Das Buch

Kann man eine alte Lokomotive zum Fliegen bringen? Und ob! Auf ihrer zweiten Abenteuerreise machen Jim Knopf und sein bester Freund Lukas der Lokomotivführer nicht nur Emma flugtüchtig. Sie begegnen auch einer echten Meerjungfrau und der verwegenen Seeräuberbande die Wilde 13.

Der weltweite Bestseller – übersetzt in 25 Sprachen, über 5 Millionen verkaufte Bücher – jetzt als Kinofilm von Dennis Gansel!

Mit Henning Baum als Lukas, Solomon Gordon als Jim, Annette Frier als Frau Waas, Christoph Maria Herbst als Herrn Ärmel und Uwe Ochsenknecht als König Alfons.

Das Original – mit zahlreichen Filmbildern!

Der Autor

© Caio Garrubba

Michael Ende (1929–1995) hat in einer nüchternen, seelenlosen Zeit die fast verloren gegangenen Reiche des Phantastischen und der Träume zurückgewonnen. Er zählt heute zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern und war gleichzeitig einer der vielseitigsten Autoren. Neben Kinder- und Jugendbüchern schrieb er poetische Bilderbuchtexte und Bücher für Erwachsene, Theaterstücke und Gedichte. Viele seiner Bücher wurden verfilmt oder für Funk und Fernsehen bearbeitet. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche deutsche und internationale Preise. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt und haben eine Gesamtauflage von über 35 Millionen Exemplaren erreicht.

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

ERSTES KAPITEL

in dem die Geschichte mit einem Bums anfängt

In Lummerland war die meiste Zeit schönes Wetter. Aber es gab natürlich auch manchmal Tage, an denen es regnete. Sie waren zwar selten, aber dafür regnete es dann gleich wie aus Gießkannen. Und so ein Tag war der, an dem diesmal unsere Geschichte anfängt. Es regnete und regnete und regnete.

Jim Knopf saß in der kleinen Küche bei Frau Waas, und Prinzessin Li Si war auch da, denn sie hatte gerade vierzehn Tage schulfrei. Jedes Mal, wenn sie zu Besuch kam, pflegte sie ein hübsches Geschenk für Jim mitzubringen. Einmal war es eine Glaskugel, in der eine winzige mandalanische Landschaft zu sehen war, und wenn man die Kugel schüttelte, dann schneite es darin. Ein anderes Mal schenkte sie ihm einen bunten Sonnenschirm aus Papier oder einen praktischen Bleistiftspitzer in der Form einer kleinen Lokomotive.

Diesmal aber hatte sie für Jim einen wunderschönen mandalanischen Malkasten mitgebracht. So saßen die beiden Kinder nun an dem kleinen Küchentisch einander gegenüber und malten. Zwischen ihnen saß Frau Waas. Sie hatte sich eine Brille aufgesetzt und las aus einem dicken Geschichtenbuch vor, während sie an einem Schal für den Jungen strickte.

Es war eine sehr schöne und spannende Geschichte, aber Jim blickte doch immer wieder ein wenig zerstreut zum Fenster hinaus, an dem die Tropfen in kleinen Bächen herniederrannen. Der Regenschleier war so dicht, dass man kaum bis zu der Bahnstation von Lukas hinüberzusehen vermochte, wo die kleine Lokomotive Molly sicher und trocken bei der dicken alten Emma unter dem vorspringenden Dach stand.

Aber man darf nun nicht etwa glauben, dass es ein trübseliger Regen war, wie er bei uns manchmal vorkommt. Nein, ganz und gar nicht, denn in Lummerland war selbst das schlechte Wetter nicht wirklich schlecht, sondern fröhlich und übermütig. Es war eher eine Art Wasserkonzert. Die Regentropfen plitschten und platschten und trommelten lustig auf dem Fensterblech, die Dachrinnen gurgelten und schwatzten, und in den Pfützen rauschten die Wassergüsse, als ob eine begeisterte Menge in die Hände klatschte.

Jim sah Lukas aus seinem kleinen Bahnhof kommen. Der Lokomotivführer blickte prüfend zum Himmel hinauf, bestieg dann seine Emma und fuhr mit ihr in den Regen hinaus. Molly blieb im Schutz der Station zurück. Sie war übrigens inzwischen schon beinahe halb so groß wie Emma. Sie hatte die richtige Bimmelbahngröße und ein halber Untertan wie Jim konnte bequem in ihrem Führerhäuschen Platz finden.

Lukas fuhr nur ein paar Runden um die Insel, bloß damit niemand behaupten konnte, auf Lummerland fiele der Eisenbahnverkehr bei Schlechtwetter aus. Dann brachte er Emma zu Molly unter das Dach der Station zurück, schlug seinen Kragen hoch, zog seine Mütze tief ins Gesicht und kam mit langen Schritten zum Haus von Frau Waas herüber. Jim sprang auf und öffnete seinem Freund die Tür.

»Brrrr, was für ein Wetter!«, brummte Lukas, während er eintrat und seine Mütze ausschüttelte.

»Guten Tag, Lukas!«, sagte Jim und strahlte.

»Guten Tag, Kollege!«, antwortete Lukas.

