Manfred Böckl

Das Amulett
aus Keltengold

Eine Zeitreise durch
Altbayerns Geschichte
von der Antike bis zur Gegenwart

Episodenroman

Für meinen Freund Karl Graf aus Grafenau,
der mir während der Arbeit an diesem Buch
sehr selbstlos meinen Computer bezähmte.

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ISBN 978-3-86646-709-5

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Titelbild: „Flora“, um 1515/20. Tizian, eigentl. Tiziano Vecelli (o) um 1487/90 – 1576. Öl auf Leinwand – akg-images

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

www.gietl-verlag.de

© SüdOst-Verlag in der H. Gietl Verlag & Publikationsservice GmbH, Regenstauf

Inhalt

Die Wildbachschlucht
Keltische Epoche/La-Tène, 113 v. d. Z. bis 15 v. d. Z.

Das Kohortenlager
Römische Kaiserzeit, 15 v. d. Z. bis 170 n. d. Z.

Die steinerne Stadt
Römische Kaiserzeit/Frühmittelalter, 170 bis 533

Der Waffenknecht
Frühmittelalter, 648 bis 658

Die Urkirche
Frühmittelalter, 852 bis 960

Der Minnesänger
Hochmittelalter, 960 bis 1136

Die Hussitenschlacht
Spätmittelalter, 1299 bis 1435

Der Pulverwagen
Spätmittelalter/Frühe Neuzeit, 1503 bis 1648

Die Rebellen
Frühe Neuzeit/19. Jahrhundert, 1705 bis 1896

Der Judenfriedhof
20. Jahrhundert, 1914 bis 1989

Epilog
Gegenwart

Glossar

Die Wildbachschlucht

Keltische Epoche/La-Tène
113 v. d. Z. bis 15. v. d. Z.

Der etwa vierzigjährige Mann lauerte hinter einem Felsklotz am Rand eines kaum sichtbaren Jägerpfades. In seinen Augen lag etwas Gehetztes, Unstetes. Sein langes, verfilztes Haar fiel ihm bis auf die Schultern, sein hageres Gesicht war von einem wilden Bart überwuchert. Seine ruppig wirkende Fellkleidung war an verschiedenen Stellen versengt; ganz so, als hätten sich Feuerfunken in den Pelz gefressen. In einem rohledernen Gurt, der keine Schnalle besaß, sondern lediglich durch einen derben Knoten geschlossen war, trug der Abgerissene ein Kurzschwert ohne Scheide. In der Rechten hielt er einen Schleuderriemen mit einer grob zugeschnittenen Lasche, in der Linken ein paar kantige, nussgroße Steine.

Der noch junge, kaum zwanzigjährige Jäger, der sich dem Felsblock näherte, ahnte nichts von der Anwesenheit des anderen Mannes. Sorglos, mit den federnden Schritten des Waldläufers, pirschte er dahin. Seinen Bogen mit den schlangenförmig geschwungenen Enden hielt er schussbereit; der Pfeil, den er auf der Sehne hatte, trug rabenschwarzes Federwerk. Die Haare des Jägers hingegen, die im Nacken zusammengebunden waren, leuchteten in goldenem Rotblond, und auch seine Augen waren hell: von lichtem Blaugrün.

Jetzt, da er sich dem Felsklotz näherte, ging es ihm durch den Kopf: Wenn ich den Hirsch erlegen kann, den ich schon seit dem Morgen verfolge, werde ich Ehre im Dorf gewinnen. Schon lange ist es keinem mehr geglückt, einen solch prächtigen Achtzehnender zu erbeuten. Der Druide wird mir erlauben, das prachtvolle Geweih als Gabe an die Gottheiten im heiligen Hain aufzuhängen. Und meine Daira wird stolz auf mich sein und mir freudig die Liebeslust …

Ein schmetternder Schlag traf den Schädel des Jägers. Mit einem erstickten Schrei stürzte er zu Boden, verlor das Bewusstsein und blieb regungslos liegen. Der Abgerissene wiederum, der hinter dem Felsen gelauert und den Kantstein geschleudert hatte, kam nun herbeigerannt und beugte sich über den Gefällten. Er sah die Platzwunde auf der Stirn des Jägers, sah Blutspritzer auf dessen rehledernem Gewand und stieß triumphierend hervor: „Ich habe ihn erwischt, den Narisker! Besser hätte es nicht ablaufen können!“

Dann tastete er nach der Halsschlagader des Jägers, um zu prüfen, ob noch Leben in ihm war. Als der Wegelagerer hektischen Pulsschlag spürte, zog er sein Kurzschwert aus dem Gürtel. „Du wirst nicht leiden“, murmelte er. „Wirst wie im Traum in die Anderswelt wandern …“ Er hob die Klinge, um zuzustoßen – doch im selben Moment kam der Rotblonde wieder zu sich, reagierte blitzschnell und packte den Arm des anderen.

Der nun folgende Kampf war brutal. Zunächst schien es, als würde der Abgerissene die Oberhand behalten; mehrmals sah es so aus, als könnte er doch noch einen tödlichen Stich anbringen. Dann aber gelang es dem Jäger, seinem Feind einen harten Fußtritt in den Unterleib zu versetzen. Mit einem Schmerzensschrei prallte der Abgerissene zurück – und dies ermöglichte es dem Rotblonden, sein Waidmesser an sich zu reißen, das in einer Außenscheide am Pfeilköcher steckte. Damit war der Jäger seinem Feind von der Bewaffnung her ebenbürtig; es kam zu einem wütenden Gefecht mit klirrenden Klingen, und zuletzt schaffte es der Rotblonde, dem anderen eine Fleischwunde am linken Oberarm beizubringen.

Angesichts dessen ergriff der Wegelagerer die Flucht. Der Jäger verfolgte ihn, hetzte ihn an dem Felsklotz vorbei und trieb ihn jenseits des Steinblocks an den Rand einer schmalen Klamm, in deren Tiefe ein Wildbach schäumte. Dort raffte sich der Abgerissene noch einmal zum Widerstand auf; abermals verbissen sich Kurzschwert und Waidmesser ineinander – bis es dem Rotblonden schließlich glückte, seinem Gegner die Waffe aus der Faust zu prellen. Das Schwert wirbelte in die Wildbachklamm und blieb unten am Wassersaum liegen; der Wegelagerer wandte sich erneut zur Flucht. Doch jetzt hatte der Jäger leichtes Spiel mit ihm; der Rotblonde traf seinen Feind mit der flachen Klinge an der Schläfe, warf den Halbbetäubten zu Boden und fesselte ihm dann die Arme mit einem Lederriemen, den er aus seiner Jagdtasche zog.

Es dauerte eine Weile, ehe der Abgerissene seine Betäubung abschüttelte; als seine Augen wieder klar geworden waren, herrschte ihn der Jäger an: „Wer bist du?! Was hat dich dazu getrieben, mich so feige aus dem Hinterhalt zu überfallen?!“

„Ich heiße Jircu …“, murmelte der Besiegte.

