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Tilmann Moser, geb. 1938, ist Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut. Neben einer Reihe von Fachbüchern schrieb er aufgrund seiner religiösen Erziehung den Bestseller „Gottesvergiftung“ (1976) sowie aus seiner Praxis heraus das Buch „Gott auf der Couch“ (2011). Das „Messiaskomplott“ stellt eine weitere, diesmal satirische Auseinandersetzung mit dem Glauben dar, am Beispiel der an Jungfrau Maria mit Joseph und ihrem Sohn.
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© 2017 Tilmann Moser
Cover: Heinz W. Pahlke
Satz und Layout: Heinz W. Pahlke
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783744846455
Da die ausführliche Einleitung für meinen Roman etwas pedantisch erklärend und rechtfertigend klingt, habe ich sie an den Schluss versetzt, um sofort in den Text einzusteigen. Sie passt besser als Abspann erläuterndes Nachwort. Einige Vor-Leser des Textes haben zu Recht nach meinen Motiven gefragt, über einen so tausendfach durcherzählten Stoff des Evangeliums noch einmal aus ironischer Perspektive zu schreiben. Es störten sich manche erheblich an dem schlüpfrigen Witz über Marias hausfrauliche Prüfung der im Himmel unbekannten Weißwurst, der der heiligen Geschichte absolut nicht angemessen sei, die aber doch, im Himmel von einem Bayern eingeführt, eine erhebliche Rolle in der Geschichte spielt. Hierauf antworte ich wie folgt: Der kurze Witz, unter dröhnendem Gelächter in einer Gruppe Jugendlicher erzählt, die anzuhören ich nicht vermeiden konnte, war der erste Anlass, über die Frage nachzudenken, wie die Heilsgeschichte wohl verlaufen wäre, wenn das Dogma der Jungfräulichkeit Marias rechtzeitig hätte verabschiedet werden müssen. Und ich dachte daran, wie viel antireligiöse Witze ich selbst schon gehört hatte, und wie viele tausende im Lauf der Jahrhunderte sich längst angesammelt hatten und bereits in einschlägigen Büchern verkauft werden. Die heiligen Figuren der Keuschheit wie derjenigen, wie sich zeigen wird, der lustvollen Unkeuschheit verdächtigten Personen bilden sogar eine Art dunkle Gegenwelt gegen fromme Legende und eine zutiefst gläubige Auslegung der Bibel, der Mariendogmen, der ernsten theologischen Meditationen über die Frohbotschaft der Evangelien, die andächtige Betonung der absoluten Reinheit der Gottesmutter sowie die Verkündigung der sündenlosen Heilsgeschichte in den Abertausenden von Kunstwerken zur Steigerung der Andacht.
Noch vor den kargen Brocken meiner späteren Weltkenntnis erfuhr ich heilige und menschliche Wirklichkeit anhand der von Schnorr von Carolsfeld illustrierten Bibel, in der Großmutter und Vater in besinnlichen Stunden mit mir blätterten und mir die zugehörigen Geschichten erzählten. Die schönen Frauen und athletischen Männer, Priester, Kämpfer, Eroberer, Ackerbauern und Sühneopfer darbringenden Israeliten bevölkerten meine Phantasie. Ich wollte auch fromm und gottesfürchtig werden und es ihnen gleich tun an Gottgefälligkeit, und ich fürchtete wie viele von ihnen den Zorn Gottes, wenn sie vom vorgeschriebenen Weg und Glauben abwichen. Ich hatte also viel aufzuarbeiten an langsamer Distanzierung von der für so real gehaltenen Glaubenswelt, in der ich bereit war, an Jesu Wunder buchstabengetreu zu glauben und ihn für meinen Freund und Retter zu halten.
Noch in der „Gottesvergiftung“ (1976) bin ich aus vollem Hals und wütend gegen mein Gottesbild zu Felde gezogen, gemeint waren auch Eltern und Pfarrer, die es mir, absehen von meiner eigenen Steigerung seiner Strenge, beigebracht hatten. Daraufhin hatte ich viele Gelegenheiten, als Psychotherapeut in religiös belastete Biographien Einblick zu nehmen. Diesen Hilfe suchenden Menschen gegenüber fehlte mir aber zunehmend jede polemische oder ironische Einstellung zu deren Gottesbild, aber ich lernte, die Bedingungen seines oft destruktiven Zustandekommens immer tiefer zu erforschen. Die angstmachende Wirkung vergifteter Thesen über Gottes richtende Härte oder Grausamkeit wurde mir immer deutlicher. Aber ich begann auch milder zu denken, wenn einzelne Fragmente eines gütigen, zum Leben ermutigenden Gottesbildes mitbrachten, das hinter späteren Verstörungen erhalten geblieben war.
