Die Autorin

Im Jahre 1954 wurde sie in Schwäbisch Hall geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Schwäbisch Gmünd. 1973 heiratete sie. 1981 zog die Familie ins Nördlinger Ries.

Bereits als Teenager schrieb sie Kurzgeschichten für ihre Freundinnen. Erst viele Jahre später gelangte sie nach einigen Umwegen in eine Situation, die sie erkennen ließ, dass allein das Schreiben genau das war, was sie schon immer tun wollte. Und so wurde es zu einem wesentlichen Teil ihres Lebens.

Während ihrer jahrelangen beruflichen Tätigkeit als Einzelhandelskauffrau, Ausbilderin und Seminarleiterin durfte sie Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten kennenlernen und zwischenmenschliche Erfahrungen sammeln, die sich in ihren Romanen widerspiegeln.

Ihre Romane handeln von der Liebe, die stets geheimnisvoll und zuweilen sogar gefährlich sein kann, von Schicksalen, wie sie einem täglich begegnen, und mystischen Ereignissen, die der Verstand mitunter nur schwer erklären kann. Es geht jedoch immer um Frauen – starke, schwache, träumende, liebende und mit dem Schicksal hadernde Frauen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über wwww.dnb.de abrufbar.

© 2018 Gabriele Walter

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen
Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Ähnlichkeiten mit lebenden
oder verstorbenen Personen, Orten und sonstigen Gegebenheiten sind rein
zufällig und keineswegs beabsichtigt.

2.Auflage 2020

Umschlaggestaltung:

Manuel Walter

Coverbild:

www.depositphotos.com

Korrektur:

Autorenclub Donau-Ries

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN:

9783752675023

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Wenn die Tage kürzer und die einsamen Nächte länger werden, wenn die Tage öfter weinen und die Nächte lauter stöhnen und heulen, wenn wilde, ungezähmte Stürme durch Wälder, über abgeerntete Felder hetzen und bunte, aber tote Blätter durch die Lüfte wirbeln, die Natur sich zur Ruhe begibt und in den Herzen Trauer einzieht, dann ist es Herbst.

Wo hatte sie diese Zeilen noch gelesen? Jana lag mit weit aufgerissenen Augen im Bett und starrte wie hypnotisiert zur Zimmerdecke. Nicht der Wecker, sondern rhythmisch gegen die Fensterscheiben trommelnde Regentropfen hatten sie geweckt.

Ihre Zunge klebte noch am Gaumen, doch Speichel sammelte sich bereits in ihrer Mundhöhle. Es widerstrebte ihr, diesen ersten, mit dem schalen Geschmack der Nacht vermischten Speichel zu schlucken. Sie schlug die Steppdecke zurück, schwang die Beine aus dem Bett, erhob sich und trottete ins Bad. Bevor sie sich zur Toilette begab, drehte sie den Wasserhahn auf und nahm einen Schluck vom kühlen Nass, um ihren Mund auszuspülen. Einen weiteren schluckte sie. Nun fühlte sie sich erfrischt genug, um wem auch immer einen guten Morgen zu wünschen. Doch da gab es niemanden.

Also gönnte sich Jana wie jeden Morgen den kleinen Luxus, noch einmal ins warme Bett zu kriechen, um einige Minuten zu kuscheln. Die Müdigkeit der Nacht noch in den Augen, bereitete es ihr stets ein ganz besonderes Vergnügen, die Decke erneut über die Schulter zu ziehen, und sich gedanklich auf den vor ihr liegenden Tag einzustimmen.

Zu der Zeit, als die Jungs noch bei ihr wohnten, wäre das undenkbar gewesen. Jeder Tag begann mit Volldampf. Irgendetwas war immer los.

Jana atmete tief ein und genussvoll seufzend wieder aus.

Keine zehn Minuten später erhob sie sich schwungvoll. Voller Tatendrang schlüpfte sie in ihren Jogginganzug, zog die Laufschuhe an und – nach einem Blick aus dem Fenster – ihre blaue Regenjacke. Inzwischen schien sich zumindest der nächtliche Sturm beruhigt zu haben. Trotz des nasskalten Wetters, das sie so gar nicht leiden mochte, verließ sie mit übergestülpter Kapuze das Haus. Grund genug, dieses allmorgendliche Wakeup-Ritual ausfallen zu lassen, wäre ein Hurrikan oder sonst ein schweres Unwetter. Schließlich joggte sie nicht, weil sie sich sportlich besonders ambitioniert fühlte, sondern einzig um körperlich fit zu bleiben.

Zunächst lief sie, wie jeden Morgen, durch die Wohnsiedlung, dann die kurze Strecke am Waldrand entlang und anschließend zur Bäckerei Segert. Gewöhnlich kaufte sie dort zwei Semmeln. Doch heute verzichtete sie darauf.

Janas erster Weg, nachdem sie sich der feuchten Laufschuhe und der Regenjacke entledigt hatte, führte in die Küche, um die Kaffeemaschine anzuschalten. Danach lief sie nach oben ins Bad. Sie duschte, föhnte die schokobraunen, halblangen Haare, legte Make-up auf und betonte mit ein wenig Lidschatten, Eyeliner und Wimperntusche ihre graublauen, mandelförmigen Augen. Plötzlich hielt sie inne. Um ihr Spiegelbild genauer betrachten zu können, schob sie ihr Gesicht ganz nah an den Spiegel. Die Neunundvierzig sah man ihr nun wirklich noch nicht an. Obwohl sich bereits die ersten zarten Fältchen an den Augenwinkeln zeigten, strahlten ihre Augen wie eh und je in jugendlichem Glanz. Nachdem sie den zartrosa Lippenstift auf ihre vollen, wohlgeformten Lippen aufgetragen hatte, nickte sie ihrem Spiegelbild selbstgefällig zu. Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, konnte sich durchaus sehen lassen.

Aus der Küche lockte der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees. Sie nahm ihre Lieblingstasse vom Regal und füllte sie mit dem heißen Muntermacher. Zwei Löffel Zucker und einen Schuss Milch dazu, so mochte sie ihn am liebsten. Langsam schlenderte sie ins Esszimmer hinüber, die Tasse zwischen ihren kalten Händen. Aufseufzend lehnte sie sich an die Terrassentür und starrte freudlos in den verregneten, trist wirkenden Garten hinaus. Sie blies sachte in den dampfenden Milchkaffee und schlürfte vorsichtig einen ersten kleinen Schluck.

Der Himmel gibt sich solidarisch und weint mit meinem Herzen, dachte sie, während sie trübsinnig vor sich hin lächelte und die Rinnsale betrachtete, die tatsächlich wie Tränen über die Fensterscheiben liefen.

Obwohl sie sich dagegen sträubte, gelang es ihr nicht zu verhindern, dass die stille Trauer, die sich tief im hintersten Winkel ihres Herzens verbarg, zunächst zögernd, doch unaufhaltsam hervorkroch. Der leise, die Trauer begleitende Schmerz legte sich über jede Faser ihres Körpers und hüllte sie mit einem Gefühl unendlicher Einsamkeit ein. Jana fröstelte. Wäre Marius jetzt hier, würde er mich in die Arme nehmen und trösten. Er konnte so wundervoll trösten. Und schon verschleierten Tränen ihren Blick und lösten sich aus den Augenwinkeln. Doch bevor sie sich ihrem Schmerz hemmungslos hingab, wischte sie resolut über die feuchten Wangen, atmete tief durch und schluckte die restlichen Tränen tapfer hinunter. Niemand war hier, um sie zu trösten. Wozu also Tränen vergießen, die niemand sehen konnte? Sie war allein. Allein in dieser Welt aus Scherben. „Ach Marius“, flüsterte sie.

