Nach »Kritik der Vögel« folgt der nächste ornitho-philosophische Streich der Brüder Roth.
»Das Buch des Jahres.« Süddeutsche Zeitung über »Kritik der Vögel«.
Die Spatzen an der Straßenecke, die Wanderfalken über der Stadt, der Neuntöter in der Flur, die Stieglitze im Garten – das neue Buch der Brüder Roth wendet sich den Vögeln in unserer nächsten Umgebung zu. Von Bedeutung sind einzig Unmittelbarkeit, Anschauung, Wahrnehmung, das Beiläufige, das Zufällige, das Zufallende, das Banale, das Bewegende. Hauptsache, es läßt sich beschreiben, was Meise, Blauracke, Specht, Kordillerenadler, Amsel oder Uhu so veranstalten – Unfug, Häßliches, Berührendes. Vögel im Hier und Jetzt, vielleicht auch Vögel aus der Erinnerung, verschwundene Vögel.
Geschmückt wird es mit unveröffentlichten Zeichnungen aus dem Nachlaß von F. W. Bernstein.
Über Jürgen Roth
Jürgen Roth, geboren 1968, lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main. Er schreibt für Zeitungen, Zeitschriften und den Rundfunk (FAZ, taz, Titanic u. a.). Von ihm sind zahlreiche Bücher und Hörbücher erschienen: »Stoibers Vermächtnis«, »Benehmt euch!«, »Die Reise durch Franken« (mit Matthias Egersdörfer), »Gebrauchsanweisung für die Formel 1«.
Thomas Roth, geboren 1971, lebt als Historiker im Rheinland.
F. W. Bernstein (eigtlich Fritz Weigle), geboren 1938 in Göppingen, war ein deutscher Lyriker, Grafiker, Karikaturist und Satiriker. Er studierte an den Kunsthochschulen in Stuttgart und Berlin. Es folgten Lehrtätigkeiten in Frankfurt und Göttingen, seit 1984 war er Professor für Karikatur und Bildgeschichte an der Berliner Hochschule der Künste. Ab 1963 erschienen Beiträge Bernsteins im Satiremagazin »Pardon«, ab 1997 war er Mitarbeiter der Zeitschrift »Titanic«. Er starb am 20. Dezember 2018 in Berlin.
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Minima Ornithologica
Begegnungen in der Vogelwelt
Mit Illustrationen von F. W. Bernstein
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
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Pflasterstrand
Stadtmitte
Schnitzeljagd
Herr Sittich und Frau Safran
Die Vorschlaghammerammer
Grau und Grau
Die Verschwundenen
Warten
Mittagsschlaf
Nahaufnahme
Schneider frei
Ententraum
Möglichkeiten der Möwe
Drauf geschissen
Der Spatz von Nürnberg
Über das plötzliche Getöse am Frankfurter Himmel am Abend des 1. Juli
Herangeweht
Drei Arten, einen Regenpfeifer zu sehen
Ungerupft
Unsere lieben Schwäne
Düne
Bagger
Zuschrift
Letzte Mauser
Vor dem Fenster
Amyllis
Flugakustik
Beim Betrachten einiger Photos vom schönsten Vogel dieser Breiten
Vogelstille
Der Fischdieb
An die Barbaren
Eine Amsel begraben 1
Amselleben 1 (Aufschub)
Amselleben 2 (Singen)
Eine Amsel begraben 2
Läßliche Landschaft?
Eine Mehlschwalbe (Donnerwetter!)
Amselleben 3 (Schimpfen)
Mitteilungen über die Umgebung
Amselleben 4 (Füttern)
Das machen wir mal so
Amselleben 5 (Nest)
Intermission
Warum?
Eine Amsel begraben 3
Einbildungskraft
Blue Tit in Dachrinne
Die Unversehrten
Aguja
Die Tauben auf dem Dach
Laute um halb acht
Vogelperspektive
Sanfte Vernunft
Mal ’ne Frage
Bubo
Die Singdrossel
Fränkischer Spätseptember
Alle Vögel
Meisentagebuch
Roller
Peau de Meau
Tenemos un trato, è tutto a posto
Apfelernte
Die Ausnahme
Weitab
Zwischendurch mal das
Stoßdorf, Ende Juni 2019
Flüchtige Blicke
Penelope
Tagediebin
Horror locui
Psychologie der Vögel, entwickelt am 2. November beim Betrachten des Gartens durchs geöffnete Fenster
Naturzwang überwinden! Sofort!
Neun Schneeflocken
Die Taube im Baum
Einer jener Vögel
Frieden
Von Kleber, Bachsteltz und ander Ergetzlichkeiten
Übersee
War of the Blackbirds
Drei Rabenvogelmeldungen
Herr der Hecken und Zäune
Eßverfahren
Biedermeier
Beschwerde
Wegesbreite
Motiv von morgen
Eingabe an die Ethologie
Das Rotkehlchen singt
Raumvermessung
Die kontemplative Amsel
Krähenzeit
Hellverglimmhimmel
Dazwischengehen
Hausrotschwanz in the house
Anzeige
Ohne Kümmernis
Diedelitt
Versuch, Seeadler zu sehen
Nachbemerkungen
Ausgewählte Literatur
Autorenhinweis
Impressum
Der Gesang der Vögel ist verblüffend – aber wie soll ich ihn beschreiben? [ … ] [Ich] habe keine Wörter, mit denen ich [ … ] auch nur eine Andeutung von dem energischen, schallenden Gesang eines Zaunkönigs vermitteln könnte. [ … ] Es gibt eine Grenze für die stellvertretende Erfahrung [ … ].
Bernd Heinrich
The ants are out on my desk again tonight, my Lilliputians. To them a pencil is a mighty tree and I have to be careful not to sweep them away accidentally.
