Table of Contents

Der lautlose Schrei

Barrington Cove, 1984

Barrington Cove, Gegenwart

Ein Samstag

Zur gleichen Zeit

Crest Point

Ein Sonntag

Zwischenspiel

Barrington Cove, ein Montag

Im geheimen Raum des Tarnowski-Hauses

Epilog I – Lose Enden

Epilog II – 1984

Auf tödlichen Sohlen

Barrington Cove, 1984

Barrington Cove, Gegenwart

Die Galerie reachAble

Zur rüstigen Eiche

Tarnowski-Haus

Die Wohnung der Familie Young

Eine Stunde später

Im Haus der Familie Collister

Angel Island

Gedenkfeier von Henry Snyder

Angel Island

Auf der Gedenkfeier von Henry Snyder

Angel Island

Die Galerie reachAble

Tarnowski-Haus, etwas später

Am anderen Ende der Stadt

Tarnowski-Haus

Irgendwo in der Stadt

Hospiz Heartfull

Hotel Allstar, Penthousesuite

Epilog I – Ende gut, alles gut?

Epilog II – Neue Kontakte

Epilog III – 1984

Eine verhängnisvolle Erfindung

Barrington Cove, 1984

Gegenwart, Haus der Familie Collister

Barrington Cove Highschool

Tarnowski-Haus, der geheime Raum

In der Kantine von Jamie Collisters Firma TEMA Enterprises

Bei Randy zu Hause

Barrington Cove, Uferpromenade

Bei Randy zu Hause

Im Haus der Familie Collister

Zwischenspiel

Ein Dienstag, nach der Schule

Ein Dienstag, nach der Schule

Ein Donnerstagnachmittag

Barrington Cove, Stadtarchiv

Barrington Cove, Uferpromenade – Kite-Festival

Zwischenspiel

Barrington Cove Kite-Festival

Haus der Familie Collister

Gegen Mittag

TEMA Enterprises

Seniorenwohnheim »Zur rüstigen Eiche«

Bei Randy zu Hause

Epilog I – Der Versager

Epilog II

Epilog III

Gefährliche Spiele

Barrington Cove, 1984

Barrington Cove, Gegenwart

Tarnowski-Haus, Der geheime Raum

Die Villa der Holts,

Innenstadt, Im Laden »BUCHstaben«

Barrington Cove Gazette

Das Anwesen der Familie Holt

Tarnowski-Haus, Im geheimen Raum

Barrington Cove Hospital

Irgendwo auf einem Boot

Seniorenwohnheim »Zur rüstigen Eiche«

Zur gleichen Zeit

Haus der Familie Collister

Irgendwo auf einem Boot

Tarnowski-Haus, Im geheimen Raum

In der Seniorenresidenz »Zur Rüstigen Eiche«

An Bord der QUINTUS

Barrington Cove, der Hafen

Irgendwo

Der Hafen von Barrington Cove

Im Haus der Familie Collister

Epilog I – Das Spiel geht weiter

Epilog II – 1984

Schatten der Vergangenheit

Barrington Cove, 1984

Sunforest Cove, das ehemalige Waisenhaus, ein Freitagabend

Barrington Cove, im Buchladen BUCHstaben, ein Samstagmorgen

Barrington Cove Gazette

Im Schönheitssalon La Salle

Tarnowski-Haus, im geheimen Raum

Auf dem Weg nach Sunforest Cove

Sunforest Cove, ein Sonntagnachmittag

Auf dem Weg zum Internetcafé

In der Wohnung von Hester Stone

Vor dem Internetcafé, kurz zuvor

Im Café Forestsight

Zwischenspiel

In der Wohnung von Hester Stone

Zwischenspiel

Zur gleichen Zeit, eine Mikrofonverbindung weit entfernt

Auf dem Dach des ehemaligen Waisenhauses

In der Wohnung von Hester Stone

Epilog I – Schatten der Zukunft

Epilog II – Schatten der Vergangenheit

Das gefälschte Pergament

Barrington Cove, 1984

Barrington Cove, Gegenwart

Das Tarnowski-Haus, Im Geheimen Raum

In der Villa van Straten

~ Der Gründungstag ~

In der Highschool

Kurz zuvor

In der Aula

Epilog – 120 Sekunden

In den Trümmern

Prolog

~ Der Gründungstag ~

In den Trümmern

Barrington Cove, ein später Donnerstagabend,

Zwischenspiel

Barrington Cove, ein Donnerstagabend,

Barrington Cove, eine Donnerstagnacht,

Barrington Cove Highschool,

Ein Freitagmorgen (kurz nach Mitternacht)

Ein Freitagmorgen (in den frühen Morgenstunden)

Am Schauplatz der Explosion,

Dreißig Minuten später

In den Katakomben,

Einige Minuten zuvor

Ein Freitagmorgen (in den frühen Morgenstunden)

Barrington Cove Hospital,

Sonderberichterstattung von Channel 5

Epilog I – Seit Barrington Cove existiert …

Epilog II – Die Rückkehr

Das Böse im Spiegel

Prolog, 1984

Vor dem Collister-Haus

Das Barrington Cove Gerichtsgebäude

Die Villa der Holts

In der Nähe vom Crest Point

Das Sheriffdepartment

Das Tarnowski-Haus, der geheime Raum

Zur gleichen Zeit

Das Tarnowski-Haus, im geheimen Raum

Die Barrington Cove Gazette

Die Landbrücke nach Angel Island

An der nördlichen Klippe

Im Archiv

Barrington Cove Gazette

Im Gefängnis der Dynastien

Barrington Cove, am alten Leuchtturm

Epilog I – Wusstest du schon?

Epilog II – 1984

Die Macht des Grafen

Prolog, 1984

Barrington Cove, Gegenwart

1. Mason

3. Olivia

4. Danielle

5. Der Graf

6. Mason

7. Randy

8. Olivia

9. Danielle

10. Der Graf

11. Mason

12. Randy

13. Danielle

14. Olivia

15. Der Graf

16. Mason

17. Olivia

18. Randy

19. Olivia

20. Mason

21. Danielle

22. Randy

23. Olivia

24. Sonja Walker

25. Der Graf

Epilog I – Wo warst du?

Epilog II – Ein Gefängnis aus Gold

Epilog III – 1984

Ein Rennen gegen die Zeit

Prolog, 1984

Barrington Cove, Gegenwart,

In den Katakomben unter Barrington Cove,

Im alten Leuchtturm

Eine Entzugsklinik weit entfernt

Barrington Cove,

Die Praxis von Doktor Silverman,

Eine Entzugsklinik weit entfernt,

Barrington Cove,

Pinehearst College,

Vor dem Haus der Familie King,

Eine Entzugsklinik weit entfernt,

Barrington Cove, im geheimen Raum,

Kurz zuvor eine Entzugsklinik weit entfernt

Barrington Cove, im BUCHstaben Laden,

In der Entzugsklinik,

Barrington Cove,

Kurz zuvor

In der Villa der Familie Holt

In den Favelas

In der Nähe des Collister-Hauses

Im Haus von Barbara Gladstone, kurz zuvor

Epilog I – Ich erzähle dir eine Geschichte

Epilog II – 1984

1984

Prolog, Gegenwart

Barrington Cove, Januar 1984

Ein Samstagmittag

März 1984,

An einem geheimen Ort

Barrington Cove, Gegenwart

Sunforest Cove, 1984

Monolog eines Mörders

Juni 1984

Barrington Cove

Sunforest Cove, im Waisenhaus

einen Monat später (Juli 1984)