„Ein fremdartiger Name“, versetzte der Rotblonde. „Du gehörst wohl nicht zum Stamm der Narisker wie ich?“

„Nein“, lautete die Antwort. „Ich komme aus einem Land weit im Nordosten.“

„Dann bist du ein Boier?“, erkundigte sich der Jäger.

Der Gefesselte schüttelte den Kopf. „Der Volksstamm … dem ich einst angehörte, lebt östlich der Boier.“

Der Rotblonde kniff die Brauen zusammen. „Du sagst, du gehörtest diesem fremden Stamm an. Heißt das, deine Leute haben dich ausgestoßen?“

„Ja“, gestand der Abgerissene.

„Dann hast du dich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht, stimmt’s?!“ Der Jäger stellte die Frage in scharfem Tonfall. „Ebenso wie auch heute wieder!“

Als der Wegelagerer mit verspannten Lippen schwieg, forderte der Rotblonde: „Raus mit der Sprache! Was hast du in deinem Heimatland angestellt?!“ Er drückte dem anderen die Spitze des Waidmessers in die Halsgrube. „Rede, oder …“

„Mein Weib“, presste der Abgerissene heraus. „Meine Ehefrau. Sie trieb mich zu meiner Tat. Betrog mich mit einem Kerl, den ich zutiefst hasste …“ Er verstummte, holte wie gequält Luft und fuhr, während der Jäger seine Waffe zurückzog, fort: „Ich erwischte die Hure und ihren Beschäler in einer Feldscheune. Sah, wie sie ihre Lust genossen. Und der Anblick war so furchtbar für mich, dass ich den Verstand verlor. Dass ich mit der Axt, die ich bei mir trug, zuschlug. Wieder und wieder …“

Der Rotblonde starrte auf den Gefesselten. „Du hast sie … beide …“

Der Wegelagerer nickte. „Ich tötete sie und ihn. Erst als ich sie alle zwei in ihrem Blut liegen sah, kam ich wieder zu mir. Und dann dachte ich nur noch an Flucht. Ich rannte in die Wälder, verkroch mich im wilden Forst. Doch bald kamen die Verfolger aus meinem Dorf. Sie hatten Hunde auf meine Fährte gesetzt, die spürten mich auf, und so konnten die Häscher mich fangen. Sie brachten mich zu unserer Ansiedlung, und dort wurde Gericht über mich gehalten. Der Urteilsspruch der Dorfältesten lautete, dass ich nicht länger unter den Menschen geduldet werden könne und deshalb wieder hinaus in die Wildnis gejagt werden müsse. So wurde ich zum Ausgestoßenen und ziehe seitdem, länger als ein Jahr schon, friedlos umher.“

Nachdem der Abgerissene geendet hatte, blieb es eine Weile still; schließlich äußerte der Jäger: „Du bist sehr weit gewandert. Hast dein Heimatland verlassen, hast das Stammesgebiet der Boier durchquert, bist über die von Urwäldern bedeckten Grenzberge der Boiergegenden tief ins hiesige Nariskerland vorgedrungen …“ Beinahe anerkennend hatten die Worte des Rotblonden geklungen; nun aber setzte er zornig hinzu: „Doch vorhin, du Wahnsinniger, hast du erneut einen Mordanschlag ins Werk gesetzt!“

Der Abgerissene duckte sich zusammen; gleich darauf hörte er den Jäger fragen: „Warum hast du mich angegriffen?! Was hat dich dazu getrieben?!“

„Dein Bogen“, erwiderte der Gefesselte. „Er fiel mir sofort auf, als ich dich heute Morgen in der Nähe deines Dorfes aus einem Versteck heraus erblickte. Ich sah, dass du eine besonders gute Waffe führtest, und dachte mir, sie könnte mir das Dasein in der Wildnis erleichtern. Denn bislang vermochte ich nur Kleintiere in Fallen zu fangen, um mich zu ernähren. Doch wenn ich in den Besitz deines Schlangenbogens gekommen wäre, hätte ich Großwild erlegen und es mit Hilfe meines Kurzschwerts auch ausweiden können.“

„Das Schwert hast du wohl auch geraubt, oder?!“, schnappte der Rotblonde.

„Nein!“, beteuerte der andere. „Es ist keine sonderlich wertvolle Klinge, und sie stammt von einem fahrenden Händler im Land der Boier, der sie mir aus Mitleid gegen einen Packen Fuchs- und Hasenpelze überließ.“

„Aha …“, kam es aus dem Mund des Jägers; der Ausgestoßene schien mit sich zu ringen, dann sagte er mit belegter Stimme: „Jetzt kennst du meine traurige Geschichte … Und ich kann dich nur bitten, mir Barmherzigkeit zu erweisen …“

Scharf fasste ihn der Rotblonde ins Auge. „Um meines Bogens willen hättest du mich eiskalt umgebracht! Und ich soll dich verschonen?!“

Der Gefesselte senkte die Lider. „Du hättest das Recht, mich zu töten … Aber ich schwöre dir: Wenn du mich hinschlachtest, dann wird dich diese Tat bis ans Ende deines Lebens verfolgen und quälen. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich muss dieses grauenhafte Leid tragen, seit ich meine Frau und ihren …“

Er verstummte, unterdrückte ein Schluchzen. Der Jäger schaute unschlüssig in Richtung des Felsklotzes, dann äußerte er: „Ich kenne Krieger, die mehr als einen Mann getötet haben. Und sie haben Ruhm dadurch geerntet. Sie empfinden keine Seelenqualen, sondern erfreuen sich an den Köpfen der von ihnen überwundenen Feinde, die sie in ihren Häusern aufbewahren.“

„Diese Schädel gehörten Männern, die im Kampf fielen“, wandte der Gefesselte ein. „Ich hingegen liege wehrlos vor dir, und du würdest keine Ehre gewinnen, falls du mich …“

Abermals starrte der Rotblonde zum Felsen. Lange blieb es still am Saum der Klamm; endlich gab sich der Jäger einen Ruck und erklärte: „Wenn du versprichst, künftig nichts Böses mehr zu tun, lasse ich dich laufen. Dein Schwert allerdings werde ich an mich nehmen, damit du nicht erneut in Versuchung …“

„Ich schwöre dir bei meinen und deinen Gottheiten, mir die Hände nie wieder mit Blut zu beflecken!“, fiel der Heimatlose dem Rotblonden ins Wort.

„Gut“, versetzte der Jäger. Er löste den Lederriemen von den Armen des anderen, wartete, bis dieser aufgestanden war, und fügte hinzu: „Geh deines Weges und lass dich nie wieder in dieser Gegend blicken. Wandere weiter und versuche, irgendwo in der Ferne ein Unterkommen bei Menschen zu finden, die nichts von deiner Vergangenheit wissen. Sofern die Gottheiten es wollen und du ihre Gnade verdienst, wird dir dann Frieden geschenkt werden. Falls du jedoch deinen Eid brichst, soll dich nichts mehr vor der Strafe der höheren Mächte schützen!“

„Ich danke dir für dein Erbarmen“, flüsterte der Abgerissene. Dann untersuchte er seine Armwunde, die nicht sehr tief war, seufzte erleichtert auf und machte sich eilig davon.

