Wohin steuert der Iran? Deutschlands Korrespondentin liefert eine hoch aktuelle und sehr persönliche Bestandsaufnahme.
Natalie Amiri ist in einer deutsch-iranischen Familie aufgewachsen und lebt heute zwischen Teheran, München und Köln. Sie gehört zu den ARD-Tagesthemen-Kommentatorinnen und ist eine der wenigen intimen Kennerinnen des Irans. Sie beschreibt ihr Leben zwischen zwei Welten und Kulturen und erklärt anschaulich, wie sich die politische Situation seit der Revolution von 1979 entwickelt hat. Es ist das Buch einer mutigen Journalistin, die höchste Risiken in Kauf nimmt, um über die Situation vor Ort zu informieren und den Kampf der Bevölkerung gegen die Machthaber zu unterstützen. Mit großer Dringlichkeit macht Natalie Amiri darauf aufmerksam, dass sich der Iran nach Donald Trumps Rückzug aus dem Atomabkommen zur tickenden Zeitbombe entwickelt.
Über Natalie Amiri
Natalie Amiri, Jahrgang 1978, hat Orientalistik mit dem Schwerpunkt Iranistik in Bamberg, Teheran und Damaskus studiert und arbeitete anschließend in der deutschen Botschaft in Teheran. Seit 2007 berichtet sie als Korrespondentin für die ARD aus dem Studio Teheran, seit 2011 als freie Journalistin für die ARD-Tagesthemen, die Tagesschau, Deutschlandradio u.a. Zum 1. Mai 2020 musste Amiri die Leitung des Teheraner ARD-Studios abgeben, da das Auswärtige Amt eine Geiselnahme befürchtete.
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Zwischen den Welten
Von Macht und Ohnmacht im Iran
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Newsletter
Einführung
Kinder der Revolution
Kriegszeiten
Die Putzfrau
Im Kleiderschrank
Studentenproteste
Parallelgesellschaft
Weihnachten mit Ahmadinedschad
Der Mut der iranischen Frauen
Die Farbe der Revolution
Aufstieg der Revolutionsgarde
Die Beziehungen zwischen Iran und Israel
Freiheit
Der Teppich
Das Abkommen der Hoffnung
Die Welt der Geschäftsmänner
Arbeitsbedingungen
Soziale Medien
Die Passkontrolle
Iran und der Westen
Radieschen
Das sinkende Schiff
Das Spiel ist aus
Machterhalt um jeden Preis
Schluss
Dank
Literatur
Impressum
Für mein Kind Kian
Ich konnte nicht anders. Ich musste immer wieder einreisen, trotz all der Warnungen. Fünf Jahre lang habe ich als ARD-Büroleiterin aus Teheran berichtet, von 2015 bis 2020. Auch über Themen, die in der Islamischen Republik tabu sind wie Hinrichtungen, Drogenkonsum, Frauen, die unerschrocken und mutig für ihre Rechte kämpfen, oder afghanische Söldner, die von der iranischen Revolutionsgarde rekrutiert und nach Syrien geschickt werden. Über eine Gesellschaft, die zwei Leben parallel führt – das offizielle und das verbotene. Jede Geschichte, die ich erzählen wollte, war begleitet von Herzklopfen und dem Gefühl, dieses Mal holen sie dich, dieses Mal kommst du nicht davon. Dabei hoffte ich inständig, dass sich das Risiko lohnt, dass diejenigen, die mir im Westen zuhörten, den Iran nach meinen Berichten differenzierter sehen würden: Hört hin, schaut hin! Ich teile euch etwas mit, wozu die Menschen hier selbst nicht in der Lage sind. Weil sie nicht wie ich zwei Pässe haben, die ich meinem iranischen Vater und meiner deutschen Mutter zu verdanken habe. Weil sie sofort weggesperrt werden würden – ohne Anklage, ohne Anwalt. Tausenden ist es so ergangen.
Jetzt sind die Türen zum Iran für mich verschlossen. Ich darf nicht mehr einreisen. Dabei wollte ich genau das verhindern. Ich wollte unbedingt so viel wie möglich als Journalistin über das menschenverachtende System der Islamischen Republik berichten. Aber auch über die herzliche Gesellschaft, die einen mit offenen Armen empfängt. So offen, wie ich es sonst nirgendwo auf der Welt erlebt habe. Ich dachte, mit vielen versteckten Kommentaren in meinen Beiträgen könnte ich ein wahrhaftigeres und vollständigeres Bild des Regimes und der Gesellschaft vermitteln. Ich wollte Botschaften in die westliche Welt schicken, um mitzuteilen: Hier gibt es Menschen, die darauf hoffen, dass ihr sie unterstützt. Dass ihr sie erkennt. Dass ihr ihren Durst nach Freiheit seht und begreift. Ihren Wunsch, ein anerkannter Teil dieser Welt zu sein. Die meisten Menschen im Iran wollen nicht in den chinesischen Machtkosmos mit hineingezogen werden, auch nicht in den russischen, sie fühlen sich der westlichen Welt nahe. Sie wollen nicht zum Westen werden, sondern ein vom Westen akzeptiertes und respektiertes Land sein.
Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis ich ausgebremst werden würde. Denn meine grundlegende Aufgabe besteht darin, über das zu berichten, was geschieht. Im Iran wird man jedoch genau daran permanent gehindert. Es braucht dort mehr, es braucht einen ausgeklügelten Plan, um einen Bericht umzusetzen. Jede Sendeminute, die ausgestrahlt wird, kostet einen im Vorfeld unheimlich viel Kraft und Erfindungsreichtum. Ziel ist es, an eine Geschichte zu kommen, ohne davor von den Behörden, den Milizen oder dem Geheimdienst gestoppt zu werden. Vor diesem Hintergrund hoffte ich, dass der Zuschauer die entscheidenden Informationen herausfiltern würde. Dabei habe ich oft zu viel vorausgesetzt. Schließlich muss ich dafür sorgen, dass alle Informationen verständlich vermittelt werden, ohne dem Zuschauer grundlegende Kenntnisse über die Situation im Land abzuverlangen. Das ist das Dilemma während der Berichterstattung aus dem Iran. Natürlich hätte ich versuchen können, die Verhältnisse von Anfang an radikal offenzulegen, dann hätte ich vielleicht mehr Zuschauer gewonnen. Oder wenn ich einfach mein Kopftuch während eines Interviews abgenommen hätte. Wenn ich darüber gesprochen hätte, wie der Geheimdienst versucht hat, mich zu erpressen, damit ich kooperiere. Wie man mir mit Gefängnis gedroht oder mich an der Ausreise aus dem Iran gehindert hat. Doch was hätte ich damit bewirkt? Ich wäre vielleicht als mutige Journalistin erwähnt worden, aber langfristig hätte ich nichts verändern können. Und der Iran hätte den Vorteil gehabt, eine internationale »Spionin« mehr ausweisen zu können.
Aus Deutschland erreichten mich immer wieder Tweets, in denen man mich aufforderte, das Kopftuch, das ich im Iran vom Gesetz verordnet tragen muss, abzunehmen. Man echauffierte sich darüber, dass sich eine deutsche Journalistin der Islamischen Republik unterordnet. Warum die ARD nicht einen männlichen Korrespondenten schicke? Wie bitte? Das machte mich fassungslos. Ich war so wütend über diesen Vorschlag, den ich nicht nur einmal zu hören bekam. Ein Freund, der die Diskussion darüber in den deutschen Medien mitverfolgte, schrieb mir: »Am Niedlichsten dabei ist das Argument, die Korrespondentin durch einen Korrespondenten zu ersetzen … Das Bild des feministischen Ausgleichs durch eine sexistische Geste zu retten.« Diesen Gefallen wollte ich der Islamischen Republik nicht tun.
Iran ist ein Land der Paradoxe. Nichts ist so, wie es scheint. Dazu zählt auch, dass der Iran das Land mit der pro-amerikanischsten Gesellschaft in der Region ist. Während gleichzeitig der politische Kurs des Landes von einem anti-amerikanischsten System bestimmt wird. Es handelt sich um ein Land, in dem eine Frau vor dem Gesetz teilweise nur halb so viel wert ist wie ein Mann, aber 57 Prozent der Studierenden an Universitäten weiblich sind. Frauen müssen ihre Weiblichkeit unter Kopftuch, Mantel oder Schleier verstecken, und gleichzeitig ist der Make-up-Verbrauch nach Saudi-Arabien der höchste in der gesamten Region. Viele Angehörige der Familie von Revolutionsführer Ruhollah Khomeini sind inzwischen in die Opposition gegangen, sind im Exil, mundtot gemacht oder umgebracht worden. Hossein Shariatmadari, Chefredakteur der ultrakonservativen Zeitung Keyhan und Repräsentant des Revolutionsführers und erklärter Gegner des Atomabkommens, erzählte mir, dass eine Annäherung an den Westen unbedingt verhindert werden müsse, während er vor einem riesigen Apple-Computer saß.
Der Iran verkörpert keine homogene Diktatur, sondern eine hybride Form aus Autokratie und Demokratie. Unter dem Revolutionsführer beeinflussen mächtige rivalisierende Gruppen einen sich ständig verändernden politischen Kurs des Landes. Dabei bleiben die revolutionären Grundprinzipien, ganz gleich von welcher Gruppe, innerhalb des Machtsystems der Islamischen Republik unangetastet. Jede Gruppe im System kämpft ums eigene Überleben. Große Teile der Gesellschaft sind dabei der Verlierer. Die Machthaber der Islamischen Republik sprechen nicht von einer Diktatur, sondern, wie im Namen verankert, von einer Republik. Doch der Revolutionsführer, der an der Spitze des Machtsystems steht, kann durch die ihm untergeordneten ultrakonservativen Gremien die demokratischen Elemente jederzeit aushebeln, was permanent geschieht.
Wenn mir hier in Deutschland jemand mitteilte, dass er so selten etwas über den Iran im Fernsehen sehe, bricht aus meinem Herzen ein kleines Stück heraus. Denn dafür wollte ich doch sorgen. Jedes Mal, wenn wir einen Beitrag drehten, war es für uns ein zermürbendes Katz-und-Maus-Spiel mit dem System, seinen Ministerien und Geheimdiensten. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute kontrollierten sie uns westliche Journalisten. Die Zwischentöne und geheimen Botschaften in meinen Beiträgen verstanden sie am besten. Sie hörten genau das, was ich eigentlich vermitteln wollte: Große Teile der Bevölkerung im Iran haben genug von der Islamischen Republik. Sie sind erschöpft. Müde, aufgerieben vom Kampf ums Überleben in einem korrupten System, in dem sie verarmen, während sich die Eliten bereichern. Zu lange wurde die Bevölkerung im Namen des Islams schikaniert, geschunden und missbraucht. Die Staatsideologie zieht nicht mehr. Ich kenne in der gesamten islamischen Welt keine so unislamische Gesellschaft wie die des Iran. Laut einer aktuellen Umfrage aus dem Sommer 2020 des GAMAAN Instituts in den Niederlanden wollen 70 Prozent der Bevölkerung nichts mehr mit Religion zu tun haben. Nur 30 Prozent betrachten sich laut der Umfrage als Muslime. Dennoch vermittelten mir große Teile der Gesellschaft, für eine Säkularisierung des Staates bereit zu sein. Wie religiös das Land wirklich noch ist, weiß niemand. Die Menschen wollen in Ruhe leben und in Freiheit.