Ende August 1984,

Monolog eines Mörders

Im Haus der Familie King

Monolog eines Mörders

Die Nacht, in der Marietta King starb

Monolog eines Mörders

Epilog – Der Sturm ist da

Das Echo des Schreis

Prolog

Im Haus der Familie Collister

Am Crest Point

Auf dem Gestüt der Familie Holt

Barrington Cove Hospital

Am geheimen Strand

Ein Sonntagmorgen

Hoch in der Luft

Barrington Cove, im alten Leuchtturm

Sheriffsdepartment Barrington Cove

1985 – Katastrophe Angel Island

In der Wohnung von Hester Stone

Sheriffsdepartment Barrington Cove

In den Favelas

Im alten Leuchtturm

Auf einem Flugplatz in Sunforest Cove

Barrington Cove Hospital

Im alten Leuchtturm

In der Residenz des Bürgermeisters

Im alten Leuchtturm

Auf dem Weg nach Barrington Cove

Redaktion von Channel 5

Die alte Barrington Cove Highschool

Etwa eine Stunde zuvor

In der alten Barrington Cove Highschool

Zwischenspiel – Schlaglichter

In der alten Highschool

Eine Woche später

Epilog – 1985

Seriennews

Impressum


 

 

 

 

 

I

Der lautlose Schrei


von Andreas Suchanek

Barrington Cove, 1984

 

Es war eine ganz und gar dumme Idee.

Die Silhouette des Gebäudes zeichnete sich grau gegen das Mondlicht ab, wie ein gigantischer Grabstein. Eingerahmt von mehreren kleinen Betonklötzen, wirkte der Hauptbau der Schule wie ein Mahnmal, das ganz und gar nicht zum Betreten einlud.

Im Hintergrund erkannte Harrison den Sportplatz mit seiner blutroten Gummibesohlung. Unweigerlich bekam er eine Gänsehaut.

Ich könnte jetzt in meinem warmen weichen Bett liegen.

»Alter, mach endlich«, erklang die Stimme von Jamie.

Seit der Freund mit Shannon zusammen war, wurde er immer unausstehlicher und gab ständig den großen Macker. Aber sie schien aus unerfindlichen Gründen darauf abzufahren, sonst hätte sie ihn schließlich längst in den Wind geschossen.

»Ist ja gut!« Er sprang über die hüfthohe Mauer.

Sprayer hatten darauf Sätze wie »Make Peace, Not War« und »School‘s out forever« hinterlassen, was den Direx jedes Mal zur Weißglut brachte, wenn er es sah. Tauchten die Sätze doch stets wieder auf, sobald er sie übermalen ließ.

Harrison strauchelte, wäre beinahe auf dem Beton des Schulhofs zu Boden gegangen. Wie peinlich das gewesen wäre.

Billy hatte die Tür schon erreicht und winkte hektisch, denn ohne den Schlüssel kam er jetzt nicht mehr weiter. Shannon rannte zu ihm. Sie nestelte an ihrer Gürteltasche und zog schließlich etwas hervor – den Nachschlüssel. Die Frau war ein Ass.

Jamie trat hinter sie, wie immer lagen seine Hände sofort an ihrer Taille, als wären sie ein Schatz, den es zu behüten galt. Sie schüttelte ihn ab, drohte in gespieltem Ernst mit dem Finger.

»Alles okay bei dir?«, fragte Marietta.

Harrison zuckte zusammen. »Klar.« Das Lächeln verunglückte.

»Mir ist auch nicht wohl dabei«, sagte sie. Neckend stupste sie mit dem Zeigefinger in seine Seite. »Aber du hast doch nicht etwa Angst?«

Wir brechen nachts in die Schule ein, um Prüfungsfragen aus dem Büro vom Direx zu stehlen, klar hab‘ ich Angst. Wenn wir erwischt werden, sind wir geliefert. »Quatsch«, sagte er. »Warum sollte ich? Das wird ein Spaziergang.«

»Für dich nur ein kurzer. Sei froh.«

Klar, einer musste ja Schmiere stehen. – Allein. Er war ja so was von froh. Nicht mal Musik durfte er hören, weil ihm sonst vielleicht etwas entging. Sehnsüchtig blickte er auf seinen Sony. In dem Walkman steckte eine Kassette mit den neuesten Chart-Hits, gerade vorhin hatte er Phil Collins und Lionel Richie aufgespielt.

Gemeinsam mit Marietta rannte er die letzten Meter zur Tür.

»Heute noch, okay?«, sagte Billy gerade.

»Bin ja dabei«, erwiderte Shannon.

Fahrig strich sie eine Strähne aus ihrem Gesicht und rüttelte am Schlüssel. Endlich drehte er sich; es klackte, als das Schloss entriegelt wurde.

»Das ist mein Babe«, sagte Jamie stolz und hauchte ihr einen Kuss in den Nacken.

»Rummachen könnt ihr später.« Billy zog die Tür auf und rannte in die Eingangshalle.

Um die Alarmanlage mussten sie sich keine Sorgen machen, das Ding war schon ewig kaputt. Da die Schule kein Geld für die Reparatur besaß, setzte der Direx nur noch auf die abschreckende Wirkung der Anlage.

Weiß doch eh jeder, dass das Teil Schrott ist.

»Okay.« Jamie öffnete seinen Rucksack und verteilte die Walkies.

»Wir funken auf Kanal 4«, sagte er und drückte Harrison das Gerät in die Hand. »Kannst du dir das merken oder muss ich es dir aufschreiben?«

»Idiot.«

Jamie grinste frech. »Dann mach‘s mal gut, Hairy-Boy. Lass dich nicht von den Geistern holen.« Er gab ihm einen Klaps auf die Schulter, legte seinen Arm um Shannon und folgte den anderen nach oben Richtung Sekretariat.

Harrison kochte vor Wut. Wenn das heute vorbei war, würde er sich Jamie schnappen und ihm mal ordentlich die Meinung geigen. Wie aufs Stichwort begann sein Rücken zu jucken. Verdammte Haare.

Kurz überlegte er, doch ein wenig Musik zu hören, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Wenn tatsächlich jemand kam und er ihn nicht bemerkte … Er schüttelte den Kopf. Mit einem Seufzen trabte er in eine dunkle Nische zwischen dem Getränkeautomaten und einer der Säulen.

Im Dunkeln wirkte die Eingangshalle einfach nur gespenstisch. Die Blumenkübel mit den Zierpflanzen sahen aus wie schattenhafte Kreaturen, die ihre Tentakel in seine Richtung streckten. Hinter jeder Säule konnte sich jemand verbergen. Und diese Stille. Er konnte nur hoffen, dass die anderen sich beeilten.

Langsam rutschte er in die Hocke.

Das Warten begann.

 

*

 

Mittlerweile mussten Stunden vergangen sein. Harrison warf einen Blick auf seine Swatch.

Nur ein paar Minuten, fuck.

Mit einem Mal kam er sich dumm vor.

Plötzlich erklangen Schritte. Harrison zuckte zusammen und schalt sich kurz darauf einen Narren. Wenn die anderen das gesehen hätten, könnte er sich die nächsten Wochen Jamies Witze anhören.

Oh, Hairy-Boy, du hast da ein paar graue Haare auf dem Rücken. Hat dich etwas erschreckt?

Er lauschte in die Dunkelheit. Es war nur eine Person, die zu ihm in die Aula gelaufen kam, vermutlich Marietta. Sie erschreckten sich öfter gegenseitig und momentan lag er nach Punkten vorne.

Will da jemand Revanche?

Ihm kam eine Idee.

