien bis nach Südostasien zu radeln und von dort aus nach Australien überzusetzen, nach einer Tour durch den Kontinent dann den Pazifik zu queren und weiter mit dem Rad durch Süd-, Mittel- und Nordamerika zu zuckeln. Ich stellte mir vor, wie ich durch Reisfelder in Vietnam und Wüsten in Kalifornien radeln würde, Bergpässe im Ural überquerte und Strände in Brasilien entlangfuhr. Die Welt lag mir zu Füßen. Die Reise würde mich so lange in Anspruch nehmen, wie es eben dauerte. Ich hatte keinen Zeitplan ausgetüftelt. Ich brauchte keinen – es gab niemanden mehr, vor dem ich Rechenschaft ablegen musste.

An jenem besonderen Morgen hatte ich schon bei Morgengrauen mein Zelt in einem kleinen Dorf nahe Trebinje abgebaut. Es war etwa halb acht. Abgesehen von ein paar bellenden Hunden und einem Müllwagen waren die glänzenden Pflasterstraßen nahezu leer. Ich rumpelte über die Steine, wobei mich das Klappern meines sandfarbenen Fahrrads wachrüttelte, dann machte ich mich in Richtung der Straße auf, die in die Berge zur Grenze Montenegros hinaufführte.

Für die nächsten Tage waren Schnee und Graupelschauer vorhergesagt, aber der Himmel war klar und die Temperatur eher mild. Schon bald hatte ich ordentlich Kilometer wettgemacht. Nach mehreren frustrierenden Wochen fühlte es sich gut an, wieder auf der Straße zu sein und einfach Rad zu fahren. Den Großteil der letzten Tage hatte ich mit einem Gips verbracht und musste mich von einer Beinverletzung erholen, die ich mir geholt hatte, als ich von der berühmten »Stari Most«-Brücke in Mostar gesprungen war, ein paar Stunden von meinem jetzigen Aufenthaltsort entfernt. Es war völlig verrückt gewesen. Die Einheimischen hatten mir davon abgeraten, im Winter sei der Fluss zu tief. Aber ich hatte schon immer einen Hang zu eigentümlichen Entscheidungen gehabt; einmal der Klassenclown, immer der Klassenclown. Soweit ich es beurteilen kann, war mein entscheidender Fehler, auf den Guide zu hören, der mich überredet hatte, eine andere Technik anzuwenden als die, mit der ich zu Hause in Dunbar von den Klippen sprang. Ich kam mit angewinkelten Knien auf dem eiskalten Wasser auf. Während ich ans Ufer schwamm, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Ein Arzt bescheinigte mir einen Riss des vorderen Kreuzbands im rechten Knie und dass ich mich auf drei Wochen im Gips einstellen müsse.

Das hatte ich auf eine Woche verkürzt. Mir mangelte es an Geduld, länger dazubleiben, und ich hatte Mostar noch vor meinem nächsten Termin im Krankenhaus verlassen. Das war vor einigen Tagen gewesen, und jetzt, mit der aufgehenden Sonne vor mir, machte ich mich an die lange, langsame Bergauffahrt. In meinem Kopf dröhnte ein lauter Gedanke: Mach es bloß nicht noch schlimmer. Ich wusste, dass mein Knie okay war, solange ich es nicht drehte.

Ich konzentrierte mich darauf, meine Beine rhythmisch und im gleichen Abstand hoch und runter zu bewegen. Schon bald ging es wie von selbst. Alles schien in Ordnung zu sein. Ich war davon überzeugt, achtzig Kilometer oder vielleicht sogar das Doppelte abreißen zu können.

