Mein Dank geht an Peter Windsheimer für das Design des Titelbildes.

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Seele und Geist entstehen könnten, übernehmen Verlag und Autor keine Haftung.

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BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 9783744878241

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Inhaltsangabe:

  1. Dhoula Bel
  2. War hier der Garten Eden?
  3. Der Schüler
  4. Unter den Adepten des Himalajas
  5. Mahatmas und Adepten
  6. Okkulte Phänomene
  7. Frühere Erdenleben
  8. Heimkehr des Vollendenten
  9. Gespräche für wahre Freimaurer

Vorwort

Da Anion immer wieder sagte, dass manchmal okkulte Geschichten am besten irgendwelche hermetischen Probleme beleuchten, haben wir uns entschlossen, eine wirklich gute Sammlung von okkulten Geschichten und wirklich interessanten Berichten zu veröffentlichen. Vorab muss ich noch sagen, dass es leider nur sehr wenig okkulte Literatur gibt, die aussagekräftig wäre. Manch ein Buch wird zur Zeit publiziert. Aber unsere kleinen Romane, Kurzgeschichten und Tatsachenberichte würden leider untergehen, da sie großteils unbekannt sind. Sie wurden in den frühen 20igern in okkulten Zeitschriften wie „Psyche“, „Zentralblatt für Okkultismus“, „Prana“, „Weiße Fahne“ und anderen veröffentlicht und wer kann heutzutage schon behaupten, er hat sich da durchgelesen. Wohl die Wenigsten. Aus diesem Grund veröffentlichen wir alle die Geschichten, die gut, sinnreich und die wir gefunden haben. Ich hoffe, unser Leser ist mit dem 11. Band dieser Reihe der Literatur zufrieden.

1. Dhoula Bel

P.B. Randolph

ERSTES BUCH

1. Kapitel

DER SELTSAME MANN

Er setzte sich müde am Wegrand der Landstraße nieder, denn er war weit gewandert an jenem Tage. Seine Füße waren wundgelaufen und seine Körperkraft war durch die Not und das Elend, das er durch gemacht, beinahe erschöpft. Seine Augen blickten verstört und ein Dunstkreis schwerer Düsterkeit umgab ihn, deutlich fühlbar für alle, die in seine Nähe kamen und ihn anblickten. Er war ein Mensch, den schwere Sorgen drückten.

Und als er so am Wegrand saß, das Haupt auf seinen Stock gestützt, quollen bittere Tränen zwischen seinen Fingern hervor und netzten den Boden zu seinen Füßen. In späteren Zeiten erwuchs hier eine Zypresse, der Baum der Sorge, und grünte in düsterer und trauervoller Schönheit, wie um den Ort zu bezeichnen und zu behüten, wo einst der Mann seine klagende Stimme erhoben und laut geweint hatte.

Doch das lag viele Jahre zurück und war der Anlass zu meiner Bekanntschaft mit dem Manne, der in diesem Buch eine so hervorragende Rolle spielt. Damals bekannte sich der Verfasser dieses Buches zwar noch zu allen religiösen und psychologischen Glaubenssätzen des Christentums, misstraute ihnen aber innerlich und hätte jemand auf gewisse geheimnisvolle Möglichkeiten, die seitdem bestätigt und bewiesen wurden, auch nur angespielt, so hätte er ihm ganz gewiss ins Gesicht gelacht und ihn für einen hervorragenden Narren oder Idioten gehalten. Seitdem hat sich manches geändert.

Der Mann am Wegrand war von mittlerer Größe, weder beleibt noch mager, von schönem Mittelmaß. Kopf und Stirn waren breit und durch gewisse Eigentümlichkeiten der Kopfform in Wirklichkeit viel massiger, als es auf den ersten Blick schien. Der geistige Organismus des Mannes erhielt sich auf Kosten des körperlichen, da sein Nervensystem, wie bei allen derartigen Menschen, geradezu krankhaft empfindlich und reizbar war. Nichts Rohes, Brutales, Niedriges oder Pöbelhaftes war an ihm, weder von Natur noch durch Erziehung, und wenn beim Kampf des Lebens eine dieser schlechten Eigenschaften bei ihm auftrat, so war dies lediglich widrigen Umständen zuzuschreiben, und der Behandlung, die er von der Welt erfuhr. Von Natur war er offen, wohlwollend und großmütig bis zur Schwachheit, und diese Züge nützen die Menschen zu seinem Unglück aus. Mit überreichen Fähigkeiten ausgestattet, die, tiefsten und abstraktesten Fragen der Philosophie und Metaphysik zu lösen, war er doch vollkommen unfähig, die kleinsten geschäftlichen Angelegenheiten zu erledigen, selbst wenn sie nur ein geringes Maß von finanzieller Geschicklichkeit erforderten.

Eine natürliche Folge davon war, dass dieser Mann mit allgemein als gut anerkannten Eigenschaften beständig das Opfer des ersten besten hergelaufenen Schurken wurde, von dem „Freunde“ angefangen, der ihm sein halbes Vermögen abborgte, angeblich um die Hälfte davon anzulegen – in Wirklichkeit, um das Ganze zu behalten, bis zu seinem Verleger, der ihn um Geld und Zeit betrog.

Sein Gesicht war lohfarben gleich dem der Araberkinder in Beirut und Damaskus. Form und Stellung von Kinn, Backenknochen und Lippen verrieten mehr passive als aktive Stärke. Der Mund mit seiner leicht vorstehenden Oberlippe und zwei kleinen Falten an den Mundwinkeln deutete auf Geschicklichkeit, Leidenschaft, Mut, Festigkeit und Entschlossenheit. Die Wangen waren leicht eingefallen; dies deutete auf Kummer und Verdruss, während die ein wenig vorstehenden und breiten Backenknochen auf seine farbigen Vorfahren hinwiesen. Die Nase war nur durch die Beweglichkeit der Nasenflügel bemerkenswert, die ein leicht entzündliches Temperament verriet. Es bedurfte auch tatsächlich nur eines geringen Anlasses, um ihn aus einem passiven, geduldigen Menschen zur Verkörperung mannhafter Kampfbereitschaft für eine gerechte Sache zu machen oder zu einem Dämon von Hass und wahnwitziger Rachgier.

Seine Augen oder vielmehr sein Auge – denn eines war durch einen Unglücksfall nahezu zerstört – war von einem tiefen, dunklen Nussbraun, das das Volk pechschwarz zu nennen pflegt. Es strahlte einen merkwürdigen magnetischen Glanz aus, wenn er auf der Rednerbühne sprach. Er war seinerzeit ein Volksredner gewesen und hatte auf diesem Gebiet keine geringe Berühmtheit erlangt. Wer ihn einmal so gesehen oder gehört, konnte ihn nie wieder vergessen, so verschieden war er von allen anderen Menschen, und so bezeichnend und eigenartig waren seine Eigenschaften.