Der Rotblonde schaute ihm nach, bis er in einiger Entfernung nahe eines Windwurfes in einem Hangwald verschwand. Als der Heimatlose nicht mehr zu sehen war, begab sich der Jäger zurück zu der Stelle, wo ihn der Schleuderstein getroffen hatte. Dort lag sein Bogen auf der Erde, den er zu Beginn des Kampfes mit dem Abgerissenen verloren hatte. Die Waffe war unbeschädigt; der Rotblonde hängte sich den Schlangenbogen über die Schulter und ging wieder zu dem Platz, wo er seinen Gegner endgültig besiegt hatte. Vom Rand der Klamm aus spähte er in die Tiefe und machte nach einer Weile das Kurzschwert aus, das er dem Heimatlosen aus der Faust geprellt hatte.

Nachdem er nochmals einen forschenden Blick zum Hangwald in der Ferne geworfen hatte, kletterte der Jäger in die Kluft hinab. Der Abstieg war nicht leicht, doch schließlich hatte der Rotblonde ihn geschafft. Das Schwert hatte sich zwischen zwei Steinbrocken am Saum des gurgelnden und schäumenden Gewässers festgeklemmt; der Jäger zog es aus der feuchten Spalte und betrachtete es nachdenklich.

Die Waffe besaß, ganz wie der Besiegte gesagt hatte, keinen großen Wert. Die Schneide trug mehrere hässliche Scharten; da und dort hatte sich Rost in die Klinge eingefressen, und der hölzerne Schwertgriff war schmucklos und vom Alter dunkel, fast schwarz, geworden.

Ich werde den Schmied in meinem Dorf bitten müssen, die Schäden am Eisen zu beseitigen, ging es dem Jäger durch den Kopf. Er wischte die Schwertklinge an seinem Ärmel trocken und versuchte, ob er die Waffe im Pfeilköcher unterbringen konnte. Der Platz neben den Pfeilen reichte aus; der Rotblonde nickte zufrieden und rückte den Köcherriemen über der Schulter zurecht. Danach wollte er sich zurück zur Klammwand begeben, um wieder nach oben zu klettern – doch plötzlich stutzte er und starrte wie gebannt auf einen Fleck zu seinen Füßen.

Aus grauem Steingrus heraus schimmerte es gleich warmem Sonnenlicht; als der Jäger niederkniete, erkannte er, dass er auf einen Goldklumpen gestoßen war. Ein heißes Glücksgefühl übermannte ihn; hastig griff er nach dem Edelmetall, das vom Wildbachwasser rundgeschliffen worden war und die Größe eines Taubeneis besaß. Der Klumpen wog schwer zwischen den Fingern des Rotblonden, seine Oberfläche fühlte sich auf seltsame Weise weich und warm an. So jedenfalls empfand es der Jäger, und im nächsten Moment hatte er ein Bild vor Augen: Wie sich der Goldklumpen zu einem Schmuckstück verwandelte und von seiner Gemahlin Daira getragen wurde.

Der Rotblonde lachte freudig auf, dann verwahrte er den Fund in seiner Umhängetasche und erklomm die Kluftwand. Droben überlegte er, ob er die Pirsch auf den Achtzehnender fortsetzen sollte. Letztlich aber sagte er sich, dass der Hirsch vermutlich durch den Lärm des Zweikampfes verscheucht worden war. Außerdem drängte es den Jäger, in sein Dorf heimzukehren, wo ihn die anderen Narisker gewiss wegen seines außergewöhnlichen Goldfundes feiern würden. „Auf die Fährte des Prachthirsches werde ich, so es der Wille des Gottes Cernunnos ist, auch später wieder stoßen“, murmelte er – gleich darauf trat er eilig den Rückweg zu seinem Heimatdorf an.

***

Die Sonne stand bereits tief am westlichen Horizont, als der Rotblonde die Ansiedlung erblickte. Sie ähnelte den vielen anderen Dörfern der Narisker, die sich in den Landstrichen nördlich des großen Danouios-Stromes in die kleineren Fluss- und Bachtäler schmiegten oder auf Hügelkuppen erbaut worden waren.

Um einen Anger gruppierten sich mehrere Dutzend reetgedeckter Häuser, deren Außenwände aus Eichenpfosten und hölzernem Flechtwerk bestanden, das mit einem Gemisch aus Lehm und Rinderdung verstrichen war. Neben den Wohnhäusern gab es einfachere Stallgebäude, Verschläge für Federvieh und Hürden für das Milchvieh; dazu Vorratshäuser für Korn und Hülsenfrüchte, die auf Stelzen errichtet waren, damit Mäuse oder Ratten von den Lebensmitteln weiter oben in den Lagerkammern ferngehalten wurden. Rings um die Ansiedlung zog sich ein mannshoher Erdwall mit vorgesetztem Graben, der von einem Palisadenzaun gekrönt wurde. Zwei Toreinschnitte, einer im Süden und einer im Norden, dienten als Zugänge zum Dorf. Außerhalb erstreckten sich Wiesen, Äcker und umzäunte Weideflächen, auf denen Pferde, Esel, einzelne Stiere, Jungrinder, Schafe und Ziegen grasten, und eben als der Jäger das Nordtor erreichte, trieben einige Burschen eine Schweineherde von einem nahen Waldstück heran, wo die Tiere tagsüber nach Eicheln und Bucheckern gesucht hatten.

Der Rotblonde durchschritt das Tor; ein älterer Mann mit bereits ergrautem Bart, der mit zwei anderen auf einer Rasenbank am inneren Erdwall saß, begrüßte ihn mit den Worten: „Du kommst ohne Beute heim, Aragh. Das ist doch sonst gar nicht deine Art. Ist dir etwa ein Missgeschick zugestoßen?“

„Sagen wir, ich hatte einen sehr aufregenden Tag“, antwortete der Jäger. „Zum einen musste ich meine Waffenkunst unter Beweis stellen, zum anderen machte mir Lugh ein reiches Geschenk – und angesichts dessen blieb mir nicht ausreichend Zeit für das Waidwerk.“

„Das hört sich ganz so an, als würden wir eine spannende Geschichte von dir zu hören kriegen“, äußerte der Graubärtige. „Los, lass uns hinüber zum Anger gehen und die anderen Dorfleute dort zusammenrufen, damit alle mitbekommen, was du zu berichten hast.“

Aragh war einverstanden; wenig später stand er, seine hübsche Gemahlin Daira neben sich, in der Mitte der Angerwiese und erzählte den Dorfbewohnern, die ihn dichtgedrängt umringten, von seinem Kampf gegen den Fremden und vom Fund des Goldklumpens. Zuletzt zeigte er das Kurzschwert vor und schloss: „Diese Waffe beweist die Wahrheit meiner Worte, und wenn ihr nun einzeln zu mir kommt, sollt ihr auch einen Blick auf das Sonnenmetall werfen dürfen.“