Jim wusste zwar nicht genau, was dieses Wort bedeutete, aber er verstand, dass es etwas war, was Lokomotivführer zueinander sagen. Verstohlen blickte er zu Li Si hinüber, ob sie es auch gehört habe. Aber die kleine Prinzessin schien nichts Besonderes dabei zu finden.

Lukas begrüßte die beiden Damen, dann ließ er sich am Tisch in einen Sessel nieder und erkundigte sich: »Kann man bei euch vielleicht eine schöne Tasse heißen Tee mit einem ordentlichen Schuss Rum bekommen?«

»Natürlich, Lukas«, sagte Frau Waas freundlich, »heißer Tee schützt vor Erkältung bei so einem Wetter. Li Si hat mir eine Büchse vom feinsten Mandalatee mitgebracht und ein Schlückchen Rum ist auch noch da.«

Während Frau Waas den Tee aufgoss und sich ein unbeschreiblich köstlicher Duft in der kleinen Küche verbreitete, bewunderte Lukas Jims und Li Sis Gemälde. Dann räumten sie die Malsachen weg, weil der Tisch gedeckt wurde. Und schließlich brachte Frau Waas als Überraschung noch einen großen, goldgelb gebackenen Gugelhupf, dick mit Puderzucker bestreut. Dass er ganz unvergleichlich gut schmeckte, braucht wohl nicht erst betont zu werden, denn es ist ja allgemein bekannt, dass Frau Waas in diesen Dingen eine Meisterin war.

Als kein Krümelchen mehr übrig war, lehnte Lukas sich in seinem Sessel zurück und stopfte seine Pfeife. Auch Jim holte seine Tabakspfeife, die ihm damals die kleine Prinzessin zur Verlobung geschenkt hatte. Aber er rauchte nicht richtig. Lukas hatte ihm davon abgeraten und ihm erklärt, dass man nicht mehr weiterwächst, wenn man damit anfängt. Bei Erwachsenen macht das ja nichts, weil sie schon groß genug sind, aber Jim war bis jetzt noch immer ein halber Untertan, und das wollte er natürlich nicht für alle Zeiten bleiben.

Draußen senkte sich schon die Abenddämmerung hernieder und der Regen ließ ein wenig nach. In der Küche war es warm und gemütlich.

»Was ich dich schon längst fragen wollte, Li Si«, begann Lukas, nachdem er seine Pfeife gemächlich angezündet hatte, »wie geht’s eigentlich dem Drachen Mahlzahn?«

»Er schläft immer noch tief«, antwortete die kleine Prinzessin mit ihrer lieblichen Vogelstimme. »Aber er ist ganz wunderbar anzusehen. Er glänzt und funkelt vom Kopf bis zur Schwanzspitze, als ob er aus purem Gold wäre. Mein Vater lässt ihn Tag und Nacht von Wächtern behüten, damit sein Zauberschlaf durch nichts gestört wird. Er hat befohlen, sofort Meldung zu erstatten, wenn der Drache anfängt aufzuwachen. Er will euch dann gleich benachrichtigen.«

»Fein«, sagte Lukas, »lange kann’s ja nicht mehr dauern. Der Drache hat doch gesagt, er würde in einem Jahr wieder aufwachen.«

»Nach der Berechnung unserer Blüten der Gelehrsamkeit«, erwiderte Li Si, »muss der große Augenblick in drei Wochen und einem Tag eintreten.«

»Dann werd ich den Drachen als Erstes fragen«, erklärte Jim, »wo mich die dreizehn Seeräuber geraubt haben und wer ich in Wirklichkeit bin.«

»Ach ja«, seufzte Frau Waas bedrückt. Sie fürchtete, dass Jim dann vielleicht für immer von Lummerland und von ihr fortgehen könnte.

Aber andererseits sah sie natürlich auch ein, dass der Junge das Geheimnis seiner Herkunft durchaus erforschen musste. Deshalb sagte sie nichts weiter, sondern seufzte nur noch einmal aus tiefstem Herzen.

Dann holte Jim die Schachtel mit den Spielen und sie spielten zu viert »Mensch ärgere dich nicht« und »Fang den Hut« und alle anderen Spiele, die da waren.

Die meiste Zeit gewann natürlich die kleine Prinzessin. Das war allerdings nichts Neues, aber Jim konnte sich noch immer nicht so recht damit abfinden. Er mochte Li Si wirklich sehr gern, aber noch lieber hätte er sie gemocht, wenn sie nicht immer so gescheit gewesen wäre. Er hätte sie ja sogar ab und zu gewinnen lassen, aber das ging leider nicht, weil sie sowieso dauernd gewann.

Draußen war es inzwischen ganz dunkel geworden und der Regen hatte aufgehört. Plötzlich pochte es.

Frau Waas machte die Tür auf und herein trat Herr Ärmel. Er klappte seinen Schirm zusammen, stellte ihn in die Ecke, nahm seinen steifen Hut ab und verbeugte sich.