Roger Deakin
Eine Taube kam vorüber. Die Zahl ihrer Gurrelieder [ … ] ähnelte der Menge des Unkrauts in einem ausgehobenen Graben.
Günter Herburger
Bereitwillig empfange ich sie in der vertraulichen
Atmosphäre meines Arbeitszimmers, mache ihr Platz
zwischen meinen Büchern, setze sie aufs Fensterbrett
in die Sonne, besuche sie mit Freuden in ihrem
Zuhause [ … ]. Zweck unserer Beziehungen ist nicht
die bloße Ablenkung von den Ärgernissen des
Lebens [ … ]. Ich möchte der Spinne viele Fragen stellen,
die sie zuweilen auch zu beantworten geruht.
Jean-Henri Fabre
6. März / Ein Bussard fliegt mit einem Zweig im Schnabel über mich hinweg.
John Lewis-Stempel
Kiebitz, / meinem Tag / fahr um die Kräuselstirn auf, / über das kurze / Horn, mit Schlingerflügen / über die Weide hinab /
flieg, in den Brüchen / verflieg.
Johannes Bobrowski
So wie des Wandrers Blick am Morgen / Vergebens in die Lüfte dringt, / Wenn, in dem blauen Raum verborgen, / Hoch über ihm die Lerche singt.
Goethe
Dämmerung tritt ein und setzt diesen unnützen Erforschungen ein Ende; unnütz, sage ich und habe große Freude daran, es zu sagen, denn wenn es irgend etwas in
diesem [ … ] Land zu verabscheuen gibt, dann den Grundsatz,
daß alle unsere Nachforschungen in der Natur zu irgendeinem gegenwärtigen oder zukünftigen Nutzen für das
Menschengeschlecht stattfinden.
William Henry Hudson
Indem die Tiere ohne den Menschen irgend erkennbare Aufgabe existieren, stellen sie als Ausdruck gleichsam den eigenen Namen vor, das schlechterdings nicht Vertauschbare. Das macht [ … ] ihre Betrachtung selig.
Theodor W. Adorno
Auf den Wegen, die man täglich zu gehen hat, kommt man auch durch die Bergstraße, eher eine Gasse, schmal, grau, vegetationslos, von Gebäuden eingeschlossen, mit Beton ausgekleidet wie ein Kanal. Ihre Besonderheit ist ihr beträchtliches Gefälle. Unten verläuft die Durchgangsstraße, in einem der Häuser eine meist verlassen wirkende Textilreinigung, weiter oben ein Blumengeschäft, Nelli’s Blumenladen, in der Nähe ein griechisches Lokal, das argentinische Steaks verkauft, ein spanisches Restaurant in einem früheren Mädchenpensionat, Spitzenkrägen, günstige Tapas, angenehme Bedienung und Public Viewing, wenn es um die Meisterschaft geht, gegenüber die Sparkassenfiliale mit den Immobilienanzeigen im Schaufenster, Bänke, Briefkasten, Fahrradständer, dichtbeparkte Plätze, eine Metzgerei, deren im Keller befindliche Kühlkammern beständig Wärme abstrahlen – die Kirschbäume an der Straße blühen im Winter.
Der Höhenkamm, den die Bergstraße hinabläuft, erhebt sich bis auf 200 Meter über dem Meeresspiegel. Man fährt in langen Kurven hinauf, ein Teil des Buchenmischwaldes, der den Hang einst bedeckte, ist noch da, und wer dort hineingeht, merkt, auch im Sommer noch, die Feuchtigkeit, die angenehme Kühle zwischen den Bäumen. Der Bergrücken ist durchzogen von Spalten, Gräben, Siefen, Rinnsalen, die verschwinden bei Trockenheit und sich füllen mit jedem Regen, begleitet vom Rauschen, Glucksen, Tröpfeln, Plappern des fließenden Wassers.
Am Fuß des Berges büßte es dazumal an Tempo ein, suchte sich breitere Betten, durchquerte die Ebene in Windungen und Schleifen und erreichte schließlich den Fluß unten im Tal. Wolfsbach, Geisbach, Hanfbach, Lüppingsbach, auf den Karten ist es verzeichnet.
Als die Siedlungen wuchsen, am Fuß des Berges und den Hang hinauf, kam all dies unter Beton. Nun verschwinden die Gewässer am Rand des Waldes, werden unter die Erde gelegt, in Rohre gezwungen, durchgeleitet und erst dann wieder freigelassen, wenn der Ortsrand erreicht ist. Das Land der Bäche liegt heute unter Wohn- und Gewerbegebieten und Straßen, und wenn man sich bei starkem Regen auf einen der Gullys stellt, kann man es hören: das Rauschen des Wassers, das den Berg hinabläuft wie vor Hunderten von Jahren, sich seinen Weg aber nicht mehr selber zu bahnen vermag.
Vor einigen Monaten sahen wir an einem Bach in einem kleinen Waldgebiet, das von einem Naturlehrpfad durchzogen ist, eine Gebirgsstelze. Mit wippendem Schwanz, feingliedrigen, zarten, etwas nervös wirkenden Bewegungen lief sie am Ufer entlang, über einen gestürzten Baum, bemooste Steine, nach Insekten suchend, stets in der Nähe des Wassers, das sie, anders als ihre nahe Verwandte, die Bachstelze, kaum entbehren kann. Ein munterer, gleichwohl im Wald kaum zu bemerkender Vogel, wäre da nicht die gelb leuchtende, von etwas Weiß aufgehellte Brust unter der asphalt- wie schiefergrauen Rücken- und Flügelpartie, ein Aufscheinen wie eine Reflexion auf dem Wasser.