Ist mein Blick auf den Iran nur kritisch? Nein, denn es gibt auch das Land und die Menschen jenseits der Politik, die in den Nachrichten selten vorkommen. Ich muss nur meine Augen schließen, und unzählige Bilder dieses einzigartigen Landes erscheinen. Die gastfreundlichen herzlichen Menschen, die immer bereit sind zu helfen. Der Alltag, der bestimmt ist vom Miteinander: Großeltern werden in den meisten Fällen nicht abgeschoben, sie altern im Kreis ihrer Familie. Wenn sich Arbeiter auf der Straße mit Reparaturen von Strom- oder Wasserleitungen plagen, kommt ein Anwohner mit einem Tablett vorbei mit Essen und Getränken für die Männer. Wenn ich ein Problem hatte, stand mir jemand hilfsbereit zur Seite. Immer gab es einen, den ich anrufen konnte, der da war und das Problem löste. Iraner haben gelernt, dass sie sich nicht auf den Staat verlassen können, sondern nur aufeinander. Das macht achtsam. Nachbarn, die sich nicht kennen, geschweige denn nicht grüßen, gibt es nicht. Zumindest habe ich das nie erlebt.
Im Iran kann man in den Bergen bei Teheran Ski fahren und bei 40 Grad am Persischen Golf am Strand entlangspazieren. An einem Tag. Ich habe nie ein Land bereist, in dem ich Landschaften sah, die kontrastvoller kaum sein können. Als hätten sich viele Elemente aller Kontinente in einem einzigen Land getroffen. Besonders liebe ich die unendlich weite Wüste, in der ich jedes Mal strahle, wenn ein Kamel auftaucht. Ich liebe es, in die iranischen Provinzen zu fahren, dort mit den Menschen zu sprechen. Wenn sie mir ihre Geschichte erzählen, wird mir jedes Mal bewusst, wie wichtig es ist, als Journalistin mit der Bevölkerung direkt kommunizieren zu können. Ihre Sprache so zu beherrschen, dass man die Bedeutung zwischen den Zeilen versteht. Je tiefer man ins Landesinnere gelangt, je weiter weg von Teheran und der Politik, desto warmherziger werden die Menschen. Sie begrüßen einen mit offenen Armen und offenen Gedanken. Oft vernichten sie das Regime in ihren Aussagen bei einem heißen Tee und einer saftigen Dattel. Fast jeder Bauer kann die amerikanischen Präsidenten aufzählen. Sie wissen, was in ihrem Land vorgeht und in der Welt.
Die Türen bleiben vorerst geschlossen. Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass ich als politische Geisel genommen würde, teilte das Auswärtige Amt meinem Sender, dem Bayerischen Rundfunk, mit. Die ARD läuft Gefahr, ihr Büro vor Ort schließen zu müssen. Die deutsch-iranischen Beziehungen, die jahrzehntelang trotz Gründung der Islamischen Republik funktionierten, stünden dann vor einer Zerreißprobe. Die außenpolitischen Beziehungen haben sich in den letzten Jahren nicht verbessert, ganz im Gegenteil. Das Atomabkommen steht auf der Kippe. Deutschland will die Beziehungen zum Iran nicht noch mehr strapazieren. Viele europäische Doppelstaatler – wie ich mit einen deutschen und einem iranischen Pass – wurden in den letzten Jahren festgenommen, ausreisegesperrt, inhaftiert. Das Auswärtige Amt warnt sie seit Ende 2020 vor einer Einreise in den Iran. Die Islamische Republik ist an ihrem Limit angekommen. So fühlt es sich an. Das Land ist sanktions- und coronageplagt. Es ist wirtschaftlich, finanziell und gesellschaftlich am Ende.
Erst jetzt wird mir bewusst, wie gefährlich es war, in diesem von mir so innig geliebten Land zu arbeiten. Erst jetzt träume ich bruchstückhaft davon, dass ich verfolgt werde, der Revolutionsgarde nicht entkomme, man mich ins Auto zerrt, in ein Verließ sperrt oder am Flughafen rauszieht. Ich hatte all die Jahre kaum Angst gespürt. Ich habe sie häufig verdrängt. Und wenn sie mich überfiel, dann half mir Sarkasmus. Mein gesamtes Team, es bestand nur aus drei Personen, ging so mit der Angst um. Unser Ziel bestand darin, die Berichterstattung möglich zu machen. Wir hatten dabei weder die Gefahr im Blick noch Arbeitszeiten. Wir wollten nur berichten. Ich scherzte oft mit meinen Kollegen in Teheran, welche Obstkonserven sie mir ins Gefängnis bringen sollten, und wir einigten uns auf »Tropical Mix«. Innerlich bereitete ich mich nicht nur einmal darauf vor, eine Zelle für längere Zeit von innen zu sehen. Ein seltsames, beklemmendes Gefühl, wenn man in einer Demokratie aufgewachsen ist. Ich überlegte mir, welche Bücher ich lesen würde. Und ich hatte eine Abfolge von Sportübungen auf einer App auswendiggelernt, die ich im Gefängnis täglich wiederholen könnte. Seven High Intensive Intervalltraining. Sieben Minuten lang. Ich dachte, wenn ich mich innerlich darauf vorbereitete, ins Gefängnis zu kommen, dann würde es mir nicht mehr so viel ausmachen, wenn es soweit wäre. Zumindest redete ich mir das ein.
Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Analyse. Es liefert vielmehr einen aktuellen Lagebericht des Landes und einen Abriss der Geschichte der Islamischen Republik aus meiner Perspektive als Journalistin, als Tochter eines Persers und einer Deutschen, aufgewachsen in Deutschland. Mit den Augen einer Vermittlerin zwischen den Kulturen, die ich, seit ich klein gewesen bin, werden wollte. Eine, die zwischen diesen zwei Welten, zwischen Anti-Amerika-Demonstranten in Teheran und tanzenden Menschen auf Bierbänken auf dem Oktoberfest in München, jongliert. Oft innerhalb von 24 Stunden. Ab und zu kam meine Seele nicht schnell genug nach. Sie hing dann irgendwo dazwischen. Die größte Energie weiterzumachen bekam ich, wenn mir Zuschauer mitteilten, dass sie nach einem Bericht von mir den Iran plötzlich mit anderen Augen sahen. Nicht mehr nur schwarz oder weiß.
Ich bin ein Kind der Revolution. Aber nicht eines, das die Folgen der Revolution im Iran selbst ertragen musste, sie akzeptieren, damit leben. Nur mein Geburtsjahr verbindet mich mit Millionen Iranern, die keine andere Staatsform kennen als die der Islamischen Republik. Dafür haben ihre Eltern gesorgt. Am 1. Februar 1979 kam Ayatollah Khomeini aus dem Exil in Frankreich zurück. Ich hatte Jahre später die Gelegenheit, drei Menschen kennenzulernen, die Khomeinis Ankunft im Iran miterlebt haben, zwei davon saßen mit ihm im Flugzeug: Der Journalist Peter Scholl-Latour und Sadegh Tabatabai, ein enger Wegbegleiter Khomeinis. Sie erzählten mir beide, unabhängig voneinander, dass sie nicht sicher gewesen seien, ob die Maschine von Air France, in der Revolutionsführer Khomeini saß, je landen oder vorher abgeschossen würde. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, ob sich das Militär nicht doch noch in letzter Minute gegen den neuen Anführer stellen würde – oder das Ausland. Das Flugzeug landete sicher in Teheran und brachte den Anführer der Revolution zurück. Seit 1964 war er ins politische Exil verbannt gewesen, viele Jahre verbrachte er im Irak, die letzten Monate, als die Revolution im Iran schon in vollem Gange war, in Frankreich. Auf dem Sitz neben ihm im Flugzeug hatte die neue Verfassung für das Land gelegen. Bald sollte die Islamische Republik ausgerufen werden. Eine Republik, die laut Khomeini wie alle anderen Republiken fungieren sollte, nur mit dem einen wichtigen Unterschied: die Integrierung des islamischen Gesetzes, der Scharia. Ein wichtiger Unterschied, den die Menschen bald zu spüren bekommen sollten. Die erste Verhaftungswelle gegen Revolutionsgegner und Schahtreue sollte schon wenige Tage nach Khomeinis Ankunft beginnen.
Zum 40. Jahrestag der Islamischen Republik postete ich auf Twitter ein Bild, das sich viele Iraner über die sozialen Medien zuschickten. Auf dem Bild war eine Air-France-Maschine zu sehen, die mit ausgefahrener Treppe auf dem Rollfeld des Teheraner Flughafens stand. Der Teppich, der über der Treppe lag, war blutgetränkt. Dafür wurde mir meine Pressekarte für drei Monate entzogen.
Als Ayatollah Khomeini an diesem kalten Februartag in Teheran landete, stand mein Mentor, der damalige ARD-Korrespondent Peter Mezger, mit über 150 anderen Journalisten der Weltpresse am Flughafen. Er hatte sich direkt an der Flugzeugtreppe, von der Khomeini hinunterschreiten sollte, einen Platz erkämpft. Peter erzählte mir, wie er die bedingungslose Euphorie der Massen miterlebt hatte. Die Bevölkerung, auch diejenigen, die bisher ein westliches Leben geführt hatten, freute sich auf das Neue. Man wünschte sich nichts sehnlicher als eine Verbesserung des Ist-Zustandes. Ein unglaublicher Optimismus hatte alle Gesellschaftsschichten erfasst. In keinem der Interviews, die er damals auf den Straßen geführt hat, waren Zweifel an dem Großen und Neuen zu hören. Da bis zu diesem Zeitpunkt die Kleriker in der Opposition waren und Religion ein wichtiger Bestandteil des alltäglichen Lebens im Iran, war der Islam im Land noch nicht negativ behaftet. Die Menschen lebten damals viel religiöser als heute. Als Khomeini aus dem Flugzeug stieg, wirkte das wie eine Inszenierung, erzählte mir Peter. Frenetischer Jubel setzte ein. Es war nicht inszeniert, es war eine spontane Reaktion, betonte mein Mentor. Khomeini selbst zeigte keine Regung. Massen blockierten die Straßen, so dass er nicht mit dem Auto in die Stadt gebracht werden konnte, sondern mit dem Hubschrauber zum Behesht-e Zahra Friedhof geflogen wurde. Dort wollte er zu den knapp zwei Millionen Menschen, die auf ihn warteten, sprechen: Studenten, Intellektuelle, Kommunisten, einfache Arbeiter und Professoren, Frauen im Minirock und Frauen im Tschador, dem traditionellen schwarzen Ganzkörperschleier. Quasi die gesamte Gesellschaft fand sich auf der Straße wieder. Khomeini sollte die erhoffte politische Veränderung und Freiheit bringen, erzählten mir viele ehemalige Revolutionäre später in Interviews. Man wollte Mohammad Reza Pahlavi, den Schah im Iran, und seinen brutalen Geheimdienst, den SAVAK (Sazman-e ettelaat o amniat-e keshvar, Organisation für Informationen und Sicherheit des Landes), der vom israelischen Mossad und der CIA aufgebaut worden war, endgültig loswerden. Die Pressefreiheit und Meinungsfreiheit sollten gestärkt, die Oppositionellen aus den Gefängnissen befreit und die Kluft zwischen Arm und Reich verringert werden. In seiner Rede auf dem Friedhof versprach Khomeini allen Menschen kostenlos Strom und Wasser. Diese Rede war hinterher nicht mehr wiederzufinden. Man löschte die Spuren seines Versprechens, da es nie eingelöst wurde. Vielen war es jedoch sehr gut in Erinnerung geblieben.