Als erste begutachteten der Druide und der Dorfhäuptling das Gold; anschließend taten es ihnen die übrigen Narisker nach, und als alle ihre Neugier gestillt hatten, fragte der geistige Führer der Dorfgemeinschaft: „Was wirst du mit dem Flussgold anstellen, Aragh?“

„Es wurde mir vom Sonnengott geschenkt … und deshalb sollte ich es vielleicht im heiligen Hain niederlegen, um wiederum Lugh und seine göttlichen Verwandten zu ehren“, erwiderte der Jäger in etwas unsicherem Tonfall. Er zögerte, schaute auf die Frau an seiner Seite und dachte in einer heißen Aufwallung: Wie sehr ich alles an ihr liebe! Ihr dunkelbraunes Haar, ihre blauen Augen, ihren schlanken Körper. Dazu das feine Muttermal an ihrer Schläfe, das einem Halbmond gleicht und ihrem Antlitz diesen ganz besonderen Reiz verleiht …

Er riss sich los, wandte sich wieder dem Großen Wissenden zu und fuhr fort: „Aber eigentlich war mein erster Gedanke, als ich das Sonnenmetall in der Hand hielt, dass es zu einem wunderschönen Schmuckstück für Daira werden könnte.“

„Und nun weißt du nicht, wie du dich entscheiden sollst“, kam es vom Häuptling.

„So ist es“, gestand der Jäger.

Daraufhin schmunzelte der Druide, legte Aragh freundschaftlich die Hand auf die Schulter und sagte: „Einerseits möchtest du den Gottheiten dienen, andererseits deine Liebe zu Daira ausdrücken. Beides ist verdienstvoll, und zudem müssen sich deine guten Absichten gegenseitig nicht ausschließen. Denn es gibt einen Weg, der es dir erlaubt, das eine zu tun ohne das andere zu lassen.“

„Wie sollte das möglich sein?“, fragte Daira erstaunt.

„Morgen werde ich mit deinem Gemahl in den geweihten Hain gehen und es ihm dort erklären“, beschied sie der Druide. Dann blickte er in die Runde und rief: „Jetzt aber lasst uns den Göttinnen und Göttern für die glückliche Heimkehr Araghs danken. Denn ohne ihren Schutz hätte der beste Jäger unseres Dorfes heute womöglich sein noch junges irdisches Leben verloren. Und dies hätte große Trauer für uns alle bedeutet, denn es gibt keinen unter uns, der Aragh nicht wohlgesonnen ist.“

***

Am darauffolgenden Tag wanderten der Druide und Aragh zum heiligen Hain, dessen helle Birken, mächtige Eichen und dunkle Eiben ein Stück vom Dorf entfernt auf der Kuppe eines Hügels wuchsen. Der Pfad, der in das Sakralwäldchen führte, war von Steinsetzungen gesäumt; im Inneren des Gehölzes hingen Opfergaben an verschiedenen Bäumen: Sträuße von Feldblumen, vorjährige Korngarben, deren Körner mittlerweile ausgefallen waren, Schmuckketten aus den Schalen von Flussmuscheln; dazu vereinzelte Jagdtrophäen sowie etliche Waffenstücke, die ein Jahrzehnt zuvor von Kriegern des Dorfes erbeutet worden waren, als eine Raubhorde von Fremden die Gegend heimgesucht hatte.

Inmitten des Hains gab es einen kleinen Teich, dessen Ufersaum von weißen Kieseln bedeckt und dessen Wasser von tiefem Schwarz war. Dort ließen sich die beiden Männer auf einer niedrigen Moosbank nieder, und nachdem sie still zu den Andersweltlichen gebetet hatten, erläuterte der Druide dem Jäger, was er am vergangenen Abend mit seinen rätselhaften Sätzen gemeint hatte.

Aufmerksam lauschte Aragh den Worten des Großen Wissenden; zuletzt versprach er: „Sehr gerne werde ich tun, was du mir geraten hast. Und ich danke dir dafür, dass du mir den richtigen Weg gewiesen hast.“

„Wenn wir die Gottheiten lieben und uns mit ihrem Wesen in Einklang bringen, zeigen sie uns den Pfad, den wir gehen sollen, immerdar“, antwortete der Druide.

Mit versonnener Miene nickte der Jäger; danach blieben die beiden Männer noch eine Weile am Teichufer sitzen, ehe sie sich wieder erhoben, um ins Dorf zurückzukehren.

Auf dem dortigen Anger angelangt, verabschiedete sich Aragh von dem Großen Wissenden und ging zu seinem Haus, wo sich das erbeutete Kurzschwert und der Goldklumpen befanden. Als er eintrat, fragte ihn Daira neugierig, was der Druide und er besprochen hatten. Aragh indessen erwiderte lediglich: „Du wirst es erfahren, wenn die Zeit gekommen ist.“ Gleich darauf, weil sich die Braunhaarige damit nicht zufriedengeben wollte, verschloss er ihr den Mund mit einem langen Kuss, nahm sodann ohne ein weiteres Wort das Schwert und das goldene Kleinod an sich und verließ das Haus wieder.

Er durchquerte die Ansiedlung und kam zum Anwesen des Dorfschmieds. Der Handwerker, der sowohl mit Eisen als auch mit Bronze zu arbeiten pflegte, war gerade damit beschäftigt, ein Pferdejoch mit Schmuckplatten aus Bronzeblech zu verschönern. Als ihm Aragh das Kurzschwert und den Goldklumpen vorwies, legte er sein Werkzeug beiseite und erkundigte sich: „Was kann ich für dich tun? Ich nehme an, du wirst es nun wissen, nachdem du dich mit dem Druiden ausgetauscht hast.“

Der Jäger bestätigte es, dann teilte er dem Schmied seine Wünsche hinsichtlich der Waffe und des Sonnenmetalls mit. Zuletzt nickte der Handwerker und äußerte: „Ich denke, dass ich die Scharten und Rostschäden an der Schwertklinge ohne große Mühe ausbessern kann. Was hingegen das Gold angeht, so werde ich wohl einige Zeit benötigen, bis ich die schwierige Arbeit abgeschlossen habe.“

„Gut Ding will Weile haben“, erwiderte Aragh. „Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Wichtig ist nur, dass dein Werk meisterlich gelingt. Und wenn du es geschafft hast, will ich dich auch anständig entlohnen.“

„Mit ein paar Wildhasen wird’s nicht getan sein“, versetzte der Schmied. „Einen feisten Hirsch und vielleicht eine stramme Wildsau dazu erwarte ich mir schon von dir.“

„Das sollst du bekommen“, versprach der Jäger; sodann übergab er dem Handwerker das Schwert und den Goldklumpen, verabschiedete sich und begab sich zurück zu seinem Haus.

Einen halben Mondlauf danach konnte Aragh die nun wieder ansehnliche Waffe und das goldene Kleinod beim Dorfschmied abholen. Als er sah, was der Handwerker aus dem vom Bachwasser rundgeschmirgelten Edelmetallklumpen gemacht hatte, kannte seine Begeisterung keine Grenzen. Wieder und wieder lobte er die Arbeit des Schmieds; zuletzt schlug er den goldenen Gegenstand in ein mitgebrachtes Wolltuch ein, ergriff das Kurzschwert – und konnte es kaum erwarten, zu Daira heimzukehren.