Im folgenden Frühjahr fuhrst du durch die Bergstraße und hättest im trüben Morgen den grauen Vogel beinahe nicht bemerkt, der dort, zwischen Blumenladen und chemischer Reinigung, auf dem Asphalt hin- und hertrippelte. Ein Hausrotschwanz hätte es sein mögen, eine Felsengrasmücke, ein Grauspötter meinetwegen, doch dann war es zu sehen, das noch ein wenig blasse Gelb der Gebirgsstelze, der lange, fein ausgezogene Schwanz, der weiße Oberaugenstrich. Kein Bach, kein Moos, kein Stein, nichts, nur fugendichte menschliche Bauwelt. Und als du, wieder zu Hause, H. davon erzähltest, mochte sie es kaum glauben.
Doch als du am nächsten Morgen erneut die Bergstraße passiertest, um die Ecke auf die Durchgangsstraße einbogst und am Kreisverkehr halten mußtest, hörtest du das Rauschen unter dem Asphalt. Der Wolfsbach, hier muß er sein.
Den kleinen, den klugen gelben Vogel hast du nie wieder gesehen.
Aber schon am 27. April des Jahres begab sich folgendes.
Wir fuhren zusammen mit M., der ewigjungen Granate, mit der U-Bahn vom Hohenzollernplatz zum Hauptbahnhof, nahmen dort die S-Bahn zum Stachus und wollten ins Hofbräuhaus gehen.
Wir latschten herum und fanden es nicht, trotz der akribischen Instruktionen des Herrn S. (»durch die Dingsbums-Gasse, dann seid’s scho’ da«).
Als wir dann mal da waren, tranken wir in Rekordzeit zwei Bier und verdufteten wieder. Denn das Schneider Bräuhaus im Tal ist eh die schärfere Location. Bis vor wenigen Jahren war das Herbert Achternbuschs Stammwirtshaus, in dem er an einem Tisch vor der Küche hockte und, heißt es, seine Zeche mit kleinen Gemälden beglich. Barbara und Andreas jedenfalls können mit uns bezeugen, wie der begnadete Poet und Filmemacher an einem Abend in den nuller Jahren in Fünfminutenabständen drei- oder viermal im Stechschritt an unserem Tisch am Eingang vorbeirauschte – raus und kurz darauf wieder rein, ohne daß ihm der Hut vom Kopf flog –, offenbar schwer erzürnt oder unstillbar durstig.
Wir sitzen am nämlichen Tisch, lassen Weißbier in uns hinein und müssen nach einer halben Stunde mal vor die Tür – und fallen, draußen, vom Glauben ab, den wir nicht haben. Rund um die barocke Turmhaube der Heiliggeistkirche rechter Hand brettern vier Wanderfalken, unentwegt irre Freudenschreie ausstoßend, die Trottel da unten auf dem Viktualienmarkt verlachend, hetzen hintereinander her, tollen herum, zeigen, was bezüglich Fliegen Sache ist, und finden und finden kein Ende, im Kreis herum und herum und herum und herum und wieder herum und herum und herum.
Man spricht von Lern- und Jagdspielen. Wir sprechen nicht. Minutenlang steht uns das Maul offen. Achternbusch ist ja schon spitze. Aber diese Vorstellung der notorischen Taubenschänder und -destruktoren?
Es möchte nun jemand daherkommen und sagen, es seien wohl eher ordinäre Turmfalken gewesen. Wir werfen ihm ein Lächeln zu. Es waren Wanderfalken, für uns.
Meereslandschaft unter Maisonne, die Straße wie mit dem Lineal durch die topfebene Landschaft gelegt, über die beständig der Wind bläst. Das Gras wogt, wirft Wellen, biegt sich, beugt sich – wie die Fußgänger und Radfahrer, die sich gegen den Luftstrom vorwärtszubewegen bemühen.
Auf dem Weg liegt eine Feder, etwas zerzaust, schlank, schwarzgerändert, in der Nähe des Schafts milchweiß, nach außen hin in ein helles Grau übergehend. Nach einigen Metern eine weitere, ähnlich gefärbt, etwas kleiner, wir heben sie auf, schauen sie an, stecken sie ein. Dann, nach weiterer Wegstrecke, eine, die deutlich dunkler wirkt – das Weiß zu einem Fleck zusammengeschmolzen, das Grau zu Anthrazit verdichtet.
Wir stellen uns den Vogel vor, der sie verloren hat, lange vor der Zeit der Mauser, die Flügel und den Schwanz, die durchsichtig oder zerrupft sein müssen. Sein Flug wird ungelenk sein, torkelnd. Die nächste Feder finden wir zwischen trockenen, holzigen Halmen am Wegesrand, länglich, beinahe ölschwarz – und dann eine mit abgerundeter Fahne und einem bläulichen, ein wenig kalten Glanz. Welche Krankheit, welcher Räuber hat sie dem Vogel wohl herausgezogen?
Schließlich am Straßenrand ein Karree, dicht bewachsen mit Bäumen und Büschen, vor längerer Zeit angelegt, um Schutz zu bieten dem kleinen, offenbar nicht mehr bewohnten Haus, der Kate, die hier zwischen den Wiesen und Feldern errichtet worden ist. Unter dem schattenwerfenden Blätterdach eine struppige Hecke, die einen Einlaß freigibt, einen Durchgang ins Innere des Hains, wo sich eine vom Wind abgeschirmte Wiese befindet.
Wir gehen hinein. Und während sich das Tosen und das Toben des Windes verlieren, durchbricht das Schäkern einer Elster die neugewonnene Stille. Sie sitzt in einem Baum, in einem Flecken Licht, schaut kurz auf die Eindringlinge herab und fliegt davon, kein Fehler in ihrem Gefieder.