Am Todestag ihres Mannes empfand Jana die Sehnsucht nach ihm besonders schmerzhaft. Dann kamen die Erinnerungen an die wohl schönste Zeit ihres Lebens wieder hoch. Leider endeten sie stets mit dem Gedanken an den unglückseligen Umstand, der dieses Leben zerstört hatte, und mit quälenden Gewissensbissen, da sie sich schuldig an seinem Tod fühlte. Diese Hypothese hatte sich vor langer Zeit in ihre Seele gebrannt. Es verzehrte sie langsam aber stetig wie ein nie enden wollendes Feuer, das so heiß in ihr brannte, dass es die Gedärme zu verbrennen drohte …

Wütend auf sich selbst und gleichzeitig resignierend schüttelte Jana den Kopf. „Mist!“, flüsterte sie. Wie lange wird dieses trostlose Wetter wohl anhalten? Da ist die miese Laune doch schon vorprogrammiert, lenkte sie ihre Gedanken in eine andere Richtung, obwohl sie genau wusste, dass ihre Stimmung nichts mit dem Wetter zu tun hatte.

Die Tasse immer noch in der Hand schlenderte sie gemächlich zur Treppe. Mit gesenktem Kopf, schwerfällig, als gelte es eine unliebsame Arbeit zu verrichten, stieg sie Stufe für Stufe nach oben. Im Schlafzimmer angekommen, stellte sie die Tasse auf dem Nachttisch ab, schob die Tür des Spiegelschrankes auf und warf einen oberflächlichen Blick auf ihre Garderobe. Es mangelte ihr nicht an der nötigen Auswahl, dennoch überlegte sie lustlos, was sie anziehen sollte. Endlich griff sie nach dem anthrazitfarbenen Hosenanzug und warf ihn achtlos aufs Bett. Anschließend zog sie aus einem Stapel Pullis einen schwarzen Rollkragenpullover heraus und legte ihn dazu. Nachdenklich fuhr sie mit beiden Händen durch ihr Haar, bevor sie sie im Nacken verschränkte. „Gut!“, flüsterte sie. „Das passt zu beidem, zum miesen Wetter und zu meiner ebenso miesen Gemütslage.“

Nachdem sie sich jedoch wenige Minuten später angekleidet im Spiegel betrachtete, zog sie den Blazer wieder aus. Entschlossen etwas zu ändern, zerrte sie den schwarzen Rolli über ihren Kopf und warf ihn wütend aufs Bett. Die Trauerzeit musste endlich ein Ende haben.

Als wolle sie sich selbst etwas beweisen, griff sie nach einem roséfarbenen Pullover, schlüpfte hinein und betrachtete sich erneut im Spiegel. Zunächst sah sie nur eine Frau, die ihrem Wunsch nach Veränderung genüge getan hatte. Doch langsam veränderte sich ihre Stimmung und nach einer Weile stahl sich gar ein Lächeln auf ihre Lippen. Der Pulli schmeichelte nicht nur ihrem leicht gebräunten Teint, der enganliegende Schnitt betonte zudem ihre tadellose Figur überaus vorteilhaft.

Jana ergriff die Tasse und ging wieder hinunter ins Esszimmer. Auch diesmal lehnte sie sich an die Terrassentür und beobachtete die an der Fensterscheibe herunterlaufenden Rinnsale. Vermutlich lag es an dem mittlerweile wieder aufgekommenen Sturm, der den Regen heftiger ans Glas prasseln ließ als noch vor einer Stunde.

Erneut schweiften ihre Gedanken ab.

Stimmengewirr, Lachen und einzelne Töne von Instrumenten, die gestimmt wurden, drangen aus einer Ecke ihrer Erinnerung an die Oberfläche ihres Bewusstseins.

Da sie etwas spät dran war, eilte sie durchs Foyer des Konzerthauses, um schnellstmöglich in den Saal zu kommen. Den Blick auf die Platzkarte gerichtet, achtete sie nicht auf den Mann, der – vermutlich ebenfalls abgelenkt – auf sie zustürmte. Mit voller Wucht prallten sie aufeinander. Verstört und betroffen infolge ihrer Ungeschicklichkeit traten beide einen Schritt zurück.

Sie lachte ihn fröhlich an. „Hoppala!“

Er zog lediglich den linken Mundwinkel spöttisch nach oben, hob gleichgültig die Schultern an und ließ ihr sichtlich unfreiwillig, jedoch höflich mit ausladender Handbewegung den Vortritt.

Kaum befanden sie sich jedoch im Saal, eilte er an ihr vorbei, als gälte es, einen Preis in Pünktlichkeit zu gewinnen.

Nach einem weiteren Blick auf ihre Eintrittskarte folgte sie ihm. Auch das noch, dachte sie, musterte ihn nur kurz und nahm, spöttisch in sich hinein grinsend, an seiner rechten Seite Platz.

Sein überrascht wirkender, jedoch mit einer Spur Bewunderung durchzogener Blick blieb Sekunden auf ihr haften.

Jana fiel auf, dass der Stuhl an seiner linken Seite unbesetzt blieb. Da er zwei Karten in der Hand gehalten hatte, nahm sie an, dass es sich möglicherweise um den Platz seiner Freundin handelte. Sie hat ihn wohl sitzen lassen. Ist ihr nicht zu verdenken. Mit so einem ungehobelten, arroganten Kerl würde ich mich erst gar nicht einlassen.

Im weiteren Verlauf des Abends spürte sie immer wieder seine Blicke. Einmal ertappte sie ihn sogar dabei, wie er sie unverhohlen anstarrte, woraufhin er seinen Blick blitzschnell dem eigentlichen Ort des Geschehens zuwandte. Da er sie nicht ansprach, schenkte sie dem jedoch keine weitere Bedeutung.

Erst als sie nach dem Konzert auf dasselbe Taxi zuliefen, blickte er ihr direkt in die Augen und meinte, sichtlich besser gelaunt: „Das kann kein Zufall sein, irgendjemand da oben möchte, dass wir noch ein Glas Wein zusammen trinken. Was meinen Sie, gehen wir noch auf einen Absacker in den Sonnenkeller?“ Dann lächelte er. Ein Lächeln, das ihn durchaus sympathisch, ja geradezu einnehmend erscheinen ließ.

Jana glaubte plötzlich ihr Herz schneller und kräftiger gegen ihre Brust schlagen zu spüren. So ein Glas Wein in netter Gesellschaft wäre wohl kaum zu verachten. Was kann schon passieren? Allerdings ist er ein Fremder. Zudem war sie der Meinung, dass so eine Einladung zumindest ein geringes Maß an Etikette voraussetzte. Sie war schließlich keine, die sich mit jedem x-beliebigen Mann einließ. „Würde ich gerne“, erklärte sie darum pikiert, „aber mit Männern, die sich mir noch nicht einmal vorgestellt haben, gehe ich grundsätzlich nicht aus.“

„Schade, wirklich schade“, meinte er, wandte sich mit hängendem Kopf von ihr ab und ließ sie einfach stehen.