Am späten Vormittag erreichte ich eine bergige Region am südlichen Zipfel Bosniens. Es kam mir so vor, als wäre ich weit von der Zivilisation entfernt. Die letzte nennenswerte Stadt hatte ich vor sechzehn Kilometern hinter mir gelassen. Ein Stück weiter war ich an irgendeinem Lastwagen vorbeigefahren, aber der war leer gewesen. Ich war vollkommen allein. Die Passstraße war nicht gerade steil; es war eher ein langer, langsamer Anstieg, was mir sehr recht war. An einigen Abschnitten hörte die Straße einfach auf, was mir heiß ersehnte Verschnaufpausen verschaffte. Der Ausblick war spektakulär; ich kam an hohen Bergketten vorbei und blickte zu erhabenen, verschneiten Gipfeln auf. Es war berauschend.

Ich fühlte mich so beflügelt, dass ich beschloss, Musik anzumachen. Die Klänge von »Come Home«, dem neuen Song von einer meiner Lieblingssängerinnen, Amy McDonald, strömten schon bald aus dem Lautsprecher, den ich hinten an mein Rad gehängt hatte. Beim Refrain sang ich aus vollem Herzen mit.

An einem anderen Tag hätten mich die Liedzeilen vielleicht krank vor Heimweh gestimmt. Und es gab auch einen Moment, in dem ich an meine Mutter, meinen Vater und meine Schwester zu Hause in Schottland dachte, die darauf warteten, dass ich eines nicht allzu fernen Tages zurückkommen würde. Wir hatten ein enges Verhältnis zueinander, und ich vermisste sie, aber gleichzeitig ging es mir gerade zu gut, um lange darüber zu brüten. Mein Zuhause muss noch ein bisschen warten, sagte ich mir. Natürlich kam mir nicht in den Sinn, dass etwas anderes auf mich warten könnte. Ein bisschen näher an dem, was nun mein Zuhause war.

Ich fuhr gerade auf einem weiteren sanft ansteigenden Straßenabschnitt, als es passierte. Zunächst war ich mir nicht ganz sicher, was ich von dem schwachen hohen Laut halten sollte, der irgendwo hinter mir ertönte. Im ersten Moment tat ich es als das Quietschen meines Hinterreifens oder eine Lockerung an den massigen Satteltaschen ab, die fast meine gesamte Kleidung und Ausrüstung verwahrten. Bei der nächsten Pause würde ich nachsehen und vielleicht auch mal neu ölen. Doch dann – ich hatte aufgehört zu singen, und das Geräusch ertönte noch einmal klarer – erkannte ich, was es war. Ich drehte mich überrascht um. Das konnte doch nicht sein, oder? Das war ein Miauen gewesen.

Ich blickte mich um, und auf einmal sah ich es. Ein abgemagertes getigertes Kätzchen flitzte die Straße entlang und versuchte verzweifelt, mit mir Schritt zu halten.

Im nächsten Moment machte ich eine Vollbremsung und hielt an.

Ich war schockiert.

»Was zum Teufel machst du denn hier?«, fragte ich.

Ein ganzes Stück weiter unten waren einige Ziegenställe und Bauernhöfe gewesen, aber hier oben in den Bergen hatte ich schon seit einigen Kilometern kein Gebäude mehr gesehen. Es gab kaum Verkehr. Mir war unerklärlich, woher das Kätzchen kommen konnte oder, vielleicht noch wichtiger, wohin es wollte.

Ich beschloss, es mir einmal genauer anzusehen, aber nachdem ich das Fahrrad abgestellt hatte und abgestiegen war, war das Kätzchen schon von der Straße gehüpft, durch die Leitplanken geschlüpft und in Richtung einiger großer Felsbrocken davongewuselt. Ich folgte ihm und näherte mich vorsichtig an. Offensichtlich war es noch sehr jung, gerade mal ein paar Wochen alt. Es war ein angriffslustiges kleines Ding mit langem, schlankem Körperbau, spitz zulaufenden Öhrchen, dürren Beinen und einem buschigen Schwanz. Sein Fell war dünn und wetterzerfressen, gefleckt mit rostroten Tupfen. Aber es hatte durchdringende, riesige grüne Augen, die mich so intensiv musterten, als wollte das kleine Tier herausfinden, wer ich sei. Ich ging langsam näher heran und stellte mich darauf ein, dass es verwildert sein könnte und abhauen würde, sobald ich zu nah herankam. Aber es schien meinetwegen nicht im Mindesten besorgt zu sein. Das Kätzchen ließ mich seinen Nacken und Rücken streicheln, drängte sich eng an mich und schnurrte leise, so als freute es sich über menschlichen Kontakt und Aufmerksamkeit. Diese Katze hat in einem normalen Zuhause gelebt, dachte ich. Vielleicht war sie ausgebüxt, oder, und das hielt ich für wahrscheinlicher, man hatte sie am Straßenrand ausgesetzt. Ich spürte, wie mich der Gedanke wütend machte. Außerdem merkte ich, dass mein Widerstand bröckelte.

