Manfred Böckl

Bischofsmord
und Hexenjagd

Die spektakulärsten Kriminalfälle aus dem historischen Bayern

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ISBN 978-3-86646-724-8

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Titelbild: „Verbrennung der Hexen und Ketzer durch Aufheben und Niedersenken in das Feuer zu Paris“.

Holzstich nach Zeichnung von Felix Philippoteaux (1815 – 1884); spätere Kolorierung. Aus: J. G. Vogt, Illustrierte Weltgeschichte für das Volk, Bd. 4, Leipzig (E. Wiest) 1894. [akg-images]

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© SüdOst-Verlag in der H. Gietl Verlag & Publikationsservice GmbH, Regenstauf

Inhalt

Vorwort

Der Heilige und die Herzogstochter
Bischof Emmerams Martyrium in Helfendorf

Das Ende des letzten Agilolfingerherzogs
Ein Politverbrechen Karls „des Großen“

Der Gewaltstreich des Löwen
Ein Akt herzoglicher Wirtschaftskriminalität

Der Meuchelmord von Kelheim
Ein Racheakt am Hause Wittelsbach

Die Säckung zu Straubing
Herzog Ernsts Verbrechen an der Bernauerin

Der Münchner Hexenbrand Anno 1600
Justizwillkür im Auftrag des Kurfürsten

Geächtet, gerädert und gevierteilt
Leben und Ende des Bayerischen Hiasl

Keine Räuberromanze
Das notvolle Dasein des Michael Heigl

Der gewilderte Wildschütz
Georg Jennerwein und der Jäger Pföderl

Verraten und verkauft
Die Tragödie des Räubers Kneißl

Der Fall Kaspar Hauser
Entrechtung und Ermordung eines Prinzen

Das Attentat von Berg
Der mysteriöse Tod König Ludwigs II.

Literaturauswahl

Vorwort

Der Bogen der in diesem Buch geschilderten spektakulären Kriminalfälle aus dem alten Bayern spannt sich über fast eineinhalb Jahrtausende. Gleich zu Anfang geht es um die Ermordung des Regensburger Bischofs und Politkriminellen Emmeram im siebten Jahrhundert; ziemlich am Ende stehen die vier berühmtesten bayerischen Räuber und Wilderer, die zugleich Opfer der sozialen Missstände im achtzehnten, neunzehnten und anbrechenden zwanzigsten Jahrhundert waren.

Die Jahrhunderte dazwischen wurden von grauenhafter Hexenjagd, mörderischer Frauenfeindlichkeit, fürchterlichen Bluttaten des Hochadels und Wirtschaftskriminalität verdunkelt. Und selbstverständlich wird auch der Tod König Ludwigs II. behandelt, wobei alles dafür spricht, dass der Monarch im Gegensatz zur offiziellen Darstellung der damaligen Regierung keineswegs Selbstmord beging, sondern hinterrücks erschossen wurde.

Natürlich können die vorgestellten Kriminalfälle lediglich Schlaglichter innerhalb einer ungleich umfangreicheren Kriminalgeschichte des historischen Bayern setzen. Dennoch erhellen sie, zumindest punktuell, das Abgründige der jeweiligen Epoche, so dass sich aus ihrer Gesamtheit durchaus ein gewisser Abriss der negativen Seite der bayerischen Geschichte ergibt. Aus diesem Grund wurden die einzelnen Fälle im Buch auch chronologisch angeordnet – eine Ausnahme machen allerdings die Kapitel, in denen die Räuber und Wilderer Matthias Klostermayr (Bayerischer Hiasl), Michael Heigl, Georg Jennerwein und Mathias Kneißl die Hauptrolle spielen. Sie wurden zusammengefasst, weil sie zusammen einen speziellen Bereich der bayerischen Kriminalgeschichte erhellen.

Der Heilige und die Herzogstochter
Bischof Emmerams Martyrium in Helfendorf

Anno 685: Fluchtartig hatte der Missionsbischof die Herzogsstadt Regensburg verlassen; nun jagte er, nur von einer kleinen Reiterschar begleitet, Richtung Süden. Sein Ziel waren die Alpen, dann Rom; der Papst, so hoffte er, würde ihn vor der Rache des Agilolfingerherzogs Theodo schützen. Schon lagen die Berge scheinbar zum Greifen nahe; in Helfendorf, einem Weiler nordwestlich von Aibling, machten die Flüchtlinge kurze Rast an einem Brunnen.