Jana schüttelte unmerklich den Kopf, schaute ihm einige Sekunden verdutzt hinterher, bevor sie sich dem Taxi zuwandte, in das sich in diesem Moment ein fröhlich lachendes Pärchen setzte. Obwohl sie nun doch bedauerte, dass er so schnell aufgegeben hatte, lief sie zum nächsten Taxi. So bemerkte sie nicht, dass der junge Mann sich plötzlich umdrehte und schnellen Schrittes hinter ihr herlief.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau“, sprach er sie gespielt altmodisch an, „kennen wir uns nicht aus dem Konzertsaal? Sie erinnern sich nicht an mich? Natürlich nicht! Leider wurden wir uns noch nicht offiziell vorgestellt. Gestatten Sie, dass ich das nachhole? Mein Name ist Marius Degenhardt. Darf ich fragen, wie Ihr werter Name ist?“

Nun musste Jana lachen. „Jana Graf. Sie sind ja ein richtiger Spaßvogel.“

„Aber ich bitte Sie, gnädige Frau, das Leben ist eine todernste Angelegenheit und in einer Zeit, in der Wüstlinge ihr Unwesen selbst in Konzertsälen treiben, sind Anstand und Moral die einzig wahren Werte, die uns noch geblieben sind“, antwortete er, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ah, ja!“, antwortete sie wenig intelligent und genau so sah sie ihn vermutlich auch an, als er ihren Arm unter seinen einhakte und sie einfach mit sich zog, ohne einen weiteren Protest von ihr abzuwarten.

„Oder etwa nicht?“, fügte er schelmisch lächelnd hinzu.

Fröhlich plaudernd erreichten sie das Weinlokal. Auch von seiner Freundin, mit der er ursprünglich das Konzert besuchen wollte, erzählte er. „Ich war noch auf alle Frauen wütend, als wir zusammenstießen. Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nicht unhöflich sein. Und jetzt habe ich sogar allen Grund, mich bei Ihnen zu bedanken.“

„Ach! Wofür?“

„Sie haben mich gerettet. Just in der Sekunde, als ich mit Ihnen kollidierte, schwor ich allen Frauen ab. Doch während ich Sie immer wieder betrachtete – was Ihnen offenbar nicht entgangen ist – wurde mir bewusst, dass ich diesen Schwur nicht würde halten können, solange es so zauberhafte Wesen wie Sie gibt. Sie haben mich also vor einem Meineid bewahrt.“

„Gerne … immer wieder. Jeden Tag eine gute Tat, Sie wissen schon, was ich …“

„Sie sind Pfadfinderin?“, unterbrach er sie schmunzelnd. „Dann kann mir ja nichts mehr passieren. Ich bin schon auf die gute Tat gespannt, die Sie morgen an mir vollbringen werden.“

„Ich denke nicht, dass ich verpflichtet bin, meine guten Taten auf nur einen Menschen zu beschränken.“

„Wäre doch schade, sie an Unwürdige zu verschwenden.“

„Das heißt, Sie sind der einzig Würdige?“

„Und ob! Ich werde es Ihnen beweisen …“

Und er hat es bewiesen, dachte Jana unter Tränen lächelnd, während sie sich plötzlich bewusst wurde, dass sie immer noch aus dem Fenster starrte. Über ihren Erinnerungen hatte sie völlig die Zeit vergessen. Nach einem raschen Blick auf die Uhr lief sie in die Küche, goss den mittlerweile kalt gewordenen Kaffee in die Spüle und schenkte frischen in ihre Tasse.

Jenem Abend waren noch viele wundervolle Abende gefolgt, doch bereits an diesem verliebte sie sich in ihn. Ein halbes Jahr später führte er sie zum Traualtar. Eine Liebe wie im Märchen. Leider endete es nicht mit den Worten: „… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch ...“ Nein, dieses Glück war ihnen nicht beschieden.

Jana Degenhardt wurde mit neununddreißig Jahren Witwe – viel zu jung und unvorbereitet. An diesem Schicksalsschlag wäre sie fast zerbrochen.

Allein ihre Mutter drang mit einfühlsamen Worten zu ihr durch und machte ihr klar, dass das Leben weiterging – weitergehen musste. Die Verantwortung für ihr Leben und das ihrer Söhne lag von nun an allein auf ihren Schultern.

Sie nahm ihre Arbeit wieder auf. Und als sie das Angebot ihres Chefs erhielt, ihn in der Zentrale des Mangold-Unternehmens zu unterstützen, nahm sie dieses nur allzu gerne an. Letztendlich weil sie das Haus und das Umfeld, in dem sie sich mit Marius so glücklich gefühlt hatte, nur noch schwer ertragen konnte. Also zog sie mit ihren Kindern nach Köln. Allerdings vergingen Monate, bis sie es schaffte, wieder ganz auf die Beine zu kommen. Doch außer Felix und Max schaffte es auch dann niemand, ihr wirklich nahezukommen.

Vor diesem Unglück konnte man sie oft und herzhaft lachen hören, danach hörte man dieses Lachen, das um vieles leiser geworden war, nur noch sehr selten. Jana gelangte durch den Schmerz zu der Überzeugung, nur eiserne Disziplin und Selbstbeherrschung, die sie zu jener Zeit wie eine Mauer um ihr Herz baute, konnten sie vor weiteren Schicksalsschlägen schützen. Aus dem fröhlichen, lebenslustigen, vor Energie und Tatendrang sprühenden Wirbelwind wurde mit der Zeit eine verbissene, arbeitswütige Geschäftsfrau. Auf Fremde wirkte ihre kühle Fassade oftmals arrogant. Das mochte zum einen an ihrem aufrechten Gang liegen, der ihre selbstbewusste Ausstrahlung noch zusätzlich hervorhob, zum anderen ganz sicher daran, dass selbst ihre Freundlichkeit stets distanziert wirkte.

Als dann ihre geliebte Mutter vor fast zwei Jahren verstarb, musste sie schmerzhaft erkennen, dass Distanz nicht vor allem Leid schützte. Selbst nicht, wenn man jegliches Gefühl auszuschließen versuchte.

Nein, die starke Frau, für die jeder sie hielt, mimte sie seit dem Tod ihres Mannes nur nach außen. Tief in ihrem Inneren verbarg sich eine von Trauer zerrissene Seele, die sie niemandem zeigte, auch den wenigen Menschen nicht, denen sie vorbehaltlos vertraute. Niemand wusste von ihrer Verletzlichkeit und ihren Ängsten. Angst davor, Fehler zu machen, Schmerzen ertragen zu müssen und immer wieder Angst vor Gefühlen – vergangenen, bestehenden und zukünftigen, Angst vor dem Alleinsein und kurioserweise auch vor Zweisamkeit.

Auch Anne, ihre beste Freundin, ahnte nichts davon und erst recht nicht Robert Mangold. Obwohl er oft behauptete, sie trotz der Distanz, die sie sich geradezu zwanghaft bemühte aufrechtzuerhalten, besser zu kennen als sie sich selbst.