»Du armes, kleines Ding«, sagte ich leise.

Ich ging zum Fahrrad zurück und öffnete eine der Satteltaschen. Viel Essen hatte ich nicht an Bord, aber ich beschloss, ihm einen Löffel meines Tomatenpestos, das ich fürs Mittagessen eingeplant hatte, abzugeben. Ich strich die stückige rote Paste auf einen Stein und ließ das Kätzchen seinen Hunger stillen.

Es führte sich auf, als hätte es schon seit einer Woche nichts mehr zu essen gesehen, und verschlang das Pesto mit irrsinnigem Appetit. Ich hatte die Highlights meiner Reise vor allem für meine Freunde und Familie bei Instagram gepostet und beschloss, diese eigenartige Begegnung zu filmen. Vielleicht würde ich den Moment später mit anderen teilen. Das Kätzchen war auf jeden Fall sehr fotogen und schien fast mit der Kamera zu kokettieren, als es lässig über die Steine am Straßenrand sprang. Die Wahrheit war jedoch nicht so hübsch: Auf sich allein gestellt, würde es bald an Kälte oder Hunger sterben. Es könnte auch von einem der riesigen Lastwagen, die ab und an vorbeikamen, überfahren werden. Oder einer der Greifvögel, die ich über diversen Berggipfeln hatte kreisen sehen, würde es töten. Es war so klein und zart, dass ein Adler oder Bussard es leicht greifen und vom Boden schnappen könnte. Schon seit meiner Kindheit in Schottland habe ich eine Schwäche für Tiere und habe mich immer zu herrenlosen Tieren und Streunern hingezogen gefühlt. Unter anderem habe ich mich um Wüstenrennmäuse, Hühner, Schlangen, Fische und sogar Stabheuschrecken gekümmert. Während meiner Schulzeit päppelte ich einmal eine verletzte junge Seemöwe auf. Sieben Wochen lang lebte der Vogel bei uns, die ganzen Sommerferien über. Er wurde mit der Zeit zahm, und meine Eltern haben immer noch ein Foto, das mich mit der Möwe auf dem Kopf zeigt. Irgendwann flog sie davon – geheilt und gesund.

Da Tiere nun mal Tiere sind, lief mein Bemühen, ihnen zu helfen, nicht immer nach Plan. Als ich auf einem Bauernhof jobbte, nahm ich dummerweise einmal zwei verwaiste Ferkel mit nach Hause. Ich legte sie unter eine Wärmelampe in mein Zimmer. Was für eine idiotische Idee. Sie drehten total durch, wühlten sich durch meine Klamotten und richteten ein heilloses Chaos an. Und dann erst der Krach – das Quieken klang so, als wollte sie jemand abstechen. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens.

Um ehrlich zu sein, hatte ich mich eher für einen Hunde- denn für einen Katzenfreund gehalten. Katzen hatte ich immer als aggressiv eingestuft. Aber diese hier sah überhaupt nicht so aus; sie war so unschuldig und so verwundbar. Keiner Fliege könnte sie etwas zuleide tun. Doch obwohl mein Herz flüsterte, ich solle das Kätzchen mitnehmen, sagte mein Kopf etwas Vernünftigeres. Es hatte schon genug Drama auf meiner Tour gegeben, und jetzt lief es endlich rund. Wenn ich es bis zum Abend noch bis nach Montenegro schaffen wollte, durfte ich mich nicht hiermit aufhalten.