Die Braunhaarige saß am offenen Herdfeuer. Mit freudiger Erwartung in ihren blauen Augen blickte sie Aragh an, als dieser sich bei ihr niederließ, das Schwert beiseite legte und dann das Tuch öffnete. Als das goldene Kleinod im Licht der Feuerflammen zu funkeln begann, stieß Daira einen Ruf des Entzückens aus – und das war kein Wunder, denn der Dorfschmied hatte ein Schmuckstück von seltener Schönheit geschaffen.

Er hatte den Goldklumpen in ein rundes Amulett von der Größe eines mittleren Apfels verwandelt, und auf der feinpolierten Edelmetallscheibe schimmerte eine perfekt geformte Triskele: drei weich nach den Amuletträndern hin ausschwingende Bögen, die alle aus dem Mittelpunkt der Goldscheibe herauswuchsen und jeweils den gleichen Abstand voneinander hatten. Diese Triskelenarme waren mit fein eingepunzten Ornamenten verziert; dasselbe galt für den Randsaum des Amuletts, und oben an dem Schmuckstück war ein Ring angebracht, durch den eine Kordel gezogen werden konnte.

Nun reichte Aragh das Kleinod seiner Frau und sagte dabei: „Ganz nach dem weisen Rat des Druiden hat der Schmied dieses Amulett angefertigt. Und von heute an soll es dir gehören, damit sich die Schönheit des Goldes mit deinem Liebreiz verbinden kann, mein Herz.“

Dairas Augen wurden feucht; zärtlich küsste sie ihren Gemahl, dann flüsterte sie: „Du wolltest, als du damals nach deinem Abenteuer ins Dorf zurückkehrtest, mit dem Sonnenmetall die Gottheiten ehren. Andererseits wolltest du mit Hilfe des Goldes aber auch deine Liebe zu mir ausdrücken. Dies erkannte an jenem Tag unser Druide, und er wusste ebenso, dass sich beide Absichten vereinen lassen würden. Später sodann, als ihr zusammen im heiligen Hain wart, wies er dir den Weg, wie dies zu erreichen sei. Und ich begreife jetzt, was der Große Wissende dir aufgab …“

Aragh tastete nach ihrer Hand. „Er sprach folgendermaßen zu mir: Mit deiner Liebesgabe an Daira sollst du auch die Dreifache Göttin ehren. Deshalb soll das Schmuckstück, das du für deine geliebte Frau anfertigen lässt, die Dreiheit der Göttin nachbilden. Den heiligen Dreiklang des Lebens, den die Göttin behütet; den Dreiklang, der aus Jugend und Reife und am Ende aus Alter und Tod besteht. In allen unseren Daseinsabschnitten ist die Göttin bei uns, und sie führt uns über den Tod auch hin zur Wiedergeburt. In diesem Wissen soll Daira den Schmuck aus dem Sonnenmetall tragen; auf diese Weise soll sie und sollst auch du die Göttin preisen – und mit ihr Lugh, Cernunnos, Taranis und alle ihre anderen göttlichen Verwandten.“

Eine Weile schwieg das Paar in tiefer Versonnenheit; schließlich schmiegte sich die Braunhaarige an ihren Gemahl, küsste ihn lange und innig und raunte ihm danach ins Ohr: „Ich bitte dich, mir das Amulett umzulegen.“

Aragh zog eine hübsche Kordel aus der Tasche, die er bereits vorbereitet hatte, und fädelte sie durch den Ring des Schmuckstücks. Dann wollte er das Halteband über Dairas Nacken gleiten lassen – doch sie wehrte lächelnd ab: „Nicht so, mein Geliebter.“

„Wie denn?“, fragte Aragh verwundert.

„Warte“, kam es von der Braunhaarigen. Damit erhob sie sich, ging zur Tür des Hauses, schob den Riegel vor und kam ans Feuer zurück. Dort, im spielenden Schein der Flammen, ließ sie ihr Gewand fallen; als sie nackt vor Aragh stand, forderte sie ihn auf: „Nun sollst du mich mit deiner goldenen Gabe schmücken.“

Aragh gehorchte; als er das Amulett zwischen den Brüsten seiner Gemahlin schimmern sah, wuchs seine Sehnsucht nach ihr ins Unermessliche – und wenig später liebte sich das Paar in unendlich beglückender, von der Göttin geschenkter Lust.

***

Binnen Jahresfrist wurde dem Jäger und seiner Gemahlin ein erstes Kind geboren: eine gesunde Tochter. Ein Sohn und abermals ein Mädchen folgten, und die Kinder wuchsen behütet in der Ansiedlung der Narisker heran. Als sein Stammhalter das Jünglingsalter erreicht hatte, führte ihn Aragh als seinen Gehilfen in die Kunst des Waidwerks ein, und bald wurde der junge Mann ein ebenso guter Jäger wie sein Vater. Dairas und Araghs Töchter wiederum verheirateten sich, als sie erwachsen geworden waren, mit tüchtigen jungen Männern aus dem Dorf: die Erstgeborene mit einem Krieger, die Jüngere mit einem Sohn des Häuptlings.

Abermals nach einem Jahrzehnt waren der nunmehr schon alternde Jäger und sein Weib bereits mehrfache Großeltern geworden – und gegen Ende ihres irdischen Lebens beschlossen Daira und Aragh, dass das goldene Amulett nach ihrem Tod von ihrem Stammhalter getragen werden sollte, der viele Jahre zuvor zum Schwiegersohn des Druiden geworden war.

Fast vier Jahrzehnte nachdem er den Kampf mit dem von seinem Stamm Ausgestoßenen bestanden hatte, verstarb der Jäger Aragh. Daira folgte ihm bald darauf in die Anderswelt, und damit ging die von der Triskele geschmückte Goldscheibe in die Hände ihres Sohnes über.

Dieser war mittlerweile als Händler, der jeden Sommer mit seinen Gehilfen und Packtieren durch die Landstriche nördlich und südlich des Danouios-Stromes zog, wohlhabend geworden. Das Amulett schien ihm Glück zu bringen, denn er hatte nicht nur Erfolg bei seinen Geschäften, sondern durfte auch eine lange Friedenszeit erleben, in der anders als manchmal in früheren Epochen keine Stammesfehden ausbrachen oder fremde Mord- und Raubhorden ins Siedelgebiet der Narisker einfielen. Dann jedoch, als der Träger des Triskelenamuletts in seinem sechsten Lebensjahrzehnt stand und allmählich die Gebrechen des Alters spürte, kamen grauenhafte Nachrichten ins Nariskerland und zu den benachbarten Keltenstämmen.