Wieder einmal fragte sie sich, warum es nicht möglich ist, unerwünschte Ereignisse, die einen während eines Lebens treffen, einfach zu verhindern? Ach Marius, du könntest noch immer bei uns sein, wäre ich nicht …, dachte Jana, während sie erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr warf. „Oh Gott!“

Rasch trank sie die zweite Tasse Kaffee leer und stellte sie in die Spüle. In diesem Moment meldete sich ihre Türklingel. Sie lief in die Diele, zog ihren warmen Kaschmirmantel rasch vom Bügel, Sie lief in die Diele, zog ihren warmen Kaschmirmantel rasch vom Bügel, ergriff ihre Reisetasche, während sie in ihn hineinschlüpfte und verließ das Haus.

Der Taxifahrer nahm ihr das Gepäck ab und öffnete die Tür zum Fond des Wagens.

Jana ließ sich hineingleiten und lauschte interessiert dem Song, der im Autoradio lief.

Gleich nachdem der Fahrer Janas Tasche in den Kofferraum gepackt und sich hinters Steuer gesetzt hatte, schaltete er das Radio aus.

„Nein, bitte lassen sie das Radio an.“

„Das ist zurzeit meine Lieblings-CD von den ‚Carrion Crow‘. Verzeihung, aber Sie hätte ich eher in die Klassikschiene gesteckt.“

„Mein Sohn ist der Drummer“, erklärte sie stolz.

„Echt?“, fragte er überrascht. „Der Junge ist fantastisch.“

Jana nickte und lehnte sich zurück. Zufrieden vor sich hin lächelnd lauschte sie dem rockigen Sound. „Ja, das ist er.“

***

Nachdem Jana eingecheckt hatte, setzte sie sich in eines der Cafés im Franz-Josef-Strauß-Flughafen und wartete mit zunehmend schlechter Laune darauf, bis ihr Flug aufgerufen wurde. Zum x-ten Mal fragte sie sich, weshalb sie überhaupt zu ihm flog?

Damals, als Marius noch lebte, hatte sie Veränderungen geliebt. Es hatte ihr Spaß gemacht, etwas ins Laufen zu bringen. Nach seinem Tod lenkten sie Veränderungen von ihrer Trauer ab. Mittlerweile jedoch wollte sie nur noch ihre Ruhe haben. Allein schon die Vorstellung, nach Köln zu fliegen, empfand sie peinigend. Diese Treffen waren ihr so lästig, dass sie ernsthaft einen Ausstieg aus dem Berufsleben in Erwägung zog, und zwar sofort. Sie erhob sich und griff nach ihrer Handtasche, um den Terminal wieder zu verlassen. Doch bevor sie auch nur einen Schritt in Richtung Ausgang machte, fiel ihr ein, dass sie ihre Reisetasche bereits aufgegeben hatte. Außerdem kamen ihr plötzlich Marius’ Worte in den Sinn. Deine Ruhe hast du noch früh genug. Lebe dein Leben, nutze jede Minute und koste sie voll aus. Das Leben ist zu kurz, um es sinnlos zu vergeuden.

Jana setzte sich wieder und dachte an ihren Ehemann und seine klugen Sprüche. Unwillkürlich kamen ihr die Worte in den Sinn, die Felix vor einigen Tagen geäußert hatte. Du brauchst nur einen Mann, der dein Herz gefangen nimmt, auf seine ganz eigene Weise. Auf seine ganz eigene Weise? Was für ein Mann soll das sein? Ein Mann, der nicht wie Marius ist, kann mein Herz doch gar nicht erst erobern.

Unmerklich schüttelte Jana den Kopf, während sie sich an die vielen Sonntage erinnerte, an denen ihr Ältester sie in aller Frühe geweckt hatte, um sich Ratschläge zu holen und ihr besonders kluge zu geben. Bei der Erinnerung an letztes Wochenende, als er sie besucht hatte, musste sie unwillkürlich schmunzeln …

Jana seufzte, als sie Felix’ leise Stimme vernahm.

„Hallo Mama, bist du wach?“

„Jetzt schon. Danke, dass du mir das Augenlid nicht hochgezogen hast, um nachzugucken, ob ich wach bin, so wie du das früher immer gemacht hast.“

„Habe ich das?“

„Hast du. Was willst du denn schon so früh am Morgen? Es ist gerade mal sieben“, maulte sie nach einem Blick auf den Wecker und gähnte demonstrativ. „Ich wollte heute mal ausschlafen.“

„Das ist genau die Zeit, in der ich dich noch für mich allein habe. Ich muss mit dir reden.“

Er senkte sein Haupt und blickte nachdenklich von ihr zum Fußende des Bettes. „Darf ich?“

Jana nickte und zog die Beine an.

Wie früher, hatte er etwas auf dem Herzen, setzte sich Felix an das Fußende ihres Bettes und streckte seine Füße unter ihre Decke.

Noch einmal gähnte Jana verstohlen, lächelte dann aber erwartungsvoll. „Wo drückt denn der Schuh, mein Großer?“

„Ich geh’ mit den Jungs für ein knappes Jahr nach Amerika“, platzte er heraus. „Wir werden in Los Angeles einen Videoclip drehen und von dort aus starten wir unsere Tournee durch ganz Kalifornien, dann geht’s weiter nach Atlanta, Washington DC, Boston und endet in New York.“

Jana strahlte ihn an. „Wow! Felix, das ist ja fantastisch“, sagte sie überwältigt. Doch auf ihre anfängliche Euphorie folgte bei näherer Betrachtung ängstliche Besorgnis. „Aber musst du wirklich so weit weg, für ein ganzes Jahr?“

„Es sind nur zehn Monate“, korrigierte er. „Wenn dir etwas geschieht …?“

Er legte seinen Kopf schief und grinste sie schelmisch an. „Mama, falls du es noch nicht mitbekommen hast, ich bin mittlerweile erwachsen. Ich kann ganz gut auf mich aufpassen. Mach dir keine Sorgen um mich. Es ist eher so, dass ich deinetwegen ein wenig beunruhigt bin.“

„Wie bitte?“, fragte sie verwundert.

„Du bist eine äußerst attraktive Frau.“

Sie zog skeptisch eine Augenbraue hoch.

„Na komm schon, du weißt das selbst ganz genau. Ich war schon immer stolz auf meine wunderschöne Mama. Das ist es, was mir Sorgen macht.“

„…, dass ich immer noch ganz passabel aussehe?“

„Nein, natürlich nicht. Ich mach’ mir Gedanken über deine Zukunft. Es ist nicht normal, dass eine Frau in der Blüte ihres Lebens allein ist. An mangelnden Verehrern kann es ja wohl kaum liegen. Hei! Papa ist seit zehn Jahren tot, aber du doch nicht.“

„Zehn Jahre? Mir ist, als wäre es gestern gewesen“, sinnierte sie und fügte hinzu: „Es ist nicht einfach, einen Mann wie deinen Vater zu vergessen.“

„Das sollst du doch auch gar nicht.“

„Und ersetzen kann ihn erst recht kein anderer. Darauf willst du doch wohl hinaus?“

„Kein anderer Mann wird Vater je ersetzen können“, schüttelte er verneinend den Kopf, beugte sich etwas vor und ergriff ihre Hand. „Aber das ist auch gar nicht nötig. Er soll eine Saite in dir zum Klingen bringen, die du schon lange nicht mehr gehört hast. Mama, ich sehe doch, dass du einsam bist.“

Jana lächelte. Wenn er so fürsorglich mit ihr sprach, erinnerte er sie besonders an Marius.