Er war ein ganz einzigartiger Mann – dieser Rosenkreuzer –; ich kannte ihn wohl. Mancher Stunde sind wir beisammen in dem kühlen Schatten irgendeiner alten, ehrwürdigen Ulme auf den grünen, blumenbesäten Ufern von Connecticuts Silberstrom oder unter einer turmhohen Palme am Ufer des alten Nils, im weißen Lande der Pharaonen, der Magie und der Mythen gesessen, wobei er beständig in mein Ohr seltsame, seltsame Sagen flüsterte – Sagen aus uralter Zeit – die meine dürstende Seele trank, wie die von der Sonne ausgetrocknete Erde den ersehnten Regen, oder der Sand die Tränen weinender Wolken. Und diese Erzählungen, diese Sagen, stellten die wildesten Fantasiegestalten Germaniens weit in den Schatten. Besonders betroffen war ich über eine Andeutung, die einmal seinen Lippen entfloh, dass viele Menschen auf dieser Erde und er selbst unter ihnen schon früher auf dieser Welt gelebt hätten, und dass er sich zu gewissen Zeiten deutlich an Orte, Personen und Ereignisse erinnere, die vor der Zeit lagen, in der er seine gegenwärtige Gestalt angenommen, und dass demnach sein wirkliches Alter sogar das Ahasvers, des ewigen Juden, noch übertreffe.

Dieser Mann, mein Freund, sprach während unserer Bekanntschaft oft von der weißen Magie und gelegentlich versteifte er sich geradezu hartnackig auf seine seltsame Seelenwanderungsdoktrin. Doch das war nicht alles: Er behauptete, die Seelen der Menschen verließen zuweilen ihre Körper für ganze Wochen, während dieser Zeit würden dann die verlassenen Leiber von anderen Seelen bewohnt, manchmal von der eines für immer entkörperten Erdenmenschen, ein andermal von der eines Bewohners des Luftraumes, der, so inkarniert, nach Belieben auf Erden umherstreife. Wurde er um eine klare und bündige Erklärung gebeten, dann sprach er seinen festen Glauben aus, dass er auf diese Weise viele Menschenleben hindurch gelebt habe, und aus Gründen, die nur ihm bekannt seien, verurteilt worden, weiter auf Erden zu wandeln wie der große Artefius – jener andere Rosenkreuzer – bis die Vollführung einer bestimmten Tat (bei der er selbst, unfreiwillig, tätig mitwirken sollte) ihn davon erlösen und ihm erlauben würde, das Los anderer Sterblichen zu teilen.

Als eine Begleiterscheinung seiner Verschiedenheit von anderen Menschen ist es wohl auch anzusehen, dass er mit gewissen übersinnlichen Kräften ausgestattet war, darunter mit einer seltsamen Fähigkeit des Hellsehens. Diese Fähigkeit, mochte sie auch nicht immer offenkundig sein, setzte ihn bisweilen instand, Dinge, Personen und Ereignisse zu sehen und zu beschreiben, sogar über das Weltmeer hinüber, und die geheime Geschichte und die Gedanken des verschlossensten Menschen so leicht wie in einem Buch zu lesen. Anfänglich bezweifelte Ich seine Behauptungen, führte sie auf einen abnormalen Geisteszustand zurück oder lachte über die tolle Behauptung, dass irgendeiner mitten im neunzehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung im Ernst so außerordentliche Kräfte für sich in Anspruch nehmen könne. Wie bereits gesagt, wies seine Gesichtsfarbe daraufhin, dass er ein Mischling war – nicht gerade ein Bastard – aber ein Mensch, in dem das Blut von mindestens sieben verschiedenen Rassen floss. Aus seiner Art zu reden, hätte man schließen können, dass seine Erziehung nicht ganz vernachlässigt worden, aber sicherlich ganz anders beschaffen gewesen war, als die in christlichen Ländern allgemein gebräuchliche. Es war, wenn Überhaupt, sehr wenig feine Sitte an ihm – nicht etwa, dass es ihm an Höflichkeit oder Glätte gefehlt hätte –, aber seine Art war die der Flüsse, Wälder und Seen, nicht die der Salons und der Stätten des guten Tons. In allem, was sein Innenleben betraf, war er rätselhaft, und zwar meist dann, wenn er sich am offensten zu geben schien. Mir erschien er am Ende einer zehnjährigen Bekanntschaft noch sphinxhafter als am ersten Tage. Obwohl arm, hatte er doch ausgedehnte Reisen gemacht. Exotisch in seiner äußeren Erscheinung und seinem Geschmack, war er es noch mehr seiner Geistesverfassung nach und in allem, was Träumerei, Philosophie und Gefühlsleben betraf.

Nach dieser Schilderung der Hauptperson meiner Erzählung gehe ich nun dazu über, eine andere Seite aus dem Lebensbuch dieses Mannes wiederzugeben.

2. Kapitel

SEINE JUGENDZEIT – DIE SELTSAME LEGENDE

Und da saß der seltsame Mann am Wegrand – traurig, still weinend – als wollte sein Herz brechen. Seine Sorge hatte keine geringe Ursache. Es war nicht augenblicklicher Mangel an Nahrung, Unterkunft oder Kleidung, aber sein Herz war voll und seine Quellen flossen über. Die Welt hatte ihn ein Genie genannt und ihn als solches verzärtelt, gepriesen, bewundert und dabei hungern lassen; kein Funken Mitgefühl die ganze lange Zeit über, keine Spur von uneigennütziger Freundschaft. Die große Menge hatte sich um ihn gedrängt, wie die Gaffer der Großstädte sich um die letzte Neuheit im Panoptikum drängen, um dann, zufriedengestellt von der Besichtigung, sich abzuwenden und ihn seiner ganzen grenzenlosen Einsamkeit und seinem Elend zu überlassen. Im Alter von acht Jahren war er in der römisch-katholischen Kirche auf den Namen Beverly getauft worden. Von seinem Vater erbte er wenig, außer dem hochfliegenden Geist und der ehrgeizigen rastlosen Natur sowie einer Empfänglichkeit für leidenschaftliche Erregungen, so groß, dass sie auf sein ganzes Leben dauernd und stark einwirkte. Nur ein Jahr lang genoss er regelrechten Schulunterricht, alle späteren geistigen Errungenschaften verdankte er nur seiner eigenen Anstrengung. Sein Vater liebte ihn wenig, um so mehr aber seine Mutter. Er war mit allen seinen Zähnen geboren worden und alte Klatschbasen weissagten ihm daraus eine außergewöhnlich erfolgreiche Laufbahn; außerdem bestärkten gewisse merkwürdige Geisterbesuche vor und kurz nach seiner Geburt seine Mutter in der Einbildung, dass er zu keinem gewöhnlichen Schicksal bestimmt sei.

Zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre vor dem Beginn dieser Erzählung wohnte in der New York City, da, wo damals die Canal Street lag, in dem Hause Nr. 70 eine Frau, deren Gesichtsfarbe die einer Mississippiquarterone war. (Eine Oktorone ist das Kind eines Quarterone und einer Weißen, ein Quarteron das Kind eines Weißen und einer Terzerone d. h. des Kindes eines Weißen und einer Mulattin. Anm. d. Übers.)