Die Revolution war zunächst iranisch, nicht islamisch. Ayatollah Khomeini kündigte an, sich in die religiöse Hochburg, nach Qom, in die Stadt, in der er schon studiert und lange gelehrt hatte, zurückzuziehen. In seinem Buch Welayat-e Faqih (die Statthalterschaft des Rechtsgelehrten), das auf seinen Reden und Schriften im Exil beruht, beschreibt Khomeini das Regierungssystem der Islamischen Republik. Doch die wenigsten haben dieses damals zu Schahzeiten verbotene Buch gelesen. Sie hätten ansonsten erfahren, was Khomeini vorhatte. Während der Revolution war ihnen alles recht, das Ziel vereinte die verschiedenen oppositionellen Gruppen: Der Schah sollte gehen. Am 16. Januar 1979 wurde genau das erreicht, der Schah und seine Familie verließen den Iran. Iranische Tageszeitungen titelten: »Schah raft«, der Schah ist gegangen, und die Bevölkerung feierte auf den Straßen. Für einen Moment vergaß man die politischen Differenzen. Die verschiedenen kommunistischen und linksliberalen Gruppierungen, die extra aus dem Ausland in Bussen anreisten, feierten zusammen mit den mächtigen konservativen Bazarhändlern, nationalistischen Gruppen, die Linksintellektuellen feierten mit den Traditionalisten, gemäßigte islamische Parteien mit Studentenvereinigungen, westlich Eingestellte mit Religiösen.
Viele fragen heute, warum eigentlich nicht die Demokratie angestrebt wurde? Ich frage mich das auch, 1978 in Westdeutschland geboren. Warum soll also Demokratie nicht die beste Staatsform sein? Dazu las ich eine interessante Analyse der Professorin für Islamwissenschaft Katajoun Amirpur. Sie beschreibt, wie negativ die Staatsform Demokratie in den 1960er und 1970er Jahren von einigen namhaften Intellektuellen im Iran betrachtet wurde: »Ein wesentlicher Grund dafür war, dass der Schah für seine diktatorische Herrschaft amerikanische Hilfe erhielt. Seither galt der demokratische Westen in den Augen vieler iranischer Intellektueller als diskreditiert. Weil also das iranische System eine Demokratie zu sein behauptet und dennoch tyrannisch ist, wendeten sich viele Denker von der Demokratie insgesamt ab. Und beeinflussten mit ihrer Denkweise die Massen.«
Ab diesem Zeitpunkt wurde alles, was mit dem Westen in Verbindung gebracht wurde, verachtet, verbannt und zerstört. Fast alles. 40 Jahre später sprach ich mit dem Hüter eines sehr besonderen Schatzes. »Der verborgene Schatz«, so nannte ich meine Dokumentation, die die Geschichte der größten zeitgenössischen Kunstsammlung außerhalb Europas und den USA erzählt. Die inzwischen milliardenschwere Sammlung liegt seit der Islamischen Revolution im Keller des Zeitgenössischen Museums in Teheran, dem TMOCA. Beschützt von einem Mann, der die Kunstwerke als »seine Kinder« bezeichnet. Firouz Shahbazi hatte keine Ahnung von Kunst, als ihm inmitten der Revolution 1979 gesagt wurde, dass er von nun an auf die Bilder im Keller aufpassen solle. Er eignete sich über die Jahre ein enormes Wissen über die Werke an. Ursprünglich war er 1977 vom Museum als Fahrer angestellt worden. Dann kam die Revolution. Unter Tränen erzählte er mir, dass ihm nichts wichtiger sei als der Erhalt dieser Bilder. Dafür geht er jeden Tag den langen Gang in den Keller, schließt mit einem großen Schlüssel die dicke Eisentür auf und schaut nach seinen »Kindern«. Firouz konnte sich noch gut an die Zeit der Revolution erinnern, als er fürchtete, die Bilder würden zerstört werden, als Teheran brannte. Die aufgebrachten Massen auf den Straßen gegen den Westen wüteten und hetzten.
Farah Diba, die damalige Kaiserin, kaufte diese Kunst in den 1970er Jahren. Werke von Jackson Pollock, Andy Warhol, Gustav Klimt, Marc Chagall, Claude Monet und vielen anderen zeitgenössischen internationalen und iranischen Künstlern. Eine Sammlung, die heute auf einen Wert von ungefähr drei Milliarden US-Dollar geschätzt wird. Die Fotografin Jila Dehjan, die damals bei der Eröffnung des Museums im Oktober 1977 die Eindrücke dieser sehr westlichen, extravaganten Eröffnungsfeier festhielt, erzählte mir, dass die iranischen Zaungäste verwirrt auf das Kaiserpaar schauten, das umringt war von schillernden exotischen Performance-Künstlern aus aller Welt. Die damalige iranische Elite feierte exzessiv mit ihren internationalen Gästen wie Rockefeller oder dem ehemaligen Leiter des Guggenheim-Museums. Begleitet wurde das ganze Schauspiel von experimenteller Musik. Die Fotografin erzählte mir: »Damals wirkte das alles neu auf mich und ziemlich grotesk. Ganz abgesehen davon, wie das bei der normalen Bevölkerung ankam. Die damit bisher nichts zu tun hatte. Auf den Bildern, die ich damals fotografierte, sieht man die erstaunten Reaktionen. Als ich fotografierte, wurde mir plötzlich bewusst, was es für eine große Kluft gibt zwischen dieser avantgardistischen Elite und dem Normalbürger. Ich wollte alle Reaktionen aufnehmen, sowohl die der Intellektuellen, die an den Feierlichkeiten teilnahmen, als auch die derjenigen, die von außen auf diese Veranstaltung schauten und nicht verstanden, was da gerade passierte. Das war mehr, als die Bevölkerung zur damaligen Zeit akzeptierte.«
Es waren viele einzelne Umstände, die aufeinandertrafen und schließlich zur Revolution 1979 im Iran führten: Die Unterwürfigkeit des Schahs den Amerikanern gegenüber, das Verhalten der Amerikaner im Land. Sie verhielten sich herablassend gegenüber den Einheimischen, erzählte mir eine Lehrerin, die damals als Studentin auch gegen den Schah auf die Straße ging. Sie stand in einer Schlange vor dem Kino an, als sich ein Dutzend US-Soldaten einfach vordrängelten und ihr den Platz stahlen. 52 000 Amerikaner lebten vor der Revolution im Iran. Tausende US-Soldaten waren damals im Iran stationiert und genossen durch den Schah ab 1964 politische Immunität. Nicht zuletzt wurden die Weichen für die Revolution von 1979 auch schon 1953 gestellt, als die CIA und der MI6 den demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh durch einen inszenierten Putsch stürzen ließen. Das Vertrauen zum Westen hat seitdem schwer gelitten.