„Ach Schatz, du bist rührend“, antwortete sie, während sie ihre andere Hand auf seine legte und liebevoll tätschelte. „Dein Vater war die Liebe meines Lebens. Das, was ich mit ihm hatte, kann mir kein anderer Mann geben. Mir ist nur eines wichtig – meine Familie. Du und Max, ihr seid mein Lebensinhalt. Es geht mir gut, mein Schatz. Danke für deine Fürsorge.“ Jana schlug die Bettdecke zurück und erhob sich.

„Ich begebe mich jetzt ins Bad und danach frühstücken wir zusammen“, sagte sie munter. Doch dann blieb sie stehen und ging noch einmal zurück zu ihrem Sohn, der immer noch auf dem Bett saß. Lächelnd beugte sie sich zu ihm hinunter, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn liebevoll auf beide Wangen.

„Das hast du früher immer gemacht, wenn ich traurig war. Vater sagte dann immer: ‚Mama verteilt Sonnenstrahlen‘. Er hat mir mal erklärt, dass das nur Mütter und ganz besondere Frauen können. Mit den Müttern hatte er recht, eine dieser besonderen Frauen ist mir bislang noch nicht begegnet.“

„Eines Tages wird sie dir begegnen. Dann musst du sie festhalten“, antwortete Jana gerührt, bevor sie sich von ihm abwandte.

„Mama, eins noch“, hielt er sie zurück, „solltest du dich doch nochmal verlieben, nimm keine Rücksicht auf uns. Es ist dein Leben. Wir müssen den Kerl nicht mögen, Hauptsache du wirst glücklich mit ihm. Falls du es nämlich noch nicht bemerkt hast, wir können ganz gut selbst für uns sorgen.“

„Ich weiß, mein Junge, ich weiß“, sagte Jana, doch sie glaubte auch zu wissen, dass nur ein ganz besonderer Mann sie dazu bringen konnte, sich mit ihm einzulassen – eben ein Mann wie Marius.

Jana blinzelte wie erwachend. Kein anderer wird Marius jemals das Wasser reichen können, geschweige denn ihn ersetzen. Aber das kommt ohnehin nicht infrage. Mein Recht auf Glück habe ich mit seinem Tod verwirkt. Schließlich bin ich … „Nein!“, hauchte sie vor sich hin. Daran wollte sie nun wirklich nicht denken.

Der Flug München – Köln/Bonn wurde aufgerufen.

Jana griff nach ihrer Handtasche und begab sich in den Flieger. Der Flug dauerte nur zirka eine Stunde und so hatte sie nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, was sie in Köln erwartete.

Am Konrad-Adenauer-Flughafen wurde sie vom Chauffeur ihres Chefs abgeholt, der sie direkt in die Schildergasse zum Haupthaus des Mangold-Unternehmens brachte, in dem sich auch die Verwaltung befand.

Als sie den Fahrstuhl betrat, begann ihr Herz freudig zu schlagen. Obwohl sie nicht vorhatte ihm jemals zu sagen, was sie für ihn empfand, so musste sie sich doch wieder einmal eingestehen, wie sehr sie ihn mochte und dass sie sich auf ihn und ihre kleinen Kämpfe freute. Allerdings wurde diese Freude momentan durch starke Kopfschmerzen getrübt, die sie schon während des Fluges zu quälen begonnen hatten.

Frau Stoller, die Chefsekretärin, nahm ihre an einem Goldkettchen befestigte Lesebrille ab und ließ sie achtlos auf ihrem üppigen Busen baumeln.

Die beiden Frauen kannten und schätzten sich seit vielen Jahren.

„Herr Mangold erwartet Sie wie immer mehr als ungeduldig, Frau Degenhardt. Er hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt“, erklärte sie verschwörerisch, wodurch sich ihre ein wenig zu hohe, fast piepsig klingende Stimme – wegen der Robert Mangold sie Vögelchen zu nennen pflegte – noch um eine Nuance steigerte.

Jana nickte freundlich lächelnd und ging zielstrebig auf die Bürotür zu. Sie klopfte, öffnete die Tür und betrat das Büro, ohne das energische Ja des „Alten“ abzuwarten.

Der „Alte“, der mit seinen sechsundfünfzig Jahren keineswegs alt war, saß wie üblich hocherhobenen Hauptes auf seinem breiten, lederbezogenen Chefsessel hinter dem dunkelbraunen Schreibtisch aus schwerer deutscher Eiche. Als sie eintrat, verfinsterte sich sein Blick zusehends.

Vor Jahren, als Jana sein mürrisches Chefgehabe noch nicht durchschaut hatte, fühlte sie sich in solchen Momenten wie eine lästige Stubenfliege.

„Ach, Sie sind es“, brummte er, um diesen Eindruck noch zu verstärken. Ohne sich zu erheben, auf den Besuchersessel vor seinem Schreibtisch deutend, befahl er: „Kommen Sie, setzen Sie sich.“

Er kann es einfach nicht lassen. Normalerweise nahm sie sein Verhalten, bei dem es sich um eine Art spielerischen Kampf zwischen ihnen handelte, mehr oder weniger gelassen hin. Doch heute ärgerte sie sich darüber. Möglicherweise lag es an den Kopfschmerzen, dass sie sich matt fühlte, entsprechend gereizt reagierte und schon gar nicht gewillt war, Spielchen zu spielen. Dennoch harrte sie gespannt der bissigen Bemerkung, mit der er sie diesmal begrüßen würde.

„Vögelchen, bringen Sie uns bitte Kaffee!“

„Gerne, Herr Mangold“, antwortete diese eifrig, schob die Brille wieder auf ihre Nase, drehte sich auf dem Absatz um und schloss die Tür hinter sich.

Wie gewöhnlich trug er seine Brille, die er nur zum Lesen benötigte, auf der Stirn und beobachtete Jana aus Augen, die seine brummige Art Lügen straften. Es fiel ihm offensichtlich schwer sich zu beherrschen. Am liebsten würde er vermutlich aufspringen und auf sie zustürmen, um sie an seine breite Brust zu drücken. Doch das „Spiel“ ließ das nicht zu. Wie immer, wenn er von sich ablenken wollte, drehte er den schwarzen, mit einem kleinen goldenen Wappen besetzten Füller zwischen seinen Fingern.

Auch sie hätte ihn gerne umarmt, doch das „Spiel“ und vor allem die Distanz, auf der sie während all der Jahre rigoros bestanden hatte, hinderten sie daran. Zuckte da etwa eben einer seiner Mundwinkel?

„Nun, was haben Sie mir zu sagen, Jana?“, brummte er weiter vor sich hin.

Sie atmete tief ein und hob lediglich trotzig, ohne zu antworten, ihr Kinn.

„Probleme?“, fragte er scheinbar desinteressiert.

