Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2020 Reiner Jander
Umschlagfotos: M.S.“Ernst G.Russ
Lektorat: Peter Schwarz-Mantey/
Claudia-Catharina Bunge
Umschlagdesign, Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7526-9268-6
Dieses Buch basiert auf Tatsachen und ist von wahren Erfahrungen inspiriert. Geschrieben ist dieses Buch jedoch als Roman, um vor rechtlichen Schwierigkeiten zu schützen. Aus Rücksicht auf Freunde, die nicht erkannt werden sollen, habe ich mir die Freiheit genommen, einige Details zu verändern.
Warum also dieses Buch?
Diese Niederschrift erfolgte auf Wunsch vieler Menschen aus meinem grossen Bekanntenkreis.
Bei Familienfeiern, Besuchen bei Freunden sowie beruflichen Treffen mit Kollegen, wenn dann in vorgerückter Stunde jeder einen Schwank aus seinem Leben erzählte, gab auch ich einiges aus meinem Leben zum Besten.
Natürlich war die Nachfrage über meine Flucht aus der DDR und die Seefahrt in jeder Runde am interessantesten. Oft kam die spöttische Bemerkung: „Mensch Reiner, du bist doch keine 100. So viel kann ein einzelner Mensch ja gar nicht erleben ...
Schreib ein Buch!!!"
Da ich über Jahre schon immer Notizen gemacht hatte, auch mehrmals begann, aber alles wieder verworfen habe, suchte ich alle noch vorhandenen Vorlagen zusammen und versuchte einen Neustart 2016 in Spanien.
Bei meiner Schreiberei legte ich wenig Wert auf die Genauigkeit jeder hier dargestellten Handlung, sondern wie sie bei mir im Gedächtnis vorhanden waren. Meine Freunde und Bekannte, die sich hier wiederfinden, mögen mir das verzeihen, die Namen wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert.
Berlin im Jahr 2020
Reiner Jander
Am 26. März 1940 wurde ich in Pirna/Elbe als drittes Kind von Margarete Jander, geborene Lorenz, und Erich Paul Jander geboren. Mein Vater, ein überzeugter Kommunist der „Ernst Thälmann Brigade, ist 1939 freiwillig der Wehrmacht beigetreten, um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Er ist im März 1945 im Würzburger Militär-Krankenhaus - eine schwere Verwundung durch eine Granate auf der Halbinsel Krim in Russland brachte ihn mit einem Krankentransport in dieses Lazarett - bei einem Bomben-Angriff ums Leben gekommen. Mein Geburtshaus steht in Pirna-Südvorstadt, Hans-Holbein-Strasse 34. Im Jahr 1946 wurde ich in das Goethe-Gymnasium für Knaben eingeschult, und im Jahr 1954 verliess ich die Karl-Marx-Schule in der Südvorstadt Pirna mit dem Abschluss "gut". Nach dem Schulabschluss nahm ich eine Lehre bei der Deutschen Reichsbahn Dresden als Verwaltungs-Eisenbahner auf. Im ersten Lehrjahr trat ich die Flucht aus der DDR an. Mit dem Fahrrad fuhr ich von Pirna bis nach Stuttgart, und dann weiter bis Freiburg im Breisgau. Auslöser der Flucht waren rein persönliche Gründe, keine politischen.
Meine Kindheit war im Allgemeinen nicht schön. Meine Mutter war eine sehr jähzornige Frau, für jedes kleine Vergehen bekam ich Schläge. An Liebe oder nette Worte konnte und kann ich mich nicht erinnern. Grundsätzlich versorgte ich den Haushalt und meinen kleinen Bruder Frank. Für einen heranwachsenden Jungen war das eine Menge Arbeit. Mutter hatte mich damals drei Wochen lang mit meinem 7-jährigen Bruder allein gelassen. Sie war im Westen zu Besuch bei meiner Schwester Christa und meinem Bruder Rolf. Beide Geschwister verliessen sehr früh das Elternhaus. Meine Schwester Christa heiratete sehr jung und übersiedelte mit ihrem ersten Mann nach Freiburg am Schwarzwald. Mein Bruder Rolf ging aus beruflichen Gründen, vor Schliessung der Grenze, nach Siegelau bei Waldkirch im Breisgau. Deshalb reifte bei mir der Plan, die DDR zu einem günstigen Zeitpunkt zu verlassen. Durch meine Lehre bei der Reichsbahn (ich musste diesen Beruf erlernen, obwohl mein Berufswunsch "Förster" war und ich mir schon selbst eine Lehrstelle besorgt hatte) konnte sich meine Mutter solche Reisen leisten. Pro Jahr bekam ich vier Freifahrtscheine mit unbegrenzten Kilometern. Diese waren innerhalb der Familie übertragbar.
In der dreiwöchigen Abwesenheit meiner Mutter hatte ich genug Zeit, meine Flucht zu planen. Zuerst besorgte ich mir Kartenmaterial von Sachsen, im südlichen Zipfel von Voigtland grenzte Sachsen an Bayern in der Bundesrepublik. Eine genaue Vorstellung, wie der Übertritt in den "Westen" erfolgen sollte, hatte ich natürlich nicht. Vom Hörensagen wusste ich nur, dass die Grenze stark bewacht und gesichert war, es wurde auch scharf geschossen. Damit wollte man die Agitatoren aus dem Westen abhalten, so die Propaganda in den Medien und auch in der Schule.
