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Österreich hat 8,6 Millionen Einwohner, im Vergleich zu 10,6 Millionen Tschechen, 5 Millionen Slowaken, 10 Millionen Ungarn, 2 Millionen Slowenen, 61,8 Millionen Italienern, 8 Millionen Schweizern, 81 Millionen Deutschen und 321 Millionen Amerikanern.
Die Österreicher haben schon viel Tinte darauf verwendet, die österreichische Identität zu ergründen. Gibt es sie wirklich? Sollte es sie überhaupt geben? Wird sie gestärkt oder schwindet sie? Beruht sie ausschließlich auf der Vergangenheit oder wird sie sich erst in der Zukunft zeigen? Hypochonder pflegen ihre körperlichen Gebrechen – die Österreicher pflegen ihre Identitätskrise.
Die österreichische Identität hängt irgendwo zwischen ihrer kaiserlichen Geschichte und der Zugehörigkeit zur eigenen Region. Ein englischer Historiker beschreibt das so: „In anderen Ländern sind Dynastien vorübergehende Episoden in der Geschichte von Völkern; bei den Habsburgern ist das Volk ein Störfaktor innerhalb der Geschichte der Dynastie.“ Die Republik Österreich wurde erst 1918 gegründet, nachdem die beiden Nationen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie unabhängig voneinander wurden. Der französische Staatsmann Georges Clemenceau kommentierte das (angeblich) etwas ruppig so: „L’Autriche, c’est ce qui reste“ – „Österreich, das ist das, was übriggeblieben ist.“
Ein deutscher Historiker bezeichnete einst nicht sehr schmeichelhaft die Bayern als das fehlende Bindeglied zwischen den Österreichern und menschlichen Wesen. Offensichtlich hatte er übersehen, dass die ersten Österreicher ursprünglich aus Bayern stammten, wenn man von ein paar vereinzelten Alemannen absieht.
Das Urteil der Deutschen über die Österreicher ist über die Jahre nicht milder geworden, obwohl Heerscharen von Deutschen sehr gerne zum Skifahren, Wandern und für Sex ins schöne Österreich kommen. Selbst der übergewichtige ehemalige deutsche Kanzler Helmut Kohl verbrachte regelmäßig seinen Sommerurlaub an den Seen Österreichs und versuchte dort vergeblich abzunehmen. Leider verstärkte dies noch das Image, dass Österreich das Land ist, in das man fährt, wenn man alles etwas locker angehen lässt – und dementsprechend die Österreicher auch nicht ganz ernst zu nehmen sind.
Die Deutschen unterstellen den Österreichern einen Hang zur Schlamperei, was diese wiederum gar nicht als Schwäche ansehen (diese Charaktereigenschaft wurde von einem tolerant gesinnten Engländer beschrieben als „eine Art Trägheit, eine entspannte Gelassenheit, die leicht zur Nachlässigkeit verkommen kann. Diese zieht sich von den obersten bis zu den untersten Gesellschaftsschichten und führt dazu, dass erstere Schlachten verlieren und letztere Botengänge vergessen“).
Die deutsche Meinung über die österreichische Inkompetenz hat ihren Ursprung zweifellos in der Geschichte, denn die Armeen der Habsburger verloren mit schöner Regelmäßigkeit Schlachten gegen die preußischen Truppen. Die schlimmste Katastrophe ereignete sich 1866 bei Königgrätz (Sadowa), als die österreichischen Soldaten mit ihren dekorativen, strahlend weißen Uniformen der gegnerischen Artillerie jegliche nur mögliche Unterstützung zukommen ließen und sich die österreichischen Generäle absolut nicht erklären konnten, warum sich der Gegner weigerte, sich an die sorgfältig zu Hause ausgeklügelten, raffinierten Schlachtpläne und Manöver zu halten. Einer der Kommandeure beklagte sich: „Auf dem Schmelz (dem damaligen Parade- und Exerzierplatz in Wien) hat das doch immer gut funktioniert.“ Für die Deutschen ist nicht nachvollziehbar, dass die Österreicher sich immer wieder daran ergötzen, diese Geschichte zu erzählen, obwohl sie sie in keinem vorteilhaften Licht erscheinen lässt. Für einen Preußen bedeutet Selbstironie in Bezug auf verlorene Schlachten eine Nachlässigkeit, die zu weiteren Niederlagen führen könnte.