»Guten Abend, guten Abend allerseits! Wie ich sehe, ist man mit der interessanten Tätigkeit des Spielens beschäftigt. Wissen Sie, meine Damen und Herren, ich saß nämlich drüben in meinem Hause und fühlte mich ein wenig einsam und da fragte ich mich, ob es Ihnen wohl recht wäre, wenn ich ein wenig an Ihrer Geselligkeit teilnähme.«

»Es ist uns sehr recht«, sagte Frau Waas freundlich und stellte für Herrn Ärmel eine Tasse auf den Tisch, die sie aus der großen bauchigen Teekanne füllte. »Setzen Sie sich zu uns, Herr Ärmel.«

»Danke!«, erwiderte Herr Ärmel und nahm Platz. »Ich will Ihnen gestehen, dass ich seit einiger Zeit über etwas nachdenke, und ich würde gerne Ihre Meinung hören. Die Sache ist nämlich so: Jeder Einwohner von Lummerland ist doch zu etwas da – außer mir. Ich gehe hauptsächlich spazieren und werde regiert – einfach so. Sie werden gewiss zugeben, dass dies auf die Dauer etwas unbefriedigend ist.«

»Ach was!«, warf Frau Waas ein. »Wir haben Sie alle gern, so wie Sie sind.«

Und die kleine Prinzessin meinte: »Gerade deswegen.«

»Vielen Dank«, erwiderte Herr Ärmel, »aber dennoch nur so da zu sein, sozusagen ganz ohne was, das ist nun einmal kein Leben. Dabei kann ich von mir sagen, dass ich ein ungewöhnlich gebildeter Mensch bin und über Kenntnisse verfüge, die mich selbst bisweilen in größtes Erstaunen versetzen. Aber leider fragt danach niemand.«

Lukas lehnte sich in seinem Sessel zurück und paffte schweigend einige Rauchringe zur Decke, dann sagte er bedächtig:

»Ich denke, Herr Ärmel, das wird sich eines Tages finden.«

In diesem Augenblick gab es draußen plötzlich einen heftigen Bums, als sei irgendetwas gegen die Insel gestoßen.

»Grundgütiger Himmel!«, rief Frau Waas und ließ vor Schreck beinahe die Teekanne fallen. »Habt ihr das gehört?«

Lukas war schon aufgesprungen und hatte sich seine Mütze aufgesetzt. »Los, Jim, komm mit! Wir sehen mal nach!«

Die beiden Freunde liefen nach Neu-Lummerland hinüber, wo der Bums hergekommen war. Der Regen hatte ja aufgehört, aber es war stockdunkle Nacht, und deshalb dauerte es eine Weile, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten. Es waren nur die Umrisse von irgendetwas Großem zu sehen.

»Vielleicht is’ es ein Walfisch«, meinte Jim.

»Nein, es bewegt sich nicht«, sagte Lukas. »Es sieht eher aus wie ein kleines Schiff.«

»Heda! Hallo!«, rief plötzlich eine Stimme. »Ist denn niemand zu Hause?«

»Doch«, gab Lukas zurück, »zu wem wollen Sie denn?«

»Ist das hier nicht die Insel Lummerland?«, erkundigte sich die Stimme.

»Es ist Neu-Lummerland«, erklärte Lukas, »wer ist denn da?«

»Ich bin der Briefträger«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit ein wenig kläglich. »Ich habe wegen des starken Regens heute Nachmittag die Orientierung verloren. Und weil es so stockdunkel ist, dass man die Hand nicht vor den Augen sehen kann, bin ich mit meinem Postschiff leider gegen die Landesgrenze gebumst. Es tut mir wirklich sehr leid, entschuldigen Sie bitte!«

»Macht nichts«, rief Lukas zurück, »es ist ja weiter nichts passiert. Aber kommen Sie doch herunter von Ihrem Postschiff, Herr Briefträger!«

»Ich möchte schon«, hörte man den Briefträger sagen, »aber ich habe da einen Sack voller Briefe für Lukas den Lokomotivführer und Jim Knopf, der ist so schwer, dass ich ihn allein nicht tragen kann.«

Die beiden Freunde kletterten also auf das Schiff hinauf und halfen dem Briefträger, den Sack an Land zu schaffen. Mit vereinten Kräften schleppten sie die Last in die Küche.

Es waren Briefe in jeder Form und Größe und von allen Farben und mit den seltensten Briefmarken beklebt, denn sie kamen von Hinterindien und aus Feldmoching und aus China und Stuttgart und vom Nordpol und vom Äquator, mit einem Wort: aus aller Herren Länder. Die Absender waren Kinder, und manche, die noch nicht selbst schreiben konnten, so wie Jim, hatten ihren Brief jemandem diktiert oder ihn einfach gemalt. Alle hatten die Abenteuer der beiden Freunde gehört oder gelesen und wollten nun noch diese oder jene Einzelheit wissen, oder sie luden Jim und Lukas ein, sie zu besuchen, oder sie drückten den beiden auch nur einfach so ihre Anerkennung aus. Sicherlich wird jetzt manch einer unter meinen geschätzten Lesern wissen wollen, ob sein Brief auch dabei war. Jawohl, er war dabei. Das sei hiermit ausdrücklich bestätigt. Außerdem waren da noch Briefe von den Kindern, die Jim und Lukas damals zusammen mit der kleinen Prinzessin aus der Drachenstadt Kummerland befreit hatten.