Auf meiner Karte suchte ich mir die Strecke nach Heinersgrün heraus, ein Ort nahe der Grenze, und zeichnete mir mit einem Rotstift die genaue Route nach. Wichtige Ortsnamen an der Grenze lernte ich auswendig. Heimlich packte ich einen Wehrmachts-Tornister mit Trinkflasche, mein kleines Fernglas aus meiner Zeit bei den „Jungen Pionieren (Abteilung „Jungen Touristen), eine kleine Zeltplane und Kleidung zum Wechseln, mein Bruder Frank durfte davon nichts mitbekommen. Natürlich durfte auch keiner meiner Schulfreunde von meinen Fluchtplänen etwas erfahren. Die Planung war streng geheim.
Dann war sie wieder da. Mich hielt jetzt nichts mehr. Nachts bin ich per Fahrrad, nachdem ich meinen Bruder versorgt und nicht alleine wusste, losgefahren, Richtung Hof in Bayern, über Freital und Freiberg. Bis dorthin bin ich die halbe Nacht und zwei Tage gefahren. Die erste Übernachtung war in einer kleinen Pension für 15 Mark mit Frühstück pro Nacht in Freital, die zweite in Freiberg - und als Reisegrund gab ich Verwandtschaftsbesuch an. Dann weiter, an der Stadt Plauen vorbei, nach Heinersgrün. Dabei stellte ich fest, wie wichtig mein Fahrrad für mich war. Die lange Strecke von Pirna bis hierher, fast in Grenznähe, hatte es immer gut funktioniert und mich nicht im Stich gelassen. Somit war ich guter Hoffnung, dass ich mein Ziel, den Westen, erreichen würde. Auf meiner Landkarte suchte ich mir die Wegstrecke zum Grenzort Heinersgrün heraus und machte mich guten Mutes auf den Weg.
An Heinersgrün führte ein Stück Autobahn vorbei, das war auf der Karte als gesperrt eingetragen. Es wurde nicht mehr befahren, an einer Stelle waren im Krieg die Brücken gesprengt worden. Es liess sich wunderbar mit dem Fahrrad auf der Autobahn fahren. Da ich der Grenze immer näherkam, musste ich sehr aufpassen. Ich war ja nachts unterwegs, also merkte ich rechtzeitig den Lichtschein hinter mir. Schnell nahm ich Deckung im Randbewuchs der Autobahn, gerade noch schnell genug, denn man hatte mich nicht gesehen. Langsam fuhr ein russischer Jeep an mir vorbei, vier Soldaten waren im Fahrzeug. Sobald mein Schreck verflogen war, schwang ich mich auf meinen Drahtesel und fuhr weiter in Richtung Grenze. Leider wusste ich nicht, ob die kaputten Brücken vor oder hinter mir waren, also musste ich gut aufpassen. Ich kam gut voran, an einer Autobahn-Ausfahrt verliess ich die Strecke.
Zum Orientieren brauchte ich jetzt unbedingt eine Ortschaft, damit ich mich anhand des Ortsschildes auf meiner Landkarte weiter informieren und orientieren konnte. Die jetzt vor mir liegende Strecke bis zur Grenze war besonders wichtig, die musste ich genau auskundschaften. In der Tagesdämmerung sah ich eine Ortschaft und radelte los. Am Ortsausgang von Wiedersberg (oder so ähnlich) bemerkte ich rechtzeitig einen Kontrollposten. Vom Hörensagen wusste ich, dass man in das Grenz-Wohngebiet nur mit einer Genehmigung kam, oder man musste ständiger Bewohner sein. In den frühen Morgenstunden beobachtete ich aus sicherer Entfernung diesen Kontrollposten. Ein Fahrzeug fiel mir auf, ein kleiner Lieferwagen mit offener Ladefläche. Er fuhr mehrmals Materialien in das gesperrte Grenzgebiet und war gerade wieder auf dem Rückweg. Die Verfolgung dieses Autos war sehr leicht, es fuhr über die Dorfstrasse, am Ende bog es in die Einfahrt eines Bauunternehmens ein. Dort wartete ich am Tor, bis das Auto neu beladen war. In der Zwischenzeit hatte ich die Luft aus dem vorderen Rad meines Drahtesels gelassen. Die Luftpumpe versteckte ich in meinem Rucksack. Als der kleine Laster mit neuer Ladung auf die Dorfstrasse Richtung Heinersgrün einbog, gab ich ein Zeichen zum Anhalten. Ich fragte den Fahrer nach seinem Ziel und erklärte ihm, dass ich ebenfalls dorthin wollte. Und zwar zu meiner Oma. Leider hätte mein Rad einen Platten, sagte ich ihm. Er meinte nur: "Kein Problem, pack das Rad auf die Ladefläche und steig ein." Mein Herz machte vor Freude einen Luftsprung. Es war ja so leicht gegangen.