Ein weiteres Vorurteil der Deutschen betrifft den legendären (und weitgehend erfundenen) Geiz der Österreicher, der die Schlussfolgerung zulässt, dass es wenigstens eine Nation gibt, die noch vorsichtiger mit Geld umgeht als die Deutschen selber.
„Ein Münchner fährt einen Wiener nach Hause. Der Wiener bietet nicht an, sich am Benzingeld zu beteiligen, außerdem verlangt er von dem Fahrer, einen Umweg über einen entlegenen Vorort zu machen, in dem er noch Geschäfte zu erledigen habe. In dem Vorort angekommen, stellt sich heraus, dass er zwölf Pfandflaschen im Kofferraum hat. Er will sie dort abgeben, weil er in einer Werbeanzeige des dort ansässigen Ladens gelesen hat, dass dieser 5 Cent mehr für die leeren Flaschen bezahlt als jeder andere Laden in Wien. Als er den Gesichtsausdruck seines Münchner Freundes sieht, bietet ihm der Wiener hastig an, das Benzingeld für den Umweg zu zahlen. Letztendlich kostete ihn diese Fahrt ungefähr 36 Euro, um 60 Cent zu sparen.“
Die Ungarn haben gelernt, ihre Nachbarn mit einer gewissen Zuneigung zu betrachten, besonders die Betreiber von Läden mit günstigen Computern und Gebrauchtwagenhändler. Die Einwohner Budapests leben Tag für Tag in froher Erwartung eines Geldsegens österreichischer Investoren oder wenigstens in der Hoffnung darauf. In den Grenzdörfern weisen deutsch beschriftete Schilder auf Friseure, Zahnärzte und andere obskure Geschäfte hin.
Abgesehen von der wirtschaftlichen Situation kommen auch österreichisch-ungarische Liebesbeziehungen vor. Die beträchtlichen Gemeinsamkeiten beider Nationen sorgen im Allgemeinen dafür, dass diese funktionieren. Ein Österreicher, der in die kontrollierte Hysterie einer ungarischen Familie einheiratet, fühlt sich direkt heimisch, nur mit einer kleinen Extraportion. Und ein Ungar wird feststellen, dass seine Schwiegerfamilie ihn mit Unmengen von schwerem, kalorienreichen Essen vollstopft, ganz wie Mama zu Hause.
Die Österreicher und Ungarn sind nicht durch eine gemeinsame Sprache getrennt wie etwa die Österreicher und die Deutschen oder die Engländer und die Amerikaner. Also lernt der Ungar Deutsch – für ihn die Sprache des Geldes und der Karrierechancen – und bezaubert alle mit seinem charmanten Akzent, garniert mit ein paar wundersamen ungarischen Ausdrücken. Keiner der österreichischen Verwandten ist so verrückt, es mit Ungarisch zu versuchen, weil das, wie allgemein bekannt, unmöglich ist. Also kann der Ungar weiterhin ungezwungen über das Telefon der Schwiegereltern mit seinen zwielichtigen Geschäftskumpels in Budapest sprechen.
Die Österreicher haben zu den Deutschen ein zutiefst gespaltenes Verhältnis und sind sich unschlüssig, ob sie sie als potentielle Retter oder potentielle Eroberer ansehen sollen. Es ist unmöglich, die schleichende Germanisierung der Wirtschaft gänzlich zu übersehen (große Teile der nationalen Presse und Fernsehsender sind in deutscher Hand und fast alle Autoren, die es zu etwas bringen wollen, bemühen sich, einen deutschen Verlag zu finden). Manchmal muss man die Deutschen eben tolerieren und anerkennen, weil sie Lösungen für Probleme bieten. Zum Beispiel werden häufig deutschen Akademikern Professuren für österreichische Universitäten angeboten, weil alle möglichen eigenen Kandidaten durch die politische Gemengelage blockiert sind. Daraus resultiert für die Österreicher ein Gefühl der Frustration: Ein Teil der österreichischen Psyche ist dazu bereit, einen deutschen Gelehrten im Vergleich zu den eigenen als bedeutender anzuerkennen, während ein anderer Teil ihrer Psyche die Deutschen für Piefkes hält (ein abfälliger Ausdruck, in dem die humorlose Arroganz der militaristischen Preußen mitschwingt).