»Einen kleinen Schreck hast du dir schließlich auch verdient«, flüsterte er vor sich hin.

Er schlich geduckt zu den Säulen, im Schatten würde sie ihn nicht sehen. Die Schritte waren jetzt ganz nahe.

Harrison lugte hinter der Säule hervor … und zuckte erneut zusammen, sein Herz raste.

Schnell zog er sich in die Dunkelheit zurück.

Marietta trug keine solch eleganten Lederschuhe, von dem Trenchcoat ganz zu schweigen.

Oh Gott, wir sind so was von am Arsch.

Vermutlich war der Hausmeister auf einem seiner Rundgänge. Doch warum in dieser Aufmachung? Wohl eher nicht. Aber wer war es dann? Harrison drückte sich tiefer in den Schatten. Der Unbekannte blieb stehen.

Stille.

Als er schon glaubte, entdeckt worden zu sein, erklangen wieder Schritte, die sich langsam entfernten.

Harrison lugte noch einmal um die Säule.

Der Mann – zumindest ging er davon aus, dass sich unter dem Trenchcoat und dem Hut keine Frau verbarg – war mittelgroß und schmächtig. Die einzigen Auffälligkeiten waren die eleganten Lederschuhe und die schwarze flache Hülle, die er in der Rechten trug. Normalerweise wurden darin Super-8-Filme verstaut.

Harrison wartete, bis der Mann durch die Eingangstür nach draußen verschwunden war, dann atmete er auf und erhob sich. Warum hatten die anderen ihn nicht gewarnt?

Als er das Walkie hob, stellte er entsetzt fest, dass Kanal drei ausgewählt war.

Super! Das wird Jamie mir noch in dreißig Jahren vorhalten.

Es knackte, als er den kleinen schwarzen Knopf drehte. Jetzt zeigte der Strich an der Seite auf die Zahl vier.

»… mich? Verdammt noch mal, was ist mit dem Ding?« Es war die Stimme von Jamie und er klang panisch.

»Alles okay, Alter, ich bin in Ordnung.«

»Lauf! Raus aus dem Schulgebäude, hast du verstanden?!«

»Wow, komm wieder runter. Er hat mich nicht erwischt.«

»Was? Wer?«

»Na, der Typ im Trenchcoat.«

»Oh Shit.«

Ein Knacken drang aus dem Lautsprecher.

»Harrison, du musst da abhauen«, erklang die Stimme von Shannon. Sie schluchzte. »Mach schon, wir sind in dem Wäldchen hinter der Schule.«

»Was ist denn passiert?«

»Marietta ist tot«, sagte sie stockend. »Lauf!«

Die Worte hallten in Harrisons Geist wider wie ein ewig währender Donnerhall. Er hatte jedes Wort verstanden, konnte den Sinn dahinter aber nicht begreifen, nicht erfassen. Die Zeit schien für einen grausamen Moment stillzustehen.

Sein Körper reagierte mechanisch.

Er rannte.

 

*

 

Barrington Cove, Gegenwart

Ein Freitag

 

Der nervende Ton der Schulklingel riss ihn aus dem Sekundenschlaf. Mason fuhr in die Höhe. »Hm?«

»Alter.« Randy grinste ihn vom Nebentisch aus an, das dunkle Haar verwuschelt wie immer. »Wenn der Kelso nicht so sehr in die soziale Struktur des Mittelalters in Europa vertieft gewesen wäre, wärst du hochkant rausgeflogen.«

»Hm.« Er schob seine Bücher in den Eastpack. Mason hasste Geschichte. Und Mathe. Und Englisch. »Ist spät geworden gestern.«

Sie verließen den Klassenraum als Letzte. Die anderen trieben sich längst auf dem Schulhof herum, nutzten jede Sekunde der Pause, die ihnen vor dem Sportunterricht zugestanden wurde.

Sport.

Das Wort drehte in Masons Kopf eine Ehrenrunde. Einst war Basketball alles für ihn gewesen, das Zentrum seines Lebens, Denkens und Fühlens. Bis zu jenem Tag vor einem Jahr, als das Schicksal mit grausamer Allmacht entschieden hatte, ihm seinen Traum zu nehmen.

»Du hast schon wieder diesen Blick drauf«, sagte Randy. Er knabberte an seiner Unterlippe, als wäre es ihm unangenehm, das Thema anzusprechen.

»Welchen Blick?«

»Du weißt genau, was ich meine.«

Mason zuckte mit den Schultern. »Passt schon. Mir geht es gut.«

»Ist klar.« Randy hielt ihn am Arm fest. »Warte. Du kannst so nicht weitermachen, Alter. Zu spät kommen, in der Klasse schlafen und ständig abdriften. Du bist Mister Sport. Lustig, locker und smart.«

Er lachte auf. Es war mehr ein Grunzen als ein Lachen, aber immerhin. »Das ist Vergangenheit. Hör auf, dir ständig Sorgen um mich zu machen.«

»Vertauschte Rollen würd’ ich sagen.«

Sie hatten sich beide verändert. Sein bester Freund, den er seit etwas weniger als einem Jahr kannte, war nicht mehr ganz so schüchtern und introvertiert wie einst. – Aber noch immer ein Geek und ein Nerd; ein Neek eben. »Da hast du Recht.«

Mason sah zu Boden. Und was bin ich?

Als er wieder aufblickte, war es zu spät. Ein Schlag traf ihn an der Schulter, er taumelte gegen die Wand.

»Geht‘s noch?!«, rief Randy.

Der Übeltäter – kein anderer als der Sohn des hiesigen Sheriffs, Brian Bruker – wandte sich kurz um, zeigte den Mittelfinger und hetzte dann weiter. »Alles in Ordnung?«

Mason rappelte sich auf. »Hörst du jetzt endlich auf, mich das ständig zu fragen!«

»Ist ja gut.« Der Freund trat zurück und hob in einer Geste der Entschuldigung die Arme.

Vor ihnen tauchten die Schulspinde auf, in denen sie ihre Bücher vor dem Sport verstauen und die Sporttaschen holen wollten. Davor stand eine Traube aus Deputys, der Direktor und Drogenspürhunde.

Der Direx deutete in Masons Richtung. »Ah, der Mann der Stunde, Mister Collister. Öffnen Sie bitte Ihren Spind. Deputy Sachsen möchte einen Blick hineinwerfen.«

Wie er diesen aufgeblasenen Wichtigtuer hasste. Samuel – der Prinz – Samsbury leitete die Schule seit eineinhalb Jahren als Direktor und war unter den Schülern noch unbeliebter als sein Vorgänger. Der Mann stammte ursprünglich aus England und hatte sich wegen seiner nasalen Sprechweise, in Kombination mit einer ordentlichen Portion Arroganz, den Spitznamen ‚Prinz’ eingehandelt.

Randy analysierte mit gerunzelter Stirn das Geschehen, sagte aber nichts.

Mason zuckte die Schultern. Die Drogenkontrollen gehörten zum Alltag bei einer öffentlichen Schule. Mindestens einmal pro Monat fanden sie statt, dann wimmelte es hier von Deputys und Hunden und Neulingen, die mit ihren Smartphones alles aufnahmen. Das war verboten, klar, aber es fand sich immer ein Weg. Meist wurden kleinere Mengen von irgendeinem Drogenscheiß entdeckt, konfisziert, der jeweilige Schüler bestraft.

Gehörten seine Eltern zu den besser Verdienenden, blieb es bei einem Eintrag in die Akte, gehörten sie zur Unterschicht, folgte schon mal ein Schulverweis. Das übliche Spiel, das durch den mächtigen Elternbeirat gespielt wurde.