Liegt da etwa eine Spur Sorge in seiner Stimme? Unmöglich! Schließlich bemüht er sich seit Jahren, seinen weichen Kern vor mir zu verstecken. „Ich?“

„Wer sonst?“

„Sie.“

„Mir geht es bestens. Aber Sie haben möglicherweise eines?“

„Ich bin topfit, MEIN Verstand arbeitet wie ein Uhrwerk. Welches Problem also sollte ich haben?“, fragte sie darum gelassen.

Er schien die besondere Betonung auf dem Wort „mein“ sehr wohl vernommen zu haben. „Ich wüsste da schon eines. Aber lassen wir das“, bemerkte er listig mit zusammengekniffenen Augen in seiner betont schroffen Art.

„Eben“, konterte sie und fügte gedanklich hinzu – nur einmal möchte ich erleben, dass er sich einfach nur freut mich zu sehen. „Soweit ich mich erinnere, wollten Sie etwas mit mir besprechen, Herr Mangold“, sagte sie darum müde. „Ich bin schließlich auf Ihren Wunsch hier.“

„Das stimmt nicht ganz“, antwortete eine angenehm tiefe Stimme mit leicht englischem Akzent.

Jana kroch ein wohliger Schauer über den Rücken. Sogleich drehte sie sich in die Richtung, aus der sie die Stimme vernommen hatte, und erblickte den Mann, dem diese zuzuordnen war.

„Sie sind auf meinen Wunsch hier“, sprach er weiter. „Mein Vater hat gewettet, Sie würden es ablehnen nach Köln zu kommen, geschweige denn mit mir gemeinsam an diesem Projekt zu arbeiten. Er geht davon aus, dass Sie ihn nicht leiden können, und diese Abneigung unweigerlich auf mich übertragen würden.“

„Wie kommt er bloß darauf?“, fragte sie schnippisch und warf dem „Alten“ einen vielsagenden Blick zu, bevor sie sich erneut dem jüngeren zuwandte. „Sie sind also sein Sohn?“

„Ja. Und ich war wirklich gespannt auf die Frau, die mein Vater sehr bewundert, auch wenn er das vermutlich nie zugeben wird“, antwortete er schmunzelnd, während er auf sie zuging.

„Papperlapapp“, ließ Robert Mangold verlauten.

„Viktor Mangold“, stellte er sich vor und streckte ihr seine Hand entgegen. „Guten Tag, Frau Degenhardt“, begrüßte er sie, ihre Hand länger als nötig festhaltend, als wolle er sie – zumindest vorerst – nicht mehr loslassen.

Der eindringliche Blick, mit dem er sie aus aquamarinblauen Augen musterte, traf Jana bis in ihr Innerstes, weckte ein Gefühl vollkommen irrationaler Art und machte sie sprachlos.

Er lächelte bewundernd. „Ich muss meinem Vater recht geben, in Wirklichkeit sind Sie noch schöner.“

„Oh!“ Jana stand perplex, mit leicht geöffnetem Mund vor ihm. Was für ein bemerkenswerter Mann! Diese Augen … Wow! Sie brauchte einige Sekunden, bis sie sich einigermaßen gefangen hatte. „Ich denke nicht, dass wir hier sind, um über mein Aussehen zu sprechen“, bemerkte sie betont abweisend und schob, um ihre Worte zu unterstreichen, ihr Kinn noch ein wenig weiter vor.

„Entschuldigen Sie, ich wollte Ihnen keineswegs zu nahetreten. Doch für gewöhnlich sage ich, was ich denke.“

Jana zog ihre linke Augenbraue hoch und nickte. „Gut! Ich auch.“

„Ja, das tut sie“, bestätigte Robert Mangold lakonisch.

Frau Stoller betrat mit einem Tablett das Büro. „Der Kaffee, Herr Mangold.“

„Danke, Vögelchen.“

„Schön“, sagte Jana ungeduldig, „halten wir nun ein Kaffeekränzchen oder sagen Sie mir endlich, um was es geht?“

„Was ist? Können Sie wieder mal nicht schnell genug von mir wegkommen?“, fragte der „Alte“ brummig und fügte hinzu: „Ich wollte nur höflich sein. Ein Kaffee tut Ihnen jetzt sicher gut.“ Nachdem er sie eine Sekunde betrachtet hatte, richtete er das Wort an Viktor: „Sagte ich dir nicht, dass sie eine Kratzbürste ist? Man kann unmöglich mit ihr zusammenarbeiten.“

„Dafür hielten Sie es ziemlich lange mit mir aus und mir deucht, Sie haben immer noch nicht genug von mir. Sollte mir entgangen sein, dass Sie masochistisch veranlagt sind?“, fragte sie spitz und lächelte ihn herausfordernd an.

„Jana, es reicht!“

„Na endlich“, antwortete sie, bevor sie sich erklärend an Viktor wandte. „Der einzige Grund, weshalb wir immer noch zusammenarbeiten, ist der, dass er sich an unsere gegenseitigen Sticheleien gewöhnt hat und ich immer wieder nachgebe, wenn er nicht mehr weiter weiß. Ihr Vater ist ein besserwisserischer Sturschädel.“

„Halten Sie Ihre vorlaute Klappe“, befahl Robert Mangold.

Viktor lachte laut und offen. „Ich sehe schon, ihr liebt euch wirklich.“

Der „Alte“ erhob sich aus dem Sessel, kam gemächlich hinter seinem Schreibtisch hervor und lehnte sich an denselben. „Nehmen Sie endlich Platz, Jana. Wir haben einiges zu besprechen“, sagte er, um einige Nuancen freundlicher.

Viktor setzte sich ebenfalls und begann sogleich mit seinen Ausführungen. „Wie in den meisten Geschäften geht es auch bei uns darum, Kosten zu senken. Ein ziemlich hoher Kostenfaktor ist das Personal. Um diese Kosten senken, wird meistens schlecht ausgebildetes oder ungelerntes Personal eingestellt. Dabei bleibt allerdings die gute Beratung auf der Strecke und das Niveau sinkt ziemlich tief. Ich möchte …“

Jana kam nicht umhin, ihn genauer anzusehen. Allein in diese warme Stimme mit dem vibrierenden Timbre könnte ich mich glatt verlieben und dann der Akzent … Sie seufzte innerlich. „Jana! Reiß dich zusammen“, warnte ihre innere Stimme eindringlich. Mit nur einem Ohr auf den Sinn seiner Worte lauschend, beobachtete sie, wie sich sein fein geformter, maskuliner Mund bewegte. Und dabei entdeckte sie dieses kaum erkennbare, in seinem rechten Mundwinkel angedeutete Lächeln, welches, sowie er die Lippen schloss, nur darauf zu warten schien, herauskommen zu dürfen, um sich mit dem im linken lauernden zu vereinen. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass ein derart gutaussehender Mann mit solch stechend blauen Augen noch frei herumläuft. Vermutlich ist er verheiratet oder hat zumindest eine Freundin …

„… und hier kommen Sie ins Spiel“, unterbrach er ihre Gedanken.

„Ich, wieso ich?“, fragte sie verwirrt und blickte verwundert von einem zum anderen.

Viktor grinste spöttisch. „Frau Degenhardt, haben Sie überhaupt zugehört?“

„Natürlich!“ Um nichts in der Welt hätte sie zugegeben, dass sie nur den Anfang seiner Ausführungen mitbekommen hatte.