Je näher wir dem Kontrollposten kamen, umso grösser wurde meine Angst. Der Posten war schwer bewaffnet, das war mir unheimlich. Er fragte, was mit mir los sei, und der Fahrer deutete nach hinten und sagte: "Sein Rad hat einen Platten." Der Soldat nickte nur, wir konnten weiterfahren. Auf der Weiterfahrt hoffte ich nur, dass der Fahrer meine Erleichterung nicht bemerken würde. Am Ortseingang von Heinersgrün liess er mich aussteigen - mit der Bemerkung: "Von hier aus musst du dein Fahrrad zu deiner Oma schieben." Er musste weiter zur Grenze fahren, wo man auf seine Baumaterialien warten würde. Als das Auto aus meiner Sicht war, pumpte ich mein Rad wieder auf und fuhr ebenfalls weiter in Richtung Grenze.
Da die Gegend leicht hügelig war, hätte ich fast den Wachturm übersehen. Zum Glück konnte ich aber in das Waldstück rechts von der Strasse verschwinden. Aus sicherer Entfernung beobachtete ich das Treiben am Wachturm. Der Lieferwagen mit den Baumaterialien, der mich mitgenommen hatte, stand neben einem halbfertigen Haus. Es sollte wohl eine Unterkunft für Wachsoldaten werden. Ausserdem konnte ich weiter hinten die Grenzpfosten ausmachen. Zwischen dem Wachturm und diesen Pfosten war ein Streifen von ungefähr zehn Metern, der vollkommen kahl war. Keinerlei Bewuchs, einfach ein Ackerstreifen. Für mich war nun klar, dass hier die Grenzüberquerung nicht klappen würde. Also hiess es: Weiter nach rechts ausweichen, aber im Wald bleiben und die Grenze beobachten.
Nach zwei Stunden Beobachtung der Grenze war mir klar, wie das Überwachungssystem funktionierte. Im Stundentakt trafen sich jeweils zwei Grenzer in der Mitte von zwei Wachtürmen, die ich im Blick hatte. Es war klar: Sobald die vier Soldaten sich getroffen hatten, durfte ich nur 15 Minuten warten und musste dann sehr schnell loslaufen. Radfahren ging nicht, es waren ja nur Felder und Wiesen zu überqueren. Da es eine helle Mondnacht war, konnte ich alles gut beobachten.
Hier muss ich aber doch erwähnen, dass es mir, trotz meiner schlechten Kindheit, an nichts mangelte. An Geschenken bekam ich von meiner Mutter alles, was andere Jugendliche nicht von ihren Eltern bekamen. Ein neues Fahrrad, eine Taschen-Uhr, einen Fotoapparat und zuletzt sogar eine tolle Armbanduhr. So ein Prachtstück hatte keiner der Erwachsenen, die ich kannte, noch nicht einmal mein Klassenlehrer Jäckel. Meine Mutter wollte wohl mit diesen Geschenken ihr Gewissen mir gegenüber erleichtern. Aber immer, wenn sie wütend auf mich war, kam der Spruch: „Du undankbarer Junge, was du von mir alles bekommst, und du bist so undankbar. Andere Kinder würden dafür ihre Eltern auf Händen tragen! Dabei wollte ich diese Sachen gar nicht haben, etwas Liebe hätte mit gereicht.
In der langen Wartezeit hier in der kalten Nacht gingen mir alle diese Gedanken durch den Kopf. Natürlich hatte ich grosse Angst, aber jetzt war ich froh, dass ich alle diese Geschenke bekommen hatte. Mein tolles Fahrrad, das mich bis hierher gebracht hatte, mein Fernglas, mit dem ich die Grenze beobachten konnte und natürlich die Armbanduhr, mit der ich die Zeitabläufe der Grenzer stoppen konnte. Dabei möchte ich erwähnen, dass Mutter alle diese Geschenke als „Wahrsagerin und Kartenlegerin für mich erarbeitet hatte. Sie war durch diese „Gabe stadtbekannt.
Gegen 23 Uhr war es dann so weit. Ich lief mit meinem Rad schnell in Richtung Grenze. Die Zeit und die Entfernung bis zu den Grenzpfählen schienen mir endlos. Dann hatte ich es aber geschafft, der Ackerstreifen und die Grenzpfähle lagen hinter mir. Ich lief bestimmt noch einen Kilometer weiter, bis ich zur Ruhe kam. Als ich in einiger Entfernung eine Ortschaft sah, war mir klar: Ich war jetzt im Westen.
Ganz sicher war ich aber erst, als ich durch das Dorf fuhr und mir zwei Uniformierte begegneten (die Uniformen der Beamten konnte ich damals noch nicht zuordnen). Sie beachteten mich nicht weiter. Ein Jugendlicher auf einem Fahrrad war hier wohl nichts Ungewöhnliches für die Zöllner oder Polizisten, auch nicht zu dieser Uhrzeit. Also fuhr ich weiter in Richtung Hof. Dort angekommen erkundete ich die Stadt. Sie war nicht sehr gross, bald hatte ich die Innenstadt sowie die Ausfallstrassen in Richtung Süden erkundet. Dabei fiel mir der grosse LKW-Parkplatz an der Feuerwehr ins Auge. Bei einigen Fernfahrern fragte ich nach, ob sie Richtung Stuttgart oder München fuhren. Keiner tat dies, sie wollten alle über die Transit-Autobahn nach West-Berlin. Also ging ich zurück in die Innenstadt zum Bahnhof. Ich fand die Bahnhofsmission und bat um Unterkunft. Die Schwestern gaben mir ein gutes Abendbrot mit Kaltgetränken und Tee. Nachdem ich mich frisch gemacht hatte, ging ich auf den Bahnsteig zum Geldwechsel-Schalter. Damals gab es auf allen Grenzbahnhöfen diese Wechselstuben, damit DDR-Bürger ihr Ost- in Westgeld umtauschen konnten.