Vermutlich ist es so, daß Vögel keine Karriere machen, sondern in Ruhe gelassen werden wollen. Bisweilen wollen sie sich auch zeigen. Warum das so ist, wissen womöglich unsere gewitzten Hirnbiologen. Wir möchten mit denen nicht reden. Das ist unser Recht.
Am Abend zuvor eine Lesung über die gegenwärtigen Naturverhältnisse, im Georg-Büchner-Club in Gießen, auf Einladung des großen und verzweifelten Denkers Götz Eisenberg.
Elf Tage danach schickt er uns eine Mail: »Heute morgen stieß ich in der Morgensonne beim Lesen auf dem Balkon auf einen Traum von Max Frisch. Darin trifft Robert Walser Lenin in der Züricher Spiegelgasse und richtet nur eine Frage an ihn: ›Haben Sie auch das Glarner Birnbrot so gern?‹ Das hat mir den Morgen schöngemacht. Kurz darauf legte vorn am Flüßchen eine Motorsense los, und ich mußte das Lesen im Freien beenden.«
Einen guten Monat zuvor erreichte uns diese Mail: »Bei uns zu Hause war die Rückkehr des Kuckucks immer das Signal, daß nun die Spargelzeit beginnt und der Schinken aus der herbstlichen Hausschlachtung angeschnitten werden kann. Da könnte man heute lange warten, und die Spargelindustrie könnte dichtmachen. ›Mein Spargel schmeckt auch ohne Kuckuck!‹ könnte man den Kalauer meines alten Freundes Fritz Roth aus der Zeit des Waldsterbens – ›Mein Auto fährt auch ohne Wald!‹ – abwandeln. Fritz ist Schauspieler geworden und lebt in Berlin.«
In Berlin muß man nicht sein. In Watzenborn-Steinberg muß man sein, jetzt, am Tag nach der Lesung, zu deren Abrundung Wein und Käse und ein paar Flascherln Bier gereicht wurden, und die Sache mit dem Waldsterben haben Gerhard Polt und Hanns Christian Müller schon 1987, pars pro toto für die Läßlichkeit der sogenannten Natur, erledigt, mit dem Fernsehsketch »Die Verantwortungsnehmer«, in dem sich die Schilda Response GmbH & Co. KG des gesamten Spektrums gesellschaftlicher und politischer Debakel und »Schweinereien« an- und in dem sie konsequenterweise »Verantwortungen en gros« übernimmt.
»Wir übernehmen jedwede Verantwortung – also ideeller Art. Also, wie soll ich sagen: natürlich ohne finanzielle Konsequenzen. Weil, wie gesagt, die übernimmt sowieso der Steuerzahler«, schwadroniert der geniale Polt in der Rolle des Chefs der Schilda Response GmbH & Co. KG vor sich hin, ergo übernimmt sein Laden auch die Verantwortung fürs Waldsterben: »Der deutsche Wald ist hinüber – eine der größten Naturkatastrophen der letzten Jahrtausende, nicht wahr? Keiner will’s gewesen sein. Wir haben aber schon einen Verantwortlichen. Do sitzt er, unser Herr Sittich. Ja, Herr Sittich, Sie übernehmen die Verantwortung für des Waldsterben?« – »Ja, jederzeit.«
Warum der tumb wirkende, wenig gesprächige Herr Sittich, der Watschenmann, ausgerechnet wie ein unablässig schnabelnder Vogel heißt – das müssen wir den Polt mal fragen.
Eine weitere Nachricht von Götz Eisenberg: »Ich lese gerade ein tolles Buch von William T. Vollmann, in dem er von seinen Erfahrungen als Trainhopper berichtet und vor allem von seinen Begegnungen mit irren Typen. So trifft er eines Tages Bill, einen grauhaarigen Vietnamveteranen. Als er ihn fragte, ob er schöne Dinge gesehen habe, lächelte er und erzählte folgendes: ›Einmal war bei extremer Kälte ein Adler in seinen Waggon geflogen und hatte ihn angestarrt, so, als wollte er sagen, mir ist auch kalt, und Bill gab ihm etwas von seinem Hamburger, und der Adler blieb viele Stunden lang bei ihm. Ich sah, daß diese Erinnerung ihn glücklich machte. Über den Rest schwieg er sich aus.‹«
Mit dergleichen können wir nicht dienen an diesem wie hingehauchten, entgegenkommend kühlen Maimorgen auf der Terrasse von Frau Safrans Haus in Watzenborn-Steinberg. Der Abend war sittsam und desgleichen alkoholisch wohltemperiert, finalisiert im zwecks Überfüllung geöffneten Kaffee Wolkenlos in der Goethestraße, das Menschsein nun jedoch übt sich in Dezenz, im Schweigen, im Ruhen oder im sonntäglichen Pflichtpflöckeln, nichts zu hören aus den Gärten rundherum, kein Geplärre, keine Emanation technischer Gerätschaften, die sträflich mißverstandenen und -achteten Tauben juchheien über die Firste, die Sonne läßt es, weil sie heute mal an den Herrgott glaubt, langsam angehen, und wir haben nicht vor zu denken.
Man sollte bloß diesen Quatsch betrachten. Rechts über uns fliegen ständig zwei Stare die Traufe an, schlagen wirrsinnig mit den Flügeln und meckern und führen Beschwerde, quarrend und knarrend, zeternd und rüffelnd, flitschend und nörgelnd, genervt von der Anwesenheit dieses unbekannten Sackgesichts da unten, das den Unfugsmeistern und mimetisch hochqualifizierten Blödianen, versonnen zuschauend, doch nichts als wohlgesonnen ist und kurz gar erwägt, eine Ode ans Odiose der Stare, falsch: eine Ode an Sturnus vulgaris, an den Unterhaltungsolympier der Städte, Vorstädte und Minderstädte zu verfassen.