»Wir müssen jedem einen Antwortbrief schreiben«, sagte Lukas.

»Aber«, rief Jim ganz erschrocken, »ich – ich kann doch nicht schreiben!«

»Ach ja, richtig«, murmelte Lukas, »na ja, dann muss ich es eben allein machen.«

Jim schwieg. Zum ersten Mal wünschte er sich, lesen und schreiben zu können, und er war eben drauf und dran, es auch auszusprechen, als die kleine Prinzessin ein wenig schnippisch zu ihm sagte: »Siehst du wohl!«

Mehr sagte sie nicht, aber es genügte, dass Jim seinen Wunsch nicht aussprach.

»Aber heute ist es sowieso schon zu spät«, sagte Lukas. »Ich werde das morgen erledigen.«

»Dann ist es wohl das Beste«, meinte der Briefträger, »ich bleibe solange hier und warte, dann kann ich eure Post morgen gleich mitnehmen.«

»Das ist nett von Ihnen«, sagte Lukas.

»Wenn Sie vielleicht Lust haben«, mischte sich Herr Ärmel ins Gespräch, »dann übernachten Sie doch in meinem Hause. Wir könnten uns dann noch ein wenig über Geografie unterhalten – eine Wissenschaft, von der Sie als Briefträger gewiss sehr viel verstehen und die mich ganz außerordentlich interessiert.«

»Aber gern«, erwiderte der Briefträger erfreut und stand auf. »Ich wünsche allerseits eine angenehme Nacht.« Und zu Lukas und Jim gewendet fügte er hinzu: »Es muss hübsch sein, wenn man so viele Freunde hat.«

»Ja«, sagte Lukas schmunzelnd, »das ist es, nicht wahr, Jim?«

Jim nickte.

»Mehr als das!«, erklärte Herr Ärmel mit wichtiger Miene. »Es ist erhebend. – Gute Nacht, meine Damen und Herren.«

Damit schritt er zur Tür hinaus, seinem Hause zu. Der Briefträger folgte ihm, drehte sich aber noch einmal um und rief zurück:

»Übrigens – wegen des kleinen Unfalls, dass ich mit meinem Postschiff gegen die Landesgrenze gebumst bin, werde ich mich morgen früh bei König Alfons dem Viertel-vor-Zwölften entschuldigen.«

Damit ging er in Herrn Ärmels Haus. Auch Lukas wünschte eine Gute Nacht und stapfte, eine Rauchfahne hinter sich lassend, zu seiner Bahnstation hinüber, wo die kleine Molly neben der großen dicken Emma stand und friedlich schlief.

Und bald darauf erloschen alle Lichter in den Fenstern der Häuser von Lummerland. Seine Bewohner schlummerten in ihren Betten, der Wind säuselte in den Bäumen und die großen und kleinen Wellen rauschten dazu an den Landesgrenzen.

ZWEITES KAPITEL

in dem Jim einen Leuchtturm erfindet, der groß und klein zugleich ist

Am nächsten Morgen war der Himmel noch immer trüb und bedeckt.

Das Erste, woran Jim sich beim Aufwachen erinnerte, war ein seltsamer Traum, den er diese Nacht gehabt hatte. Er war unter einem hohen Baum gestanden, der ganz dürr und tot war. Es wuchsen keine Blätter auf ihm und auch die Rinde war abgefallen, sodass man das nackte, ausgetrocknete Holz sehen konnte. Der Stamm war zerborsten, als ob er von vielen Blitzen getroffen worden wäre. Ganz oben in der höchsten Krone des riesigen toten Baumes hockte auf einem Ast ein unheimlich großer Vogel, der sonderbar zerrupft und armselig wirkte. Der Vogel saß ganz still, aber aus seinen Augen rollten fortwährend riesige Tränen, so groß wie Fesselballons, und fielen herunter. Jim wollte eigentlich weglaufen, denn er hatte Angst, wenn die großen Tränen bei ihm unten ankommen würden, gäbe es eine Überschwemmung. Da rief der große Vogel: »Jim Knopf, bitte, lauf doch nicht weg!«

Jim blieb verwundert stehen und fragte:

»Woher kennst du mich, großer Vogel?«

»Du bist doch mein Freund«, sagte der Vogel.

»Was kann ich denn für dich tun, großer armer Vogel?«, fragte Jim.

»Hilf mir von diesem schrecklichen toten Baum herunter, Jim«, antwortete der Vogel. »Sonst muss ich hier umkommen. Ich bin so allein, so schrecklich allein.«

»Kannst du denn nicht fliegen?«, rief Jim hinauf. »Du bist doch ein Vogel.«

»Aber Jim, erkennst du mich denn nicht mehr?«, erwiderte der Vogel mit unendlich trauriger Stimme. »Wie soll ich denn fliegen können?«

»Hör doch bitte auf zu weinen«, sagte Jim ganz unglücklich, »deine Tränen sind so schrecklich groß. Wenn sie mich treffen, werde ich ertrinken. Dann kann ich dir nicht mehr helfen.«

»Ach, meine Tränen sind nicht größer als deine«, entgegnete der Vogel. »Schau doch nur einmal hin!«

Nun hatte Jim aufmerksam eine herabfallende Träne verfolgt und dabei zu seiner Verwunderung gesehen, dass sie immer kleiner und kleiner wurde, je tiefer sie kam. Und als sie schließlich auf seine Hand fiel, spürte er sie kaum, ein so winziges Tröpfchen war sie geworden.