Plötzlich stieß einer der Männer einen Warnruf aus − im nächsten Moment erblickten auch die anderen den starken Trupp bajuwarischer Krieger, die in vollem Galopp heranpreschten. An ihrer Spitze ritt Lantpert, der Sohn Herzog Theodos; gleich darauf hatten die Bewaffneten den Bischof und dessen Bedeckung umzingelt, und der junge Agilolfinger fuhr den Priester zornig an: „Jetzt musst du für deine Verbrechen Rechenschaft ablegen, Emmeram!“

Zitternd stand der Bischof da; vielleicht ahnte er bereits, dass seine letzte Stunde geschlagen hatte − doch wie grausam sein Tod sein würde, war ihm in diesem Augenblick bestimmt noch nicht bewusst.

***

Ungefähr so könnte sich die Szene abgespielt haben, die wenig später in einer entsetzlichen Bluttat gipfelte. Einer Mordtat, die den Regensburger Bischof Emmeram zum katholischen Märtyrer und Heiligen machte − bei objektiver Betrachtung aber eher Züge eines spektakulären Politkrimis des frühen Mittelalters aufweist. Zudem war dieser Kriminalfall mit einer Liebesaffäre verknüpft, in welcher die Herzogstochter Uta, Emmeram und − zumindest laut kirchlicher Darstellung − ein einfacher Krieger eine Rolle spielten. Ehe wir jedoch genauer auf die politischen Intrigen und erotischen Kabalen eingehen, wollen wir uns zunächst mit Herkunft und historischem Wirken Emmerams, des Mordopfers von Helfendorf, beschäftigen.

Der Kleriker war kein Bajuware, sondern Franke. Er wurde in der westfranzösischen Stadt Poitiers geboren und empfing dort, noch relativ jung, seine Bischofsweihe. Präziser gesagt: Er wurde zum Wander- und Missionsbischof ausgebildet und anschließend nach Osten gesandt, um außerhalb des Frankenreiches im Donauraum zu predigen. Anno 681 tauchte er zusammen mit einem Dolmetscher namens Vitalis in Regensburg auf, der Hauptstadt des selbständigen bajuwarischen Stammesherzogtums. Der Landesherr, Theodo I., empfing Emmeram zur Audienz und stellte dabei fest, dass der Bischof die Landessprache nicht im mindestens beherrschte. Vitalis musste Rede und Gegenrede übersetzen; so erfuhr der Herzog von den Absichten Emmerams: Der Wanderbischof wollte weiter zu den heidnischen Awaren an der unteren Donau, um dieses Steppenvolk zum Christentum zu bekehren.

Zu jener Zeit allerdings herrschte zwischen den Bajuwaren und den Awaren Krieg; die Steppenreiter betrachteten jeden von Westen kommenden Fremden als Feind. Deshalb riet Theodo dem Bischof dringend von seinem Vorhaben ab und schlug ihm vor, stattdessen in seinem eigenen Herzogtum zu bleiben. Theodo hatte dazu gute Gründe; er selbst und die meisten Adligen waren zwar getauft, aber der Großteil der bajuwarischen Bevölkerung bekannte sich nach wie vor zu den alten Göttern. Nur in vereinzelten Dörfern hatte das Christentum dank der Missionstätigkeit iroschottischer Wandermönche während der vergangenen Generationen Fuß gefasst, und da diese keltischen Glaubensboten einen guten, ausgleichenden Einfluss auf die Bauern gehabt hatten, wünschte sich der Herzog wohl, dass Emmeram im gleichen Sinne wirken sollte.

Der fränkische Bischof erklärte sich mit der Bajuwarenmission einverstanden; zum Dank dafür schenkte ihm Theodo ein Grundstück, auf dem Emmeram eine Kapelle errichten konnte. In den folgenden Jahren bis 685 dann unternahm der Missionar, welcher die bajuwarische Sprache erstaunlich rasch erlernt haben muss, ausgedehnte Reisen durch das Herzogtum, um die Landbevölkerung zum Christentum zu bekehren. Freilich war er dabei weniger im toleranten Sinn der früheren iroschottischen, vom Papsttum unabhängigen Wandermönche tätig, sondern entpuppte sich zunehmend als Anhänger der römischen Kirche. Daraus entwickelten sich Spannungen; der bajuwarische Landadel und bald auch die Angehörigen des Herzogshauses selbst, die naturgemäß kein Interesse an einem Machtzuwachs der stets nur auf ihren eigenen Vorteil bedachten Papstkirche hatten, verfolgten das Wirken Emmerams mit wachsendem Misstrauen.