Das Paradoxe an der iranisch-amerikanischen Zweckgemeinschaft war, dass Mohammad Reza Schah Iran mit schier endlos fließenden Petro-Dollars und amerikanischen Waffen zur Regionalmacht aufbaute und dadurch dem Westen ein Dorn im Auge wurde. Entscheidend dafür war auch das unnachgiebige Auftreten des Schahs im Zuge der Ölkrise. Über die von ihm durchgesetzte Erhöhung des Ölpreises drohte die Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht zu geraten. Der 1977 neu gewählte amerikanische Präsident Jimmy Carter wollte den Schah loswerden. Die internationale Gemeinschaft und auch schon zuvor die Medien wandten sich gegen den Schah. In vielen westlichen Städten gab es Demonstrationen gegen das diktatorische Regime. Auf der Konferenz von Guadeloupe im Januar 1979 distanzierte man sich vom Schah, ließ ihn fallen, so sagte es mir später seine Frau Farah Diba, die ehemalige Kaiserin, in einem Interview. Man wollte eine neue »politische Lösung« anstreben, ohne dass es bisher gelungen wäre, dafür »den richtigen Mann zu finden«, so heißt es in den Akten zur Auswärtigen Politik der BRD auf der Konferenz. Der französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing wurde beauftragt, Kontakt zu Ajatollah Khomeini herzustellen, um die Frage eines möglichen Regierungswechsels zu eruieren. »Solange er keine Anzeichen zeigte, dass er mit dem Kommunismus sympathisierte, wurde er nicht als Bedrohung angesehen«, so ein israelischer General, der damals in Teheran stationiert war. Auch 2016 freigegebene Dokumente der US-Regierung zeigen, dass die USA hinter den Kulissen ein differenzierteres Verhalten hatten, als die Öffentlichkeit mitbekam. Nur zwei Tage nachdem der Schah Teheran verlassen hatte, ließen die USA über einen Gesandten Khomeini mitteilen, dass sie im Prinzip offen für die Idee seien, die iranische Verfassung zu ändern und die Monarchie effektiv abzuschaffen. Und sie gaben dem Ayatollah eine wichtige Information – die iranischen Militärführer waren flexibel in Bezug auf ihre politische Zukunft. Khomeini wusste demnach von den Amerikanern, dass er sich vor dem Militär im Iran nicht fürchten musste.
Der Ruf nach mehr Freiheit, die brutale Unterdrückung durch den Geheimdienst SAVAK, die verschwenderischen Ausgaben des Schahs und seine gelebte Verwestlichung, die die Gesellschaft verunsicherte und kulturell spaltete, seine zu spät eingesetzten Liberalisierungsversuche und das Fallenlassen seiner Person durch ebendiesen von der Bevölkerung verhassten Westen führten letztendlich dazu, dass er und seine Familie das Land verlassen mussten und Khomeini aus dem Exil zurückkommen konnte. Der Westen verlor dadurch seinen engsten Verbündeten im Nahen Osten. Und die Islamische Republik konnte gegründet werden. Bei einem Referendum wurde das Volk gefragt, ob eine Islamische Republik anstelle der Monarchie eingeführt werden solle. 97 Prozent der Wähler stimmten dafür. Am 1. April verkündete Khomeini offiziell die Gründung der Islamischen Republik.
Auch wenn das klerikale Establishment unvorbereitet an die Macht kam, auch wenn sie zu Beginn sagten, sie würden sich aus der Politik zurückziehen, sie schafften es, an der Macht zu bleiben – bis heute. Es war der Klerus, der als einzige Gruppe der Revolution überlebte. Alle politischen Rivalen, die zunächst Verbündete waren, die die Revolution unterstützt hatten, wurden getötet, oder, wenn sie Glück hatten, an den Rand oder ins Exil gedrängt. Dabei war die liberale linke Bewegung ursprünglich davon ausgegangen, dass sie Khomeini benutzen könnten, um den Schah loszuwerden. Sie hatten darauf vertraut, dass Khomeini nach erfolgreichem Sturz des Schahs zurück in die Moschee gehen würde. Es war umgekehrt. Khomeini hatte sie benutzt. Alle Schlüsselpositionen wurden mit schiitischen Klerikern besetzt. Ein theokratisches Machtmonopol, das Herrschaftsprinzip des Velayat-e Faqih (die Herrschaft des islamischen Rechtsgelehrten), das Khomeini schon Jahrzehnte vorher zum Ziel hatte, war etabliert. Ab jetzt sollte gemäß Artikel 56 der iranischen Verfassung die Souveränität nicht vom Volke, sondern von Gott beziehungsweise seinem Stellvertreter auf Erden ausgehen. Der Gottesstaat war geboren.