»Wer bist du denn, großer Vogel?«, fragte Jim.

Und der Vogel rief: »Aber so schau mich doch nur einmal richtig an!«

Und nun kam es Jim plötzlich so vor, als ob er klarer sehen könnte, und da war der Vogel gar kein Vogel mehr, sondern Herr Tur Tur.

Und dann war Jim aufgewacht.

Der Traum ging ihm noch im Kopf herum, als er mit Frau Waas und der kleinen Prinzessin am Frühstückstisch saß.

»Bist du mir noch bös wegen gestern?«, fragte die kleine Prinzessin endlich, denn es tat ihr schon leid, dass sie Jim geärgert hatte.

»Gestern?«, antwortete Jim zerstreut. »Warum?«

»Weil ich ›siehst du wohl‹ zu dir gesagt habe.«

»Ach«, sagte Jim, »das macht nichts, Li Si.«

Erst als Lukas herüberkam und sich erkundigte, ob sie auch alle gut geschlafen hätten, erzählte Jim seinen sonderbaren Traum. Als er damit fertig war, sagte Lukas eine ganze Weile gar nichts, sondern paffte nur dicke Rauchwolken.

»Tja, der Scheinriese«, brummte er, »ich muss auch oft an ihn denken. Ohne ihn wären wir damals in der Wüste ›Das Ende der Welt‹ verloren gewesen.«

»Wie es ihm wohl geht?«, murmelte Jim.

»Wer weiß«, meinte Lukas, »wahrscheinlich wohnt er immer noch ganz einsam und allein bei seiner Oase.«

Nachdem das Frühstück beendet war, räumte Frau Waas das Geschirr vom Tisch und die kleine Prinzessin half ihr beim Spülen und Abtrocknen, während Lukas und Jim sich daranmachten, die vielen Briefe zu beantworten. Lukas schrieb und Jim half, so gut er eben helfen konnte, indem er unter jeden Antwortbrief sein schwarzes Gesicht als Unterschrift malte, Briefe zusammenfaltete und einsteckte, Marken auf die Umschläge pappte, die er dann zuklebte.

Und als sie alle Briefe fertig hatten, da tat Lukas dem Lokomotivführer, der doch wahrhaftig ein starker Mann war, die Hand vom Schreiben weh. Und Jim, der alle Briefmarken und alle Umschläge mit der Zunge angeleckt hatte, um sie an- oder zuzukleben, lehnte sich ganz erschöpft auf seinem Stuhl zurück und sagte:

»Ogeminge, dad bab abab einge Abbeip!« Er hatte eigentlich sagen wollen: »Ojemine, das war aber eine Arbeit!« Dabei war ihm die Zunge im Mund festgepappt. Er musste noch einmal die Zähne putzen und gurgeln, sonst hätte er nicht mit den anderen zu Mittag essen können.

Am Nachmittag kam der Briefträger mit Herrn Ärmel. Sie waren bei König Alfons gewesen und hatten den Auftrag bekommen, alle Untertanen zu einer Audienz zu rufen. Also gingen sie alle zum Schloss hinauf.

Der König saß wie gewöhnlich in seinem Schlafrock aus rotem Samt, mit seiner Krone auf dem Kopf und den schottisch karierten Pantoffeln an den Füßen auf seinem Thron. Neben ihm stand auf einem besonderen Tischchen das große, goldene Telefon.

»Meine lieben Untertanen«, sagte er und winkte freundlich mit der Hand jedem Einzelnen zu, »ich wünsche euch einen guten Tag.«

Darauf ergriff Herr Ärmel das Wort:

»Wir alle wünschen Eurer Majestät einen allerbesten Tag und vermelden hiermit untertänigst unsere vollständige Anwesenheit.«

»Nun denn«, begann der König und räusperte sich einige Male, um seine Gedanken zu sammeln, »fürwahr, meine lieben Untertanen, es tut mir leid, aber ich muss euch sagen, dass der Anlass, aus dem ich euch heute zu mir gerufen habe, ein ernster ist. Er ist sogar sozusagen – gewissermaßen …«

Hier räusperte sich König Alfons abermals und blickte ein wenig ratlos von einem zum anderen.

»Wollten Sie uns einen Beschluss mitteilen, Majestät?«, warf Frau Waas hilfreich ein.