Doch auch anderweitig sorgte der Bischof für böses Blut. Die Frauen nämlich − so heißt es in einem frühmittelalterlichen Bericht über ihn − liebten den stattlichen Mann über die Maßen. Fromme kirchliche Autoren interpretierten das bis herauf ins 20. Jahrhundert so: Emmeram habe mit seinen herzerweichenden Predigten vor allen Dingen das weibliche Geschlecht angesprochen. Etwas kritischere Historiker, gerade der Moderne, hingegen sehen darin einen deutlichen Hinweis auf häufige Liebesaffären des fränkischen Missionars; dafür sprechen bei genauer Betrachtung auch andere Indizien in seiner Vita. Und damit kommen wir zu Uta, der schönen, unverheirateten Tochter Herzog Theodos, zu der Emmeram − so oder so − ein ganz besonders enges Vertrauensverhältnis hatte.

In der Emmeramslegende des Freisinger Bischofs Arbeo wird diese Beziehung folgendermaßen dargestellt: Emmeram hätte sich mit der Herzogstochter auf priesterliche Weise angefreundet; gleichzeitig sei Uta in heimlicher Liebe zu einem einfachen Krieger namens Sigibald entbrannt gewesen. Als ihr sündhaftes Tun sich nicht mehr hätte verheimlichen lassen, weil sich nämlich ihr Leib gerundet habe, sei sie mit ihrem Geliebten zu Emmeram gekommen, um sich diesem anzuvertrauen. Der Bischof hätte das Paar mit strengen Worten zur Buße ermahnt und sich sodann entschlossen, nach Rom zu pilgern, um seinerseits mit dem Papst zu sprechen und ihm Rechenschaft über die von ihm geleistete Missionsarbeit im Land der Bajuwaren abzulegen. Kaum aber sei Emmeram weg gewesen, habe Uta sich ihrem Vater Theodo zu Füßen geworfen und ihm ihre Sünde gebeichtet. Freilich hätte sie dabei eine Lüge gebraucht, indem sie nämlich behauptet habe, der Bischof und nicht Sigibald sei der Vater ihres Kindes.

Soweit die kirchliche Überlieferung, die nun allerdings nicht sonderlich schlüssig ist. Insbesondere sticht ins Auge, dass der angeblich völlig unschuldige Emmeram sich offenbar im selben Moment, in dem er von Utas Schwangerschaft erfuhr, zu seiner Romreise entschloss. Für dieses Verhalten jedoch kann es nur einen einzigen Grund gegeben haben: Der Bischof wollte in jenem Jahr 685 Zuflucht beim Papst suchen, weil er selbst die Herzogstochter geschwängert hatte. Genau dies gestand Uta dann ja auch ihrem Vater, und zwar unmittelbar nach Emmerams Verschwinden − weil sie sich nämlich schmählich von ihm im Stich gelassen fühlte. Und was jenen Sigibald angeht, so geriet dieser bajuwarische Krieger, der durchaus wirklich gelebt haben kann, womöglich nur deswegen in die Legende, weil er dort in der verschleiernden Darstellung des wahren Sachverhalts als Sündenbock nötig war.

Logischer als in der orthodoxen Überlieferung fügt sich auf diese Weise eins zum anderen. Wir wollen es vorerst dabei bewenden lassen und sehen, was die Heiligenlegende weiter vermeldet.

Nachdem Uta den Bischof als Vater ihres ungeborenen Kindes bezeichnet habe, sei Lantpert, ihr Bruder, vor Zorn außer sich gewesen. Noch in derselben Stunde habe er eine Rotte von Kriegsknechten um sich geschart und die Verfolgung des Flüchtigen aufgenommen. In Helfendorf hätten die Häscher Emmeram und dessen Begleiter eingeholt; Lantpert habe dem Bischof wütende Vorhaltungen gemacht. Emmeram wiederum hätte sich erboten, diese Vorwürfe in Rom zu entkräften; er sei bereit gewesen, sich dort einem geistlichen Gericht zu stellen und auf diese Art seine Unschuld zu beweisen. Lantpert indessen, von Rachsucht und Hass verblendet, habe sich nicht besänftigen lassen; vielmehr hätte er seinen Kriegern nun Befehl gegeben, den Bischof zu ergreifen. Die Bewaffneten hätten Emmeram daraufhin auf eine Leiter gebunden und ihn samt dieser auf einen nahegelegenen Felsblock geschleppt; dort habe der Bischof grausame Foltern erleiden müssen.