Der Prinz stand neben dem Deputy, das Gesicht ein Ausdruck an Hochnäsigkeit. Wie jeden Tag trug er einen grauen Anzug. Ein Teil der Schüler war überzeugt, dass er nur einen davon besaß, den er niemals wechselte. Andere glaubten, dass er ein Aristokrat aus England war, sich daher stets kerzengerade hielt und die Schulordnung auf den Punkt befolgte. Der Elternbeirat war ihm ein Dorn im Auge.

»Klar doch, Mister Samsbury«, sagte Mason. Immerhin würde er so den Anfang der Sportstunde verpassen. Er trat an den Spind, stellte über das Drehschloss die korrekte Kombination ein und zog die Tür auf. »Bitte.«

Erst als der Hund anschlug, begriff er, dass etwas nicht stimmte. Und dass die Sportstunde heute ausfallen würde.

 

*

 

Es war ein Albtraum. Der Direktor saß ihm gegenüber, Deputy Sachsen zu seiner Linken.

»Wenn du uns noch etwas sagen möchtest, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt«, sagte der Prinz. Sein Blick fiel auf das Päckchen aus durchsichtiger Plastikfolie, das von einem Klebeband zusammengehalten wurde. »Das hier ist nicht einfach nur ein Briefchen – was die Sache keinesfalls unproblematischer machen würde -, es sind 2,5 Kilo! Eine solche Menge ist strafbar.«

»Ich habe keine Ahnung, wie das Zeug in meinen Spind kommt.« Wütend ballte Mason die Hände zu Fäusten. Sie glaubten ihm kein Wort und er sah an ihren Blicken, dass er längst verurteilt worden war. »Drogen, ich? Was soll das?! Ich bin …« Seine Stimme versagte. »Ich war ein Profisportler.«

»Die Beweise sind eindeutig«, sagte Deputy Sachsen. Mimik und Gestik zaghaft, vorsichtig. »Dieses Päckchen wurde in deinem Schulspind gefunden, damit bist du der Besitzer.«

»Kommen Sie schon, die Schlösser sind easy zu knacken.« Mason konnte die Blauäugigkeit des Mannes kaum fassen. »Jeder hätte das Ding in meinen Spind legen können.«

»Hast du denn schon mal eines der anderen Schlösser geöffnet?« Die linke Braue nach oben gezogen, beugte der Prinz sich vor.

»Nur mein eigenes«, sagte Mason schnell. »Ich hab mal die Kombination vergessen. Aber das ist doch jetzt scheißegal!«

»Um was es hier geht, Mister Collister, entscheide ich.« Die Stimme des Prinzen war kalt wie ein Edelstahlmesser, das durch seine Hoffnung schnitt wie durch einen Butterblock. »Und achten Sie auf Ihren Ton. Die Regeln sind für einen solchen Fall eindeutig.«

»Ich scheiß auf die Regeln! Ich habe mit der Sache nichts zu tun!«

Erst durch die Blicke des Deputys und des Direktors bemerkte Mason, dass jemand in den Raum gekommen war. Als er sich umwandte, stand sein Dad in der Tür.

»Damit dürfte doch alles gesagt sein«, sagte der.

»Jamie Collister.« Die Stimme von Samsbury war ein einziges: Natürlich, warum wundere ich mich? »In letzter Zeit sehen wir uns beide zu oft.« Im Blick des Direktors lag noch etwas anderes, Beunruhigendes, das für Mason undeutbar war.

»Mister Collister«, sagte Deputy Sachsen. »Ihr Sohn hat eine Menge durchgemacht. Ich verstehe …«

»Nein«, unterbrach sein Dad. »Tun Sie nicht. Das spielt aber auch keine Rolle. Ich weiß, wie das Spiel abläuft. Mein Sohn und ich gehen jetzt, alles Weitere besprechen Sie mit meinem Anwalt. Das da«, er deutete auf das Drogenpäckchen, »ist nur ein Indizienbeweis.«

»Bis zur Klärung des Sachverhalts ist Mason von der Schule suspendiert«, sagte Samsbury nachdrücklich. »Aber ich nehme an, das besprechen wir am besten auch mit Ihrem Anwalt.«

Mason hatte das Gefühl, der Boden würde unter ihm wegbrechen. Wie sollte er seine Noten endlich in den Griff bekommen, wenn er nicht in die Schule durfte? Das Sportstipendium hatte sich ja ohnehin erledigt.

Plötzlich sehnte er sich nach der langweiligen Geschichtsstunde zurück, nach Mathe und Englisch.

Doch stattdessen führte sein Dad ihn aus dem Direktorenzimmer. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Der Klang hatte etwas Endgültiges. Randy saß im Vorzimmer und sprang auf, als Mason mit seinem Dad dem Ausgang entgegenstrebte.

»Hey, alles klar?« Mit den verwuschelten Haaren und den zu großen Klamotten wirkte er immer ein wenig, als entstamme er einer anderen Welt.

»Ich fürchte, du musst ein paar Tage ohne mich auskommen«, sagte Mason.

»Aber …«

Mason wandte sich ab.

Sein bester Freund blieb hinter ihnen zurück, als sie die Eingangshalle durchquerten und das Schulgelände verließen.

 

*

 

»Das können die doch nicht machen«, sagte Randy. Er saß auf der Fensterbank und starrte fassungslos zu ihm herüber.

Mason hatte eigentlich keine große Lust zu quatschen. Andererseits war er froh, dass Randy direkt nach der Schule hierher geradelt war und sein Zimmer gestürmt hatte, so war er nicht alleine. »Haben sie aber.«

Er lag auf dem Bett und warf den Basketball gegen die Decke, wie er es oft tat, wenn er wütend war. Normalerweise dauerte es keine fünf Minuten, bis seine Mum oder sein Dad hereingestürmt kamen. Heute ließen sie ihn in Ruhe.

Dops.

Zielsicher landete der Ball im Zentrum der drei ineinander gemalten Kreise an der Decke und kehrte zurück in Masons Hand.

Randy nippte an seiner Coke. Die Eiswürfel klimperten. Draußen ging gerade ein sonniger Tag zu Ende, Schatten breiteten sich im Zimmer aus.

»Die sind doch froh darüber mich loszuwerden«, sagte Mason. Wie er diese eingebildeten Widerlinge hasste. Den Prinz, den Deputy und alle anderen.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich hab sie blamiert. Der große Supersportler, Captain der Mannschaft, besitzt die Frechheit, mitten auf dem Spielfeld zusammenzubrechen.«

Jetzt wirkte Randy geschockt. »Alter, das ist doch längst Geschichte.«

Mason stieß ein bitteres Lachen aus.

Dops.

»Keiner von denen vergisst das. Würde mich nicht wundern, wenn Brian dahinter steckt.« Sein Magen zog sich zusammen, als er an den ehemaligen besten Freund dachte. Nach dem epileptischen Anfall war Mason aus dem Team ausgeschlossen worden. Aus versicherungstechnischen Gründen, hatte Samsbury gesagt. Er selbst hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal gewusst, dass er unter der Krankheit litt. Es hatte nicht lange gedauert und ein anderer hatte seinen Platz eingenommen. Aus der Nummer zwei war eine Nummer eins geworden.

Dops.

Brian Bruker, Sohn des Sheriffs und Arschloch in Personalunion, war zu seinem Nachfolger aufgestiegen. Es kostete ihn einen Monat und er ging mit Sally Elkin, alle Jungs im Team eiferten ihm nach und vertraten geschlossen den Standpunkt, dass Mason ein Loser war.