Die anderen Nachbarn der Österreicher sind die Italiener, die Slawen, die Ungarn und die Schweizer. Mit den Italienern hätten sie ja ganz gut auskommen können, wenn diese nicht im Zuge eines schäbigen Deals mit den Alliierten im Ersten Weltkrieg Südtirol gestohlen hätten. Darüber kann man aber angesichts der Tatsache hinwegsehen, dass die Italiener die Österreicher traditionell mit Komponisten, Architekten, Diven und Eiscreme versorgten, die allseits beliebt sind. Auch schicken sie ganze Busladungen voller Touristen. Die Wiener Verkäufer (welche gerne nützliche Sprachen lernen) sind wahre Meister in der Kunst, die geneigte Aufmerksamkeit von sprachlich herausgeforderten Italienerinnen auf die teuersten Artikel zu lenken und sie ihnen zu verkaufen.
Im Gegenzug machten sich kränkelnde Nord- und Osttiroler zügig auf den Weg über die Grenze nach Südtirol, sobald sie herausfanden, dass dort manche Medikamente bis zu 40 % günstiger sind. Für die eigentliche medizinische Behandlung oder um sich die Zähne richten zu lassen, ist die schlaueste Lösung, für eine Stippvisite über die Grenze nach Ungarn zu fahren, wo Damen und Herren in weißen Kitteln und mit untadeligen Manieren nur darauf warten, ihre sprachlichen und sonstigen Kenntnisse an den preisbewussten Österreichern zu praktizieren.
Das Verhältnis zu den Slawen ist komplizierter. Die Tschechen waren zu Recht verärgert, als Kaiser Franz Joseph 1867 einen Pakt mit den Ungarn schloss und somit die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn begründete. Sie sahen nicht ein, wieso ihnen nicht die gleiche Behandlung zustand. (Antwort: Wenn man sich erst einmal mit den Slawen einlässt – wer weiß, wo das hinführt?)
Die anderen slawischen Nachbarn sind die Slowenen und die Slowaken. Die Slowaken (die immer noch von manchen, die nicht aufgepasst haben, mit den Tschechen verwechselt werden) sind sicherlich einer Erwähnung wert, aber das ist meistens auch schon alles, was sie bekommen.
Die Zuneigung zu den Schweizern (oder der Mangel an derselben) setzt sich aus einer Mischung aus Bewunderung, Neid und Verachtung zusammen. Natürlich hegen viele Leute den Schweizern gegenüber vergleichbare Gefühle, aber den Österreichern fällt es besonders schwer, ihre Verärgerung darüber zu verbergen, wie ihre Nachbarn Konflikte vermeiden und dabei unerträglich reich werden, sogar reicher als die Österreicher selbst.
Die Schweizer sind sich der latenten Animosität der Österreicher sehr wohl bewusst und bemühen sich, so taktvoll wie möglich damit umzugehen. Während sie einerseits kaum die Anzahl ihrer schneebedeckten Berge, die in Konkurrenz zu den österreichischen Skigebieten stehen, verringern können, können sie wenigstens zum Ausgleich ein paar diskrete Bankgeschäfte für Steuerflüchtlinge anbieten. Wenn Schweizer Unternehmen österreichische Firmen schlucken, wie es ab und zu vorkommt, legen sie ein gönnerhaftes Gebaren an den Tag, betonen ihre Rücksicht auf regionale Befindlichkeiten und stellen sich als verantwortungsvolle Partner dar, die großzügig ihre Expertise mit den österreichischen Partnern teilen.
Trotzdem hält sich eine gewisse Verbitterung. In der österreichischen Klatschpresse erschien an einem Wochenende ohne andere nennenswerte Ereignisse ein Artikel über ein Schwimmbad in Zürich, bei dem die Decke eingestürzt war; leider hatte es auch Tote gegeben. Eine elegante Dame, die in einem Wiener Café von der Tragödie las, murmelte: „Na, endlich ist den Schweizern auch mal etwas passiert.“
Österreich ist in neun Bundesländer unterteilt, deren Zugehörigkeitsgefühl zu Österreich immer dann am größten ist, wenn es um ihren Anteil am Bundeshaushalt geht.