Weit im Westen, jenseits des Rhenos-Stromes und der gen Sonnenuntergang weisenden Ausläufer des großen europäischen Zentralgebirges, tobten fürchterliche Schlachten zwischen den dort lebenden Kelten und römischen Legionen, die unter dem Befehl eines blutsäuferischen Kriegsherrn namens Caesar in die keltischen Ländereien einmarschiert waren. Zu Hunderttausenden wurden die Stammeskrieger der Kelten und ihre Angehörigen abgeschlachtet; ganze Volksstämme waren bereits ausgerottet oder in die Fremde vertrieben worden, und der Fernhandel der Weststämme, der einst weithin geblüht hatte, war durch den Krieg völlig zum Erliegen gekommen.

Dies wirkte sich auch verheerend auf die großen wirtschaftlichen Umschlagplätze am Danouios aus. Die ehemals mächtige Handelsstadt Aramosbona, wo vor Beginn des Mordens im Westen um die zehntausend Menschen gelebt hatten, verödete. Ähnliches geschah an der Spitze des Danouios-Nordknies, wo die Bewohner aus dem Handelsort Radasbona abwanderten, weil sie dort ihren Lebensunterhalt nicht mehr zu verdienen vermochten. Vor allem das bescherte auch dem Sohn Dairas und Araghs schwere geschäftliche Rückschläge, doch konnte er sich letztlich, wenn auch sehr viel bescheidener denn früher, als Händler behaupten, bis ihn am Ende während einer Handelsfahrt durchs östliche Nariskergebiet ein jäher Tod ereilte.

Wenige Jahre nach dem plötzlichen Hinscheiden des einstmals wohlhabenden Handelsherrn wurde der Massenmörder Caesar in Rom von Männern erdolcht, die scheinbar seine Vertrauten und Verbündeten gewesen waren. Die Kunde davon gelangte erst Monate später zum Danouios und von dort aus ins Nariskerland, wo inzwischen das einzige Kind des verstorbenen Händlers, eine Tochter, die Geschäfte ihres Vaters zusammen mit ihrem Gatten so gut wie möglich fortführte. Nun trug sie das Triskelenamulett, und oft betete sie im heiligen Hain zur Göttin und flehte sie an, dass ihrem Stamm und auch den benachbarten Keltenstämmen der Friede erhalten bleiben möge.

Die Dreifache Göttin erhörte die Bitten der Händlerin. Die Enkelin Araghs und Dairas musste bis zu ihrem Tod keinen Krieg erleben – doch eine ihrer Töchter wurde schon im Alter von neunzehn Jahren mit brutaler Gewalt konfrontiert. Ihr Name lautete Niarnas; anders als ihre Mutter war sie von Kindheit an den Waffenkünsten zugetan, und daher wurde sie zunächst von den Kriegern im Dorf und später in einer Kämpferschule der Narisker weiter im Süden in der Handhabung von Schwert, Schild und Speer ausgebildet. Und kaum hatte Niarnas den Kriegerrang errungen, schlugen die römischen Legionen, die ein Menschenalter zuvor so bestialisch im Westen gewütet hatten, erneut zu.

Das Kohortenlager

Römische Kaiserzeit
15 v. d. Z. bis 170 n. d. Z.

Zusammen mit zwei männlichen Kriegern war Niarnas eineinhalb Tage lang nach Süden, zum Nordufer des Danouios, geritten. Jetzt befand sich die kleine Kämpferschar auf der Randhöhe des mächtigen Flusses und spähte, von dichtem Gebüsch gedeckt, zum großen Stromknie hinab; die Pferde waren ein Stück weiter hinten im Wald angepflockt.

Während sie ihren Blick forschend über die südliche Flussniederung und die dahinter aufsteigenden Anhöhen gleiten ließ, dort jedoch nichts Verdächtiges bemerkte, erinnerte sich die junge Kriegerin an den vorgestrigen Morgen, als sie und ihre Gefährten den Auftrag zu ihrem Spähritt erhalten hatten.

Es war in der Kämpferschule geschehen, wo sich Niarnas nach ihrer Ausbildung noch aufgehalten hatte und wo sich an diesem Tag auch mehrere Dutzend erprobter Krieger versammelt hatten, die aus dem näheren Umland herbeigerufen worden waren. Der Waffenmeister, welcher die Schule leitete, hatte den hinter den Wällen des starken Dunums beieinanderstehenden Männern und den vereinzelten in der Kriegskunst ausgebildeten Frauen eröffnet, dass Gerüchte aus dem Südland ins Siedelgebiet der Narisker gedrungen seien, wonach sich vom hohen Gebirge her zahlreiche Feinde näherten: römische Heeresverbände, ähnlich denen, die einst so grausam westlich des Rhenos gewütet hatten.

Sofort hatten die meisten Keltenkrieger voller Kampfeslust zum Feldzug gegen die Römer gedrängt; es war zu einem wilden Aufruhr gekommen, bei dem Schwerter und Speerschäfte gegen die Schilde geschlagen worden waren – aber der Waffenmeister hatte die Krieger wieder zur Ruhe gebracht und ihnen erklärt: „Die Druiden und Häuptlinge aus der Umgebung unseres Dunums haben beschlossen, nichts zu überstürzen, denn kopfloses Handeln ist stets von Übel. Deshalb wurde ich beauftragt, zunächst einen kleinen, unauffälligen Spähtrupp in den Süden zu schicken, welcher die Lage dort erkunden soll. Wir können es uns leisten, so vorzugehen, denn das Gros der Feinde steht nach allem, was wir wissen, noch mehrere Tagesmärsche vom Danouios entfernt und bedroht damit unser Stammesgebiet nicht unmittelbar.“

Nach dieser kurzen Rede war es für eine Weile still unter den Nariskern geblieben; schließlich hatte einer von ihnen gefragt: „Wer von uns soll an dem Spähritt teilnehmen?“

Daraufhin hatte der Waffenmeister die Namen zweier erfahrener, schon etwas älterer Krieger genannt und hinzugefügt: „Damit sich aber auch jemand Jüngerer bewähren kann, habe ich zusätzlich Niarnas bestimmt.“

Während da und dort erstauntes Gemurmel aufgeklungen war, hatte der Leiter der Waffenschule den Blick auf die junge Frau gerichtet und erklärt: „Du hast dich während deiner Ausbildung mehrfach ausgezeichnet, Niarnas, und bist außerdem hier im Dunum geblieben, um dich noch weiter in der Waffenkunst zu vervollkommnen, obwohl du schon jetzt im Rang einer Reiterkriegerin in dein Heimatdorf hättest zurückkehren können. Für all dies will ich dich belohnen, und aus diesem Grund habe ich dich zusammen mit den beiden anderen ausgewählt.“

„Ich danke dir!“ Niarnas hatte große Freude und Stolz empfunden. „Am Danouios kann ich mich erstmals gegen unsere Feinde bewähren. Und ich verspreche, nicht zu versagen.“

„Davon bin ich überzeugt“, hatte der Waffenmeister erwidert; ringsum waren nun Beifallsrufe erschollen – und wenig später hatten sich die junge Frau und die beiden älteren Krieger in die Sättel ihrer Rösser geschwungen …