„Okay. Also, wie ich bereits sagte, ich möchte professionell ausgebildetes Personal, das unsere Kunden kompetent und ehrlich berät. Dadurch wird ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, das aus unseren ortsansässigen Kunden unweigerlich Stammkunden macht. So muss ich die Lohnkosten nicht senken, sondern steigere den Gewinn. Das war jetzt eine kurze Zusammenfassung, Genaueres besprechen wir später.“

Er wirkte hoch konzentriert, als er sie nach seiner Ausführung erwartungsvoll ansah.

Plötzlich bemerkte sie die fast unerträgliche Hitze im Raum. Sie fragte sich, ob das an ihren Gedanken oder lediglich an einer zu weit aufgedrehten Heizung lag, während sie sich zurücklehnte und ihre Jacke aufknöpfte. Möglicherweise wäre es eine gute Idee, würden die Herren auch mal über Heizkostensenkung nachdenken.

„Frau Degenhardt?“ Etwas irritiert wirkend schaute Viktor zunächst sie, dann seinen Vater an.

„Ja!“ Sie nickte heftig. „Die Idee ist gut“, antwortete sie und wandte sich im selben Moment an ihren Chef. „Wirklich gut, nicht wahr, Herr Mangold? Die könnte glatt von mir sein.“ Jana griff nach ihrer Handtasche, erhob sich und fügte hinzu: „Sie finden für diesen Job bestimmt eine kompetente Mitarbeiterin in ihrem Unternehmen. War’s das?“

Viktor blickte sie aus zusammengekniffenen Augen verständnislos an. „Nein! Nein, Frau Degenhardt. Mein Vater meinte, Sie wären die Beste, um das Projekt zu verwirklichen, und für mich ist die Beste gerade gut genug.“

Jana sah zuerst den „Alten“, dann seinen Sohn an. „Ist eigentlich einer von Ihnen krank?“, platzte sie unerwartet heraus.

„Das ist doch nicht etwa wieder eine Ihrer üblichen Beleidigungen? Sie sind manchmal ganz schön dreist, Jana“, maulte der „Alte“.

„Quatsch, hier im Büro ist eine Affenhitze.“ Um ihre Worte zu unterstützen, fasste sie an ihren Rollkragen und zog ihn, wie um sich Luft zuzufächeln, einige Male von ihrem schlanken Hals. „Man möchte sich die Kleider vom Leib reißen.“

„Tun sie sich keinen Zwang an“, erklärte Viktor Mangold geradeheraus, aber charmant schmunzelnd. „Ich werde Sie ganz bestimmt nicht daran hindern. Sicher wäre es sehr reizvoll, Sie ohne zu sehen.“

„Viktor!“, tadelte ihn der „Alte“.

Jana zog ihre linke Augenbraue hoch und warf ihm einen vernichtenden Blick zu, der das verschmitzte Lächeln auf seinem Gesicht augenblicklich gefrieren ließ.

„Ich sagte auch schon, man könne hier keinen klaren Gedanken mehr fassen“, beeilte sich Viktor, seine kleine Entgleisung zu überspielen. „Doch Vater meinte, er möchte ...“

„… mir mal richtig einheizen?“, fragte sie spitz an den „Alten“ gewandt.

Der „Alte“ verdrehte entnervt die Augen. „Dreh’ die Heizung runter Viktor“, brummte er mürrisch. „Obwohl die Vorstellung, Ihnen mal kräftig einzuheizen, durchaus etwas Reizvolles hat“, meinte er grinsend.

Jana schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Da siehst du’s“, wandte er sich wieder Viktor zu, „man kann ihr einfach nichts recht machen.“

Viktor tat, wie ihm geheißen, und öffnete auch gleich ein Fenster.

„Sie müssen mich nicht daran erinnern, dass Sie mir vor einigen Jahren denselben Vorschlag unterbreitet hatten“, brummte der „Alte“, und strich sich mit zwei Fingern verlegen übers Kinn.

„Ja und Sie taten ihn als Nonsens ab und erklärten mir, ich solle die Finger davonlassen, da ein derartiges Unterfangen Unsummen verschlingen würde, die Sie besser einzusetzen wüssten. Und meinten Sie nicht sogar, ich würde das sowieso nicht hinkriegen?“

„Das ist mir bewusst“, murmelte er in seinen nicht vorhandenen Bart. „Weshalb, glauben Sie, sind Sie hier?“

„Damit ich es nicht hinkriege, oder damit ich mir die Finger verbrenne? Möchten Sie mich loswerden? Das können Sie bequemer haben. Sagen Sie mir einfach, dass ich gehen soll.“

„Jana! Mag sein, dass ich damals gerade mal wieder sauer auf Sie war, aber ich weiß genau, was Sie können. Ich wollte wenigstens eine Person in das Projekt involviert wissen, die weiß, wovon mein Sohn spricht“, gab er reuevoll zu.

Viktor blickte seinen Vater überrascht an. „Warum hast du mir nicht erzählt, dass Frau Degenhardt dir bereits die gleiche Idee unterbreitet hat?“

Der „Alte“ hob hilflos die Schultern und pustete die Luft laut aus seinen Lungen.

„Sie brauchen ein Konzept“, wandte sich Jana an Viktor, bevor der „Alte“ die Frage seines Sohnes beantworten konnte, „und das ist harte Arbeit – oder steht das bereits? Damit nicht genug, es muss auch umgesetzt werden. Ich weiß nicht, ob ich das alles noch will. Nein! Ich bin ziemlich sicher, dass ich das nicht mehr will.“

Robert Mangold setzte sich. Er schien sichtlich nervös zu sein. Wieder nahm er den Füller und drehte ihn ungeduldig zwischen seinen Fingern. „Wir sprechen später darüber. Ruhen Sie sich erst mal aus, Jana. Ich fürchte, Sie sind ein wenig müde und gereizt“, sagte er beschwichtigend, konnte sich dann jedoch ein leise gemurmeltes, „wie immer“, nicht verkneifen.

Jana zog abermals die Braue hoch und sah ihn herausfordernd an. „Behandeln Sie mich nicht wie ein unartiges Kind.“

Er legte den Füller aus der Hand, hob den Kopf und sah ihr freundlich, aber direkt in die Augen. „Wie soll ich Sie denn sonst behandeln?“,

fragte er mit zynischem Unterton.

„Gar nicht. Ja, und da ich mich hier ohnehin fehl am Platze fühle, werde ich jetzt gehen“, tat sie überheblich.

„Na wunderbar. Schaff Sie endlich hinaus“, fügte er gleich darauf fröhlich grinsend hinzu.

Viktor öffnete die Tür. „Wie wäre es mit einem leckeren Mittagessen?“, fragte er freundlich.

„Ich würde jetzt lieber zum Flughafen fahren“, antwortete sie, wandte sich dann aber doch nochmal an den „Alten“. „So wie es aussieht, kann ich heute noch zurückfliegen.“

„Wie kommen Sie denn darauf? Sie bleiben selbstverständlich hier. Und morgen wird Viktor Sie zu einem Makler begleiten, der Ihnen einige Wohnungen zeigen wird“, brummte er vor sich hin.