»Gewiss wollte ich das«, erwiderte der König. »Aber das ist nicht so einfach. Ich habe nämlich mehrere Beschlüsse gefasst, genauer gesagt zwei. Der erste Beschluss ist der, dass ich beschlossen habe, euch meinen Beschluss mitzuteilen. Das habe ich nun getan und somit habe ich meinen ersten Beschluss ausgeführt.«

Der König nahm seine Krone ab, hauchte darauf und putzte sie mit dem Ärmel seines Schlafrocks blank, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er sich in seinen schwierigen Gedanken verstrickt hatte und etwas Zeit gewinnen wollte, um wieder herauszufinden. Schließlich setzte er seine Krone mit einem entschlossenen Ruck wieder auf und sprach:

»Meine teuren Untertanen! Der gestrige Vorfall mit dem Postschiff hat gezeigt, dass es so nicht mehr länger weitergehen kann. Das wäre viel zu gefährlich. In der Regierungssprache nennt man es eine ›ernste Lage‹. Das bedeutet etwas, was nicht so weitergehen kann.«

»Und was kann nicht so weitergehen, Majestät?«, fragte Lukas.

»Das habe ich euch doch eben erklärt«, seufzte König Alfons und wischte sich mit seinem seidenen Taschentuch einige Schweißperlen von der Stirn, denn die Audienz begann ihn sehr anzustrengen.

Die Untertanen warteten schweigend, bis König Alfons sich wieder gesammelt hatte und fortfuhr:

»Ihr könnt das alles nicht verstehen, weil es zu schwierig ist.

Die Hauptsache ist ja schließlich, dass ich es verstehe, dafür bin ich der König. Also, meinen ersten Beschluss habe ich euch schon gesagt und mein zweiter Beschluss heißt so: Es muss etwas geschehen.«

»Was muss geschehen, Majestät?«, fragte Lukas vorsichtig.

»Ich werde es euch erklären«, sagte der König. »Die Ve-Sta-vo-Lu-u-Neu-Lu sind in Gefahr.«

»Die was?«, fragte Lukas.

»Die Ve-Sta-vo-Lu-u-Neu-Lu. Das ist eine Abkürzung, denn in der Regierungssprache benützt man immer Abkürzungen. Es bedeutet ›Die Vereinigten Staaten von Lummerland und Neu-Lummerland‹.«

»Aha«, antwortete Lukas, »und warum sind sie in Gefahr?«

Der König erklärte: »Gestern ist doch das kleine Postschiff gegen die Landesgrenze von Neu-Lu gestoßen, weil es so dunkel war. Früher kam ja nur hin und wieder das Postschiff zu uns, aber seit wir diplomatische Beziehungen mit Mandala haben, hat sich der Schiffsverkehr hier sehr verstärkt. Fast jeden Monat kommt das große Staatsschiff meines verehrten Freundes Pung Ging, des Kaisers von Mandala. Es ist nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn es in der Dunkelheit gegen eine unserer Landesgrenzen stieße. Und deshalb habe ich beschlossen, dass etwas geschehen muss.«

»Sehr richtig!«, rief Herr Ärmel. »Das ist ein weiser Beschluss. Unser allergnädigster König, er lebe hoch, hoch, hoch!«

»Einen Augenblick«, sagte Lukas bedächtig. »Majestät, Sie haben ja noch gar nicht gesagt, was geschehen muss.«

»Mein lieber Lukas«, sagte der König vorwurfsvoll, »dazu habe ich doch gerade euch alle versammelt, um das herauszufinden. Ich kann schließlich nicht alles allein machen. Ich hatte ja sowieso schon alle Hände voll zu tun, meine beiden Beschlüsse zu fassen. Das werdet ihr doch einsehen.«

Lukas überlegte einen Augenblick, dann schlug er vor:

»Wie wär’s, wenn wir einen Leuchtturm bauen würden?«

»Das ist eine ausgezeichnete Idee!«, rief Herr Ärmel. »Es müsste ein sehr hoher Leuchtturm sein, damit die Schiffe ihn schon von sehr weit weg sehen könnten.«

»Die Frage ist nur«, meinte der König sorgenvoll, »wo wir einen so hohen Leuchtturm hinstellen sollen? Er müsste doch unten ziemlich dick sein, damit er nicht umfällt. Wir haben aber gar keinen Platz für so einen dicken, hohen Turm.«

»Das ist richtig«, murmelte Lukas nachdenklich. »Wir müssten also einen Leuchtturm erfinden, der möglichst groß ist und trotzdem fast gar keinen Platz wegnimmt.«

Alle blickten einander ratlos an.

»So etwas gibt es nicht«, erklärte Herr Ärmel nach einer Weile, »etwas ist entweder groß oder klein, aber beides zusammen ist unmöglich. Das ist wissenschaftlich erwiesen.«

König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte seufzte bekümmert:

»Aber ich habe es doch schon beschlossen. Ich kann meinen Beschluss nicht einfach zurücknehmen, das geht doch nicht bei einem König! Ein Beschluss ist ein Beschluss und ich kann nicht erlauben, dass er nicht ausgeführt wird!«

»Aber wenn es doch eben nicht geht«, wandte Frau Waas beschwichtigend ein, »dann ist es vielleicht doch gescheiter, es sein zu lassen.«

»Das ist schrecklich«, sagte der König bestürzt, »in der Regierungssprache nennt man das eine Krise und es bedeutet fast so etwas wie Revolution.«

»Entsetzlich«, stotterte Herr Ärmel und wurde ein wenig blass. »Majestät, darf ich Ihnen im Namen aller Untertanen versichern, dass wir in dieser Revolution ohne Ausnahme zu Ihnen halten.«

»Danke, danke!«, antwortete König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte und winkte mit der Hand ab. »Das hilft leider nichts. Es bleibt trotzdem eine Krise. Oh, was soll ich nur tun!«

»Ich weiß was!«, rief Jim plötzlich.