Niarnas riss sich von ihren Erinnerungen los, strich sich eine rotblonde Haarlocke aus der Stirn und ließ den Blick einmal mehr über die südliche Flussniederung und die dahinter aufsteigenden Anhöhen schweifen. Doch noch immer war dort drüben nichts zu erkennen; nur ein paar Schwarzvögel zogen über die sich bereits herbstlich einfärbenden Waldstücke und Auengehölze hin. Dann, als die junge Kriegerin ihre Stellung ein wenig veränderte, merkte sie, wie sich das Triskelenamulett, das sie über dem Kettenhemd trug, klirrend verschob. Unwillkürlich tastete Niarnas nach dem goldenen Schmuckstück, das ihr die Mutter knapp zwei Jahre zuvor auf ihrem Totenbett vererbt hatte. Behutsam glitten die Fingerspitzen der jungen Frau über die Bogenschwünge der Triskele – im nächsten Moment hörte sie einen ihrer Begleiter sagen: „Es tut sich nichts dort drüben. Fast könnte man meinen, die Druiden und Häuptlinge wären irgendwelchen Gerüchten aufgesessen.“

„Das glaube ich nicht“, versetzte der andere Krieger. „Die Feinde werden sich schon noch zeigen. Wir müssen nur Geduld haben.“

„Unser Auftrag wäre leichter zu erfüllen gewesen, wenn wir noch Menschen in Radasbona angetroffen hätten“, ergriff nunmehr Niarnas das Wort. „Doch leider war der alte Handelsplatz auf der Halbinsel zwischen dem Danouios und dem kleineren Fluss Radas wie leergefegt, als wir ihn gleich nach unserer Ankunft aufsuchten. Dabei hatte ich gehofft, wir würden wenigstens noch ein paar Leute dort vorfinden und von ihnen Auskünfte über das Geschehen dort im Süden bekommen.“

„Die Gegend hier wirkt wie tot auf mich“, murmelte der Krieger, der zuerst gesprochen hatte. „Wie von allem Leben verlassen. Mögen die Geister derer, die einst hier wohnten, in der Anderswelt Frieden finden …“

Als die junge Frau das hörte, wurde sie von Beklommenheit befallen; ihre graugrünen Augen verschatteten sich, und sie tastete wie haltsuchend neuerlich nach der Triskele. Gleich darauf aber bekämpfte sie ihre Anwandlung, fand ihre innere Kraft wieder und blickte erneut mit zusammengekniffenen Brauen über den mächtigen Strom.

Geraume Zeit verstrich; dann, in der Nachmittagsmitte, machten die drei Narisker plötzlich etwas Verdächtiges auf einer der südlichen Randhöhen des Danouios aus. Es schien, als würde sich dort eine größere Zahl von Menschen und vielleicht auch Tieren aufhalten, denn auf einmal kreisten Vogelschwärme, die offenbar aufgestört worden waren, über den Bäumen. Mehr jedoch war nicht zu erkennen; schließlich verschwanden die Vögel nach Osten – und als danach nichts weiter passierte, sagte Niarnas: „Ich fürchte, wir werden unseren Auftrag nicht erfüllen können, wenn wir auf dieser Stromseite bleiben.“

Die beiden Männer stimmten ihr zu; der Ältere schlug vor: „Lasst uns noch bis zur Abenddämmerung abwarten. Mit der untergehenden Sonne müssten sich zu dieser Jahreszeit Nebelschwaden über das Flusstal legen, und in ihrem Schutz können wir es wagen, den Danouios zu überqueren.“

Niarnas und der andere Krieger waren einverstanden – und als sich die Dämmerung ankündigte, holten die Narisker ihre Pferde aus dem Waldversteck und führten sie, so gut wie möglich auf Deckung achtend, zum Stromufer hinunter.

Dort verbargen sie sich hinter einer Gruppe alter Erlen, banden die Rösser an, setzten sich auf die Erde und besprachen noch einmal, wie sie weiter vorgehen wollten. Schließlich fiel leichter Nebel ein, der nach einiger Zeit dichter wurde; dann, als das Tageslicht allmählich schwand, raunte der ältere Krieger: „Jetzt können wir uns dem Wasser des Danouios anvertrauen.“

Einen Augenblick später saßen die Narisker wieder in den Sätteln und brachten ihre Pferde dazu, in den Fluss zu gehen. Als die Tiere den schlüpfrigen Boden unter den Hufen verloren, begannen sie zu schwimmen, und die Reiter ließen sich, ohne die Zügel loszulassen, von den Rücken der Rösser gleiten. Nun ebenfalls schwimmend gaben Niarnas und ihre Gefährten den Pferden die Richtung vor: mit der Strömung schräg über den nebelbedeckten Danouios.

Es dauerte nicht sonderlich lange, bis die Narisker den Fluss überwunden hatten; am Südufer glückte es ihnen, im Sichtschutz eines Holundergestrüpps an Land zu gehen. Die Schatten der Dämmerung hatten sich jetzt noch vertieft; Niarnas und ihre Begleiter fröstelten in ihren nassen Gewändern und hätten sich nur zu gerne an einem Feuer gewärmt. Doch das durften sie nicht riskieren; sie mussten sich die Nacht über behelfen, so gut sie konnten. Immerhin durften sie sich, nachdem sie in einem Erlenhain ein Versteck für sich und die Rösser gefunden hatten, einen Imbiss gönnen: Brot und Räucherfleisch aus ihrem ledernen, fest verschlossenen Proviantsack, in den das Flusswasser nicht eingedrungen war.

Sie aßen; bald danach brach die Nacht ganz herein, und Niarnas übernahm die erste Wache. Während ihre Gefährten eher unruhig schliefen, sann die rotblonde Kriegerin unter dem fahlen Dreiviertelmond darüber nach, was wohl der neue Tag bringen würde. Die drei Narisker hatten abgemacht, in der Morgendämmerung vorsichtig auf die Höhe der Uferhänge vorzudringen; von dort oben, so hofften sie, würden sie etwaige Feinde dann besser ausmachen können. Und wenn wirklich Römer in der Gegend sind, so überlegte Niarnas, werden wir sie zählen und an ihrer Ausrüstung womöglich auch erkennen, welche Absichten sie haben. Sollten es aber nur wenige sein, könnten wir sogar die Chance bekommen, sie zu töten und ihnen die Schädel und Waffen zu nehmen, was uns Ruhm bei unserem Stamm einbringen …

Die junge Kriegerin wurde aus ihren Gedanken gerissen, weil eines der Pferde plötzlich schmetternd wieherte. Niarnas sprang auf, hastete zu den Rössern und flüsterte besänftigend auf sie ein. Auf einmal hörte sie ein Geräusch in ihrem Rücken und riss das Schwert aus der Scheide – aber es war nur einer ihrer Begleiter, der durch das Pferdewiehern erwacht und ebenfalls herbeigeeilt war.

Die Rotblonde verwahrte ihre Waffe wieder; der Krieger, der jetzt neben ihr stand, flüsterte: „Wir hätten gleich dafür Sorge tragen müssen, dass uns die Rösser nicht verraten können. Doch ich habe nicht daran gedacht.“

„Du meinst, wir hätten ihnen die Mäuler verbinden sollen?“, fragte Niarnas.