Sie stammte aus Vermont und genoss den Ruf, das schönste Weib in dem Staate und vielleicht auf der ganzen Welt zu sein. Ihr Geist war ebenso vielseitig wie ihr Äußeres reizvoll. Ihr Leben verlief bis zu jener Zeit sehr bewegt und im Grunde tief unglücklich. Ihr Feinsinn, ihre Natur und Erziehung, ihr Charakter und ihre Fähigkeiten verlangten nach einer höheren gesellschaftlichen Stellung als die, die sie aus pekuniären Gründen einnehmen musste. Ein anderer Grund für ihre Unrast war eine unglückliche Ehe. Ihr Gatte war nach langjähriger Abwesenheit zurückgekehrt, während welcher sie ihn für tot gehalten und eine zweite Ehe mit dem Vater ihres Söhnchens geschlossen hatte, und seit jenem Augenblick empfand sie niemals mehr auch nur einen kleinen Teil dessen, wonach sie sich jahrelang gesehnt, jene Liebe und Zuneigung, die als Tugend der Mütter gerühmt wird und die allein das Leben zu einem Segen machen und den rauhen, dornigen Pfad ebnen kann.

Flora Beverly war unmittelbar verwandt mit den rothäutigen Söhnen der nördlichen Prärien, aber dieses Blut vermischte sich mit dem edleren Safte aus den Adern ihres Vorfahren, des Cid. Als sie heiratete, dachte sie sich als den Mittelpunkt eines Königreiches von ungetrübten Freuden und Wonnen zu sehen, darin sie als unbestrittene Herrscherin regieren wollte. Der Mann, den sie gewählt, nahm sie wegen ihrer Schönheit. Er glaubte mit ihrem Besitz den Himmel auf Erden zu erlangen. Beide wurden bitter enttäuscht. Ihr Gatte wusste nur die äußeren, oberflächlichen Eigenschaften und Vorzüge seiner Frau zu würdigen, während ihr inneres, höheres, besseres Ich – ihre Seele – ihm eine terra incognita war, die zu erforschen ihm, wie es bei so vielen anderen Ehemännern der Fall ist, nicht im Entferntesten einfiel.

Und so erwachten die beiden, nachdem der erste Rausch der Sinnlichkeit vorüber war. Der Mann kam zur Erkenntnis, dass sein Weib für ihn ein „recht niedliches Püppchen“, die Frau, dass ihr Gatte ein Tier war, dessen Seele fest unter seinen Sinnen schlief, und sie selbst seine Sklavin und sein Opfer. Naturgemäß wurde sie bald ihres seichten Lebens müde und verlor den Geschmack daran. Da sie fühlte, dass sie von den vielen, die um sie her lebten, nicht verstanden und gewürdigt wurde, verschmähte sie jede Berührung mit ihnen und zog sich ganz in sich selbst zurück, um allmählich ihre Sehnsucht mit jeder Faser ihres Herzens auf die zahllosen Millionen der Toten zu richten. Sie rief sie zu Hilfe und glaubte mit religiöser Inbrunst, ihre Bitten seien erhört und indem sie sich ganz ihrer geheimnisvollen Fürsorge und Leitung überließ, führte sie fortan ein doppeltes Leben – ein Schattenleben in der Welt, ein wirkliches Leben im Lande der Geister. So wurde sie eine Seherin, eine Träumerin und in der für sie wenigstens wirklichen und tatsächlichen Verbindung mit den stolzen Geistern dahingegangener Völker, deren Häupter ihre Vorfahren in beiden Linien gewesen waren, suchte sie Mitgefühl für ihre Sorgen und für ihre seltsamen inneren Freuden. Und sie fand, was sie suchte, oder was für ihre impulsive Seele auf das Gleiche heraus kam, sie glaubte es gefunden zu haben. Zuerst hatte sie einige Schwierigkeit, das, was sie für das leise Flüstern der ätherischen Bewohner des unsichtbaren Reiches Manitus hielt, in die verständliche menschliche Sprache des Herzens und der Worte zu übertragen. Sie sehnte sich glühend nach einem freieren Verkehr mit den Toten, und sie wurde befriedigt.

Die arme Flora, dieses merkwürdige Mischgebilde von Natur und Kunst, sollte ein Kind gebären, und dieses Kind – der Held dieses Buches – wurde unter den Umständen geboren, von denen hier berichtet wird. Im Herzen dieser Frau schlummerte, wie ich schon sagte, ein Vulkan. Ihre überströmende Seele verkörperte sich wieder in dem Sohn, den sie geboren, und sie pflanzte dem Kinde ihre eigene brennende Sehnsucht nach Liebe und Gegenliebe ein, alle ihre mystischen Neigungen, ihre Vorliebe für das Geheimnisvolle, all ihr metaphysisches Streben nach unirdischen Beziehungen, ihre ganze entschlossene und doch fast verzweifelte, leidenschaftliche, impulsive, edle Natur, alles, alles fand in ihm Wohnung und Namen. So trat er in die Welt, von der Geburt an zu seltsamen und bitteren Erfahrungen verurteilt – verurteilt, allein und ohne Freunde dem schneidenden Wehen der Winterstürme und der, glühenden Hitze der Sommersonne zu trotzen; sich an die Hoffnung auf einen frühen Tod anzuklammern und dabei doch mit zehnfacher Zähigkeit am Leben zu hängen.

An dieser Stelle will ich den Inhalt eines Berichtes wiederholen, den er selbst über seine Kindheit und seine geheimnisvollen Erfahrungen mit den Geistern gab. Man hatte ihn einmal über gewisse ihm zugeschriebene außergewöhnliche Kräfte befragt und er entgegnete darauf: „Als ich noch ein kleines Kind war, wohnte meine Mutter in einem großen, dunklen, düsteren, alten Steinhaus auf Manhattan Island. Damals war New York fast nur ein Viertel von dem, was es jetzt ist, und jenes Haus lag eine ziemliche Strecke außerhalb der Stadt. Es steht noch heute an der gleichen Stelle, aber die City ist meilenweit darüber hinaus gewachsen. Das Gebäude war in Zeiten, wo Pest, Fieber, Pocken oder Cholera wüteten, als Pesthaus oder Lazarett benützt worden und in ihm sind Tausende an jenen Krankheiten gestorben; von ihm aus nahm in meinem fünften Lebensjahre die Seele meiner Mutter ihren ewig dauernden Flug.