Nein, sie mögen uns nicht, das müssen sie ja keineswegs, aber nach einer halben Stunde trauen sie endlich dem Satansbraten, der da hockt ohne Arg und Flinte, und schlüpfen unter der Regenrinne hindurch, ihr Fütterungswerk zu verrichten und fortan fleißig zu sein wie ehedem die Handwerker, nicht versäumend, uns weiterhin ab und zu zu schimpfen oder vielleicht jetzt eher auszulachen, zu Recht, zu Recht.
Frau Safran geruht zu erscheinen, ein Käsebrot benagend. Rasch gilt es, die Grund- und Vorzüge von Alfred Schmidts Studie Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx zu extemporieren und zu erörtern, in einer nahezu idealen habermasianischen Laber- und Faselkonstellation. Herrschaftsfreie Kommunikation at her best – Herz, was begehrst du mehr?
Na – daß linker Hand ein Turmfalke behutsam hin- und herschwankend heransegelt und sich im Wipfel der Douglasie an der Grundstücksgrenze aufpflanzt. Und da oben von nun an sitzt.
In Frau Safrans Garten schläft eine zirka halbjahrhundertjährige Landschildkröte (Westrasse! Testudo hermanni! Nicht irgend so ein Bolschewik!). Die Haus- und Grünflächenherrin weist uns in die Bepflanzung ihres Anwesens ein. Botanik – ein weit schwierigeres Geschäft als die Ornithologie. Stockrose, Nelkenwurz, Feinstrahlaster, Goldrute, Männertreu, Zitronenmelisse, Margerite, Kornblume, Akelei, Sittichfenchel, Goldsafran.
Freund Schneider kommt vorbei und trinkt tatsächlich Kaffee. Das ist der Lauf der Welt, während sich der Turmfalke, der Faulheit willfahrend und zwischendurch kurz Körperpflege betreibend, auf seiner Aussichtsplattform im höflichen Gegenlicht nach wie vor hin- und herschaukeln läßt, der Natur souverän vertrauend. Wie lange er dort bereits verharrt – klassisch stahlgrauer Helm, geschmackssicher schwarzgetüpfelter mildbrauner Mantel, schlanke gestrichelte Brust, hellhoniggelbe Hosen.
Anstalten machen wir, über Literatur und deren Betriebsförmigkeit zu diskursieren. Wir sollten das lassen. Denn schon seit, mittlerweile, Stunden zeigt uns ein Mönchsgrasmückenmännchen aus dem Background akustisch die Instrumente, und plötzlich, als wolle es seine Zuneigung zu uns oder zu den Staren oder zu wem auch immer demonstrieren, landet es auf einem Busch direkt an der Terrasse, richtet die stilvoll konturierte schwarze Kappe gen Firmament und läßt aus seinem winzigen Leib Töne und Melodien hervorströmen, die versuchsweise zu transkribieren unanständig wäre.
Es ist ein Lied an und für die Welt, sprudelnd, schmetternd, hurrarufend, frei und selbstbewußt und lustliebend, der weißgraue Rumpf wiegt sich nach links und nach rechts, kein Windstoß könnte ihm etwas anhaben, »Ihr Idioten! Ihr Idioten!« flötet, zugleich spöttisch schwätzend, der Vogel, es ist vollständig bescheuert und sagenhaft, und das ist Watzenborn-Steinberg.
Man kann überhaupt nur glücklich sein, wenn man so etwas aufschreibt.
»Nachtrag. Deine Zeitzeugenschaft beweist: Es gab sie, die Momente der Stille. Und es wird sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch wieder geben. Ein gewichtiger Trost, denn heute hätten wir statt ›Was piept und fliegt denn da?‹ prima ›Was lärmt denn da?‹ spielen können (Bohrmeißel! Preßlufthammer! Rüttelplatte! Schlagbohrer, Flex … ).
Ich werde dem BHB (Interessenverband Heimwerken, Bauen, Gärtnern) als PR-Maßnahme die ›Stunde der Werkzeuge und Maschinen‹ vorschlagen. Ein Montagmorgen eignet sich gut.
Ab 15.35 Uhr wurde meinerseits zurückgelärmt mittels Rasenmäher. Die Nachbarschaft ließ mich prominent gewähren (Solo Safran!) und fing erst zu mähen an, als ich fertig war.
So geht Reihenhaus.
Gerade ist nur eine Amsel zu hören.«
*
»›So geht Reihenhaus‹ – wunderbare Formulierung! Du hast aber die Bohrmeise, den Preßlufthammerkopf, den Rüttelfalken, den Schlagadler und den Flexflamingo vergessen.«
*
»Oh, tut mir leid! Auch die Vorschlaghammerammer.«
Das Grau hat keinen guten Ruf. Kopfschmerz am Morgen, eine Stadt unter Smog, nachts die Katzen. Ungeziefer, Waschbeton, Hausmeisterkittel. Das Unscheinbare, Farblose, nicht Beachtenswerte. Goldammer schlägt Grauammer. Der Gelbspötter gilt zu Recht als Wunderwerk der Natur, der Grauspötter erfährt die ihm zustehende Anerkennung erst, seit er Isabellspötter heißt. Den schwarz-weiß gewandeten Trauerschnäpper hat man vor Augen, den Grauschnäpper nie gesehen. Und wer in Südfrankreich oder im Winter am Niederrhein die Silberreiher auf den Wiesen sieht, schmal, hochaufgeschossen, elegant schreitend, dem kommen die danebenstehenden Graureiher wie Statisten vor.