»Möglich, glaube ich aber nicht. Der hat viel zu viel Schiss vor seinem Dad«, sagte Randy. »Und was die Sache mit deinem Anfall angeht, hat das der Prinz doch längst vergessen.«

»Quatsch«, fauchte Mason. »Das passt doch wunderbar ins Bild. Mason Collister bekommt wegen Tablettenmissbrauch einen epileptischen Anfall, wird aus dem Basketballteam ausgeschlossen und gerät vollends in den Drogensumpf. Spätestens morgen kleben dem die Eltern an der Backe, damit er mich endgültig von der Schule kickt.«

Randy winkte ab. »Du übertreibst.«

Dops.

»Du hast halt keine Ahnung.«

»Alter, jetzt mach dich mal locker. Ich steh auf deiner Seite, okay!«

»Davon merke ich aber nichts.«

Dops.

»Aua! Ach, shit!« Er hatte den Ball zu fest geschleudert. Das harte Leder traf ihn am Auge. Reflexartig schlug Mason aus. Der Basketball sauste durch die Luft und knallte gegen das Colaglas in Randys Hand, worauf sich die schwarze Flüssigkeit über dessen T-Shirt ergoss.

»’Ne Cola-Dusche, echt cool. Danke, Mann. Ich denke, ich geh jetzt besser.«

»Ja genau, hau doch auch ab.«

Randy schaute ihn noch einen Moment kopfschüttelnd an, dann raffte er seinen Eastpack zusammen und stapfte hinaus.

Als die Tür hinter ihm zuschlug, vergrub sich Mason in seiner Decke.

Ihr könnt mich alle mal.

 

*

 

Ein Samstag

 

Die Morgensonne fiel durch das Fenster herein und weckte Mason mit ihren warmen Strahlen. Er hielt die Augen geschlossen und genoss den Moment zwischen Schlaf und Aufwachen, kuschelte sich noch einmal in die Decke. Der Geruch von French Toast stieg in seine Nase. Es gehörte zum samstäglichen Ritual, gemeinsam mit seinen Eltern zu frühstücken. Einige Sekunden später hörte er das Rattern des Kaffee-Vollautomaten.

Vermutlich saß Dad am Frühstückstisch und schaute mit grimmigem Blick auf sein iPad, wo die Barrington Cove Gazette geöffnet war. Etwa eine halbe Stunde nach dem Frühstück fuhr er dann ins Büro, natürlich würde er auch am Samstag arbeiten.

Alles für die Firma.

Mason strampelte die Decke zur Seite. Normalerweise liebte er den Samstagmorgen. Heute war das anders. Der Streit mit Randy lag ihm im Magen und der Gedanke, dass er nichts gegen die Anschuldigungen tun konnte, ließ Wut in ihm hochkochen.

Da er praktischerweise in seinen Klamotten eingeschlafen war, verzichtete er darauf, Kapuzenshirt oder Jeans zu wechseln. Stattdessen streifte er nur frische Socken über und tapste ins Bad. Nach einer Katzenwäsche ging es ein Stockwerk tiefer.

»Morgen«, sagte er.

»Guten Morgen, Schatz«, kam es von seiner Mum.

Sie hatte bereits zwei French Toasts auf seinen Teller gepackt und der fertige Latte stand daneben. Weil Samstag war, sogar mit echtem Kaffee, nicht dem koffeinfreien Zeug, das sie ihm sonst immer andrehen wollte.

Er dankte ihr mit einem Lächeln. Obwohl er keinen Appetit hatte, begann er zu essen.

»Morgen«, brummte sein Dad, stieß einen Seufzer aus und legte das iPad beiseite. »Ich habe gestern noch mit dem Anwalt gesprochen. Wir werden die nächsten Tage abwarten müssen. Leider ist der Sheriff nicht gerade kooperativ.«

Mason verzichtete auf eine Bemerkung. Brian war der schlimmste Bully der Schule. Mobbing schien eines seiner liebsten Hobbys zu sein. Sein Vater – der Sheriff von Barrington Cove – war ähnlich gestrickt, aber ein ganz anderes Kaliber. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hasste Sheriff Bruker Masons Dad.

Da wird er sich die Trophäe Mason Collister nicht entgehen lassen.

»Wir kriegen das schon hin«, kam es von seiner Mum. »Herrgott, diese Idioten müssen doch kapieren, dass du niemals so dumm wärst …« Ein Seufzen. »Lassen wir das.«

Sie wirkte müde. Genau genommen wirkte seine Mum immer müde. Sie leitete ein Touristik-Büro, und da die Hauptsaison bevorstand, ging sie jeden Tag früh aus dem Haus und kam erst spät zurück. Während sie unter der Woche ein teures Businesskostüm, dezente, aber edle Rubinohrringe und irgendwelche total besonderen Schuhe trug, war es heute ein einfacher Jogginganzug. Ihre schwarzen Locken fielen ungestylt über die Schultern.

»Klar, passt schon. Keine Sorge«, sagte er. Im Lügen hatte er im letzten Jahr eine Menge dazugelernt. »Ich bin dann mal weg.«

»Aber du hast noch nicht aufgegessen.« Seine Mum deutete auf den Teller.

Schnell griff er nach dem verbliebenen French Toast, klappte ihn zusammen und schob ihn in den Mund.

»Du sollst essen, nicht schlingen.«

»Lass ihn doch, Martha.« Sein Dad winkte ab. »Randy wartet bestimmt schon. Sag deinem Freund, ich habe mir den Quellcode für seine neue App angeschaut. Saubere Arbeit. Falls er jemals ein Praktikum bei uns machen will, die Tür steht ihm offen.«

Nun musste Mason doch grinsen. Eher würde Randy eine eigene Firma in der Garage hochziehen, als für den Konzern zu arbeiten. Er mochte Masons Dad, hasste aber dessen Firma.

»Klar, mache ich.«

Fluchtartig verließ er das Haus. Sein Skateboard lehnte noch immer an der Hauswand, wo er es gestern zurückgelassen hatte.

Erst als er darauf stand und die Häuser links und rechts an ihm vorbeizogen, löste sich der Knoten in seiner Brust. Es war ein warmer Sommermorgen, die Vögel zwitscherten ringsum und Blütenduft lag in der Luft. Vom Meer wehte eine sanfte Brise heran.

Was Randy wohl gerade tat?

Vermutlich saß er auf der Terrasse, hämmerte irgendwelche Codes in seinen Laptop und vergaß dabei alles um sich herum. Und wie er dessen Tante kannte, bei der Randy lebte, las sie ihm jeden Wunsch von den Augen ab und versorgte ihn mit Brötchen, Nougatcreme und Marmelade.

Mason rollte vorbei am Bäcker, dem Waschsalon, dem Kiosk von Frau Geißen – der er kurz zuwinkte – und bog schließlich in einen kleinen Waldweg ein. Ab hier musste er zu Fuß weitergehen. Er schob das Gestrüpp beiseite und lief über den geheimen Pfad, den er im letzten Sommer entdeckt hatte, seinem Ziel entgegen. Nicht einmal Randy wusste davon.

In den Tagen nachdem das erste Video seines epileptischen Anfalls auf YouTube aufgetaucht war und er zum Stadtgespräch avancierte, hatte er sich oft hier verkrochen.

Er trat aus dem Dickicht hervor. Vor ihm lag eine kleine versteckte Bucht, eingesäumt von Felswänden, die rechts und links in die Höhe wuchsen. Sie verbargen den winzigen Strand in Richtung Meer vor neugierigen Augen. Bisher schien noch kein anderer den Platz entdeckt zu haben – zumindest war er nie auf jemanden getroffen.