Der andere schüttelte den Kopf. „Das hätte sie nur allesamt rebellisch gemacht.“ Er suchte in seiner Gürteltasche und hielt der Rotblonden einen kleinen Beutel hin. Niarnas roch Kräuterduft, dann vernahm sie neuerlich die Stimme ihres Gefährten: „Wenn wir den Pferden dieses Kräutergemisch in die Nüstern reiben, werden sie bis zum Morgen sanft wie Lämmer sein.“

„Woher hast du dieses Mittel?“, erkundigte sich die Rotblonde erstaunt. „Ich habe noch nie von ihm gehört.“

„Der Druide, der in der Kämpferschule lebt, gab es mir vor unserem Aufbruch“, lautete die Antwort. „Er meinte, wir könnten es nötig haben, und er hatte Recht. Aber ich Narr …“

Niarnas berührte seinen Unterarm. „Der Große Wissende lehrte uns auch, dass kein Mensch unfehlbar ist. Und jetzt lass uns die Rösser versorgen und darauf bauen, dass das Wiehern nicht an falsche Ohren drang.“

Wenig später standen die Pferde beinahe wie gebannt da – und wiederum nach einer Weile schwand auch die Anspannung von der Rotblonden und ihrem Gefährten. Denn am Gestade des Danouios war alles still geblieben; niemand außer den beiden Nariskern schien das Rosswiehern vernommen zu haben. Erleichtert kehrte der Krieger zu seinem schlummernden Kameraden zurück; Niarnas hielt weiterhin Wache, bis sie schließlich von dem zweiten Krieger abgelöst wurde, welcher den kleinen Zwischenfall verschlafen hatte.

Als der Morgen graute, fiel der seltsame Bann von den Pferden ab. Sie begannen, auf der Erde und an den Baumzweigen nach Futter zu suchen, und nachdem die drei Narisker einen Frühimbiss zu sich genommen hatten, führten sie die Tiere ans Wasser, um sie zu tränken. Danach suchten sie sich, die Rösser an den Zügeln führend, einen Weg zur Uferhöhe hinauf. Zunächst durchquerten sie einen mäßig ansteigenden Auwald; jenseits des Gehölzes stießen sie auf eine Bachschlucht, die mannshoch in den Hang eingeschnitten war. Der ältere Krieger, der voranging, blieb stehen, wartete, bis seine Gefährten bei ihm waren, und sagte leise: „Wir haben Glück. Dank dieser Kluft können wir die Uferleite in guter Deckung erklimmen.“

Seine Begleiter stimmten ihm zu, dann folgten sie ihm in die Klamm. Langsam kletterten die Narisker und ihre Pferde höher und höher, und zuletzt öffnete sich die Schlucht zwischen zwei flachen Hügelkuppen ins Freie.

Die Sonnenscheibe stand jetzt schon ein Stück über dem Horizont; im Morgenlicht schauten sich Niarnas und ihre Gefährten um – plötzlich sahen sie in der Ferne etwas aufblitzen.

Unwillkürlich duckten sich die drei Narisker. Angestrengt spähten sie zu der Stelle, von wo die Lichtblitze gekommen waren; dann, als es dort erneut grell funkelte, raunte der jüngere Krieger: „Da drüben bricht sich Sonnenlicht auf Waffenmetall.“

„Die Römer!“, kam es von Niarnas. „Sie sind tatsächlich in der Gegend!“ Sie nahm die Zügel ihres Pferdes, das unruhig zu stampfen begonnen hatte, straffer und fügte hinzu: „Wir müssen näher an sie heran!“

„Aber mit äußerster Vorsicht!“, mahnte der ältere Krieger. „Lasst es uns im Sichtschutz des Waldriegels dort vorne versuchen. Bis wir jedoch den Forststreifen erreicht haben, ist es nötig, dass wir …“

Ein schmetternder Trompetenstoß ließ ihn erschrocken verstummen – im nächsten Augenblick preschte seitlich der Narisker ein Trupp berittener Legionäre aus einem anderen Waldstück heraus. Es waren zehn Männer, eine ganze Decurie; in vollem Galopp griffen sie an, und angesichts der feindlichen Übermacht wollten sich die Kelten zur Flucht wenden. Doch kaum hatten sie sich in die Sättel geschwungen und ihre Rösser herumgerissen, teilten sich die Römer in zwei Gruppen auf. Die eine versperrte den Nariskern den Rückweg zur Klamm; die zweite attackierte nun auf breiter, halbbogenförmiger Front, so dass die Kelten in die Zange genommen wurden.

Für einen Moment verharrten die drei Narisker verstört; dann jagten sie nach Westen davon, wo zwischen den beiden Feindscharen noch ein Fluchtweg offen zu sein schien. Aber mit einem Mal tauchten auch aus dieser Richtung römische Reiter auf, und daher blieb den Kelten nichts anderes übrig, als sich dem aussichtslosen Kampf zu stellen. Sie schleuderten den Feinden ihre Speere entgegen und fällten zwei Legionäre; gleich darauf jedoch sahen sie sich von allen Seiten umzingelt und konnten sich jetzt nur noch mit ihren Schwertern und Schilden gegen die Übermacht wehren.

Niarnas spaltete einem der Römer Helm und Schädel; als der Legionär vom Pferd stürzte, sah die Rotblonde, wie ihr jüngerer Gefährte von vier Feinden zugleich abgeschlachtet wurde. Auch der ältere Krieger befand sich in schwerster Bedrängnis; sein Schild war zerhauen, und eben brach sein Ross, in dessen Brust ein Pilum steckte, nieder. Niarnas tötete einen weiteren Römer und trieb ihr Tier an, um zu ihrem in äußerster Gefahr schwebenden Gefährten durchzubrechen. Aber noch ehe sie ihn erreichen konnte, starb auch er unter den Schwerthieben der Legionäre, die ihn umringten – und einen Augenblick danach traf ein furchtbarer Schlag den Rücken der Rotblonden.

Ein Römer hatte sie von hinten mit seiner Wurflanze durchbohrt; die vierkantige Eisenspitze des Pilums hatte ihr Kettenhemd aufgesprengt und war tief in ihren Körper eingedrungen. Niarnas verlor den Halt auf dem Pferderücken, stürzte zu Boden und blieb tödlich verwundet liegen. Sie bekam noch mit, wie ihr jemand das Schwert aus der Hand trat; dann schmetterte etwas gegen ihren Kopf – und der Geist der jungen Keltenkriegerin ging in rasendem Flug in die Anderswelt ein.

Leblos lag Niarnas auf der von Pferdehufen zerstampften Erde. Der Legionär, welcher die Rotblonde hingeschlachtet hatte, spuckte verächtlich auf ihre blutüberströmte Leiche und stieß, an einen anderen Römer gewandt, hervor: „Bestien sind diese Kelten! Sogar ihre Weiber richten sie für den Krieg ab.“