Wir wollen auch diese Passage aus der Arbeo-Überlieferung etwas genauer unter die Lupe nehmen. Warum Lantpert die Verfolgung Emmerams aufgenommen hatte, ist nachvollziehbar − doch obwohl er außer sich vor Zorn gewesen sein soll, führte Lantpert, als er und seine Männer den Bischof in Helfendorf gestellt hatten, zunächst einmal einen Dialog mit Emmeram. Die Legende sagt es ganz deutlich: Lantpert machte dem Bischof Vorhaltungen; Emmeram bot an, die Angelegenheit vor ein geistliches Gericht in Rom zu bringen und sich dort reinzuwaschen. Und erst nachdem diese Sätze gefallen waren, verlor Lantpert offenbar jegliche Contenance; erst jetzt ging er gewaltsam gegen den Bischof vor.

Dies aber war beileibe kein Wunder, denn Emmeram hatte den Herzogssohn mit dem Ansinnen, seinen Fall vor einen päpstlichen Gerichtshof zu bringen, gleich zweifach auf unerträgliche Weise provoziert. Zum einen hatte er durch seinen Vorschlag die Souveränität der bajuwarischen Rechtsprechung missachtet, und dies noch dazu gegenüber dem künftigen Herzog. Zum anderen wäre − und das war Lantpert zweifellos bekannt − ein kirchliches Gericht in Rom niemals bereit gewesen, einen Angehörigen des hohen Klerus zu verurteilen. Die Machtinteressen des Papsttums hätten dem entgegengestanden; der Bischof wäre also unweigerlich freigesprochen worden. Und erst vor diesem Hintergrund wird tatsächlich fassbar, warum Lantpert seinen Kriegern befahl, kurzen Prozess mit Emmeram zu machen. Er tat es, weil er die doppelte Provokation, deren Brisanz der Kleriker in seiner angstvollen Verwirrung vielleicht gar nicht richtig einzuschätzen vermochte, unmöglich hinnehmen konnte.

So kam es zur Ermordung, respektive Hinrichtung des Bischofs in Helfendorf; ob sie allerdings derart bestialisch erfolgte, wie in der Heiligenvita Arbeos dargestellt, ist fraglich. Doch selbst falls Arbeo, der erst vierzig Jahre nach der Bluttat geboren wurde, übertrieben hat, besteht kein Zweifel daran, dass Emmeram einen grässlichen Tod erlitt − und in der Legende wird sein schreckliches Ende in allen Einzelheiten ausgemalt.

Lantperts Krieger hätten dem auf dem Felsblock liegenden Bischof Nase und Ohren abgeschnitten und ihm die Augen aus dem Kopf gerissen. Sie hätten ihm Hände und Füße abgehackt und ihn weiterer − nicht näher bezeichneter − Glieder beraubt; schließlich hätten die Bewaffneten ihm auch noch die Zunge abgetrennt. Erst dann seien der Herzogssohn und seine Kriegsleute weggeritten und hätten den verstümmelten, aber noch lebenden Bischof auf dem Felsen zurückgelassen. Emmerams Begleiter, die zunächst in Panik geflohen seien, hätten sich nun wieder bei ihm eingefunden. Man habe den schwerverletzten Bischof losgebunden, um ihn auf einem Ochsengefährt nach Aschheim zu bringen. Bereits in der Nähe von Feldkirchen jedoch hätte Emmeram den Tod nahen gefühlt; er habe seine Gefährten gebeten, ihn auf die Erde zu legen. Alsbald sei er verstorben; den Leichnam habe man zunächst nach Aschheim überführt und ihn in der dortigen Kirche St. Peter beigesetzt. Schon wenig später sei dann die Unschuld des Bischofs ans Licht gekommen, worauf der erzürnte Herzog Theodo nicht nur seinen Sohn Lantpert, sondern auch seine Tochter Uta in die Verbannung geschickt hätte. Emmerams Leiche habe er − wobei sich ein Wunder ereignete − in Aschheim aus dem Grab holen und nach Regensburg bringen lassen; in der Herzogsstadt sei der Märtyrer mit großen Ehren bestattet worden.

Wenn man diesen Teil der kirchlichen Überlieferung analysiert, finden sich einige Fakten, die historisch nachvollziehbar sind. Anderes muss dem Bereich der reinen Heiligenlegende zugeordnet werden und darf keinen Anspruch auf geschichtliche Wahrheit erheben.