Er schlüpfe aus seinen Sneakers, knüllte die Socken zusammen und zog die Jeans hoch übers Knie. Er genoss das Gefühl des Sandes unter seinen Fußsohlen, das Rauschen der Wellen, den Geruch nach Meer. Weiter vorne führte ein alter, verfallener Steg aufs Wasser hinaus. Die Bohlen waren morsch, hielten ihn aber locker aus.

An der letzten Bohle war ein Ring angeschlagen, in dem jemand ein Tau befestigt hatte. Das zugehörige Boot war allerdings schon lange verschwunden.

Mason überlegte gerade, ob er lieber schwimmen oder einfach die Füße ins Wasser hängen sollte, als ein Geräusch hinter ihm erklang.

Er fuhr herum.

Vor ihm stand ein Mädchen in seinem Alter.

»Was machst du hier?«, fuhr er sie an.

 

*

 

Irgendwie schaut er traurig aus.

Sie hatte es gar nicht darauf angelegt, leise zu sein. Doch Mason Collister war so in Gedanken vertieft, dass er sie nicht bemerkte. Er stand am Rand des Steges und schaute aufs Meer.

Schnell schoss sie ein paar Bilder. So natürlich wirkend, bekam sie in nächster Zeit niemanden mehr vor die Linse.

Unter dem Kapuzenshirt zeichneten sich breite Schultern ab. Das dichte dunkelblonde Haar war nach hinten gekämmt und sie konnte Muttermale und Leberflecke auf seinem Hals erkennen. Am linken Handgelenk trug er ein kleines Lederbändchen mit einem einzelnen Stahlglied, auf dem die Initialen MC eingestanzt waren.

Mason Collister.

Natürlich kannte sie ihn; wer tat das nicht?

Irgendein Geräusch musste sie verraten haben, denn plötzlich fuhr er herum. Sein nachdenkliches Gesicht verwandelte sich in eine wütende Fratze.

»Was machst du hier?«, fuhr er sie an.

Für einen Moment verschlug es Olivia die Sprache, was wirklich selten vorkam. Ihr Mitleid war wie weggewischt. Stattdessen hätte sie ihm am liebsten eine verpasst. »Ich wusste nicht, dass ich deine Erlaubnis brauche, um ein wenig am Strand zu spazieren.«

»Ähm.«

»Wie geistreich. Das gibt ’ne Eins in Kontern.«

»Kein Grund sich so anzuschleichen«, versuchte er Boden wieder gut zu machen.

»Ich hätte auch mit drei Hunden und einem Elefanten im Schlepptau hier antreten können, du warst gedanklich total weg.«

Der Wind frischte auf und wirbelte ihr Haar umher, brachte die Anhänger ihrer Halsketten zum Klimpern. Olivia trug heute nur ein ärmelloses Shirt, auf ihren Armen entstand eine Gänsehaut.

Ohne Mason weiter zu beachten, betrat sie den Steg. Dieser selbstverliebte Trottel konnte sie mal kreuzweise. Sie nahm ihre Kamera, richtete sie auf das Meer und schoss weitere Bilder.

Die Bohlen hinter ihr knarzten. »Du bist Fotografin?«

Olivia seufzte. »Allein diese Frage!«

»Was? Was habe ich denn jetzt wieder Falsches gesagt?«

Als sie sich umwandte, stand er wie ein begossener Pudel vor ihr. Die Augen aufgerissen, die Schultern in die Höhe gezogen.

»Du weißt wirklich nicht, wer ich bin?«

»Ähm. Sollte ich?«

»Der Artikel für die Schülerzeitung vor zwei Jahren. Der Leitartikel, du weißt schon. Ich war die inkompetente Fotografin, die du unbedingt ausgetauscht haben wolltest, weil sie deine sportliche Seite nicht ausreichend einfangen konnte. Erinnert sich unser Supersportler wieder?«

»Oh.«

»Ja, oh.«

Sie fuhr damit fort, die Felswände, das Wasser und die Bohlen des Steges zu fotografieren. Vor allem Letzteres war interessant. Das Spiel zwischen Licht und Schatten, dazu die organisch gewachsene Struktur des verfallenen Holzes. Dass irgendwelche Teenager sich mit Herzchen, Monogrammen und Sprüchen verewigt hatten, kam auch richtig gut. Mit etwas Glück konnte sie eines der Bilder für den Tourismus-Wettbewerb verwenden.

Die Gazette wird das nicht interessieren. Sei's drum. Der Wettbewerb bringt kein Geld, aber dafür Kontakte.

»Tut mir leid wegen damals«, sagte Mason kleinlaut.

Verblüfft schaute Olivia auf. Hatte er sich wirklich gerade entschuldigt? Der arrogante Übersportler musste verdammt tief gefallen sein, um das Wort ‚Entschuldigung‘ in seinen Sprachschatz aufzunehmen.

»Aber du musst das verstehen«, fuhr er fort. »Die haben gestern Drogen in meinem Spind gefunden. Irgendwer will mich fertigmachen. Und jetzt bist du hier, an meinem Strand und …«

»Wie bitte?!« Olivia hätte vor Wut beinahe ihre Nikon fallenlassen. »Sag mal, geht‘s noch? Gar nichts muss ich verstehen! Ganz ehrlich, es wundert mich, dass nicht die gesamte Schule dich fertigmachen will. Du bist noch genau so arrogant wie früher. Alles dreht sich nur um Mason Collister.«

Mit jedem Schritt, den sie auf ihn zu machte, wich er einen zurück.

»Das hier ist nicht dein Strand! Und anstatt in Selbstmitleid zu baden, könntest du ja auch einfach versuchen, den Verantwortlichen zu finden, hm? Nur so ein Gedanke. Ach was, Daddy wird das bestimmt für dich erledigen. Dann kauft er dir auch gleich ein neues Skateboard, und schon geht es dem kleinen Mason wieder gut.«

Sie versuchte, nicht an ihre Mutter zu denken, deren Alltag darin bestand, die Toiletten im Stadtarchiv zu schrubben. Oder an ihren Dad, der ständig Rückenschmerzen hatte, weil er täglich zwölf Stunden für einen Hungerlohn arbeitete und am Wochenende einen Zweitjob ausübte. Seit einigen Wochen beklagte er sich außerdem über immer heftiger werdende Magenschmerzen, weigerte sich aber rigoros, einen Arzt aufzusuchen. Er vertrat vehement die Meinung, so ein Quacksalber koste immerhin Geld, das die Familie nicht habe.

»Ihr reichen Jungs seid doch alle gleich«, sagte sie. »Wartet darauf, dass euch alles von alleine zugeflogen kommt. Und wenn dann mal eine kleine Hürde auftaucht, oje, dann rufen wir schnell Mummy und Daddy, damit die alles in Ordnung bringen. Wach auf, Collister! Du bist nicht mehr der hippe Sportler, den alle Welt vergöttert. Willkommen in der wirklichen Welt.«

»Ich …« Er strauchelte, stürzte, fiel rücklings in den Sand. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu ihr auf.

»Es ist ziemlich simpel: Entweder du kämpfst für dich selbst und machst die fertig, die dir ans Bein pinkeln – oder du gehst unter. Viel Glück.«

Wie er so vor ihr lag, bekam sie Mitleid. Der Ausdruck in seinen Augen … So hatte sie damals auch ausgesehen. Mason Collister schien erst jetzt zu begreifen, dass das entspannte Leben vorbei war. Sie rechnete ihm keine großen Chancen aus. Er hatte nie gelernt zu kämpfen, ganz im Gegenteil.