Ich trat wieder auf die Straße und schob mein Rad neben mir her, während das Kätzchen an meiner Seite trabte. Ich weiß nicht, warum, aber ich war davon überzeugt, dass es irgendwann gelangweilt sein würde, etwas anderes zum Spielen finden und dann davonflitzen würde. Aber nach fünf Minuten war klar, dass es nirgendwohin gehen würde. Es gab wohl auch keinen Ort, an den es gehen könnte. Die felsige, von Gestrüpp bewachsene Landschaft war ziemlich unwirtlich, und falls die Wettervorhersage stimmte, würde bald alles von Schnee bedeckt sein. Das Kätzchen würde keinen Tag hier oben überleben, stellte ich fest. Wenn überhaupt.

Ich seufzte. Mein Herz hatte meinen Kopf überstimmt. Ich hatte keine Wahl.

Ich hob das Kätzchen hoch und trug es zu meinem Fahrrad. Es passte genau auf meine Handfläche und wog so gut wie nichts. Ich konnte seine Rippen spüren. Vorne am Rad hatte ich eine »Technik«-Tasche befestigt, in der ich meine Drohne aufbewahrte, mit der ich Videos und Fotos von der Reise machte. Ich holte sie heraus und stopfte sie in eine der Satteltaschen. Dann zog ich ein T-Shirt hervor und legte es als Bodenschutz in die Vordertasche. Anschließend setzte ich vorsichtig das Kätzchen darauf. Sein kleines Gesicht sah zu mir auf, und es schaute mich unsicher an, so als wollte es mir signalisieren, dass es sich nicht ganz wohl fühle. Aber mehr konnte ich nicht tun. Wie hätte ich das Kätzchen sonst transportieren können? Ich fuhr an und hoffte, dass es sich beruhigen würde. Doch schnell war klar, dass das kleine Tier seinen eigenen Kopf hatte. Nach nicht einmal hundert Metern überraschte es mich. Bevor ich reagieren konnte, war es schon aus der Tasche gesprungen, meinen Arm hochgekrabbelt und hatte sich um meinen Nacken gelegt. Dort machte das Kätzchen es sich gemütlich. Ich spürte, wie es sich um mich schlang, das Köpfchen an meinen Nacken schmiegte und sanft atmete. Es war nicht unangenehm oder ablenkend; ich fand es ehrlich gesagt sogar ziemlich schön. Offensichtlich fühlte es sich wohl, also radelte ich weiter. Zu meiner Überraschung war es bald tief eingeschlafen.

Das gab mir einen Moment zum Nachdenken. Eine Chance, die Situation abzuschätzen und zu entscheiden, was ich als Nächstes tun würde. Ich war hin- und hergerissen. Einerseits hatte ich das Alleinsein genossen, freute mich andererseits aber über die Gesellschaft. Das Kätzchen war auch kein Ballast. Mit ihm würde es nicht langweilig werden, daran bestand kein Zweifel. Andererseits war das nicht Teil des Plans gewesen. Und es hatte schon zu viele Momente dieser Art gegeben, dachte ich mürrisch. Wieder mal war ich abgelenkt.

Die Mittagszeit rückte heran, und die Sonne stand hoch am graublauen Himmel. Dank meines GPS wusste ich, dass wir die Grenze in wenigen Stunden erreichen würden. Bis dahin musste ich einige Entscheidungen treffen. Große Entscheidungen.

Tief in mir ahnte ich jedoch bereits, dass ich mich längst entschieden hatte. Whit’s fur ye’ll no go past ye. Es war Schicksal.

DER BLINDE PASSAGIER

Es dauerte weitere anderthalb Stunden, bis ich die Grenze erreichte. Mein neuer Passagier blieb die ganze Zeit auf meinen Schultern, döste vor sich hin und bekam nichts mit. Wenn ich doch auch nur so entspannt gewesen wäre.