Zunächst erwähnt Arbeo ein hochinteressantes Detail. Er schreibt nämlich, dass Emmeram, während er die Marter erlitt, auf einem Felsblock gelegen habe; zuvor hatten die Krieger den auf die Leiter gefesselten Bischof gezielt zu diesem Felsen gebracht. Damit aber kann es sich eigentlich nur um einen ganz besonderen Stein gehandelt haben: einen Gerichtsstein. Bei solchen, ursprünglich heidnischen Gerichtssteinen − natürlichen Felsbildungen oder künstlichen Steinsetzungen − wurde in den ehemals keltischen und germanischen Regionen Europas noch bis in die beginnende Neuzeit herauf Recht gesprochen; gerade im Mittelalter dienten sie zudem häufig als Hinrichtungsstätten. Und sofern man diese Hintergründe kennt, spricht Arbeos Hinweis sehr deutlich dafür, dass es sich auch im Fall Emmerams so verhielt. Lantpert scheint den Bischof also zuerst nach altem bajuwarischen Stammesrecht am Gerichtsstein von Helfendorf verurteilt zu haben; nach dem Urteilsspruch vollstreckten seine Männer die Strafe an dem auf den Felsen gebundenen Delinquenten.

Weiter fällt auf, dass Emmeram nicht wirklich hingerichtet, sondern „nur“ verstümmelt und dann, noch lebend, liegengelassen wurde. Ob Lantpert tatsächlich eine Tötungsabsicht hatte, wird damit fraglich; möglicherweise unterwarf er den Bischof einem sogenannten Gottesurteil − und stellte es einer höheren Macht anheim, ob Emmeram sich von seinen Verwundungen erholen würde. Obwohl seine Verletzungen schwer waren, hätte der Bischof durchaus eine Überlebenschance gehabt, denn laut Arbeo waren keine inneren Organe in Mitleidenschaft gezogen worden, und Verstümmlungen, wie Emmeram sie erlitten hatte, mussten angesichts der oft sehr robusten Konstitution der damaligen Menschen nicht zwangsläufig zum Tod führen.

Der Bischof freilich verstarb schon nach wenigen Stunden in der Nähe des ungefähr sechs Kilometer von Helfendorf entfernten Ortes Feldkirchen. Seine Gefährten hatten ihn auf einem Ochsenwagen dorthin gekarrt und wollten mit ihm weiter nach Aschheim; warum sie Emmeram diese Tortur zumuteten und ihn nicht gleich in eines der Helfendorfer Bauernhäuser brachten, bleibt rätselhaft. Möglicherweise starb der Bischof sogar, weil seine Blutungen auf dem rüttelnden Gefährt nicht zum Stillstand kommen konnten. Aber dies ist Spekulation − die Tatsache hingegen, dass die brutale Folter Emmerams Tod verursacht hatte, lässt sich nicht abstreiten. Und damit muss man letztlich doch von einem Mord an dem Bischof durch Lantpert und seine Krieger sprechen; einer Tötung, die allerdings durch das Urteil am Gerichtsstein rechtlich sanktioniert war.

All dies lässt sich aus den Fakten, die Arbeo nennt, ableiten; historisch exakt dargestellt ist auch das Erstbegräbnis Emmerams in Aschheim sowie seine spätere − jedoch gewiss nicht von Herzog Theodo veranlasste − Überführung nach Regensburg, wo die Krypta mit den sterblichen Überresten des Bischofs bis heute in der Emmeramskirche existiert. Was indessen den abschließenden Teil von Arbeos Emmeramsvita angeht, so gehört dieser ins Reich der geschichtlich nicht haltbaren Heiligenlegende. Dies gilt für das Aschheimer Wunder und ebenso für die angebliche Verbannung Lantperts und Utas vom Herzogshof; keine einzige historisch ernstzunehmende Quelle gibt einen Hinweis darauf, dass Theodo Sohn und Tochter tatsächlich verstieß. Die Heimholung von Emmerams Leichnam nach Regensburg schließlich erfolgte bestimmt sehr viel unspektakulärer, als Arbeo sie schildert. Es war vermutlich eine Gruppe von ehemaligen Anhängern des Bischofs, welche dessen Körper irgendwann nach 685 in die Donaustadt brachten und ihn dort in einem kleinen römischen Kirchenbau außerhalb der Stadtmauern beisetzten, über dem später die Emmeramskirche mit der Krypta für den unterdessen heiliggesprochenen Bischof errichtet wurde.