Bei diesem Wechsel wurde ich von der Polizei aufgegriffen, die Missionsleitung hatte die Beamten gerufen. Mit meinem Ost-Ausweis und dem Ost-Geld war nun klar, woher ich kam. Den Beamten erklärte ich glaubhaft, dass ich am kommenden Tag auf dem Feuerwehrplatz (der Platz hiess tatsächlich so) mit meinem Onkel Hans Richmeyer verabredet war. Er würde mit seinem Laster aus Hamburg kommen und eine Teilladung nach Hof bringen - und dann weiter nach Stuttgart fahren. "Wir sind für morgen verabredet", erklärte ich. Den Beamten schien die Geschichte plausibel, vielleicht wollten sie sich aber auch nicht weiter mit der Angelegenheit auseinander setzen. Oder sie hatten Feierabend. Oder ich machte einen so ordentlichen Eindruck, dass sie mir einfach glaubten. Auf jeden Fall sagten sie in der Mission Bescheid, dass mit mir alles OK sei. In dieser Nacht schlief ich ganz wunderbar, bekam dann ein gutes Frühstück und machte mich auf den Weg zum LKW-Parkplatz. Aber alles Fragen brachte keinen Erfolg, niemand fuhr in Richtung Süden. Alle wollten nach Berlin. Vielleicht wollte mich aber auch keiner der Fahrer mitnehmen. Also machte ich mich per Rad auf den Weg in Richtung Stuttgart. Die erforderliche Landkarte besorgte ich mir noch in einem Kaufhaus. Und dann ging es los.
Die Strapazen, die ich damit auf mich nehmen sollte, waren mit da noch nicht klar. Mit meinen wenigen West-Mark konnte ich in den Dörfern nur Brot, Butter, Hartwurst und Marmelade kaufen. Zum Trinken hatte ich nur Wasser, hin und wieder leistete ich mir eine Bluna. Die Bauern auf meiner Reiseroute waren sehr misstrauisch und wollten mich nicht in ihren Ställen und Scheunen schlafen lassen. Bei einem Bauern hatte ich aber Glück. Er fragte, ob ich rauchen würde. Auf mein "Nein" führte er mich in seinen Schweinestall und sagte: "Du kannst hier bei Emma schlafen." Dabei deutete er auf eine saubere, frisch geweisste und mit Stroh ausgelegte Neben-Box. In der anderen Box lag eine riesige Sau mit acht Ferkeln. Es schlief sich wunderbar neben Emma mit ihren Kindern, es war schön warm. Am Morgen wurde ich noch zum Frühstück eingeladen, die ganze Familie sass am Tisch und löffelte aus einer Schüssel mitten auf dem Tisch Milchsuppe mit Nudeln. Dazu gab es frisches Brot, Wurst und Käse.
Meine Geschichte habe ich ihnen natürlich erzählt, worauf mir die Bäuerin noch eine Wegzehrung mitgab. Ein Stück Brot vom Frühstück, dazu einen Ring Brühwurst aus eigener Schlachterei - wobei ich unwillkürlich an Emma und ihre Jungen denken musste. Danach schlief ich noch öfter in Scheunen oder Verschlägen, auch ohne zu fragen. Je näher ich Stuttgart kam, fragte ich mich, wie ich mich gegenüber meinen Geschwistern verhalten sollte. Sollte ich zuerst zu meinem Bruder nach Lienzingen/Mühlacker fahren, er war umgezogen und das war näher, oder nach Freiburg zu meiner Schwester? Noch wichtiger war aber, zuerst zum Hauptbahnhof nach Stuttgart zu kommen, um mein restliches Ostgeld in DM umzutauschen.
Quer ging es durch Stuttgart, eine sehr grosse Stadt mit viel Verkehr auf den Strassen - und das mit dem Fahrrad. Es gab genügend Schilder, die zum Bahnhof führten, aber die Fahrt war dennoch sehr anstrengend. Am Wechselschalter auf dem Bahnsteig passierte dasselbe wie in Hof. Ein Bahnpolizist wollte den Nachweis für das Ostgeld sehen, er dachte, dass ich es gestohlen hatte. Jetzt half kein Lügen mehr, ich erzählte auf der Wache die wahre Geschichte. Daraufhin wurde ich in ein Lehrlings-Wohnheim eingewiesen, in der Obere Bachstrasse 76. Bis zur Klärung meiner Angaben sollte ich dortbleiben.