Olivia schluckte.

Dann riss sie sich von dem Anblick einer zerstörten Seele los und stapfte durch den Sand davon.

 

*

 

Zur gleichen Zeit

 

Verblüfft starrte Danielle auf ihre Oma, die mitten im Satz die Augen geschlossen hatte und eingeschlafen war. »Gran?«

Das sieht ihr gar nicht ähnlich.

In ihrer Hosentasche vibrierte das Smartphone zum hundertsten Mal. Sie nahm es heraus und überprüfte mit einem Blick die Apps. Zwei neue Tweets, fünf Likes bei Facebook und drei neue Follower auf Instagram. Dazwischen eine Nachricht ihrer Mum – ganz altmodisch per SMS – und ein Anruf in Abwesenheit von einer Freundin, die noch nicht wusste, dass sie keine Freundin mehr war. Nichts Wichtiges also.

Sie schob das Gerät wieder in ihre Hosentasche. Normalerweise schaltete sie es nur an einem Ort der Welt komplett aus – hier in der Seniorenresidenz Zur rüstigen Eiche.

Für gewöhnlich schlief ihre Gran aber auch nicht ein. Die Mutter ihrer Mutter war gerade mal vierundsiebzig und dazu noch äußerst rüstig. Sonntags stand der Tanztee an, unter der Woche ging sie mit Freunden spazieren, zum Yoga – kaum zu fassen! – und schwamm regelmäßig.

Danielle stand auf, griff nach einer Decke und legte sie ihrer Gran über die Beine. Lächelnd betrachtete sie das Gesicht der alten Frau, die tiefen Falten, das ergraute Haar, die Grübchen im Mundwinkel. Sie hielt sich jeden Samstag frei, um hierher zu kommen. Gemeinsam plauderten sie ein wenig, aßen ein Stück Kuchen und spielten eine Partie Schach.

Danielle seufzte.

Obwohl sie ihrer Mum ständig erklärte, dass Gran gar nicht ins Altenheim musste, hatte ihre Mutter darauf bestanden.

Dann war der Besuch heute eben nur ein Intermezzo. Sie schrieb schnell ein paar Zeilen auf einen Zettel und klemmte ihn unter die kleine Porzellankatze, die auf dem marmornen Couchtisch stand.

Ihr Blick fiel auf das Tablettenetui. Die Medikamente, die ihre Gran für den Blutdruck nehmen musste, waren blau. Die Tabletten in dem Etui aber rosa. In der Regel besuchte der örtliche Arzt, Doktor Silverman, jeden Bewohner der Seniorenresidenz an einem Tag in der Woche. Im gemeinsamen Gespräch wurde erörtert, ob die Medikamente halfen und ob eine Umstellung notwendig war. Die Heimleitung sorgte dann dafür, dass die korrekte Dosierung des entsprechenden Medikaments von den Pflegern an die Bewohner ausgegeben wurde. Laut Vertrag musste die Klinikleitung Danielles Eltern informieren, wenn der Arzt eine Änderung an der Medikation vornahm.

Na, die können was erleben.

Jedem Bewohner der Zur rüstigen Eiche war ein direkter Ansprechpartner zugeteilt – ein Pfleger, der bei Problemen die Ärzte und die Leitung der Residenz informieren konnte. Laut Heimleitung wurde so jedem ihrer älteren Mitbewohner eine Betreuung rund um die Uhr zuteil.

Ha, ha.

Danielle hatte recherchiert. Tatsächlich holten diese Idioten in der Chefetage sich Schulabgänger und zahlten ihnen einen Hungerlohn. Dass die unaufmerksam waren, wunderte sie nicht im Geringsten. So entstanden Fehler. Gerade im Falle älterer Menschen, die auf Hilfe angewiesen waren, konnte das böse Folgen haben.

Sie nahm das Pillenetui.

Leise schloss sie die Tür des Appartements hinter sich. Der Boden war mit einem dicken Teppich ausgelegt. – Das scheußliche Blumenmuster darauf tat ihr jeden Samstag aufs Neue in den Augen weh.

An der Rezeption erfuhr Danielle, dass Pfleger Mischa sich im Park herumtrieb. Sie musste nicht lange suchen. Der schwarzlockige Kerl saß auf der Bank, schaute in den Himmel und genoss die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.

»Hey, du.« Danielle stapfte auf ihn zu. Im Näherkommen schwenkte sie das Medikamentenetui durch die Luft. »Was sind das für Pillen?«

»Hm.« Er schaute auf, die Augen glasig.

»Bist du etwa high?!« Ihr Kiefer klappte gen Erdmittelpunkt. »Oh mein Gott, du bist high.«

»Was sind das für Pillen?«, sie hielt sie unter seine Nase.

»Die Schlaftabletten«, sagte er, ein debiles Grinsen auf dem Gesicht.

»Schlaftabletten! Meine Gran hat Probleme mit dem Herzen!«

»Kann gar nicht sein. Ich hab hier …«, er tastete nach einem Brett, an dem eine Liste klemmte – und konnte es beim dritten Versuch sogar festhalten. »Da steht es doch. Jenkins. Herz … Oh. Da hab ich wohl die Pillendosen verwechselt. Ah ja, alles klar, ihr Nachbar braucht die Schlaftabletten. Der Kerl war mal Direktor an der alten Barrington High, wusstest du das?« Er lachte.

Sie starrte ihn an. »Ist dir eigentlich klar, was du getan hast?!«

Er zuckte die Schultern. »Das wird schon wieder. Ich tausche die Tabletten gleich aus. Ist ja nix passiert.«

»Was hast du genommen?« Ihr kam ein furchtbarer Verdacht.

Während sie den Idioten in Gedanken erwürgte, war sie gleichzeitig maßlos entsetzt. Glasige Augen, zittrige Hände, das waren Symptome, die man unter Jugendlichen in Barrington Cove dieser Tage öfter zu sehen bekam.

»Jetzt mach dich mal locker, Fehler passieren«, sagte er. »Ich bin auch nur ein Mensch.« Bei dem ganzen Stress muss ich ab und zu ausschalten. Das war nur ’ne Black.«

Danielle schloss die Augen.

Die Black Flashs, kurz Blacks genannt, waren der neueste Schrei. Sie wusste nicht, woraus sie bestanden, doch die Wirkung war weithin bekannt. Nach der Einnahme entstand ein Gefühl der Entspannung, das dabei half, einzuschlafen oder nach einer schweren Klausur abzuschalten. Zugegeben, nach der letzten Geschichtsklausur war sie auch in Versuchung gewesen. Für etwa eine Sekunde oder so.

Leider gab es nichts umsonst. Die Nebenwirkungen waren Kurzatmigkeit, Konzentrationsstörungen und Ausschläge in den verschiedensten Körperregionen. Es gab Geschichten … sie schüttelte schnell den Kopf, um den Gedanken loszuwerden.

Leider waren die Tabletten leicht herzustellen. Immer wieder gab es Schüler, die sie selbst machten und unters Volk brachten.

Gerade gestern hatte es an der Schule erneut eine Razzia gegeben. Kaum zu glauben, dass ausgerechnet das ehemalige Sport-Ass Mason Collister eine Packung der Blacks in seinem Spind gehabt hatte. Andererseits wunderte sie gar nichts bei diesen arroganten Sportlern, die von sich selbst dachten, sie seien die Krone der Schöpfung.