Durch Emmerams Erhebung zur Ehre der Altäre wurde die Erinnerung an sein gewaltsames Ende über die Jahrhunderte hinweg bewahrt. Freilich geschah dies in Form einer Märtyrerlegende, die im Verlauf der Zeit in verschiedensten Versionen immer mehr ausgeschmückt wurde. Bei Arbeo jedoch, der nur zwei Generationen nach dem zu Tode gefolterten Bischof lebte, ist der historische Hintergrund des Mordfalles noch recht gut erkennbar, sofern man alles beschönigende Beiwerk wegstreicht. Demnach wurde Uta schwanger, jedoch nicht von jenem ominösen Krieger Sigibald, sondern von Emmeram selbst. Als sich die Herzogstochter dem Vater ihres ungeborenen Kindes anvertraute, floh dieser Hals über Kopf aus Regensburg, um sich nach Rom zu retten und sich dort unter päpstlichen Schutz zu stellen. Wutentbrannt verfolgte Utas Bruder Lantpert den Bischof mit einer Reiterschar und stellte ihn bei Helfendorf, wo vermutlich ein rasches Gerichtsverfahren nach bajuwarischem Stammesrecht stattfand. Emmeram provozierte Lantpert auf unerträgliche Weise; der Bischof wurde verurteilt, verstümmelt und auf dem Gerichtsstein zurückgelassen − einige Stunden später erlag er seinen Verletzungen.

Eine Frage bleibt nach der Auswertung von Arbeos Aufzeichnungen freilich offen: Hatte die harte Bestrafung Emmerams ihren Grund allein in der unerlaubten Beziehung des Bischofs zur Herzogstochter Uta − oder gab es noch ein anderes Motiv für Lantperts rigoroses Vorgehen? Arbeo äußert sich dazu nicht, moderne Historiker indessen sehen durchaus auch politische Hintergründe; zum Beispiel der Emmeramsforscher K. Babl, der die These aufstellte, dass „Emmeram, der Missionar aus dem Frankenreich, in einer Zeit politischer Selbständigkeitsbestrebungen Bayerns als Repräsentant fränkischer Macht ermordet wurde“.

Dafür gibt es nun in der Tat eine ganze Reihe von Indizien; zunächst einmal die allgemeine politische Situation im ausgehenden 7. Jahrhundert. Denn die Hausmeier des Fränkischen Reiches, welche das angestammte Königsgeschlecht der Merowinger weitgehend entmachtet hatten, betrieben zu jener Zeit im Bündnis mit dem Papsttum eine aggressive Expansionspolitik. Nur vier Jahre nach Emmerams Tod etwa wurden die Friesen unterworfen, außerdem waren die Franken um 660 in Böhmen und Mähren eingefallen und hatten dort ein Massaker angerichtet. Infolgedessen mussten sich auch die Bajuwaren bedroht fühlen; zwar behaupteten die Agilolfinger ihre Unabhängigkeit bislang noch, aber die Gefahr, unter fränkische Herrschaft zu geraten, wuchs ständig.

Angesichts dessen ist es um so erstaunlicher, dass Herzog Theodo den Frankenbischof Emmeram Anno 681 dazu bewog, in Regensburg zu bleiben und, statt bei den Awaren, im bajuwarischen Stammesherzogtum zu missionieren. Dies noch dazu, da fränkische Glaubensboten anderswo politische Agitation betrieben, um den Boden für eine Machtübernahme durch die Franken zu bereiten; in Friesland taten dies zur fraglichen Zeit beispielsweise die römisch-katholischen Missionare Wilfried und Willibrord. Doch obwohl Theodo davon gewusst haben muss, vertraute er Emmeram und förderte ihn sogar − was auf den ersten Blick reichlich blauäugig erscheint.

Wenn wir uns aber daran erinnern, wie sich der fränkische Wanderbischof am Regensburger Herzogshof einführte, wird Theodos Verhalten begreiflicher. Es sieht nämlich ganz so aus, als hätte Emmeram sehr geschickt zunächst die Rolle eines völlig unpolitischen und sogar ein wenig weltfremden Priesters gespielt. Angeblich war er der bajuwarischen Sprache total unkundig, so dass er einen Dolmetscher benötigte; ein fränkischer Agitator, so durfte der Herzog vermuten, wäre zweifellos besser ausgebildet gewesen. Weiter hatte Emmeram anfangs erklärt, er wolle gar nicht bei den Bajuwaren missionieren, sondern die Awaren bekehren; auch das war geeignet, Theodo in Sicherheit zu wiegen. Und schließlich könnte der Bischof dem Herzog weisgemacht haben, er sei ein Anhänger der keltischen Glaubensrichtung; Missionar jener iroschottischen Kirche, deren Wandermönche während der vergangenen Generationen im Land der Bajuwaren viel Gutes bewirkt hatten. Falls aber Emmeram derartige falsche Fährten legte, hätte es für Theodo keinen Grund mehr gegeben, ihm zu misstrauen.