Viele waren bereit, einen Eid darauf zu schwören, dass das alte Haus von Geistern heimgesucht werde, die in schrecklichem Schweigen durch die feierlichen, stattlichen Säle des massigen Inselschlosses wandelten. Aber im Allgemeinen hatten die Zeugen solcher Geisterbesuche weder Zeit noch Neigung, um die Bekanntschaft mit den Besuchern zu pflegen – ausgenommen einer, ein Apotheker namens Banker, der einmal einer jener Erscheinungen eine Verwünschung zurief, worauf diese ihm einen Schlag auf den Kopf versetzte und ihm zur Strafe für sein Majestätsverbrechen die Kinnlade vollständig zerschmetterte. Von dieser einen Ausnahme abgesehen, beeilten sich alle, die einem jener Geister begegneten, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, und es war erstaunlich, mit welch überraschender Schnelligkeit selbst Gichtbrüchige die Flucht ergriffen, wenn einer von denen, die mit einem Schafhäutchen über dem Gesicht geboren waren, und denen daher im Volksmund die Fähigkeit zugeschrieben wurde, Geister zu sehen, erklärte, es sei ein Gespenst in der Nähe; und da derartig Bevorzugte Geister sehen konnten, so wünschte ich mir oft, ich möchte einem begegnen, der mit zwei Schafhäutchen geboren war, so dass er sie nicht nur sehen, sondern auch mit ihnen sprechen konnte.

Viele glaubten nicht an Geister. Ich glaube an Geister der verschiedensten Arten, die ich im folgenden aufzählen möchte: 1. Es gibt Abbilder, die von den Seelen ausgesandt und irgendeinem andern weit Entfernten sichtbar werden. 2. Die Erzeugnisse einer erhitzten Phantasie – die Vorspiegelung der Geister – die Folgen von Gehirnfieber, Trunkenheit, Opium und andere Hirngespinste. 3. Die Geister toter Menschen. 4. Geistige Wesen von anderen Planeten. 5. Wesen von ursprünglichen Welten, die nicht gestorben, aber nichtsdestoweniger von so feiner Struktur sind, dass die Gesetze der Materie, denen wir unterworfen sind, für sie nicht gelten, und die, indem sie so unter die Wirksamkeit jener Gesetze fallen, die die entkörperten Menschen regieren, imstande sind, alles zu tun, was jene tun. 6. Ich glaube, dass menschliche Wesen aus Verzweiflung oder bösem Willen häufig geistige Harpyen ins Leben rufen, die furchtbare Verkörperung ihrer bösen Gedanken. Das sind quasi Dämonen, die so lange existieren, als ihre Schöpfer unter der Herrschaft des Bösen stehen. 7. Ich glaube an eine ähnliche, aber von den guten Gedanken guter Menschen ausgehende Schöpfungskraft, die lieblichen Emanationen sehnsüchtiger Seelen. Man beachte diese sieben Klassen wohl. Sie bilden eine genaue Darstellung der Lehre der Rosenkreuzer von der höheren Ordnung.

Als ich etwa fünf Jahre alt war, kam ich eines Tages von der Schule nach Hause und fand die irdische Hülle, die körperliche Gestalt der einzigen Freundin, die ich je besessen, meiner Mutter, kalt und zusammengesunken. Welch ein Schlag für mein Kinderherz! Sie war an jenem Morgen der Erde müde geworden, hatte heiter und vertrauensvoll ihre liebevollen Augen geschlossen; und ich blieb allein zurück, um gegen vier mächtige Feinde zu kämpfen: Vorurteil, Armut und meine eigene Natur. Der vierte ist fast zu schrecklich und zu fantastisch, als dass man ihn für möglich halten könnte, aber ich will erzählen:

DIE LEGENDE

Vor vielen, vielen Jahrhunderten lebte in dem Lande, wo in späteren Zeiten Babylon und Ninive standen, ein mächtiger König, dessen Macht groß und unbestritten war. Weise, wohlgebildet, aber exzentrisch, hatte er eine Tochter, die über alle Beschreibung lieblich und klug und schön war. Könige und Fürsten bewarben sich vergebens um ihre Hand, denn ihr Vater hatte geschworen, er werde sie keinem anderen Mann geben als dem, der ihm ein Rätsel lösen könnte, das er, der König selbst, ihm aufgeben würde; wüsste er aber die Lösung nicht, so müsse er sterben. Das Rätsel lautete: „Welches sind die drei wünschenswertesten Dinge unter der Sonne, die nicht die Sonne sind, die aber in der Sonne wohnen?“ Tausende von heiteren und ernsten, weisen und ehrgeizigen Männern versuchten die Lösung, fanden sie nicht, ließen ihr Leben und bestiegen das fahle Ross des Todes.

Inzwischen war weit und breit verkündet worden, dass Purpurgewänder, goldene Ketten, der höchste Rang im Reiche und die Hand der Prinzessin die Belohnung des Glücklichen sein würden. Eines Tages nun kam eine glänzende Gesandtschaft von dem König des Südens an den Hof, die ein Bündnis schließen wollte, und neue Verträge vorschlug. In ihrem Gefolge befand sich ein junger Dichter, der der Gesandtschaft als Dolmetscher diente. Dieser Jüngling hörte von der merkwürdigen Angelegenheit, erkundigte sich nach den Bedingungen und prägte sich das Rätsel ein. Vier lange Monate hindurch brütete er darüber und dachte nach, indem er alle möglichen Antworten in seinem Geist erwog, aber ohne eine zu finden, die allen drei Erfordernissen gerecht wurde. Um ungestört nachdenken zu können, pflegte sich der junge Mann in eine Grotte hinter dem Palast zurückzuziehen und sich dort das Rätsel und alle möglichen Lösungen durch den Kopf gehen zu lassen. Als die Prinzessin davon hörte, beschloss sie, ihn zu beobachten und führte diesen Entschluss auch aus. So sah sie Ihn täglich, ohne dass sie von ihm bemerkt wurde, und bald wurde sie von Liebe zu ihm so entflammt, dass sie ihn mehr liebte als ihr Leben.

Eines Tages nun schlief der Jüngling in der Grotte ein und sein Haupt lag dabei gerade über einer Felsspalte, aus der ein sehr feiner, dichter Dampf hervorströmte, der ihn bald in einen Traumzustand versetzte, in dem er die Prinzessin selbst zu sehen glaubte, unverschleiert und lieblicher als die Blumen, die in des Königs Garten blühten. Er glaubte sodann eine Inschrift zu sehen, die ihn aufforderte, nicht zu verzweifeln, und zu gleicher Zeit stand vor seinem Geiste der Satz, der später die Losung jener mystischen Bruderschaft wurde, die einige Jahrhunderte lang unter dem Namen der Rosenkreuzer bekannt war: „Es gibt keine Schwierigkeit für den, der ernstlich will.“ Und mit diesem Satz kam ihm die Lösung von des Königs Rätsel, an die er sich erinnerte, als er erwachte. Sogleich erklärte er, er sei bereit, das zu versuchen, was so vielen Abenteurern das Leben gekostet hatte. Es wurden umständliche Vorbereitungen getroffen, wobei der Henker nicht vergessen wurde, der mit einem blanken Schwert bereit stehen musste, um den Dichter um einen Kopf kürzer zu machen, wenn er die Lösung nicht fände. Zur bestimmten Stunde versammelte sich der ganze Hof, darunter auch die Prinzessinnen in dem größten Saale des Palastes. Der Dichter näherte sich den Stufen des Thrones, kniete nieder und sprach: „O König, mögest du ewig leben! Welche drei Dinge sind wünschenswerter als Leben, Licht und Liebe? Welche drei sind untrennbarer? Und was kommt mehr von der Sonne und ist doch nicht die Sonne? O König! Ist dein Rätsel gelöst?“

