Über das Buch

»Extrem klug, kraftvoll und differenziert über #MeToo.« THE GUARDIAN.

Im New Yorker veröffentlicht, wurde Mary Gaitskills Erzählung vielfach als das Beste gerühmt, was bislang zur #MeToo-Debatte geschrieben wurde: Der erfolgreiche Verleger Quin wird durch Vorwürfe von Mitarbeiterinnen öffentlich zu Fall gebracht. Auch Margot griff er vor zwanzig Jahren bei einem ihrer ersten Treffen zwischen die Beine, und sie wehrte sich. Ihre Entschlossenheit imponierte ihm – und sie genoss nach wie vor die Aufmerksamkeit des schillernden Bonvivants. Sie wurden Freunde. Während er langsam verstehen muss, dass sich das Blatt für ihn gewendet hat, versucht sie das Handeln des Freundes zu verstehen. Inwiefern hat er ihre Loyalität verdient, welches Leid hat er verursacht?

Ein ebenso unerschrockener wie hellsichtiger Blick auf eine Welt, in der es keine moralischen Eindeutigkeiten mehr gibt.

»Mary Gaitskill ermöglicht eine entscheidende neue Gesprächsebene über #MeToo. Denn nicht zuletzt wirft ›Das ist Lust‹ die Frage danach auf, wie unversöhnlich die Positionen in der Debatte wirklich sind und woran ein Austausch, der allen Seiten Handlungsspielräume zugesteht, anknüpfen könnte.« DER SPIEGEL.

Über Mary Gaitskill

Mary Gaitskill, geboren 1955, wuchs in Detroit auf. Sie wurde von mehreren Schulen geworfen, von ihren Eltern verstoßen und landete schließlich in einer Nervenklinik. Im Alter von sechzehn Jahren ging sie nach New York, später nach Toronto, und verdiente ihr Geld als Striptease-Tänzerin, Blumenverkäuferin, Sekretärin, Modell und Buchhändlerin. Während ihres Studiums an der Universität von Michigan schrieb sie ihre ersten Erzählungen und wurde 1981 mit dem Avery Hopwood Award ausgezeichnet. Sie lebt in New York, Manhattan. Sie gehört bis heute zu den wagemutigsten und unkonventionellsten Stimmen der amerikanischen Literatur. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und war Finalistin für den National Book Award und den National Book Critics Circle.

Bei Blumenbar liegt ihr »Bad Behavior / Schlechter Umgang« vor.

Daniel Schreiber, Kunstkritiker, Essayist und Übersetzer, hat in Berlin und New York studiert. Sein Buch »Susan Sontag. Geist und Glamour« war die erste Biografie über die bekannte amerikanische Intellektuelle und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Er ist Autor der hochgelobten Essaybände »Nüchtern. Über das Trinken und das Glück« und »Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen«. Schreiber lebt in Berlin.

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Mary Gaitskill

Das ist Lust

Aus dem Amerikanischen von
Daniel Schreiber

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Anmerkungen

Impressum

M.

Ich kannte Quin seit vielleicht fünf Jahren, als er mir diese Geschichte – eigentlich eher eine Anekdote als eine Geschichte – über eine Frau erzählte, die er auf der Straße getroffen hatte. Quin glaubte, dass er Menschen nur anzuschauen brauche, um ihr Innerstes, ihr Wesen zu verstehen; er glaubte auch, dass er auf dieselbe Weise feststellen könne, was sie am liebsten hören wollen oder, besser gesagt, worauf sie am meisten anspringen. Er bildete sich einiges auf diese vermeintlich besondere Fähigkeit ein, und so nahm die Geschichte letztlich auch ihren Anfang. Er sah, wie eine melancholisch wirkende Frau, eine »alternde Schönheit«, wie er es ausdrückte, allein im Central Park spazieren ging, und sagte zu ihr: »Sind Sie nicht eine sanfte Seele!« Sie antwortete: »Und sind Sie nicht eine aufmerksame Seele. Dass Ihnen das auffällt!« Nachdem sie sich ein paar Minuten unterhalten hatten, lud er sie auf einen Tee ein. Sie willigte ein.

Er beschrieb sie nicht weiter, sagte nur, dass sie mittleren Alters und offensichtlich einsam war. Sie war nie verheiratet gewesen, machte irgendwas mit Pressearbeit und hatte keine Kinder. Auch ohne eine visuelle Beschreibung hatte ich ein lebendiges Bild von ihr vor Augen: ihre schlanken Arme und langen Hände, die Umrisse ihrer Wangen, die fast unmerklich glühten, während sie sich leicht nach vorn lehnte, in seiner Aufmerksamkeit schwelgte, angeregt von diesem merkwürdigen, unerwartet in ihr Leben getretenen Mann. Und auch er dürfte sich ihre zugewandt haben. Quin war jemand, der Menschen in sich aufsaugte.