Es war eine Revolution, die die Geschichte veränderte. Ein epochales Ereignis, das nicht nur die politischen Entwicklungen in der Region bestimmen, sondern auch der Rolle und Gewichtung des politischen Islams eine neue Dimension geben sollte. Eine Revolution, die die ganze Welt beeinflusste.
Niemand hätte sich damals im Februar 1979 vorstellen können, dass 40 Jahre später fast jeder Taxifahrer in Teheran zum Abschied sagt: »Gott schütze den Schah«. Oder dass ein Geistlicher, gekennzeichnet durch seinen Turban, der in Teheran in einen Bus steigen möchte oder nach einem Taxi ruft, ignoriert wird, wenn er Glück hat. Denn er könnte auch angespuckt und beschimpft werden. Ich habe von vielen Geistlichen gehört, dass sie inzwischen ihren Turban abnehmen, wenn sie in die Hauptstadt kommen, um nicht als Mullah erkannt zu werden.
Die Einstellung der Gesellschaft zur Revolution hat sich gravierend verändert. Die Kinder der Revolution hören von ihren Großeltern romantisierte Geschichten aus der Schah-Zeit, kennen nichts anderes als die Islamische Republik und sehnen sich nach der Welt außerhalb des Iran, die sie über VPN-Kanäle in den vom Staat geblockten sozialen Medien verfolgen und auf verbotenen Fernsehkanälen, produziert von Exil-Iranern über verbotene Satellitenschüsseln.
In einer Reportage, die ich für den ARD Weltspiegel anlässlich des 40. Jahrestages der Islamischen Republik gedreht habe, porträtierte ich drei Frauen aus drei Generationen. Die jüngste war wenige Monate zuvor verhaftet worden. Der Grund: Sie drehte mit ihren Freunden ein Musikvideo mit dem Songtitel »Happy« von Pharrell Williams. Weltweit produzierten nach der Veröffentlichung dieses Liedes junge Menschen Videos und stellten ihre eigene »Happy«-Version ins Internet. Die jungen Menschen im Iran, die das Gleiche taten wie andere in ihrem Alter im Ausland, wurden dafür verhaftet. Ihre Bestrafung: Haftstrafen von bis zu einem Jahr sowie 91 Peitschenhiebe auf Bewährung. In der Dokumentation sprach ich auch mit einer Ärztin. Sie ging damals als glühende Anhängerin auf die Straße, denn sie sehnte sich nach Freiheit, von der ihr ihre Freunde im Ausland erzählten. Sie sagte mir, wenn sie gewusst hätte, wohin die Revolution führen würde, wäre sie nie auf die Straße gegangen, und sie sei sich sicher, viele andere auch nicht. Zum Schluss interviewte ich noch eine ältere Dame. Sie trug zu Schah-Zeiten einen Minirock und trank Whiskey. Dann kam die Revolution, sie zog sich einen Tschador an und trägt diesen bis heute. Ihr Erbe hat sie schon vor ihrem Tod einer religiösen Stiftung versprochen. Die junge Frau, die das Musikvideo drehte, ist die Tochter der Ärztin. Die sich bei ihr dafür entschuldigte, damals für die Revolution auf die Straße gegangen zu sein. Sie wiederum ist die Tochter der alten Frau, die zu Schah-Zeiten noch einen Minirock trug. Es sind die Kinder der Revolution, die jetzt das Erbe ihrer Eltern ertragen müssen. Für diesen Film wurde mir für mehrere Monate meine Pressekarte entzogen.
Es war meine deutsche Mutter, die mir als Erste das Land meines Vaters zeigte. Sie lebte mir in meinen Kinderjahren vor, wie diese zwei so verschiedenen Kulturen vereinbar sind. Ich bat meine Mutter erst vor kurzem, mir zu erklären, warum sie eigentlich auf die absurde Idee kam, mit ihren beiden kleinen Töchtern, meiner Schwester und mir, mitten im Iran-Irak-Krieg nach Teheran zu fliegen. Ihre Erklärung lautete:
März 1982 – Ein Anruf aus Teheran:
Amir, der Mann meiner Lieblingsnichte Sedighe – sie waren erst ein paar Monate verheiratet – galt im Irak-Iran-Krieg als vermisst und war wahrscheinlich gefallen. Sedighe war im 3. Monat schwanger. Es war unfassbar. Warum er, warum dieser wunderbare Mensch, mit dem Sedighe so glücklich war – und sie doch erst am Anfang ihrer Liebe standen? Ich konnte es kaum aushalten, so weit von Sedighe entfernt zu sein und sie nicht in den Arm nehmen und trösten zu können. Obwohl, es konnte keinen Trost geben. Nach ein paar Tagen stand für mich fest: Ich werde mit Natalie und Jasmin nach Teheran fliegen. Natalie war fast vier, Jasmin zwei Jahre alt. Seit 1979 gab es die iranische Revolution, jetzt den Krieg. Es war mir egal. Roohollah, mein Ehemann, konnte nicht in den Iran. Zu groß war die Gefahr, dort vielleicht durch eine Namensverwechslung auf irgendeiner Liste der Regierung zu stehen und willkürlich festgenommen zu werden. Ich war seit Anfang 1978 nicht mehr im Iran gewesen – damals war noch der Schah an der Macht.