Mit Billigung des Herzogs − und damit unter dessen Schutz stehend − konnte der Bischof Anno 681 mit seiner Bajuwarenmission beginnen. Emmeram betrieb sie offenbar von allem Anfang an sehr intensiv; Arbeo beschreibt das so: „Predigend zog er nun landauf und landab, unermüdlich tätig für die Ausbreitung der Kirche.“ Dies klingt nun allerdings gar nicht mehr nach einem lediglich frommen und zudem der bajuwarischen Sprache nicht mächtigen Missionspriester; vielmehr scheint Emmeram die Landessprache erstaunlich rasch erlernt zu haben − und in seinen vielen Predigten ging es außerdem keineswegs bloß um die friedliche jesuanische Lehre, sondern, wie Arbeo unmissverständlich sagt, um die Ausbreitung der Kirche. Damit jedoch kann Arbeo als entschiedener Anhänger des Papsttums einzig die römische Kirche gemeint haben; Emmeram versuchte also ganz eindeutig, das bislang im bajuwarischen Herzogtum existierende keltische Christentum in die römisch-katholische Glaubensrichtung umzubiegen.

Der Bischof diente damit der Papstkirche, die ihrerseits mit den fränkischen Hausmeiern verbündet war und deren skrupellose Expansionspolitik förderte. Letztlich tat Emmeram genau das gleiche wie zur selben Zeit in Friesland die päpstlich-fränkischen Missionare Wilfried und Willibrord; hier wie dort sollte eine gesellschaftliche Destabilisierung erreicht und dadurch der Boden für eine Machtübernahme durch die Franken bereitet werden.

Irgendwann zwischen 681 und 685 bemerkten der bajuwarische Adel und der Herzog natürlich, was da gespielt wurde, und der Unmut gegen den Bischof wuchs. Doch ein rigoroses Vorgehen gegen Emmeram war jetzt, nachdem dieser sich im Herzogtum bereits etabliert hatte, nicht mehr ohne weiteres möglich. Zum einen musste man Rücksicht auf die nördlich der Alpen immer einflussreicher werdende römische Kirche nehmen; zum anderen − und dieser Grund wog schwerer − wollte man die Gefahr einer Konfrontation mit dem mächtigen Frankenreich vermeiden. Der Bischof konnte infolgedessen nicht einfach des Landes verwiesen werden; vermutlich kam man daher am Herzogshof überein, zunächst einmal abzuwarten und sich die nötigen Schritte genau zu überlegen.

In dieser Situation aber machte Emmeram dann einen entscheidenden Fehler. Der Bischof, der, wie es heißt, von den Frauen über die Maßen geliebt wurde, leistete sich eine Affäre mit Theodos Tochter Uta. Die junge Frau wurde schwanger; als Emmeram davon erfuhr, wurde ihm wohl bewusst, dass seine Position wegen des zu erwartenden Skandals nun unhaltbar geworden war. Hals über Kopf flüchtete er, um sich nach Rom zu retten; für den Herzog und dessen Sohn Lantpert wiederum hatte er durch die Schwängerung Utas das Fass zum Überlaufen gebracht.

Zweifellos mit Wissen und Billigung seines Vaters jagte Lantpert hinter dem fränkischen Bischof her, holte ihn bei Helfendorf ein und erhob standrechtliche Anklage gegen ihn. Diese lautete freilich nicht auf umstürzlerische Agitation, sondern auf Schändung der Herzogstochter − damit war dem Fall die für das bajuwarische Herrscherhaus so gefährliche politische Brisanz genommen. Emmeram konnte wegen einer erotischen Verfehlung verurteilt werden, die gerade in den Augen der römischen Kirche besonders verwerflich war; auch die Franken mussten deshalb die Bestrafung des Bischofs hinnehmen.

Dies ist die wahrscheinlichste Erklärung für die Bluttat am Helfendorfer Gerichtsstein; kriminalistisch bewiesen werden kann diese These nach mehr als 1300 Jahren allerdings nicht mehr. Doch eine ganze Indizienkette weist darauf hin, dass Emmeram ein fränkischer Agent im Priesterkleid war − und aus diesem Grund sein schreckliches Ende fand.