Sie tauschten Telefonnummern aus. Ich fragte ihn, ob er ihr erzählt habe, dass er bald heiraten würde, und er sagte Nein, das habe er nicht. Er hatte nicht vor, sie anzurufen. Es genügte ihm, sich den Möglichkeitsraum zwischen ihnen auszumalen. Er speicherte das ab, wie ein Smartphone-Video von etwas, was schon geschehen war. »Wahrscheinlich mag sie es, wenn man ihr wehtut, aber nicht zu sehr. Eigentlich sehnt sie sich nach Zuneigung. Man könnte ihr mit … keine Ahnung, mit einer Tischtenniskelle den Hintern versohlen? Und dann ihre Klitoris berühren. Das ist Lust.« Er hielt kurz inne. »Und das ist Schmerz.«

Als ich meinem Mann die Geschichte erzählte, brach es schallend aus ihm heraus. Wir beide mussten lachen. Noch Jahre später mussten wir lachen, drehten förmlich durch vor Lachen, wenn einer von uns ohne erdenklichen Grund »Das ist Lust« quakte – und er dann ein Perversengesicht zog und, in die Luft schnippend, »Und das ist Schmerz!« rief. Das Ganze war vage sadistisch, so vage, dass es lächerlich wirkte; offensichtlich würde niemand dabei zu Schaden kommen.

»Aber letztlich wäre es nicht gut für sie«, sagte Quin. »Sie ist aufgeschlossen, aber auch sensibel. Ich bin mit einer sehr viel jüngeren Frau verlobt. Das Ganze würde einfach nicht gut für sie enden.«

»Aber sie hätte vielleicht gerne mitgemacht, der Erfahrung wegen«, sagte ich, »wenn sie einsam war.« Es tut mir, zugegeben, leid, dass ich das gesagt habe. Aber ich dachte wirklich, dass es wahr sein könnte.

Letztlich telefonierten sie doch miteinander; sie rief ihn an. Er erzählte ihr von seiner Verlobung. Er sagte ihr, dass sie ihn als so etwas wie einen Schutzengel in Erinnerung behalten solle, der telepathisch auf sie achtgebe. Was die Komik der Sache für mich und meinen Mann natürlich nur noch erhöhte. Obwohl es auch den Sadismus erhöhte, der sich dahinter versteckte. Ich lachte, fragte mich aber, ob die Frau sich dessen bewusst oder auch nur halb bewusst war, dass man mit ihr spielte. Wusste sie, dass etwas an dieser Begegnung verkehrt war, so verkehrt wie ein fremdes Haar, das man auf seiner Wange findet? Warum fand ich das so lustig? Wenn ich daran zurückdenke, überkommt mich ein mulmiges Gefühl. Ich möchte nicht lachen. Ich fühle Schmerz. Einen wirklichen Schmerz im Herzen. Sanft. Aber echt.

Q.

Es war schon spät, als ich zum letzten Mal in mein Büro ging. Es war mir untersagt worden, es während des Arbeitstages zu betreten, und ich hätte das auch nicht gewollt, es wäre mir unangenehm gewesen. Der Geschäftsführer hatte den Sicherheitsbeamten angewiesen, mich hereinzulassen und auch wieder nach draußen zu begleiten. Die Kisten waren schon verpackt und verschickt worden, zuvor hatte meine Frau noch den Briefumschlag mit dem Bargeld, das ich für den Notfall in meinem Schreibtisch aufbewahrte, abgeholt. Selbst sie wollte keinen Fuß mehr in das Büro setzen. Der einzige Lektor, der uns freundlich gesinnt war, erklärte sich bereit, ihr den Umschlag an einem Kiosk auf dem U-Bahnsteig zu übergeben – ein farbloses Detail, das nur die Abscheu unterstreicht, die Carolina für alles empfindet, was mit meinem früheren Berufsleben zusammenhängt.

Wie auch immer, ich war ein letztes Mal hergekommen, um eine Orchidee abzuholen, die wie durch ein Wunder Monate stümperhaften Gießens überlebt hatte, und um zu sehen, ob es noch irgendeine Kleinigkeit gab, die ich zurückgelassen hatte. Es gab eine, tatsächlich gab es zwei – auch wenn sie nicht besonders klein waren und auch nicht von mir zurückgelassen worden waren.

Die erste war mein Namensschild, das seltsamerweise immer noch an der Wand neben meiner Bürotür hing und bedeutsam auf die Existenz des hier nun nicht mehr existenten Quinlan M. Saunders hinwies. Das Schild wirkte wie ein schlechter Scherz, besonders das streng schauende, vielleicht etwas prätentiöse »M.« traf mich wie ein Pfeil, als ich das Zimmer betrat, das einmal mein Büro gewesen war – wo auf dem Schreibtisch die zweite Überraschung auf mich wartete: eine Zigarettenschachtel. Die Originalverpackung war auf der einen Seite mit dem Bild eines knallroten Apfels vor weißem Hintergrund überklebt worden, auf der anderen Seite mit der Wortgleichung »Alltag = Entscheidungen«. Die roten und rosaroten Buchstaben waren wie ein Markenname auf der Schachtel platziert. Öffnete man sie, würde man nicht auf Zigaretten, sondern auf fünf kleine Papierröllchen stoßen, sorgfältig symmetrisch arrangiert. Wenn man sie aufrollte, stünden dort, in einfachen schwarzen Buchstaben, die Worte »Hässlichkeit oder Schönheit«, »Wahrheit oder Lüge«, »Mut oder Angst«, »Freundlichkeit oder Grausamkeit«, »Liebe oder          «. Der Platz für das letzte Wort auf dem letzten Röllchen wäre leer. Ich musste die Schachtel nicht aufmachen, ich erinnerte mich noch gut an sie. Ein empfindlicher Punkt – so empfindlich wie der Bauch, den der Arzt abtastet, während er fragt: »Tut das weh?«