„Ja,“ sagte der König, „du hast es gelöst, und ich werde mein Wort halten“ und er gab sogleich Befehl, die Hochzeit mit königlichem Pomp zu feiern, obwohl er, durch einen hohen Hofbeamten beeinflusst, die Dichter im Allgemeinen nicht leiden konnte, und diesen einen gerade deswegen nicht, weil er glaubte, der junge Mann habe ihn bei einem der soeben abgeschlossenen diplomatischen Verträge übervorteilt. Nun geschah es, dass der Großwesir gehofft hatte, irgendwie eine Lösung des Rätsels zu finden und so den großen Preis für einen seiner eigenen Söhne zu gewinnen; und sobald nun an jenem Tage der Diwan zu Ende war, eilte er in das Privatkabinett des Königs und bemühte sich, seinen Herrn noch mehr gegen den Sieger zu stimmen, indem er ihm vorspiegelte, jener habe nur durch Zauberei gesiegt. Dies erzürnte den König so sehr, dass er seine Einwilligung gab, den jungen Bräutigam noch in derselben Nacht durch einen schnellen, heimlichen, grausamen Tod beiseite schaffen zu lassen. Zu diesem Zweck wurde bei dem abendlichen Festmahl dem Dichter ein Schlaftrunk gegeben und, als dieser seine Wirkung getan hatte, legte man ihn auf ein Ruhebett und brachte ihn dann in den Raum, der für widerspenstiges Gesinde des Hofes bestimmt war. Dieser Raum lag unter der Erde und als der Jüngling dort mit roher Gewalt auf den Boden geworfen wurde, erwachte er und sah mit Bestürzung, dass er an Handen und Füßen gefesselt war; vor ihm stand der König, der Wesir und einige Soldaten und – der Tod; denn er sah an den Blicken seiner Feinde, dass seine Tage gezählt waren. Vergebens verteidigte er sich gegen die Anschuldigung der Zauberei. Er wurde zum Tode verurteilt und der König gab sogleich Befehl zum Vollzug des Urteils. Gerade in dem Augenblick, als der tödliche Streich fallen sollte, erschien eine riesige Hand, die offenbar die erhobene Klinge aufhalten wollte. Aber zu spät, das Schwert fiel. Als es den Nacken des Dichters berührte, stieß dieser die schrecklichen Worte aus: „Ich verfluche euch alle, die ihr...“, der Rest des Satzes wurde im Jenseits gesprochen; aber gleichzeitig erhob sich ein Lärm und ein Geschrei wie von tausend anklagenden Geisterstimmen, und eine von ihnen rief unter Donnergetöse: „Dieser Jüngling hat durch seine Willenskraft die Tore zu dieser Welt und zur Welt des Geheimnisses entriegelt. Er war der erste seines und deines Geschlechts, der jemals so hohen Ruhm erreichte. Und ihr habt ihn erschlagen, und er hat dich verflucht, und darum hast du, o König, und du, o Wesir, wie auch der Tote die menschliche Natur mit einer andern vertauscht. Der König wird durch die Jahrhunderte hindurch von einer Gestalt in die andere wandern. Du aber, o Wesir, wirst leben, bis dir vergeben ist; – Dhoula Bel soll dein Name sein und du sollst den König versuchen durch Menschenalter hindurch und dein Streben soll zunichte werden, so oft immer der Jüngling – der der „Fremde“ genannt werden wird – es so will, um der Liebe willen, die er im Herzen trug. Dieses Drama soll dauern, bis ein Sohn Adams eine Tochter Ichs heiraten wird oder bis du, o König, in einer der Gestalten deines Daseins lieben und wirklich und treu wieder geliebt werden wirst, und zwar nur um deiner selbst willen. Möge eine Ewigkeit vergehen, bis dies geschieht.“

*

„Fragt mich nicht,“ sagte der junge Beverly, „warum, sondern glaubt mir, wenn ich sage, dass ich weiß, dass ich vor unvordenklicher Zeit jener König war; dass der Fremde meiner Mutter erschien, dass Dhoula Bel mich noch immer wegen der alten Sünde heimsucht und quält. Ich kenne das Schicksal, das über mich verhängt ist, und ich weiß, dass ich in dieser gegenwärtigen Gestalt ein neutrales Wesen bin, für das es keine Hoffnung gibt, außer der Vereinigung von mir, einem Sohne aus Adams Geschlecht mit einer Tochter Ichs, einer, die nicht aus Adams Geschlecht stammt.

Das also ist das tragische Geschick, dem ich so erbarmungslos an jenem Morgen, da meine Mutter auf Manhattan Island starb, ausgeliefert wurde – verurteilt, für ein Verbrechen zu sühnen, das vor Jahrtausenden begangen worden war.“

3. Kapitel

EIN GEISTERHAFTER BESUCH

Beverly fuhr folgendermaßen fort: „Ich wusste dies alles natürlich noch nicht, als ich fünf Jahre alt war. Das einzige, was mich vollständig beherrschte, war der Verlust meiner Mutter – ihr seltsames Schweigen – der schmerzliche Blick derer, die mein Haupt streichelten und „armes Kind“ sagten. Ich versuchte mit aller Kraft, männlich zu sein, wie sie mir geboten, und nicht zu weinen, aber ich konnte meine Tränen doch nicht zurückhalten,

Als ich an dem Bett stand, in dem sie so still lag, fragte ich die anwesenden Trauergäste, wohin meine Mutter gegangen sei, ob sie niemals mehr zu mir reden, mich küssen und liebkosen werde. Und sie sagten „nie mehr“, und wiederholten diesen schrecklichen und doch unwahren Kehrreim immer wieder, bis mein armes Herz bis zum Zerspringen voll war von Kummer und Trübsal. Und dann warf ich mich über den teuren Leichnam und weinte, bis die Tränen nicht mehr fließen wollten.