Während ich mich die Bergstraße hochquälte, ratterten meine Gedanken förmlich. Ich war mir sicher, das Richtige getan zu haben. Niemals hätte ich so ein verletzliches kleines Geschöpf an solch einem gefährlichen Ort zurücklassen können. Aber gleichzeitig quälten mich Zweifel. Was sollte ich tun, sobald ich die Grenze erreichte? Und wie sollte es danach weitergehen? Mit einer Katze als Co-Pilot hatte ich nicht gerechnet.

Ziemlich schnell war ich zu dem Schluss gekommen, die Katze ordentlich zu melden. Ich würde ganz ehrlich sein und einfach erklären, was geschehen war. Ich hatte sie am Straßenrand gefunden und würde sie nun zum Tierarzt bringen. Die Grenzpolizisten würden doch bestimmt Mitgefühl haben, oder? Ich wollte ja nichts Schlimmes über die Grenze schmuggeln. Nur ein kleines Kätzchen, um Himmels willen. Aber als ich weiter darüber nachdachte, wurde mir klar, dass das nicht klappen würde. Es gab offensichtliche Gründe dafür, dass jedes Land Regeln für den Import von Tieren hatte. Sie konnten Krankheiten einschleppen, und kleine Katzen waren berühmt dafür, sich schnell etwas einzufangen. Vielleicht müsste es in Quarantäne gesteckt werden. Wer weiß, vielleicht müsste es sogar eingeschläfert werden? Das wollte ich auf keinen Fall.

Dann überlegte ich, ob ich das alles umgehen könnte, indem ich behauptete, es sei meine Katze. Aber ich hatte keine Dokumente und kein tierärztliches Attest, die ihre Gesundheit bescheinigten. Also war auch das eine Sackgasse.

Irgendwann erkannte ich, dass meine einzige Option darin bestand, die Katze heimlich nach Montenegro zu schmuggeln. Anschließend würde ich mir überlegen, wie es weitergehen sollte. Um kurz nach zwölf kam ich an einem Schild vorbei: Noch fünf Kilometer bis zur Grenze. Ich hielt an einem Rastplatz am Straßenrand. Ein Teil von mir hoffte immer noch, irgendein Schlupfloch oder eine Übergangslösung zu finden. In einem letzten Versuch rief ich eine Landkarte auf meinem Handy auf. Vielleicht könnte ich eine kleine Bergstraße oder einen Pfad finden, die nicht kontrolliert wurden. Aber nein, es gab keinen anderen Weg nach Montenegro. Außerdem, wenn ich so recht darüber nachdachte, war es eine dumme Idee. Was würde passieren, wenn mich die Polizei anhielt und ich nicht nachweisen konnte, offiziell in das Land eingereist zu sein? Sieh der Realität ins Auge, Dean, sagte ich mir. Nein, es ging nicht anders, ich musste den Zoll passieren und an den Grenzbeamten vorbei. Aber wie genau sollte ich ein Kätzchen über eine internationale Grenze schmuggeln?

Das war die Frage.

Auf dem Höhepunkt meiner Partyjahre in Schottland hatte ich ab und an Gras und Alkohol bei Musikfestivals eingeschmuggelt. Ich hatte das Zeug in meinen Schuhen, meinem Stirnband und auch sonst überall versteckt, was von wechselndem Erfolg gekrönt gewesen war. Ab und an war ich erwischt worden, aber immer mit einem Klaps auf die Finger davongekommen. Das hier war etwas anderes.

In diesem Teil der Welt waren Beamte mit Schusswaffen ausgestattet.