Immerhin einer der größten mitteleuropäischen Vögel, bis zu zwei Meter Spannweite, in voller Streckung fast einen Meter groß. In unserer Kindheit war nicht daran zu denken, jemals einen Storch zu sehen. Man hoffte darauf, eines fernen Tages, und konnte sich derweil mit dem Graureiher trösten. Diesen schweren Vogel mit dem langen Hals fliegen zu sehen, ihm zwischen Äckern und Wald zu begegnen, an einem Tümpel, auf Beute wartend, war schon etwas, das einen nicht kaltließ. Size might have mattered. Und das etwas Absonderliche des Vogels interessierte uns vermutlich ebenso wie die Tatsache, daß er einen fast so schweren Stand hatte wie die Greifvögel.
Raubvögel wurden sie damals genannt, und Ardea cinerea war üblicherweise der »Fischreiher«, eine üble Kreatur, die unablässig Karpfen- und Forellenteiche leerräumte, eine Pest und eine Plage, die nur noch vom Kormoran übertroffen wird, ein Unglücksvogel, der die bayerische Fischwirtschaft und die Heimat überhaupt bedrohte. Daß sich der graue Reiher überwiegend von anderen Tieren ernährte, Mäusen und Ratten zumal, war ein Einwand, wie ihn nur die Deppen vom Vogelschutzverein vorbringen konnten.
Ein Symbolvogel gegen das allgemeine »Feuer frei!« wurde der Graureiher also für uns, später ein Wappentier der schlechten Laune. Das Verbreitungsgebiet des Grey Heron hat sich erweitert, der Bestand entwickelt sich positiv. Beim Speiseplan nicht wählerisch, nicht unbedingt anspruchsvoll, was sein Lebensumfeld angeht, ist er fast ein Allerweltsvogel geworden, zu einer jener Arten, die einen beständig durchs Leben zu begleiten scheinen.
In den zersiedelten Landschaften braucht es einen Fluß und ein paar Wiesen, in den Städten nur ein kleineres Gewässer, das nicht von Beton eingefaßt ist, schon bekommt man die Reiher zu Gesicht. In der Nähe des Rheins kann man sie tagsüber oft auf den Wiesen sehen, unter ihre grauen Flügeldecken gekauert, still, fast steif, auf den Boden starrend, als warteten sie auf etwas, von dem sie wissen, daß es nicht eintreten wird. Nähert man sich ihnen zu sehr, erheben sie sich, etwas ungnädig, mit leichter Verzögerung, als wägten sie ab, ob es sich überhaupt lohne, wuchten sich in die Höhe, schaffen ein paar Meter, sinken alsbald nieder und stecken die Flügel wieder zusammen, um von neuem ihrem Geschäft nachzugehen: stehen, starren, stieren.
In der Altstadt von B. nahmen wir einige Jahre lang einen Laufweg parallel zu einem Bach, der uns regelmäßige Begegnungen mit Reihern eintrug. Einer hatte seinen Stammplatz hinter einer kleinen Brücke, zwischen Parkplatz und Kindertagesstätte, unter dem Geräusch des Straßenverkehrs stand er sich dort die Beine in den Bauch. Meist begegneten wir ihm im Regen, die krummen Schultern unter seinen staubgrauen Kittel gesteckt, mißmutig auf das Rinnsal und umgebendes Gestrüpp schauend. Mit beginnender Dämmerung zog er dann schwer schlagend über den Himmel zu seinem Schlafplatz, wie ein müder Mann mit überfüllter Aktentasche.
Wie es sonst zugeht in so einem Graureiherleben, erfährt man ohne weiteres meist nicht. Der Allerweltsvogelbeobachter erhält in der Regel kaum Einblicke in Dinge wie Balz, Partnerwahl, das Verhalten der Paare untereinander, die Aufzucht der Jungen. Doch wem es um schlechte Laune zu tun ist, sollte sich einmal auf die Suche nach einem Reiherhorst machen: ein achtlos zusammengeworfener Haufen aus Zweigen, mit Ausscheidungen besudelt, die Jungvögel in schmutzigem Grau, lärmend um Futter bettelnd, das ihnen von den Elterntieren in den Schlund gewürgt wird.
In einer Reiherkolonie obwaltet das Spektakel. Die Elternpaare machen sich gegenseitig das Nistmaterial streitig, die jungen Reiher zanken sich fast unentwegt um Futter oder spähen neidisch aufs Nachbarnest; dabei »schreien und quieken« sie »wie eine Horde Schweine« (Gerhard Brodowski), während die Alttiere ihr rüpelhaftes Tun mit unentwegtem Krächzen und Kläffen begleiten.
Die Bäume leiden schwer unter dem ätzenden, wahllos verspritzten, über Äste und Stämme rinnenden Reiherkot. Auf der Kurischen Nehrung haben wir einmal eine Kolonie gesehen, die einem Waste Land glich; kahle Äste ragten hilfesuchend in den Himmel. Und nebenan brüteten die Kormorane.
In J. A. Bakers epochalem Buch Der Wanderfalke begegnet man auch dem Graureiher einige Male, und der düstere Ton von Bakers Prosa umhüllt seine Gestalt wie ein Mantel: »Gebeugt und krumm hing [der Reiher] schlaff auf seinen langen Stelzenbeinen. [ … ] Sein Schnabel bewegte sich nur ein einziges Mal. Er wartete auf Mäuse, um sie zu töten. Es kamen keine.«
An anderer Stelle spricht Baker vom »kalten Blick des spähenden Reihers«. »Die Sonne glänzt«, und dann »sticht« der Vogel mit »speerschnellem Schnabel [ … ] dem Wasser die helle Hornhaut aus«. Ein Moment, kürzer noch als dieser Satz: Der reglos, wie abgestorben wirkende Vogel schnellt nach vorne, sein Hals streckt sich, der Schnabel stößt zu, der ganze Körper in explosiver Entladung, und erst wenn er zurückgefedert ist und sich wieder aufrichtet, um sich erneut in Position zu bringen oder die Beute, einen Fisch, eine Maus, durch seinen schlangenartigen Hals herunterzuschlingen, weiß man, was geschehen ist.