Als ich an der kalten Brust meiner lieben Mutter lag, sagte eine Frau zu mir: „Weine nicht, armes Kind, sie ist jetzt glücklich. Sie hat den Weg zum Himmel beschritten“ und ich glaubte, was die Frau sagte, und sah hinaus durch das dichte Laubwerk der dicht vor dem Hause stehenden Bäume; ich blickte sehnsüchtig zum Himmel hinauf in der Erwartung, die emporsteigende Seele wahrzunehmen, und als mein Blick auf eine silberne Wolke fiel, da glaubte ich, es sei meiner Mutter geheiligte Seele. Fast glaube ich es jetzt noch, denn, als die Wolke sich in der Bläue des Himmels in Nichts auflöste, hörte ich deutlich eine Stimme, leise, zart und ein wenig traurig, gleich den sterbenden Tönen einer Äolsharfe, die sanft vom Hauch des Zephirs berührt wird, die Worte in mein Ohr flüstern, die ich damals noch nicht ganz verstand: „Einsamer! Möge dir das Leben, das du jetzt beginnst, Ruhe bringen! Lass deinen Wahlspruch sein: „Versuchs!“ Verzage nicht, sondern erinnere dich immer daran, dass wir dennoch glücklich sein können, trotz alledem! Lebe in Frieden, armes Kind! Du wirst von deiner Mutter bewacht und behütet!“ – „Und von dem Fremden“, fügte eine andere noch hellere Stimme aus der tiefen Stille des nachmittägigen Himmels hinzu. Ich erkannte diese mystische Stimme – die erste – und fühlte, dass sie von jenseits der Schwelle der Zeit kam.

Von dieser Stunde an begann für mich und in mir ein seltsames Doppelleben. Zwei in jeder Hinsicht vollkommen wahre Vorfalle will ich erzählen, von denen der eine es mir für immer zur Gewissheit machte, dass es menschliche Wesen gibt, die die Feuerprobe des Todes überleben. Nicht lange nach meinem unersetzlichen Verlust ging ich mit einigen anderen Kindern in dem Dachzimmer jenes dunklen alten Hauses zu Bett. Irgendein lustiges Geschehnis war vorhergegangen, und wir waren alle von Freude und Heiterkeit erfüllt, und unser Frohsinn war so laut, als er sein durfte bei der Furcht vor den Ogern unter uns, die die üble Angewohnheit hatten, mit Hilfe von Riemen und Birkenruten sich Ruhe zu erzwingen. Mitten im ärgsten Lärm wurden uns plötzlich ganz langsam von einer völlig unsichtbaren Macht die Bettdecken weggezogen. Wir zogen sie wieder zurück, aber immer und immer wieder wurden sie fortgezogen, und dies war von einem Getöse und Gerassel begleitet, wie wenn fünfzig Kanonenkugeln auf dem Boden umherrollten; und das führte sogleich die Oger von unten zu uns herauf, die sehen wollten, was vorging. Soweit es uns unser Schrecken erlaubte, erklärten wir es ihnen, worauf sie schrecklich weise dreinsahen, die Bettdecken wieder in Ordnung brachten und sich zurückzogen. Kaum waren sie fort, als die Kanonenkugeln wieder über dem Boden zu rollen begannen. Und als ich den Mut aufbrachte, mich aufzurichten, um nach der Bettdecke zu haschen, die schon wieder weggezogen worden war, sah ich klar und deutlich eine weibliche Gestalt zu Füßen meines Bettes stehen, aber nicht auf dem Boden, denn sie schwebte wie eine Dunstwolke in der Luft. Es war, wenn überhaupt, nur wenig Licht in dem Raume, außer dem, welches die Erscheinung umfloss und von ihr auszugehen schien. Sie stand inmitten eines silbernen oder phosphoreszierenden Nebels, war aber in ihrem Äußern keineswegs phantastisch, sondern so klar und scharf umrissen, dass ich mich an alle einzelnen Bestandteile ihrer Kleidung erinnere, eine Tatsache, die ein Geheimnis enthält, das kein Psychologe bis jetzt zu ergründen vermochte. Die anderen Kinder, die es ebenfalls bemerkten, erschraken, ich nicht, denn ich fühlte, dass die Gestalt mir nichts tun würde, weil ja eine Mutter ihre Kinder liebt. Und diese Erscheinung war meine Mutter!

Nach diesem Vorfall verfloss eine ziemlich lange Zeit. Ich war zu einem kräftigen, lebhaften Knaben herangewachsen und hatte mich schon einige Jahre lang in der Welt umhergetrieben, als ich mich eines Tages als Schiffsjunge auf der „Brigg Phöbe“ aus New Bedford befand, deren Kapitän ein gewisser Alonzo Baker war, der aber nicht aus New Bedford stammte.

Auf diesem Schiff diente ich mehrere Monate, zu niemandes Zufriedenheit, auch nicht zu meiner eigenen, da ich zu klein, zu schwach und zu zart war, um die schweren Pflichten erfüllen zu können, die mir auferlegt waren, und ich musste daher auch die üblichen Strafen dafür erleiden.

Seeleute sind stets abergläubisch, wenn auch jetzt vielleicht weniger als in der Zeit, von der ich spreche. Aber auch heute ist es trotz allen Fortschritts nicht schwer, Matrosen zu finden, die einem zwischen der Hundewache und acht Glas unter der Wetterreling ein Garn spinnen, dass sich einem die Haare sträuben wie einer zornigen Katze. An Bord der „Phöbe“ befanden sich einige alte Seebären, die eine Menge Geschichten von den Geistern ermordeter Matrosen zu erzählen wussten, die mitten in fürchterlichen Stürmen erschienen, um die Maaten vor dem Mast zu ermuntern und die Seelen schuldbeladener Steuerleute und Kapitäne zu erschrecken. Dies trug natürlich dazu bei, meine abergläubischen und mystischen Neigungen zu verstärken. Oft habe ich die Nähe und die Macht des Todes oder jener, die niemals sterben, gefühlt, und oft bin ich auf geheimnisvolle Weise gerettet worden, wenn ich versucht war, an den gefährlichen Vergnügungen meiner älteren Kameraden teilzunehmen.

Seeleute lieben die Macht und freuen sich, sie über den auszuüben, den ihnen ein glücklicher oder unglücklicher Zufall in die Hände liefert; und auf jedem Schiff gibt es sicherlich einen, der die Zielscheibe kleinlicher Tyrannei und Misshandlung ist. An Bord der „Phöbe“ war ich dieser eine, und da mir ein kräftiger Widerstand nicht möglich war, beschloss ich, mich zu rächen. Ich verwahrte in meiner Kiste ungefähr eine Gallone Rum, in die ich vorher etwa eine halbe Unze Krebsblumenöl aus der Medizinkiste gegossen hatte. Ich versah den Krug mit einem Zettel „Gift“. Krebsblumenöl ist das wirksamste gegenwärtig bekannte Abführmittel. Die Matrosen fanden den Krug, lasen den Zettel, glaubten der Aufschrift nicht, tranken die Flüssigkeit und waren folgerichtig danach für mehrere Stunden stark beschäftigt. Eine ganze Reihe von ernsten, gewandten Männern war nicht mehr zu sehen. An jenem Abend konnten sie dem Essen keinen Geschmack abgewinnen. Sie prügelten mich dafür unbarmherzig durch, aber ich war gerächt. Sie misshandelten mich noch weiter, bis mich eines Tages ein Matrose in der Kombüse in die Nase kniff und für seine Quälerei eine halbe Gallone heißen Schmalzes auf den Unterleib bekam, die ihn sehr belästigte. . . Zuletzt dachte ich an Selbstmord als die einzige Erlösung, und in einem Anfall von Wut und Verzweiflung, wie sie nur einen Knaben zu überkommen pflegen, rannte ich wirklich aufs Hinterdeck, um den Gedanken auszuführen, durch einen Sprung über den Heckbord in die wogende See. Da wurde ich durch einen leisen Hauch von warmer, beinahe heißer Luft gebannt. Ich war bis in mein Innerstes durchschauert, blieb stehen und in meiner Seele wurde ein beredter und entrüsteter Widerspruch gegen meine Tollheit laut. Ich erlauschte deutlich die Worte: „Sei geduldig! Versuchs!“