Nun, 1982, bot sich mir ein ganz neues Bild, eine komplett andere Atmosphäre. Bereits im Anflug auf Teheran wurden die Frauen im Flugzeug darauf hingewiesen, dass sie nun islamischen Boden betreten würden und ein Kopftuch tragen müssten. Es dauerte ungefähr drei Stunden vom Ausstieg über die Passkontrolle bis zur Kofferausgabe. Die Kinder waren hungrig und durstig, Jasmin hatte sich beim Landeanflug übergeben. Der sehr unfreundliche Mann, der mit seinen dunklen finsteren Augen an der Grenzkontrolle stand, öffnete meine Koffer, hob im Zeitlupentempo jedes Kleidungsstück hoch und ließ es wieder fallen – wohl deshalb, weil er mir zeigen wollte, wer hier jetzt das Sagen hat. Ich musste alles einzeln wieder in den Koffern verstauen.
Die übermüdeten, hungrigen kleinen Kinder an meiner Seite, die feindliche Gesinnung der Flughafenangestellten, die grimmig blickenden Soldaten mit Maschinengewehren im Hintergrund, mein ständig verrutschendes Kopftuch – ich war den Tränen nahe und konnte nicht mehr. Da erschien plötzlich wie durch ein Wunder mein Schwager Zabihollah. Ich frage mich heute noch, wie er durch die Absperrung kommen konnte, beide Mädchen an die Hand nahm und mit ihnen zum Ausgang ging. Obwohl sie ihn noch nie gesehen hatten, gingen sie ohne weiteres mit ihm hinaus, wohl spürend, dass er sie nun erlösen würde. Nun wusste ich, dass alles gut wird. Es dauerte noch sicher zwei Stunden, bis auch ich das Flughafengebäude verlassen konnte. Natalie und Jasmin waren mit Zabihollah schon mit dem Auto nach Hause zur Familie gefahren. Ein weiterer Verwandter nahm dann vor dem Flughafen auch mich in Empfang, und wir fuhren in einem anderen Auto heim. Obwohl es Nacht war, konnte ich auf den Straßen die bedrückenden Veränderungen in Teheran sehen. An jeder Ecke standen einschüchternde Soldaten, immer mit Maschinengewehren, alle paar Meter riesengroße Plakate mit Ayatollah Khomeini, dem Begründer der Islamischen Republik Iran. Ich hatte mich im Auto etwas erholen können. Nun war ich bei meiner Familie und wusste, da kann uns nichts mehr passieren. Sie werden auf uns aufpassen. Angekommen zuhause, spürte ich die große Zuneigung und Fürsorge uns gegenüber. Und endlich konnte ich nun Sedighe in den Arm nehmen. Wir weinten miteinander – und ich konnte ihre unendliche Verzweiflung spüren. Trost gab es keinen, Worte hätten nur schal geklungen. Ich konnte nur da sein, einfach nur da sein. Die Nähe zu ihr tat auch mir gut – und schmerzte gleichzeitig. Der Alltag musste bewältigt werden, trotz allem: Einkaufen, Kochen, Besuche empfangen etc. Das Leben ging weiter.
Meine beiden Mädchen fühlten sich sofort wohl, obwohl sie ja der persischen Sprache – bis auf ein paar wenige Wörter – gar nicht mächtig waren. Ich selber konnte mich schon einigermaßen gut verständigen, so dass ich morgens gerne allein zum Bäcker ging und drei oder vier Nune Barbari kaufte, ein wunderbares, noch warmes, knuspriges Fladenbrot, das vor meinen Augen in einem Steinofen, einer Art Höhle, gebacken wurde. Es war immer wieder faszinierend, zuzuschauen.
Es konnte aber auch passieren, dass mich ein streng blickender Mann in der Schlange vor der Bäckerei ansprach und mich darauf hinwies, dass ich nicht züchtig genug gekleidet sei. Ich trug nämlich trotz des langen Mantels, der bis kurz über den Knöcheln endete, keine Strümpfe. Und das sei nicht islamisch genug.
Wir blieben drei oder vier Wochen – ich weiß es nicht mehr genau –, es war eine schöne Zeit bei der Familie, doch wir vermieden es, zu oft auf die Straße zu gehen. Von Weitem konnte ich einschlagende Bomben hören, die mir bewusst machten, dass Krieg ist. Gegen Ende unseres Aufenthaltes gab es nochmal Aufregung. Mein Pass, den man eingezogen hatte, war auf dem Amt nicht auffindbar. Mein Schwager stellte sich eine Woche lang dort jeden Tag stundenlang in die Warteschlange, um ihn in Empfang zu nehmen. Endlich kam er mit dem guten Stück nach Hause. Ich spürte große Erleichterung. Wir begaben uns wieder auf die Heimreise nach München. Und ich machte mir schon damals Gedanken darüber, ob wohl die großen Erwartungen, die viele Iraner in den Wechsel vom Schah-Regime zur Islamischen Republik gesetzt hatten, sich erfüllen würden.
Vermutlich war es meine Mutter, die mir den Mut gab, den ich für mein Leben bisher brauchte. Sie war es, die uns zeigte, dass die Welt größer ist als unsere Grenzen. Dass jeder Einzelne gesehen werden sollte, Vorurteile fremden Menschen gegenüber einem nur im Weg stehen. Sie hat es nie in Worte gefasst, sie hat es uns einfach vorgelebt.
Wir, meine kleine Schwester und ich, saßen unter einem mittelgroßen runden Tisch, im Keller. Zusammen mit unseren persischen Cousinen, die mit meiner Tante aus der Wüstenstadt Yazd nach Teheran angereist waren, um den Besuch aus Deutschland zu empfangen. Wir hatten deutsches Waschmittel mitgebracht, Zahnpasta und Milka-Schokolade in Massen. Dinge, an die im Iran zu Kriegszeiten nicht zu denken war. Für Essensmarken mussten sich die Menschen oft stundenlang anstellen, selbst um nur Grundnahrungsmittel zu bekommen. Bis heute bringen wir Zahnpasta, Milka- Schokolade und Waschmittel mit. Es ist zur Familientradition geworden, obwohl es all das im Supermarkt neben unserem Haus in Teheran längst wieder zu kaufen gibt.