Seit wir nicht mehr in der Stadt wohnen, gewahren wir die grauen Reiher noch öfter, wieder und wieder, von einem der Wege aus, die sich an einem kleinen Fluß entlangwinden. Folgt man dem Wasser über mehrere Kilometer, begegnet man, gerade im Spätsommer, Reiher um Reiher, meist in der Nähe des Ufers, in unterschiedlichen Zuständen der Ruhe und Anspannung, eingerichtet in verschiedenen Posen, fast wie in einem Skizzenbuch, einer auf einem Stein balancierend wie ein Akrobat auf einem Ball, ein anderer zusammengekauert unter einer Weide, ein dritter nach vorne gestreckt ins Wasser spähend, ein vierter aufrecht, den langen Hals fast geradegezogen.
Immer bleiben sie einzeln, ungesellig, aber im späteren Jahresverlauf, wenn die Jungvögel hinzugekommen sind, sieht man oft mehrere recht nah beieinander: Altvögel mit dem markanten schwarzen Schopf, am Hals fast noch reines Weiß, das Gefieder kontrastreich wie das einer Bachstelze, der Schnabel beinahe so gelb wie der ihrer charmanteren Verwandten, der Silber- und Kuhreiher. Manche mit verwaschenen Farben, die Jungvögel schmaler, blasser, scheckig, an Hals und Brust gemasert. Verteilt über die Ebene wie Stecknadelköpfe auf einer Landkarte.
Verharrt man in gemessenem Abstand, kann man sehen, wie die Reiher durchs Gras schreiten, langsam, gemessen, die Beine an- und abwinkelnd, die Füße mit den langen Zehen vorsichtig auf den Boden setzend, so daß man an die tastenden Bewegungen einer Rohrdommel oder einer Wasserralle denken muß.
Kein Anlaß besteht, den garstigen Grauen zu idealisieren. Aber es ist, als ob das genauere Hinschauen den Vogel verändert. Am Abend sehen wir einen davonziehen, wie ein Boot durchs Himmelsmeer. Von den Wellenkämmen fällt noch etwas Licht zurück.
Der Himmel ist matt und müde wie ein Bettlaken um sechs Uhr früh. Die Luft ist ruhig wie ein Glas Wasser. Einzig die Flugzeuge zwischendurch zeichnen Tonspuren ins Drumherum.
Hinter den Mauern müht sich nun doch eine Amsel, eine halbe Minute lang, fragil flötend und zaghaft zeternd dem Siechtum etwas entgegenzusetzen. Es müßte ihn ja noch geben, den Gedanken an Wärme und an die Liebe zur Welt.
Es ist ein furchtbares Jahr. Wir sitzen, wie immer, am Schreibtisch, die Fenster geöffnet, die Temperaturen steigen. Schon um acht ist der Tag erschöpft.
Die Vorstellung, daß einmal nichts mehr sein könnte.
Es ist beinahe nichts mehr. Keine Meise, kein Spatz, kein Hausrotschwanz, kein Star, kein Eichelhäher, keine Elster mehr, die Stadt ist leer, nebenan der Schlagbohrer, da vorne hupen sie jetzt, sie fahren zum Einkaufen, Plastikfetzen flattern durch die Straße, noch schnell zur Post, die wird auch bald schließen.
Der Zustand: wie nach sieben Tagen Saufen ohne einen Bissen Nahrung.
Wo warst du, Welt?
Abends in die Gastwirtschaft. Lustlos in der aktuellen Titanic geblättert. In der Rubrik »Vom Fachmann für Kenner« ein Beitrag von Tibor Rácskai, unter der Überschrift »Sprichwort, aktualisiert«:
»Der Vogel muß gar nicht mehr früh sein, um den Wurm zu fangen, weil die anderen Vögel meistens schon tot sind.«
»Look! They’re back! Look!« And they’re gone.
Ted HugheS
Mitte April dürfte es soweit sein.
Sobald sich die Schwalben im September auf den Stromleitungen sammeln, weiß man, daß sie fortziehen werden. Zurück kehren sie hingegen ohne Vorwarnung. Auf einmal sind die eleganten Vögel in der Luft, kurzer Frack, weiße Brust.
Die Vogelbücher verzeichnen die üblichen Zugzeiten. Doch genau weiß man nie, wann es soweit ist. In trüben Frühjahren, wenn der April frostig ist und reichlich Regen bringt, möchte man sie gar nicht so bald hier haben. In einem heiteren März schaut man Tag für Tag in den Himmel und fragt sich, wo sie denn bleiben.
Wäre man phänologisch veranlagt, hätte man sich über die Jahre notiert, auf welche Tage die Zugzeiten der hiesigen Mehlschwalben fallen, und man besäße einen Anhaltspunkt für das, was zu erwarten wäre. Sicherheit gewönne man dadurch trotzdem nicht. Denn auf Grund des Klimawandels verändern sich die Niederschläge und die Temperaturen, die Vegetationsphasen und folglich auch das Zugverhalten der Vögel. Wie ein Uhrwerk hat der Vogelzug nie funktioniert, aber die Abweichungen nehmen zu. Wann man den ersten Zilpzalp aus der Baumkrone rufen hört, wann die Kraniche übers Haus ziehen, wann das erste Zwitschern der Mönchsgrasmücke ertönt – it depends, you know.