Bekanntlich arbeiten Ämter und Dienststellen sehr gründlich und somit auch langsam. Mein Verbleib im Heim sollte sich am Ende über einige Wochen erstrecken. Es wurde aber nie langweilig, die Wochenenden wurden immer mit Aktivitäten ausgefüllt. Hier wohnten Jungs und Mädels, deren Wohnort zu weit entfernt lag, um jedes Wochenende nach Hause zu fahren, sie wurden also im Heim beschäftigt. Der Unterhalt des Heimes wurde von grossen Firmen bestritten, darunter Bräuniger-Textil, Mercedes, Porsche und die Sparkasse. Diese Wochenenden waren schön, die Heimleitung gab sich grosse Mühe. Wir besuchten die Bärenhöhle, eine wunderschöne Tropfsteinhöhle, waren in einer Segelfliegerschule in Kirchheim/Teck, machten Wanderungen in der Schwäbischen Alb und besuchten das Volksfest auf der Cannstatter Wasen. Es war eine schöne Zeit hier.
Als vom Jugendamt die Meldung kam, dass alle Angaben richtig waren und sich meine Schwester in Freiburg bereit erklärte, mich aufzunehmen, gab mir die Heimleitung gegen Quittung 50 DM Handgeld, händigte mir mein Fahrrad aus - und ich konnte losfahren. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass mein Bruder Rolf erklärt hatte, dass es nicht möglich war, mich bei ihm unterzubringen. Mein Fahrrad war in bestem Zustand, zwei Jungs arbeiteten in einer bekannten Fahrrad-Fabrik und hatten das Rad auf Vordermann gebracht. Neue Bereifung, Lichtanlage und einiges mehr, es war alles in Ordnung. Auf ging es also, ab nach Freiburg.
Bis heute kann ich nicht verstehen, wieso die Heimleitung mir nur ein Handgeld gab - statt dafür eine Fahrkarte bei der Bahn zu kaufen. Als erstes besorgte ich mir zwei Landkarten, eine davon speziell für Radtouren, die andere vom neu gegründeten Baden-Württemberg. Bis 1952/53 waren das noch zwei getrennte Bundesländer gewesen, Baden und Württemberg. Von der Heimleitung hatte ich eine Liste mit allen Jugendherbergen auf meiner Strecke bekommen. Ich kreuzte alle Ortschaften mit einer Herberge auf meiner Rad-Karte an und fuhr los. In der Erinnerung hat sich nur die Herberge in Freudenstadt verankert. Ein ganz modernes Haus auf einer Anhöhe, fast schon ein kleines Schloss. Das Essen war gut, der Herbergsvater ein sehr freundlicher Mann, hier blieb ich drei Tage. Er gab Meldung nach Stuttgart, dort unterrichtete man meine Schwester von meinem Zwischenstopp. Insgesamt war ich von Stuttgart nach Freiburg zehn Tage lang unterwegs.
Das bergige Land im Schwarzwald machte das Radeln sehr schwer. Für Übernachtungen suchte ich mir wieder Bauernhöfe aus, hier waren die Bauern aber noch unfreundlicher als in Bayern - und oft jagte mich der Hund vom Hof. Aber ich hatte auch Glück. Einmal stand ich neben dem Hofhund und kraulte ihn, als der Bauer kam. Ich bat um Übernachtung in der Scheune. Er betrachtete mich von oben bis unten, dann sagte er: "Wer so gut mit meinem bissigen Hund umgehen kann, muss ein guter Mensch sein." Ich bekam also die Feriengäste-Stube mit sechs Betten für eine Nacht. Da ich das Zimmer alleine bewohnte, nahm ich das Bett unter dem Fenster. So konnte ich den Hund sehen und mit ihm reden. Ich bekam ein Abendbrot und auch ein Frühstück, bei meinen Erzählungen am Abend kamen die Eltern und ein Mädchen sowie ein Junge aus dem Staunen nicht heraus. Ich selbst sprach ein gutes Hochdeutsch, meine Tante Marga und eine Lehrerin hatten darauf geachtet. Die Familie auf dem Hof verstand ich dagegen des Öfteren gar nicht, wegen ihres Dialekts, oft musste ich nachfragen. Es war ein schöner Abend, er blieb mir lange in Erinnerung.
Die restliche Wegstrecke bis nach Freiburg fiel mir dann viel leichter. Dem Gefühl nach ging es jetzt fast immer bergab. Ich fuhr über Waldkirch, diesen Ort kannte ich schon, hier war ich zwei Jahre zuvor zu Besuch bei meinem Bruder Rolf gewesen, der mit seiner Frau hier lebte, aber inzwischen geschieden war und in Lienzingen bei Mühlacker wohnte. Dann kam ich nach Freiburg. Die Stadt überraschte mich zum wiederholten Mal, hier war ich vor zwei Jahren ebenfalls schon einmal. Die Sauberkeit sowie die Altstadt mit dem Schwaben-Tor und den kleinen Wasserläufen am Strassenrand, das war einfach toll. Die Stadt gefiel mir, ich suchte die Stadtstrasse 24 in Stadtrandlage. Meine Schwester wohnte im Villenviertel mit ihrem zweiten Mann, bei der "Freifrau von Frey", sie war dort als Haushälterin beschäftigt. Sie bewohnte die Souterrain-Wohnung und versorgte den Haushalt der alleinerziehenden Freifrau mit einem Mädchen und einem Jungen. In dieser kleinen Keller-Wohnung bekam ich ein Zimmer, meine Schwester allerdings verdiente wegen meiner Untermiete 20 Mark weniger im Monat.