Das Ende des letzten Agilolfingerherzogs
Ein Politverbrechen Karls „des Großen“

„Von den Geschlechtern, die genannt werden Huosi, Trozza, Fagana, Hahilinga, Anniona: Diese sind sozusagen die vornehmsten nach den Agilolfingern, welche von herzoglichem Geschlecht sind. (…) Der Herzog aber, der dem Volk vorsteht, war immerdar aus dem Geschlecht der Agilolfinger und soll es stets sein. Denn so haben es die Könige, unsere Vorfahren, jenen zugestanden, als sie denjenigen aus ihrem Geschlecht, der dem König treu ergeben und klug war, zum Herzog einsetzten, um jenes Volk zu regieren.“

So heißt es in der „Lex Baiuvariorum“, dem ältesten bayerischen Gesetzeswerk, das zwischen 540 und 630 entstand und damit in die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches zurückreicht. In jener Epoche wurden in West- und Mitteleuropa die von den geheimnisvollen Merowingerkönigen regierten fränkischen Stämme mächtig; gleichzeitig bildete sich im altbayerischen Raum das bajuwarische Stammesherzogtum unter dem ersten Agilolfingerherzog Garibald heraus. Die Dynastie der Agilolfinger aber herrschte zu diesem Zeitpunkt schon „immerdar“, war also bereits vor der eigentlichen, auf etwa 540 datierten bajuwarischen Staatsgründung an der Macht − und der König aus der „Lex Baiuvariorum“, der den allerersten Agilolfingerherzog wohl noch in den Wirren der Völkerwanderungszeit einsetzte, war vermutlich ein Merowinger. Weiter war dieser erste Bajuwarenherzog mit dem merowingischen Königshaus verwandt, und damit durften sich die Agilolfinger eines sehr langen und edlen Stammbaumes rühmen. Um so schändlicher ist es angesichts dessen, dass der letzte Herzog aus dem Geschlecht der Agilolfinger, Tassilo III., Anno 788 vom fränkischen König Karl, der in den Geschichtsbüchern gerne als „der Große“ bezeichnet wird, um den Thron gebracht und in den Kerkergewölben des Klosters Lorsch wahrscheinlich grausam verstümmelt wurde.

Bei der Absetzung Tassilos handelte es sich eindeutig um ein Politverbrechen mit äußerst weitreichenden Folgen. Das bajuwarische Volk verlor nicht nur seine angestammte Herzogsdynastie, sondern auch seine Selbständigkeit; das Land wurde dem Frankenreich als Provinz eingegliedert. Und damit fand ein Prozess seinen Abschluss, der ein Jahrhundert zuvor begonnen hatte: in jener Zeit, als Karls Ahnen, die intriganten fränkischen Hausmeier, die Merowingerkönige bereits weitgehend entmachtet hatten − und der Missionar Emmeram mit keineswegs frommen Absichten nach Regensburg gekommen war. Damals hatten Herzog Theodo und sein Sohn Lantpert die Gefahr einer fränkischen Usurpation noch abwenden können; während der folgenden Generationen jedoch war die Unterwanderung des Herzogtums immer weiter vorangeschritten.

Zug um Zug hatte vor allem Karls Vater Pippin, der 751 den letzten Merowingerkönig Childerich III. gestürzt und an dessen Stelle den Thron bestiegen hatte, das Land der Agilolfinger destabilisieren lassen. Im Pakt mit dem Papsttum hatte er dafür gesorgt, dass frankenfreundliche Bischöfe und Priester eingesetzt wurden; ebenso war es Pippin gelungen, sich Teile des bajuwarischen Adels zu verpflichten. Schon 757 hatte der erst 16jährige Herzog Tassilo dem Frankenkönig sowie dessen Söhnen Karl und Karlmann deshalb einen Vasalleneid leisten müssen. Tassilo hatte sein ererbtes Herzogtum damit quasi aus der Hand des fränkischen Herrschers als Lehen empfangen − und genau diese Unterwerfung sollte ein Menschenalter später zum Untergang der Agilolfingerdynastie führen. Pippins Nachfolger Karl stürzte den letzten bajuwarischen Herzog; er tat es mit erstaunlicher, von hemmungslosem Machthunger diktierter krimineller Energie.

***

Anno 754 trat der damals 13jährige Tassilo seinem späteren Todfeind Karl erstmals gegenüber. Dieser zählte zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre und besaß einen dreijährigen Bruder namens Karlmann; beide sollten dereinst das Erbe ihres Vaters Pippin antreten und gemeinsam über das riesige Frankenreich herrschen. Tassilo war mit den Prinzen nahe verwandt, denn seine Mutter Chiltrud war eine Halbschwester König Pippins. Nachdem ihr Gemahl und Tassilos Vater, der Agilolfingerherzog Odilo, bereits 748 früh verstorben war, regierte Chiltrud das bajuwarische Herzogtum im Namen ihres noch unmündigen Sohnes − und um Tassilo auf seine spätere Aufgabe als Herzog vorzubereiten und womöglich Freundschaft zwischen ihm und Karl zu stiften, hatte sie ihren Sohn Anno 754 an den fränkischen Königshof geschickt, wo die beiden Halbwüchsigen für eine gewisse Zeit zusammen erzogen werden sollten.