Fünf Monate, immerhin. Früher waren es die Rauch- und Mehlschwalben, die dem Jahr eine Gliederung gaben. Im Dorf, auf dem Land schienen sie allgegenwärtig. Kamen die Schwalben aus Afrika zurück, wurde es endlich Frühling. Zogen die »Sommergeister« (Stein, Vogelkunde) wieder gen Süden, stellte man sich gefälligst auf den Herbst ein. Als die Großeltern noch lebten, konnte man sich daran halten.
Später, als man weggezogen war, in eine größere Stadt, galt es, einen anderen Kalender zu finden. Vor den Fenstern des Mehrfamilienhauses am Innenstadtring, in das wir unsere Möbel stellten, standen zwar Kastanien; ab und an turnte eine Kohlmeise in den Zweigen herum, dann gesellte sich ein Buchfink dazu, der gegen den Radau der Autofahrer anplärrte, viel mehr war aber erst einmal nicht. Bis die Mauersegler kamen.
An den Häuserfassaden gegenüber waren Brutkästen angebracht, die die ortstreuen Vögel jedes Jahr von neuem bezogen. Damit begann die herrliche Zeit. Die schwarzgrauen Segler jagten wie Düsenjets am Himmel hin und her, entschwanden ins helle Grau, stürzten zwischen die Häuser hinab, rasten in flinksten Wendungen die Straßenzüge entlang, pfiffen über die Dächer, immer mit anderen, sich gegenseitig umkurvend, einander jagend, flankierend und begleitend. Zwischendurch flogen sie in langen, klargezogenen Bögen die Fassaden an, an denen sie sich festhakten, dann unterkrochen, um zu füttern. Kurz waren sie verschwunden. Doch bald tauchten sie wieder auf, ließen sich abermals in ihr Element fallen und fuhren fort mit der fröhlichen Raserei.
Man stellt sich ans Fenster, sieht ihren Flugmanövern und -kunststücken zu, und da einem die Worte ausgehen, steht man da – mit offenem Mund und täppisch in der Luft herumrudernden Armen. Haste das gesehen? – Haste nicht.
Man öffnet das Fenster, damit ihre Stimmen noch besser zu hören sind, ihre langgezogenen, stets ein wenig euphorisch wirkenden Schreie, die nie schrill anmuten, aber sich gegen alles durchsetzen, was da noch tönt und brummt und krawallt. Lang halten die Tage das Licht, und die Häuser, die Straßen, die Welt und der Kosmos sind eingehüllt in den großartigsten Lärm.
Zunächst versteht man die Stille nicht, die Einzug hält, nachdem sich die Mauersegler wieder nach Afrika verfügt haben. Die von Fluginsekten abhängigen Vögel folgen einem straffen Zeitplan: Gebalzt wird im Fliegen, die Paarbildung geht häufig – monogamiemäßig – ohne größeres Gehabe vonstatten, die zwei bis drei Eier sind in knapp drei Wochen zur Reife gebracht, und wenn die Jungvögel nach weiteren sechs bis sieben Wochen die Bruthöhle verlassen, liegen wenige Tage vor ihnen, bis sie sich auf den Weg machen müssen. Kurz ist so ein Mauerseglerjahr, Anfang August ist der Himmel wieder leer. Dann beginnt das Warten – auf ihre Rückkehr im folgenden Mai.
Seit einiger Zeit leben wir in einer Kleinstadt, die ein rechter Schrotthaufen ist, die aber immerhin die Faustregel widerlegt, es gebe Schwalben oder Segler. Wenige Monate, nachdem wir hierhergekommen waren, nahmen wir von Mehlschwalben über dem Haus Notiz, von ihrem schwankenden, paddelnden Flug, von ihrem schwätzenden, plätschernden Gesang. In der Straße standen einige Gebäude, an die sie ihre Nester kleben konnten, und so begleiteten sie uns den Sommer über.
Im Mai waren dann die Mauersegler aufgetaucht, zunächst, wie oft, nur in geringer Zahl, über den Himmel verteilt, eher zögerlich wirkend, zwischen den Luftschichten dümpelnd, Durchzügler, die sich wie eine Vorhut gebärdeten. Drei Tage später erschienen die anderen, die blieben und den Raum zwischen den Häusern veränderten.
Gott segne die rheinischen Handwerker. Eines der Mauerseglerpaare zwängt sich unter dem Vorsprung eines Satteldaches in ein Loch, das ein nachlässiger Fassadenbauer gelassen hat, und zieht in dem dahintergelegenen Hohlraum seinen Nachwuchs auf. Nur fünf Meter liegt diese Brutröhre über unserem Hof. Der Eindruck, den die Vögel jetzt machen, ist noch dichter, physischer als in der Stadt. Man sieht den runden Kopf des Weibchens beim Brüten unterm Dach hervorlugen, erkennt den kurzen Schnabel, die graue Kehle, hört es nach dem Männchen rufen, vernimmt alsbald das Sirren und Zirpen der nach Futter bettelnden Jungvögel und nimmt wahr, wie sie in den Tagen vor dem Ausfliegen mit den noch zusammengelegten Schwingen zu schlagen beginnen, um ihre Muskeln zu trainieren und das nötige Fluggewicht zu erreichen.
Wenn die Alten die Bruthöhle anfliegen und dabei den Hof überqueren, schießen sie manches Mal so dicht über uns hinweg, daß wir einen Luftzug zu spüren vermeinen – ein Geräusch, als führe man mit einer Weidenrute durch die Luft. Und während der Screaming Parties, die Alt- und Jungvögel in den letzten Julitagen über den Köpfen der Menschen veranstalten, sitzt man staunend auf dem Sofa. Spaß haben die anderen, aber wenigstens ist man dabei, und Bier gibt es genug.