Ich hockte am Straßenrand, starrte auf mein Rad und hoffte auf eine Eingebung. In die Satteltaschen oder meinen Fahrradanhänger konnte ich das Kätzchen nicht stecken. Von allem anderen einmal abgesehen, war dort kein Platz. Alles war bis zum Bersten mit meinem Kram vollgestopft. Kurz dachte ich darüber nach, die dicke Jacke anzuziehen, die ich in einer der Satteltaschen verstaut hatte. Dann wäre darin genug Platz für das Kätzchen. Aber auch das war eine dumme Idee. Die Aussicht, dass ein sich windendes, nervöses Kätzchen still bliebe, ging gegen null. Es würde dem Grenzbeamten bestimmt Hallo sagen wollen, so viel stand fest.

Meine einzige Option bestand also darin, das Kätzchen in die Vordertasche meines Fahrrads zu setzen und darauf zu hoffen, dass der Kontrollposten es nicht bemerkte. Das würde nicht leicht werden. Das kleine Ding war beim ersten Mal schon nicht still darin geblieben, warum sollte es jetzt anders sein? Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste das Risiko eingehen.

Eine ganze Weile spielte ich mit dem Kätzchen und hoffte, dass es bald erschöpft sein würde. In der Nähe wuchsen langstielige Gänseblümchen, ich riss ein paar aus und ließ es nach den faserigen Stielen schnappen. Es drehte komplett durch, trabte wild im Kreis und sprang hoch und runter, so als hüpfte es auf einem unsichtbaren Trampolin. Ich war der Verzweiflung nahe. Diese Katze zeigte keinerlei Anzeichen von Erschöpfung, sie war ein unermüdlicher Ball purer Energie. Das Duracell-Kätzchen. Aber dann, zwanzig Minuten später, waren wie von Zauberhand die Batterien leer, und es rollte sich auf einem Stein in meiner Nähe zusammen, so als wollte es ein Nickerchen machen. Nun war die Zeit für meinen Move gekommen. »Okay«, murmelte ich und wappnete mich innerlich. »Packen wir’s an.«

Das plötzliche Verkehrsaufkommen in der Nähe der Grenze zu Montenegro machte mir Mut. Vielleicht hatte ich Glück, und man war zu beschäftigt, um Notiz von mir zu nehmen. All die Fahrzeuge würden die Grenzbeamten womöglich ablenken, sodass sie weniger Interesse an mir hätten. Doch das Glück hatte ich nicht. Als ich die Grenze zehn Minuten später erreichte, war kein einziger Wagen in Sicht. Ich war allein dort. Um genau zu sein, ich und mein blinder Katzenpassagier.

Die Grenze war modern ausgestattet, mit einer Reihe von Schranken und Kontrollkabinen unter einem großen Metallrahmen. Daneben standen ein Backsteingebäude und mehrere Büros. Ich hielt an einer der Kabinen und achtete darauf, dass meine vordere Radtasche außer Sichtweite des Kontrolleurs war. Das Kätzchen schlief noch, aber ich hatte irrsinnige Angst, dass es aufwachen und zu miauen beginnen würde. Also ließ ich leise Musik laufen. Der junge Zollbeamte saß hinter einer Glasscheibe, was meiner Sache förderlich war. Mit ein bisschen Glück würde er das Kätzchen nicht hören, selbst wenn es ein Geräusch von sich geben würde. Das würde vom sanften Bum-bum-bum meiner Musik übertönt werden.

Der Typ sah zu Tode gelangweilt aus. Er blätterte lustlos in meinem Pass, guckte nicht einmal auf mein Foto und stellte auch keine Fragen. Dann griff er nach seinem Stempel und suchte nach einer freien Seite für seinen Eintrag. Ich bemühte mich nach Kräften, ruhig zu bleiben, pflasterte ein Lächeln auf mein Gesicht und sah ihn direkt an, falls er Blickkontakt suchte. Wir waren fast fertig. Aber dann bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Die Oberfläche der Radtasche geriet in Bewegung, und an der Stelle, an der ich den Reißverschluss ein Stück weit offen gelassen hatte, versuchte das Kätzchen seine Pfote hindurchzustrecken. Und es miaute. Laut.