Meine Schwester und mein Schwager Heinz Weber freuten sich riesig über meine Ankunft. Die Wohnung in der Villa war für mich nur vorübergehend, meine Schwester suchte schon verzweifelt eine Lehrstelle für mich. Nachdem sie erfahren hatte, dass ich kommen würde, hatte sie damit begonnen. Der Frisör der Freifrau wollte mich einstellen, sobald ich mich bei ihm vorgestellt hatte. Aber mir war nach dem Gespräch klar, dass dieser Beruf nichts für mich wäre. Genauso wenig wie die Arbeit in einer Auto-Werkstatt, die ich mir ansah. Ein Uhrmacher kam in Frage, der wollte aber wiederum mich nicht. Darum setzte sich meine Schwester wieder mit meinem Bruder auseinander, damit ich zu ihm nach Lienzingen/Mühlacker ziehen konnte. Er versprach ihr, dass er sich mit der Hausbesitzerin absprechen würde, um ein Zimmer mehr anzumieten. Das alles dauerte rund drei Monate, dann fuhr ich mit dem Zug nach Pforzheim, dort stieg ich um und nahm den Zug nach Mühlacker.
Natürlich hatte ich mein Fahrrad mit dabei, am Bahnhof stand mein Bruder mit seinem Motorrad, um mich abzuholen. Mit dem Rad ging das aber nicht, deshalb nahm er meinen Koffer auf den Sozius und band ihn fest. Er erklärte mir den Weg zu seiner Wohnung, es waren rund acht Kilometer durch ein Waldgebiet, für mich und mein Rad ein Klacks. Das Haus, ein Bauernhof, war leicht zu finden, im Erdgeschoss war ein Tante-Emma-Laden. Darüber lagen im Obergeschoss zwei Wohnungen. Die vordere davon wurde von einer Familie mit dem Namen "Bürgermeister" bewohnt, die hintere von meinem Bruder. Beide Wohnungen waren über einen langen Aussengang miteinander verbunden, dazwischen lag ein Gästezimmer, das mir zugeteilt wurde. Eigentlich sollte der Bruder der Frau Bürgermeister das Zimmer bekommen, aber die Eigentümerin des Hofes und des Ladens, die unter uns wohnte, hatte es meinem Bruder überlassen. Natürlich gab es zum Anfang etwas Ärger deshalb, die zwei Söhne der Familie waren aber nett zu mir. Einer war in meinem Alter und lernte in Mühlacker Fotolaborant, er machte auch schöne Bilder. Der andere Sohn war ungefähr zehn oder elf Jahre alt. Oft war ich bei dieser Familie, vor allem samstags, wenn die Mutter frisches Brot gebacken hatte, davon bekam ich immer ein grosses Stück ab. Nachdem sie meine Geschichte kannten, bekamen wir ein freundschaftliches Verhältnis. Mein Bruder war oft nicht zuhause, er trank viel und kam oft betrunken zurück, ging dann sofort ins Bett. Ich war viel mit dem Rad unterwegs und versuchte, eine Lehrstelle zu ergattern. Zwischenzeitlich nahm ich Aushilfsstellen an, um Geld zu verdienen. Zuerst bekam ich meinen ersten Lohn in DM bei der Firma Riedel in Mühlacker. Die Firma stellte Mundharmonikas her. Bei "Eisenschüler" musste ich millimetergenau Werkstücke schleifen. Auch auf dem Eisenbahn-Gleisbau im Nagoldtal arbeitete ich kurzzeitig, hier musste ich Steinschotter mit der Spitzhacke unter die Schienenschwellen hacken. Der Rottenführer, so nennt man den Vorarbeiter, sah natürlich, dass diese Arbeit zu schwer für mich war. Deshalb musste ich dann die Schrauben, die die Schiene mit der Schwelle befestigte, in Teer tauchen, damit sie witterungsbeständig wurden. Aber auch dafür war ich nicht zu gebrauchen, war seine Meinung. Darum sagte er zu mir: „Ich befördere dich zum Einkäufer für die Rotte, du holst alles aus dem Dorf, was meine Leute haben wollen, verstanden?! Also ging ich zweimal täglich ins nächste Dorf oder in die Stadt und tätigte die Einkäufe, kochte Kaffee und erledigte Botengänge für die Gleisbauarbeiter. Trotzdem bekam ich den vereinbarten vollen Lohn.
Sogar als Fliesenleger versuchte ich mich. Ich arbeitete bei "Sinn" in Niefern und montierte TV-Tischantennen. Bei "Fakir" in Mühlacker wickelte ich Ankerspulen für E-Motoren. Nebenbei suchte ich nach einer Lehrstelle. Ich fuhr täglich mit dem Rad nach Mühlacker zur Arbeit, in den Mittagspausen besuchte ich die Firmen, die Lehrstellen ausgeschrieben hatten. Im Sommer ging ich dann abends ins Freibad zum Entspannen und schloss Freundschaften. Im Winter war es sehr beschwerlich, zur Arbeit zu fahren, weshalb ich mir eine Wohnung in Mühlacker suchte. Bei einer älteren Dame bekam ich für 45 Mark einen kleinen Raum mit Waschbecken und WC im Treppenhaus. Das war erst einmal zufriedenstellend.