„Makler? Wohnungen? Ich habe mich wohl verhört. Na gut. Ich bleibe bis morgen. In welchem Hotel haben Sie mich untergebracht?“, fragte sie schnippisch. Sich durchaus bewusst, dass er sie bereits in die Pläne seines Sohnes integriert hatte, musste sie zugeben – wollte sie ehrlich zu sich selbst sein – dass sie Viktor nur allzu gerne darin unterstützen würde. Seine Ausführung hatte sie neugierig gemacht.

„Natürlich sind Sie unser Gast, wir haben Platz genug“, murmelte er. „Ein Zimmer ist bereits für Sie hergerichtet.“

„Nun gut, für eine Nacht wird es gehen. Morgen am Spätnachmittag fliege ich zurück. Und dass eins klar ist: Ich habe nicht zugesagt, Herr Mangold. Versuchen Sie also nicht, mich zu manipulieren. Sie wissen, dass ich das nicht leiden kann.“

„Also gut, Jana. Mein Sohn bringt Sie jetzt in unser Haus. In etwa drei Stunden bin ich bei Ihnen, dann erwarte ich Ihre Entscheidung und einige sachdienliche Vorschläge. Ach! Und noch eins, Jana, darf ich Sie bitten, freundlich zu ihm zu sein, er ist diesen barschen Ton nicht gewohnt“, sagte er mit zusammengezogenen Augenbrauen, wodurch er ziemlich verärgert wirkte. Das belustigte, nicht zu übersehende Zucken in seinen Mundwinkeln strafte seine Worte jedoch Lügen.

***

„Warum sind Sie eigentlich so, wie Sie sind?“, fragte Viktor, als er sich schwungvoll neben sie auf den beigefarbenen Fahrersitz des schwarzen BMW Z4 Roadster gleiten ließ.

Obwohl das Verdeck des Cabrios heruntergelassen war, roch es intensiv nach Leder. Der Wagen musste ziemlich neu sein.

„Frau Degenhardt?“, brachte er sich in Erinnerung, als sie nicht gleich antwortete.

„Wie bin ich denn?“

„Na so zickig. Warum verstecken Sie sich hinter dieser unfreundlichen Fassade? Kann es sein, dass Sie vor irgendetwas Angst haben?“

„Wovor sollte ich Angst haben? Ihr Vater liebt meine zickige Seite“, erklärte sie und lächelte vor sich hin. „Es ist eine Art Spiel, das wir irgendwann einmal begonnen haben.“

„Und gleichzeitig halten Sie ihn damit auf Distanz. Sie sind nicht nur wunderschön, sondern auch clever. Da wir das nun geklärt haben, könnten wir doch eine Kleinigkeit essen gehen. Oder fürchten Sie sich etwa vor mir?“

„Denken Sie eigentlich bloß ans Essen?“

Er schmunzelte. „Nicht nur, aber wenn ich hungrig bin, esse ich vorher.“

„Vorher? Vor was?“

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Möchten Sie dieses Thema wirklich vertiefen?“

„Welches The…, ach so.“ Eine leichte Röte überzog Janas Wangen. „Also gut, lassen Sie uns etwas essen gehen. Aber Sie nehmen jetzt nicht an, dass ich danach …“

„Was? Besser arbeiten? Doch! Oder hatten Sie gedacht …?“ Der Schalk blitzte in seinen Augen auf, als er, unglaublich frech grinsend, unmerklich den Kopf schüttelte. „Nein, nicht – oder doch?“

Jana fühlte sich ertappt. Etwas irritiert fragte sie sich, wie sie überhaupt auf einen derart absurden Gedanken kommen konnte. Ihr war klar, hatte er sie bis jetzt nur für eine vertrocknete alte Kuh gehalten, nun hielt er sie auch noch für beschränkt. „Natürlich nicht!“, antwortete sie empört.

„Dann ist ja gut. Ich kenne die beste Würstchenbude von ganz Köln“, erklärte er, während er um die nächste Ecke bog und gleich darauf am Straßenrand parkte. Geschmeidig wie eine Raubkatze stieg er aus, lief um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und reichte ihr seine Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

„Das ist jetzt nicht Ihr Ernst?“, fragte Jana empört. „Fastfood! Widerlich! Fette Wurst und pappige Buletten. Aber was will man von einem Amerikaner auch anderes erwarten?“ Doch als der appetitlich duftende Geruch ihre Nase umschmeichelte, ihr Magen deutliche Signale meldete, musste sie zugeben, dass sie ein eindeutiges Hungergefühl verspürte.

„Und Sie sind ein Snob“, bemerkte er.

„Keineswegs, ich denke nur an meine Gesundheit.“ Unter keinen Umständen hätte sie zugegeben, wie gerne sie Würstchen vom Grill mochte. Und schon gar nicht, wie gerne sie sich ebenfalls ab und zu welche aus einer ganz bestimmten Bude am Münchner Viktualienmarkt holte. Sie stellte sich an einen der kleinen, runden Tischchen, während Viktor zwischen den anderen Wartenden verschwand. Lediglich an seinem graumelierten Haar und weil er die anderen fast um Haupteslänge überragte, konnte sie erkennen wo er stand.

„Mit Senf oder ohne?“, rief er plötzlich zu ihr herüber, während er auf den Spender drückte und auf einen Pappteller eine ziemlich große Portion davon gab.

„Mit natürlich, ohne krieg’ ich die Dinger nicht runter.“ Ihn heimlich beobachtend seufzte sie unbewusst. Seit Marius Tod hatte sie keinen einzigen Gedanken an Zweisamkeit verschwendet – welcher Art auch immer. Ausgerechnet bei einem Mann, der eindeutig zu jung für mich ist, soll ich schwach werden? Niemals! „Wer sich zuerst mit Senf bekleckert, zahlt den Schnaps“, erklärte sie lächelnd, als er ihr den Pappteller mit Würstchen reichte.

„Wie bitte?“

Sie warf einen flehentlichen Blick gen Himmel. Solchen Blödsinn redete sie doch sonst nicht. Was hatte dieser Mann an sich, dass er sie dermaßen aus der Fassung bringen konnte? Als könne sie es damit verhindern, presste sie die Lippen zusammen und lächelte kläglich. „Nichts, ist nur so ein dummer Spruch“, erklärte sie, während er sie weiterhin fragend ansah.

„Jedenfalls sehen Sie bezaubernd aus, wenn Sie lächeln. Es macht Sie noch schöner“, bemerkte er und sah sie bewundernd an.

Jana blickte herausfordernd in seine aquamarinblauen Augen. Sich körperlich der lauernden Gefahr bewusst, die sicher nicht nur von seinen Augen ausging, glaubte sie eine Sekunde, im Ozean zu versinken. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, senkte sie verlegen den Blick und biss mit großem Appetit in die Wurst. Da hatte sie eben wohl ein böses Teufelchen geritten. Verdammt nochmal, ich muss besser auf mich aufpassen.

„Wenn Sie mich nochmal so ansehen, werde ich Sie küssen“, warnte er sie mit belegter Stimme. Und der ernste Tonfall verriet, dass er durchaus meinte, was er sagte.

„Das vergessen Sie mal wieder ganz schnell“, antwortete sie ebenso ernst. Dann grinste sie und deutete auf seine Brust. „Sie haben Senf auf Ihrer Krawatte.“