Na warte, du kleiner Mistkerl. Nach außen hin der sportliche Saubermann und hinten rum dealen. Wenn du dahinter steckst, mach ich dich fertig. »Wer hat dir die Dinger verkauft? Collister?!«

»Mann, Blondie, du machst deiner Haarfarbe echt alle Ehre.« Mischa kicherte. »Weiß doch jeder, wo man was zum Runterkommen herbekommt«, sagte er noch, dann war er wieder abgedriftet.

Danielle sah ein, dass es keinen Sinn ergab, hier weiter zu machen. Stattdessen schnappte sie sich die Patientenliste zusammen mit dem Medikamentenetui und stapfte zum Heimleiter. Sie würde dafür sorgen, dass ihrer Gran nie wieder etwas geschah.

Und dann kümmere ich mich um dich, Collister.

 

*

 

Crest Point

 

»Alter, das ist eine total blöde Idee«, sagte Randy, während er sich ein Ginsterblatt aus den Wuschelhaaren zog. »Wir sollten den Sheriff verständigen.«

»Sicher nicht! Die glauben uns doch kein Wort. Du sprichst hier von Brukers Dad.«

Sie lagen zwischen zwei Ginsterbüschen und starrten in die Tiefe. Da sie nur ein Fernglas hatten, wechselten sie sich dabei ab, die Jungs und Mädchen dort unten zu beobachten.

Es war kein Geheimnis, dass sich die coolen Kids im Crest Point trafen. Mason selbst war einst jeden Samstagmittag hier gewesen. Es gab versteckte Ecken, in denen man rummachen konnte, ohne dass Erwachsene dabei störten. Natürlich liefen hier auch Dinge ab, über die nie jemand sprach, obwohl jeder Bescheid wusste.

»Dort drüben ist Bruker. Und er hat deine ehemaligen besten Freunde vom Basketball-Team dabei«, sagte Randy. Aufmerksam spähte er durch das Fernglas.

Neben Randy lag sein Eastpack, der von einer Schachtel ausgebeult wurde. Randy nannte es sein »Überlebenspaket«. In ihm trug er allerlei technischen Krimskrams mit sich herum.

»Schon gut, ich will keine Details«, sagte Mason. »Sag mir einfach, wenn du Pratt gefunden hast.«

Ebenso wie jeder wusste, dass im Crest Point gedealt wurde, kannte auch jeder den Namen des Dealers. Pratt Thompkins war Mitte zwanzig und damit neun Jahre älter als Mason und Randy. Der Typ hatte den Abschluss nicht geschafft, war aber irgendwie im Umkreis der Schule hängen geblieben. Ob es um Drogendeals, Diebstähle oder leichte Körperverletzungen ging: Der Sheriff verhaftete Thompkins mindestens einmal im Monat. Seltsamerweise konnte man ihm nie etwas nachweisen und er war 48 Stunden später wieder auf freiem Fuß.

»Ist gar nicht so einfach«, murmelte er.

Mason legte den Kopf auf die verschränkten Arme und schaute umher. Blütenduft lag in der Luft, der Geruch von verbranntem Holz stieg in seine Nase; dort unten brannte ein Lagerfeuer. Er konnte das Lachen hören, das sich in den Mauern fing und hier oben widerhallte.

Der kleine Disput mit Olivia am Strand hatte ihm die Augen geöffnet. Monatelang hatte er seinem alten Leben nachgetrauert und darüber sein neues vergessen. Leider machte die Logik hinter den Worten den Verlust nicht ungeschehen. Er könnte jetzt dort unten sitzen, mit den anderen Cocktails trinken und später in der Dämmerung Marshmallows über dem Lagerfeuer grillen. Stattdessen hing er die meiste Zeit alleine rum – oder mit seinem neuen besten Freund Randy.

Aber immerhin bin ich frei, machte er sich selbst klar.

All die Zwänge, denen jeder dort unten unterworfen war, galten für ihn nicht länger. Wie leicht es sich doch als Paria lebte, wenn man es erst mal akzeptiert hatte. Schlimmer war, dass er sich jetzt selbst mit anderen Augen sah. Er war tatsächlich ein Widerling gewesen. – Olivia hatte Recht.

»Hab ihn!«, rief Randy.

Mason zuckte zusammen. »Cool, das hat jetzt auch der letzte Goldzeisig gehört.« Er knuffte ihn in die Seite. Glücklicherweise gehörte Randy nicht zur nachtragenden Sorte Mensch. Als Mason bei ihm aufgetaucht war, um sich nach dem gestrigen Streit zu entschuldigen, hatte der Freund nur abgewunken.

»Lass mal sehen.« Mason griff nach dem Fernglas. »Ah ja, da ist er. Und er vertickt wieder das Zeug.«

»Blacks?«, fragte Randy.

»Jap. Was denn sonst?«

»Und jetzt?«

»Hm. Wir beobachten.«

»Alter, du hast gar keinen Plan, oder?«

»Ich dachte, wir improvisieren«, gab Mason zu. »Immerhin wissen wir, dass Thompkins so ziemlich der Einzige ist, der regelmäßig das Zeug vertickt, also muss er auch Zugang zu den Chemikalien haben, die für die Herstellung benutzt werden. Entweder hat er das Zeug selbst in meinen Schrank gesteckt oder jemanden damit beauftragt.«

»Aber warum sollte er es dir unterjubeln? Das kostet ihn ’ne Menge Geld.«

»Ich glaube auch nicht, dass es seine Idee war.« Mason ließ das Fernglas sinken. »Irgendwer hat ihn dazu angestiftet und das Zeug bezahlt, um mich fertigzumachen. Ich wette auf Brian.«

»Der Kotzbrocken findet es doch toll, dich an der Schule immer wieder auflaufen zu lassen. Kann mir nicht vorstellen, dass er dich loswerden will. Da hätte er ja niemanden mehr zum Mobben. Außerdem, stell dir mal vor, sein Dad kriegt das raus.«

Ein netter Gedanke. Was würde der Sheriff von Barrington Cove tun, wenn sein Sohn dabei überführt wurde, wie er einem anderen Jungen Drogen unterschob? Der Gedanke gefiel Mason. Andererseits waren Randys Argumente nicht von der Hand zu weisen: Würde Brian ein solches Risiko eingehen, obwohl gerade alles so gut für ihn lief? Aber wer hatte sonst genug Geld, Einfluss und Mut, um so etwas durchzuziehen?

Randy nahm das Fernglas. »Oh, wow, da unten geht es gerade richtig zur Sache.«

»Was?«

»Danielle Holt – du weißt schon, die hochnäsige reiche Blonde – knöpft sich gerade Thompkins vor. Wie geil ist das denn?«

»Zeig her.«

Mason riss ihm das Fernglas aus der Hand.

 

*

 

Danielle hatte genug gesehen. Sie stapfte aus ihrem Versteck, donnerte den schmalen Weg nach unten in den Steinbruch und baute sich vor Thompkins auf.

Dieser elende Wicht stand vor ihr, begrüßte sie mit einem schmierigen Lächeln und zwinkerte ihr zu. »Na, Kleines. Wie geht‘s denn so?«

Vermutlich fand er das auch noch charmant. Wahrscheinlich hatten die Drogen ihm bereits alle Gehirnzellen zur Selbstreflexion zerfressen. Wenn es nicht um ihre Gran gegangen wäre, Danielle hätte sich diesem Subjekt nicht auf zehn Meter genähert. Bei dem Gedanken ballte sie die Fäuste. Ob sie es wagen konnte, ihn am Kragen zu packen?

»Hast du das Zeug auch an Mischa Blackwood verkauft?!«

»Was, wer?«

»Mischa Blackwood.« Sie betonte jede Silbe. »Der Pfleger im Zur rüstigen Eiche