Alle Augen richteten sich auf ihn und die Kummerfalten auf dem Gesicht des Königs glätteten sich. Mit hoffnungsvoller Stimme sagte er: »Habt ihr gehört? Er weiß etwas! Der halbe Untertan Jim Knopf hat das Wort.«

»Könnt man nicht …«, stieß Jim aufgeregt hervor, »könnt man nicht vielleicht Herrn Tur Tur nach Lummerland holen und als Leuchtturm benutzen? Er nimmt nur ganz wenig Platz weg, aber von Weitem sieht er aus wie der größte Turm. Wenn er sich nachts mit einer Lampe in der Hand auf den hohen Gipfel stellen würde, dann müsste man ihn von ganz weit weg schon sehen können. Und wohnen kann er ja vielleicht auf Neu-Lummerland, wenn man ein kleines Haus für ihn hinbauen würde. Und dann müsste er auch nicht mehr so allein sein.«

Einen Augenblick herrschte verblüfftes Schweigen, dann sagte Lukas:

»Jim, alter Junge, das ist ja eine ganz famose Idee!«

»Es ist mehr als das«, erklärte Herr Ärmel mit erhobenem Zeigefinger, »es ist genial!«

»Jedenfalls ist es der beste Plan«, rief Lukas, »den ich jemals gehört habe.« Und er streckte Jim seine große schwarze Pranke hin. Jim schlug ein und sie schüttelten sich lachend die Hände. Die kleine Prinzessin fiel Jim vor Begeisterung um den Hals und gab ihm einen Kuss, und Frau Waas sagte immer wieder, wobei sie vor Stolz fast platzte:

»Nein, dieser Junge, dieser Junge! Was er nur immer für Ideen hat!«

König Alfons hob die Hand, um Schweigen zu gebieten, und als das Stimmengewirr verstummt war, sprach er feierlich:

»Die Regierungskrise ist beendet.«

»Hoch! Hoch! Hoch!«, jubelte Herr Ärmel und schwenkte seinen Hut.

»Ehe ich die Sache beschließe, muss ich erst noch etwas wissen«, sprach der König weiter. »Dieser Herr Tur Tur ist doch, wie Lukas und Jim uns erzählt haben, ein Scheinriese.«

»Ja«, sagte Jim, »das is’ er. Ich hab’s genau nachgeprüft.«

»Gut«, antwortete der König, »und er ist in die Wüste ›Das Ende der Welt‹ gezogen, damit niemand sich mehr vor ihm entsetzen soll.«

»Ja«, sagte Jim, »aber er is’ sehr nett und freundlich.«

»Das will ich wohl glauben«, erwiderte der König, »aber wenn er nun hier bei uns wohnt, werden wir uns dann nicht vor ihm erschrecken? Ich denke dabei nur an das Wohl meiner Untertanen selbstverständlich.«

Nun ergriff Lukas das Wort.

»Majestät«, sagte er, »da brauchen Sie gar keine Sorge zu haben. Zum Glück ist Lummerland ja so klein, dass man Herrn Tur Tur gar nicht von weit weg sehen kann. Und von Nahem sieht er ja ganz gewöhnlich aus, wie Sie und ich. Nur die Schiffe können ihn von Weitem sehen, aber da ist es ja gerade nützlich, dass er so groß erscheint, besonders nachts, weil er ja Leuchtturm sein soll.«

»Wenn es so ist«, erklärte König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, »dann beschließe ich hiermit, dass Herr Tur Tur geholt werden soll.«

»Na, alter Junge«, brummte Lukas zu Jim gewandt, »dann geht’s jetzt also wieder los!«

»In Ordnung«, sagte Jim und strahlte, dass man seine weißen Zähne sah.

»Ach du grundgütiger Himmel!«, rief Frau Waas und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, denn sie begriff erst jetzt, was das Ganze bedeutete. »Ihr wollt doch nicht etwa wieder auf eine so schrecklich gefährliche Abenteuerfahrt gehen?«

»Liebe Frau Waas«, sagte Lukas schmunzelnd, »das wird sich wohl nicht vermeiden lassen. Ich glaube kaum, dass Herr Tur Tur von selber kommt.«

»Die Audienz ist beendet«, verkündete der König. Er gab allen Untertanen und auch dem Briefträger die Hand und sie verließen das Schloss. Als er allein war, sank König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte mit einem Seufzer der Erleichterung in die Polster seines Thrones zurück. Die vielen Beschlüsse und die Regierungskrise hatten ihn sehr erschöpft. Aber während er die Augen zu einem erquickenden Nachmittagsschläfchen schloss, lag ein zufriedenes Lächeln auf seinen Lippen.