Es ist unmöglich, all dies einer Selbsttäuschung zuzuschreiben. Eines Abends, lange Zeit nach dem eben berichteten Ereignis, unterhielt sich eine Gesellschaft von Damen und Herren in Portland im Staate Maine in einem Hause in der Nähe des Observatoriums über das allgemeine Thema Geister und über Lohn und Strafe nach dem Tode. Als wir uns in jenem Zimmer niedersetzten, waren wir gerade dreizehn Personen. Wir waren von der Diskussion sehr in Anspruch genommen, so sehr, dass der Gastgeber den Dienern strengen Befehl gab, uns nicht zu stören und niemand einzulassen, wer es auch sei. Und so plauderten wir darauf los; die Diener saßen in der Vorhalle, an der Türe und niemand wurde vorgelassen. Mitten im Austausch der Meinungen nahm einer der Anwesenden durch seine Beredsamkeit und seine ehrwürdige Erscheinung unsere ganze Aufmerksamkeit gefangen. Er sprach genau eine Stunde lang, und der Inhalt seiner Ausführungen erschütterte uns tief.

Als er geendet, schwand er uns aus den Augen und wir bemerkten nun erst, dass er der vierzehnte Gast gewesen war. Auf gegenseitiges Befragen stellte sich heraus, dass ihn keiner kannte oder früher je gesehen oder sein Fortgehen wahrgenommen hatte – nicht einmal die Dienerschaft, die erklärte, dass seit zwei Stunden niemand weggegangen sei. Man sagte „sehr seltsam“ und wir beschlossen, um unseres eigenen Ansehens willen die Sache zu verschweigen, doch wir kamen überein, in acht Tagen am selben Ort wieder zusammenzukommen, um die Angelegenheit näher zu besprechen und die Meinungen zu vergleichen, zu denen die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft inzwischen kommen würden.

4. Kapitel

EINE HÖCHST, SELTSAME GESCHICHTE

ETTELAVAR

An dem verabredeten Abend kam ein ausgewählter Teil unserer Gesellschaft wieder zusammen, aber keiner hatte eine Lösung des Rätsels gefunden. Unsere Unterhaltung wurde womöglich noch interessanter und spannender als beim ersten Mal, und zwar wegen der ungewöhnlichen Dinge, die ich dabei erlebte. Ich war an jenem Abend so vollständig der Sache hingegeben, dass ich zwei- oder dreimal in eine Art mesmerischen Halbschlaf verfiel, der in dem, Grade tiefer wurde, als die Diskussion sich steigerte, bis meine unteren Gliedmaßen kalt wurden und mich eine eisige Erstarrung befiel, worüber ich derart erschrak, dass ich selbst auf die Gefahr hin, das Gespräch zu unterbrechen, den anderen die Verfassung, in der ich mich befand, kundtun wollte. Wollte – denn ich versuchte es und bemerkte zu meiner Bestürzung, dass ich keine Silbe mehr sprechen konnte – dass ich nicht mehr der geringsten Bewegung fähig war. Ich war entsetzt. Die Gesellschaft war von dem Gesprächsgegenstand so sehr in Anspruch genommen, dass niemand von der an mir vorgegangenen Veränderung Notiz nahm, auch argwöhnte niemand, dass ich nicht mit größter Aufmerksamkeit bei der Sache sei. Mit unbeschreiblichem Schrecken fühlte ich, dass mir das Leben rasch entfloh und dass der Tod langsam, aber sicher mit eisigem Griff meine Seele packte. Ich war am Sterben. Es schien mir, als sei eine lange Zeit zwischen den letzten bewussten Momenten und dem augenblicklichen deutlich bewussten Todeskampf verlaufen. Da plötzlich schoss ein scharfes quälendes Schmerzgefühl wie ein Nadelstich durch mein Gehirn. Daraufhin nahm mein Empfindung vermögen ab, wie wenn der Körper in untätiger Passivität der Auflösung keinen Widerstand mehr leisten wollte, und es kamen, mit der Schnelligkeit des Blitzes, die fürchterlichsten Agonien, die je ein sterblicher Mensch erduldet haben mag. Als sie zu Ende waren, schwand mein Bewusstsein und ich fiel auf den Boden, wie ein plötzlich vom Tode Überraschter, zum größten Schrecken der Gesellschaft, wie man mir später sagte.

Wie lange diese physische Leere dauerte, kann ich jetzt nicht sagen, aber; während mein Körper in diesem apathischen Zustand war, wurde meine Seele zu zehnfacher Kraft aufgepeitscht; denn sie sah die Dinge in neuem, geheimnisvollem Licht und weit deutlicher, als sie es je durch die körperlichen Augen vermocht hätte. Diese Zunahme des Gesichts war von einer ebenso starken Zunahme des Gehörs begleitet, und ich hörte eine Stimme, die ganz der ähnlich war, die ich beim Tode meiner Mutter und damals, als ich mich in die See stürzen wollte, gehört, und sie sagte: „Erwache! Eine Aufgabe erwartet dich!“ Gleichzeitig ließ meine Lethargie nach und ich wurde nach oben geführt und legte mich mechanisch auf ein Sofa, wobei ich meine Augen unwillkürlich auf das fahle weiße Zifferblatt einer seltsamen alten flämischen Uhr richtete, die die ganze südliche Ecke des Zimmers einnahm. Dann ließen mich meine Freunde allein, um im Gesellschaftszimmer unten ihre Unterhaltung wieder aufzunehmen.

Das alte Zifferblatt wurde vor meinen Augen heller und heller und dehnte sich immer mehr aus, bis ich, von seiner Körperlichkeit nicht mehr behindert, in ein Meer von märchenhaftem Lichte blickte, dergleichen ich noch nie gesehen. Ich glaubte mich nicht mehr an meinen Leib gefesselt, sondern frei von Raum und Zeit, ein freier Bürger der Ewigkeit. Und ich fühlte mich auf einer Dunstwolke in die Luft emporgehoben, von dem mächtigen Arme eines seltsam Blickenden alten Mannes – dem genauen Ebenbild desjenigen, der uns einige Tage vorher durch seine Erzählungen und sein geheimnisvolles Verschwinden in so große Bestürzung versetzt hatte. Er sagte, ich solle mich nicht fürchten, sondern auf mich und ihn vertrauen; nicht Böses, sondern Gutes wolle er mir tun: Sein Name sei Ettelavar, seine Jahre zählten nach Menschenaltern und er sei der Gefährte derer die sterben und wiederleben – und jener, die niemals den Tod erleiden. All dies und noch mehr sagte er mir; und er fügte hinzu, er wolle sich und mir helfen. Er kenne geheimnisvolle Mächte, die durch Jahrhunderte hindurch die Weisen und Gelehrten der Erde zu besitzen behaupten – die Narek el Gebel, die Hermetisten, die Pythagoräer, die drei Tempel des Rosenkreuzes, die mittelalterlichen und die modernen Rosenkreuzer und die zu allen Zeiten und an allen Orten lebenden Erforscher von Geheimnissen.