Wie schon erwähnt, arbeiteten die deutschen Ämter auch damals schon langsam - aber gründlich. Die Meldepflicht war nun einmal Gesetz. Meine Unterlagen über die Flucht aus der DDR gingen von Stuttgart nach Freiburg, von da nach Mühlacker in die Kreisstadt. Auf dem Hauptamt in Mühlacker war ich schon angemeldet, als ich vom Jugendamt die Aufforderung bekam, mich umgehend beim Amt zu melden. Natürlich tat ich das sofort. Ich nahm mir bei "Fakir" einen halben Tag frei und machte mich auf den Weg. Dort musste ich wieder meine Geschichte erzählen, mir war aber nicht klar, ob die beiden Damen vom Amt mir auch nur ein Wort glaubten. Für sie war ich ein aussergewöhnlicher Fall, ein Exot. Nach diesem Gespräch und den vielen Notizen, die sie machten, bekam ich einen neuen Termin, sechs Wochen später.
Durch meine verschiedenen Arbeitsstellen hatte ich eine Menge Leute kennen gelernt. Meine Freunde aus dem Freibad waren nette, junge Menschen, die mich gleich akzeptiert hatten. Ich war so in eine Clique geraten, alle kamen aus guten Häusern, wie man so sagte. Die Eltern dieser Mädels und Jungen waren alle in guten Positionen, hatten Geschäfte oder waren anerkannte Persönlichkeiten der Stadt, zum Beispiel Klaus (Schuhgeschäft), Hermann (Direktor einer Schule), Peter (Fahrradgeschäft), Susanne (Gaststätte mit Saal in Dürmenz). Michael („Jim Arzt der Allgemeinmedizin). Alle besuchten sie das Gymnasium in Mühlacker, ihre Eltern waren mit den Kindern Mitglieder im Schwimmclub "Wasserfreunde Mühlacker e.V." . In diesen Club wurde auch ich aufgenommen, beitragsfrei. Welcher Elternteil meinen Beitrag übernommen hatte, habe ich nie erfahren.
Heute, wo ich dies alles aufschreibe, muss ich nachträglich bemerken, dass mich dieser Umgang für mein Leben geprägt hat. Ehrlichkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit und gute Manieren habe ich hier kennengelernt - und übernommen. Die Tochter des Bürgermeisters der Stadt gehörte auch zu dieser Clique, sie gab mir den Tipp, mich bei der Firma "B & Co" zu bewerben. Das war eine kleine Fabrik, die Klebstoff und Bindemittel herstellte. Die Firma kannte ich schon, sie war auf demselben Werkhof wie Fakir, wo ich zu dieser Zeit arbeitete. Am nächsten Tag zur Mittagspause lief ich über den Hof zum Büro der Firma, an der Tür erschien eine ältere Dame und fragte nach meinem Anliegen. Als ich meinen Namen nannte und nach einer Lehrstelle fragte, musste sie lächeln. Sie erklärte mir, dass ich schon angekündigt worden sei.
Sie bemerkte natürlich meine Arbeitskleidung und fragte, ob ich für ein kurzes Gespräch Zeit hätte. Ich hatte noch 45 Minuten zur Verfügung. Ich trat also ein. Wir liefen durch die Produktionshalle, sie erklärte mir einige Dinge. Als Eigentümerin führte sie mit ihrer Tochter den Betrieb. Es gab einen Chemiker für die Rezepturen, zwei Helfer in der Produktion sowie einen Fahrer und Lagerarbeiter. Der Fahrer brachte mit dem Lieferwagen, der auf dem Hof stand, die fertiggestellten Waren in der näheren Umgebung zu den Kunden, andere mussten zum Bahnhof zum Versand gebracht werden. Sie zeigte mir die Büroräume und sagte: "Wenn du willst, stelle ich dich für die Lehre als Industrie-Kaufmann ein." Ich sollte in den nächsten Tagen alle relevanten Unterlagen vorbeibringen, die sie schon auf einer Liste vermerkt hatte. Ich bedankte mich artig für das Gespräch und versprach, einen Termin mit ihr zu vereinbaren und weitere Einzelheiten abzusprechen. Ich sagte aber sofort zu, die Lehre machen zu wollen. Wieder auf dem Hof, konnte ich mein Glück kaum fassen.
Mühlacker hatte zu jener Zeit rund 10.000 Einwohner mit drei Dorfgemeinden, hier kannte jeder jeden. Bevor ich die Lehre in Angriff nehmen konnte, musste ich aber Klarheit beim Jugendamt und mit meinem Bruder schaffen. Wieder im Betrieb nahm ich mir beim Meister zwei freie Tage, bat beim Jugendamt um ein Gespräch in der kommenden Woche und bekam auch sofort einen Termin. Danach rief ich Frau B. an und bat ebenfalls um einen Termin, ich wollte meine Bewerbungsunterlagen vorbeibringen. Dann fuhr ich am Abend zu meinem Bruder, der aber leider wieder einmal nicht zuhause war. So fuhr ich zu seiner Stammkneipe und fand ihn stark angetrunken an der Theke, ein Gespräch mit ihm war unmöglich. Beim Jugendamt sprach ich dann wieder bei den beiden netten Damen vor, ich musste aber warten, da ich wie üblich überpünktlich erschienen war. Nach zehn Minuten ging die Tür auf, ich wurde zum Eintreten aufgefordert und nahm Platz.