DRITTES KAPITEL

in dem wieder eine große Reise ins Ungewisse beginnt

Als die Gesellschaft wieder in der kleinen Küche von Frau Waas angelangt war, sagte der Briefträger: »Wie ich sehe, sind die Antwortbriefe schon fertig. Die Sache mit dem Leuchtturm ist auch beschlossen. Da kann ich also weiterfahren.«

»In welche Richtung fahren Sie denn als Nächstes?«, fragte Frau Waas. »Wenn es zufällig Mandala wäre, dann könnten Sie doch Jim und Lukas und Li Si mitnehmen. Das wäre mir eine große Beruhigung.«

»Das würde ich bestimmt gerne tun«, antwortete der Briefträger, »aber leider komme ich in nächster Zeit nicht einmal in der Nähe von Mandala vorbei. Zuerst muss ich jetzt zu den Kanarischen Inseln, dort soll ich einige Briefe abgeben und mehrere Kanarienvögel abholen, die zu ihren Verwandten in den Harz gebracht werden möchten.«

»Überhaupt«, erklärte Jim, »wollen wir doch wieder mit Emma fahren wie früher. Was meinst du, Lukas?«

»Hm«, brummte Lukas und nickte nachdenklich, »ich habe nichts dagegen. Fragt sich nur, ob diese Art zu reisen das Richtige für Li Si ist?«

»Das stimmt«, sagte Jim und blickte Li Si forschend an.

Die kleine Prinzessin kämpfte mit sich. Natürlich wäre sie furchtbar gerne einmal auf der kalfaterten Emma über das Meer gefahren, aber andererseits war ihr eine solche Reise schrecklich unheimlich. Wenn es zum Beispiel einen Sturm geben würde und sie die Seekrankheit bekäme? Oder wenn gar ein riesiger Walfisch die Lokomotive mit allen Insassen verschluckte? Oder wenn Emma ein Loch bekäme und unterginge?

Es fielen der kleinen Prinzessin plötzlich tausend entsetzliche Dinge ein, die passieren konnten. Drum sagte sie:

»Eigentlich möchte ich noch nicht nach Mandala zurück. Meine Ferien sind doch noch gar nicht zu Ende.«

»Das ist sehr vernünftig!«, meinte Frau Waas. »Bleib du ruhig noch hier, Li Si! Dann habe ich jedenfalls jemanden, der mir Gesellschaft leistet und im Kaufladen hilft.«

Der Briefträger hatte inzwischen alle Antwortbriefe in seinen großen Sack gepackt. Jim und Lukas begleiteten ihn bis zur Landesgrenze. Dann verabschiedeten sie sich von ihm und der Briefträger fuhr davon.

Als das Postschiff außer Sicht war, gingen die beiden Freunde zur kleinen Bahnstation hinüber, um nach Emma und Molly zu sehen.

Jim patschte seiner kleinen Lokomotive freundlich auf den Kessel, dann drehte er sich nach Lukas um, der schmunzelnd dabeistand, und sagte: »Sie is’ schon wieder ein bisschen größer geworden seit vorgestern, find’st du nicht, Lukas?«

»Tja«, nickte Lukas, die Pfeife zwischen den Zähnen, »sie hat sich prächtig rausgemacht. Aber wenn wir nun mit Emma wegfahren, was machen wir solange mit Molly?«

»Meinst du, wir könnten sie vielleicht mitnehmen?«

»Wie du willst, Jim«, antwortete Lukas, »schließlich ist es ja deine Lokomotive. Aber du weißt, was für Gefahren uns begegnen können. Und Molly ist noch ein bisschen jung.«

Jim seufzte. Es war eine schwere Entscheidung. Schließlich meinte er zögernd: »Aber vielleicht is’ es ganz gut, wenn sie sich an Abenteuer gewöhnt.«

»Gut«, sagte Lukas, »dann nimm sie mit.«

»Wann fahren wir los?«, erkundigte sich Jim.

Lukas blickte prüfend zum Himmel hinauf. Ein sachter Wind hatte seit Mittag angefangen die dichte Wolkendecke aufzulockern. Da und dort blickte sogar schon der blaue Himmel hervor.

»Wir werden eine klare Nacht bekommen«, erklärte Lukas sachverständig. »Der Wind ist günstig, nicht zu stark, nicht zu schwach. Ich denke, das sollten wir ausnützen und gleich heute Abend die Taue kappen. Bist du einverstanden?«

»In Ordnung, Lukas!«, sagte Jim.

»Gut«, meinte Lukas, »dann wollen wir an die Vorbereitungen gehen.«

Und das taten sie. Während Lukas Werg und Teer zum Kalfatern der beiden Lokomotiven fertig machte, sagte Jim Frau Waas Bescheid. Sie seufzte ein ums andere Mal, während sie mit Li Sis Hilfe Jims kleinen Rucksack mit warmen Sachen zum Anziehen vollpackte, damit der Junge sich nicht erkältete, und noch zehn Taschentücher dazustopfte, damit der Junge sich auch die Nase immer schnäuzen konnte, und Seife, Waschlappen und Zahnbürste obendrauf legte, damit der Junge sich jeden Morgen und Abend die Ohren und die Zähne putzte. Die Schachtel mit den Spielen, die die Reisenden für die lange Fahrt so nötig brauchten, hätte Frau Waas dagegen um ein Haar vergessen, wenn Li Si nicht daran gedacht hätte.