Das Herz sprang mir fast aus der Brust. Irgendwie schaffte ich es, einen Fluch zu unterdrücken, was mir in diesem Moment wie eine Meisterleistung erschien. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben und weiter in Richtung des Grenzbeamten zu blicken. Einen kurzen Moment lang hörte ich nichts als das Miauen. Er konnte es nie im Leben überhören, da war ich mir sicher.

Ich glaube nicht unbedingt an Geister und Schutzengel und solches Zeug. Aber einer von denen muss über mich gewacht haben, denn genau in diesem Moment tauchte ein kleiner Lastwagen auf. Es war ein ramponiertes altes Gefährt mit lautem Auspuff. Der Lastwagen übertönte schnell das Miauen – und auch sonst alles.

Der Beamte stempelte meinen Reisepass ab und reichte ihn mir mit unbeteiligter Miene zurück. Ich hatte wahrscheinlich kaum länger als eine Minute dort gestanden, aber es fühlte sich an wie eine Stunde. Ich radelte los und wagte es nicht, mich noch einmal umzusehen. Doch mein Hochgefühl währte nur kurz. Wir hatten Bosnien verlassen. Jetzt mussten wir die Grenze zu Montenegro passieren. Aus dem einen Land auszureisen war das eine, ein anderes zu betreten das andere. Das würde schwieriger werden, dessen war ich mir bewusst.

Schon auf den ersten Blick wurde deutlich, dass die Militärpräsenz an der zweiten Grenze deutlich höher war. Einige bewaffnete Typen umrundeten gerade einen riesigen Laster, den sie aus der kurzen Schlange der Wartenden gezogen hatten.

Ich fuhr so weit wie möglich vor und brachte so die Vordertasche außer Sichtweite des Kabinenfensters. Doch dieses Mal traf ich weitere Vorsichtsmaßnahmen. Ich drehte die Musik etwas lauter und steckte hin und wieder einen Finger in die Tasche, damit das Kätzchen damit spielen konnte. Ein paarmal zwickte es mich, und ich musste mich am Riemen reißen, nicht zusammenzuzucken. Das war nicht leicht. Die kleinen Zähne waren spitz wie Nadeln, und es tat höllisch weh.

Der Grenzbeamte war wesentlich aufmerksamer. Er hielt mein Passbild hoch und musterte mich. Dann strich er über sein Kinn, um anzudeuten, dass mein Bart inzwischen wesentlich voller war als auf dem Foto. Ich nickte und lächelte. Er sprach kein Englisch, also schlang ich die Arme um mich und versuchte auf diese Weise anzudeuten, dass mich das warm hielt. Er nickte bloß.

Der Klang seines Stempels auf meinem Pass war das schönste Geräusch, das ich an diesem Tag hörte. Ich stieg aufs Rad und fuhr schnell von der Grenzstation davon. Zurück auf der Straße hatte ich ein Gefühl, als wäre mir ein Stein vom Herzen gefallen. Jetzt war ich bereit, zu feiern und das Kätzchen aus der Tasche zu befreien. Doch als ich gerade anhalten und in die Tasche greifen wollte, erkannte ich – zu meinem Entsetzen –, dass ein weiterer Kontrollpunkt auf dem Weg lag. Er war kleiner und wirkte weniger einschüchternd. Aber man konnte mich immer noch erwischen. Ich fuhr langsam näher und hoffte, dass es nicht »Aller schlechten Dinge sind drei« für mich heißen würde.

Mach jetzt bloß keine Dummheiten, Dean, sagte ich mir.

Als ich gerade anhalten wollte, kam ein Wachmann aus einer kleinen Kabine. Er telefonierte und wirkte abgelenkt. Er winkte mich einfach durch und warf mir keinen zweiten Blick zu, bevor er fortging. Ich nickte ihm zu und reckte den Daumen nach oben, dann fuhr ich weiter. Fast hätte ich einen Sprint hingelegt, entschied mich aber dagegen. Ich wollte nicht, dass er am Ende noch dachte, ich sei ein Verbrecher, der von einem Tatort türmte, obwohl ich – technisch gesehen – wohl genau das war.