Während ich diesem seltsamen Wesen Ettelavar zuhörte, war mir, als ob ich im Luftraum schwebte; ich verspürte ein so intensives Lebensgefühl wie nie zuvor und wusste zum ersten Mal, was es heißt, ein lebendes, menschliches Wesen zu sein. Durch eine mir unbekannte Kraft tat Ettelavar unserer Bewegung Einhalt und die Wolke, auf der wir dahinzusegeln schienen, stand mitten im Weltraum still und er jagte zu mir: „Sieh und lerne!“

Wie geschäftige Insekten in der Sommersonne sah ich in weiter Ferne zahllose menschliche Wesen, die mühsam auf einer steilen Anhöhe arbeiteten, über deren Gipfel schwerfällig dichte, dunkle, düstere Wolken hingen. An ihren Rändern waren sie blutrot, wie wenn sie mit Donner gekrönt und ihr Inneres übervoll von Blitzen wäre; ihre finsteren Schatten legten sich schwer und bleich auf die Ebene unten, wie Sterbekleider auf die Glieder einer schönen Frau. „Es ist nur eine Masse“, sagte ich; und das Wesen an meiner Seite wiederholte in erstauntem Tone: „Nichts als eine Masse? Knabe, die Schicksale der Völker beruhen auf der Masse. Sieh weiter!“

Ich gehorchte mechanisch und bald bemerkte ich eine seltsame Bewegung unter der Menge, ein Klagegeheul drang empor – ein Schrei höchster Angst – ein Schall, schwerbeladen mit Weh und Seelenleiden. Ich schauderte. Auf der äußersten Spitze des Berges stand ein gewaltiges Monument, kein Obelisk, aber eine Art Tempel, vollkommen in allen seinen Linien und prächtig anzuschauen. Auf diesem Gebäude stand eine kleine Pyramide aus glänzendem Gold und auf jeder ihrer Seiten war das lateinische Wort „felicitas“ eingegraben. Ich fragte meinen Führer nach einer Erklärung, aber anstatt sie zu geben, legte er seine ätherische Hand auf meine Hand und indem er leicht über meine Augen fuhr, sagte er: „Sieh!“

Hatte seine Berührung Zauberkraft? Es schien so, denn sie vergrößerte meine Sehkraft wohl um das Fünfzigfache und als ich mich wieder der Erde zuwandte, wurde mein Interesse durch ein wirkliches Drama erregt, das sich da und dort abspielte. Offensichtlich war die große Mehrheit der Leute teilweise, wenn nicht völlig blind, und ich beobachtete, dass eine Gruppe in der Mitte der Ebene am Fuße des Berges sich in größerer Erregung zu befinden schien als die anderen. Ihre Unruhe schien aus dem Wunsch hervorzugehen, der hier jeden beherrschte, nämlich eine Kugel und einen Stab aus Gold zu bekommen, die auf einem roten Samtkissen in dem prächtigen Gebäude auf dem Berge lagen. Inmitten dieser letzteren Gruppe, die sich heftig bemühte, den Weg zu dem Monument hinauf zu erreichen, befand sich ein Mann, der mit weit mehr Willenskraft und Entschlossenheit ausgestattet zu sein schien als alle anderen. Mutig strebte er auf dem Wege zum Gipfel vorwärts und nach unglaublichen Anstrengungen hatte er auch Erfolg. Frohlockend nahte er sich dem Tempel. An seiner Seite waren noch Hunderte. Er überholte sie, trat ein und streckte die Hände nach der Kugel und dem Zepter aus – ich glaubte schon, er würde gewiss sein Ziel erreichen – seine Finger berührten schon den Preis, ein Lächeln des Triumphes erhellte sein Antlitz, aber da nahm es plötzlich die Farbe des Todes an – er fiel zur Erde, von einem tödlichen Schlag getroffen, den eine verräterische Hand von hinten geführt hatte, und schon packten ihn andere und warfen ihn in den gähnenden Abgrund, an den der Tempel hart angrenzte. Wohl war er der erste, aber der erste, der in Stücke gerissen und von den eisernen Fersen der Neuankommenden zu Tode getreten wurde – von Menschen, die kein Mitleid fühlten, sondern sich vielmehr freuten, dass die Zahl ihrer Rivalen sich um einen vermindert hatte.

„Ist es möglich,“ rief ich innerlich aus, „dass ein so infernalischer Neid in menschlichen Seelen kocht?“

„Leider, wie du siehst“, antwortete Ettelavar an meiner Seite. „Lass dir zur Lehre dienen, was du gesehen hast, Ruhm ist ein Wahnsinn, nicht wert, ihn zu besitzen, wenn man ihn erlangt hat. Felicitas schwebt dem Menschen immer vor und wird nie erreicht, darum sollte man gar nicht danach streben. Freundschaft ist ein leerer Name oder ein bequemes Kleid, das die Menschen anlegen, um einander mit größerer Leichtigkeit berauben zu können. Kein Mensch freut sich, wenn er den anderen emporkommen sieht, außer, wenn dieses Emporkommen seiner eigenen Erhöhung nützt. Und der Hintenstehende wird den Vornstehenden erdolchen, wenn er ihm im Wege steht. Ich beginne mein Amt als dein Schützer, indem ich dich vor der Welt warne – und damit dich gegen sie bewaffne – und vor allen, die zu ihr gehören. Wenn du wirklich emporsteigen willst, dann musst du erst lernen, die Welt und alles, was sie enthält, auf seinen richtigen Wert einzuschätzen. Denke daran; ich, der ich zu dir spreche, bin Ettetavar. Erwache!“

„Wie die plötzliche schwarze Wolke in östlichen Meeren, so kam eine Finsternis über mich; meine Augen öffneten sich und erblickten das alte Zifferblatt. Seine Zeiger sagten mir, dass genau dreizehn Minuten verflossen waren, seit, ich zum ersten Mal auf jener Uhr nach der Zeit gesehen hatte. Seit jener Stunde habe ich manches Ähnliche erlebt und das ist auch der Grund, für die in gewisser Hinsicht außergewöhnlichen Kräfte, die ich mir nicht anmaße, sondern die mir zugeschrieben werden.“

Dies war der Inhalt der Erzählung des Jungen Mannes, die er zur Antwort auf die Fragen gab, die ihm, lange bevor er hier dem Leser vorgeführt wurde, vorgelegt worden waren.

5. Kapitel

LIEBE – EULAMPIA – DAS SCHÖNE