In einem langen Gespräch erörterte mir die eine Dame, was ich am nächsten Tag bei Frau B. für den Lehrvertrag vorlegen musste - die andere Frau war ins Nebenbüro gerufen worden. Ausser einem Bewerbungsschreiben und einem Lebenslauf brauchte ich nichts weiter. Zu einem späteren Zeitpunkt musste ich natürlich noch meine Arbeitspapiere von Fakir nachreichen. Meine kurze Lehrzeit im Osten wurde mir angerechnet, Frau B. kümmerte sich bei der Industrie- und Handelskammer darum. Ausserdem meldete sie mich auch gleich bei der Berufsschule an. Mit Frau B. war das alles schon telefonisch geregelt worden. Bei B & Co sollte ich einen Lehrvertrag für zwei Jahre bekommen, dazu eine Lehrbeihilfe von monatlich 65 DM im ersten Jahr, danach monatlich 80 DM. Die Firma Fakir wusste demnach auch schon Bescheid, die Buchhaltung machte meine Papiere fertig, den Lohn konnte ich mir gleich abholen.
Der letzte Arbeitstag sollte der 15. des Monats sein, mein erster Lehrtag war der 1. Oktober. Weil das aber der Berufsschultag war, begann meine Lehre eigentlich am 2. Oktober. Am Berufsschultag sollte ich mich vor acht Uhr im Büro der Schulleitung melden, die Klasse sowie mein Raum wurden mir dort zugewiesen. Zwischen dem 15. September und dem 1. Oktober sollte ich erneut im Amt vorsprechen, damit man mir noch einmal alle Leistungen, die mir zustanden, erklären konnte. Zwar bekäme ich alle Informationen auch noch schriftlich an meine Adresse gesandt, aber es wäre doch einiges zu beachten, sagte man mir. Ausserdem sei mein Wohnraum zu teuer, ich sollte mir eine andere Unterkunft suchen. Die Dame hatte am Ende zwei Stunden lang auf mich eingeredet, ich war danach fix und fertig. Dann durfte ich endlich gehen. Mein Dankeschön fiel sehr herzlich aus.
Am nächsten Tag sprach ich bei Frau B. vor, wo ich wie üblich sehr pünktlich erschien. Noch nie bin ich zu einem Termin oder Treffen, egal aus welchem Anlass, zu spät gekommen. Das ist eine Eigenart von mir. Nach dem Klingeln öffnete diesmal die junge Frau B. die Tür, ich hatte sie schon oft auf dem Werkhof gesehen. Sie war eine gutaussehende Frau, vielleicht Mitte 30. Dazu ledig oder geschieden, ich hatte keine Ahnung. Später bekam ich mit, dass der Chemiker ein Auge auf sie geworfen hatte. Die beiden Frauen eröffneten mir, dass ich sofort am 1. Oktober mit der Lehre beginnen konnte. Die Jüngere las dabei meine Bewerbung und meinen Lebenslauf, ich hatte ihr beim Eintreten die Unterlagen gereicht. Die Ältere erklärte mir, dass sie schon alles für mich geregelt hätte. Die Auskunft von der Industrie- und Handelskammer sei positiv ausgefallen, obwohl das Lehrjahr schon begonnen hatte.
Den Lehrvertrag unterschrieb ich sofort, mir wurde noch eine Menge erklärt. Anschliessend ging ich ins Personalbüro von Fakir und gab meine Kündigung ab, das Jugendamt hatte mich darum gebeten. Zwar hatte ich eigentlich noch eine Woche zu arbeiten, aber der Personalchef gab mir meinen Lohn und die Arbeitspapiere sofort mit. Die Bezahlung erfolgte bis Ende des Monats, die Beschäftigung endete auch erst am 30. September. Warum? Der Personalchef erklärte, das habe mit Urlaub und Überstunden zu tun, die mir noch zustehen würden. Es war also alles in Ordnung, ich bedankte mich bei ihm. Dann ging ich noch zum Meister und zu meinem Kollegen, um Tschüss zu sagen. Als letztes leerte ich meinen Arbeitsspind.
Im Schwimmclub sprach sich die Neuigkeit schnell herum, alle waren der Meinung, dass Ute, die Tochter des Bürgermeisters, wohl über ihren Vater etwas nachgeholfen habe. Das war mir aber vollkommen egal, wir mochten uns - und alle wussten das im Club. Jetzt brauchte ich nur noch eine preiswertere Unterkunft. Meine Vermieterin liess aber nicht mit sich reden, sie blieb bei ihrem Mietpreis. Falls ich das nicht mehr zahlen konnte, würde sie mich aber sofort ausziehen lassen. Sie konnte das Zimmer für täglich sieben Mark an einen Monteur vermieten. Der Kollege, der schon das andere Zimmer neben mir bewohnte, wollte meinen Raum sofort haben. Deshalb kündigte ich auch gleich und bekam sogar einen Teil meiner bereits gezahlten Miete zurück. Meine Vermieterin verdiente an dem Monteur natürlich viel mehr als an mir, obwohl sie für die Monteure auch Frühstück machen musste. Ich hatte mein Zimmer ohne Frühstück gemietet, sonst hätte ich 80 Mark zahlen müssen.