Seither habe ich sogar über den therapeutischen Umgang mit den sogenannten „ekklesiogenen Neurosen“ geforscht und publiziert, so auch in dem Buch „Gott auf der Couch“. (2011) Immer klarer zeichnete sich ab, dass es, wie auch die religionspsychologische Forschung und die Erkenntnisse etwa der Klinikseelsorge bestätigen, Gottesbilder gibt, die mit Recht als hilfreich für ein erfülltes Dasein gelten können. Therapie kann dann sogar den Versuch der Freilegung dieser oft verschütteten Ressourcen bedeuten.
Es gibt aber einen mächtigen Unterschied zwischen dem, was einzelne Menschen als förderliche religiöse Instanz in sich aufgerichtet oder einfach übernommen haben, und dem, was uns die dogmatischen Lehren der christlichen Kirchen, und hier vor allem der katholischen, zu glauben noch immer aufnötigen wollen. Und dies einschließlich des Glaubens an Hölle und Teufel, leibliche Himmelfahrt Mariens, jungfräuliche Geburt, Jüngsten Tag und ewiges Gericht, Erlösung und Verdammnis, Auferstehung von den Toten, Jesu leibliche Gottessohnschaft, die vielfältigsten Wunder Jesu, seine Auferstehung und Himmelfahrt, „sitzet zur Rechten Gottes“, feierliche Krönung Mariens, Engelssturz und Verwandlung von Wein in Blut Jesu, usw. All dies hat mich im Lauf meiner Jugend- und frühen Erwachsenenjahren erst glaubend, dann zunehmend kritisch beschäftigt, bis mir die Thesen und Dogmen immer merkwürdiger, ja absurder, und die Glaubensforderungen der Kirchen immer mehr als Zumutung erschienen.
Mein eigener Standpunkt: Ich bin ungläubig geworden und, wenn auch sehr spät, aus Rücksicht auf die Eltern aus der Kirche ausgetreten. Und weil ich auf die Glaubensanforderungen gehorsam eingegangen war und mich allmählich zunehmend betrogen fühlte, ist ein Untergrund von Scham und Enttäuschung zurückgeblieben, die sich in diesem Buch nicht zuletzt als eine spöttische, ironische und auch satirische Haltung zeigen.
Ich möchte mit dem Roman niemanden verletzen, obwohl es nicht zu vermeiden sein wird bei Menschen, die bei ihrem buchstabentreuen Glauben geblieben sind und zu den theologisch zum Teil raffinierten „symbolischen Auslegungen“ der modernen Verkündigung nicht vorgedrungen sind. Aber auch die würde ich gerne erreichen und ein wenig aufrütteln, und sei es durch den Schock einer Außenansicht der frommen Innenwelt, die ich mir mühsam erworben habe. Die christliche Dogmatik und der Schatz der biblischen Erzählungen haben in Domen, Gemälden, Ritualen, in Literatur und musikalischen Werken, kurz in der abendländischen Kultur ein Ausmaß von künstlerischer Darstellungen gefunden, die viele auch gebildete Menschen ihrerseits für einen vielfältigen Gottesbeweis halten. In den vielerorts noch zugänglichen Votivkirchen zeichnet sich in der schlichten Wiedergabe von Wundereingriffen Gottes, der Gottesmutter oder vieler Heiligen eine gläubige Dankbarkeit für hilfreiche Eingriffe der angeflehten Helfer ab, die einen berührt und an die natürliche Sprache von Kindern erinnert, die ausnahmsweise, wie es die Summe der zu beichtenden Sünden erahnen ließ, ausnahmsweise nicht gestraft, sondern durch göttliche Hilfe reich beschenkt wurden durch Rettung aus oft tiefster, ins Bild gesetzter Not.
Ich biete keine überflüssigen oder falsch gewordenen Gottesbeweise, keine theologischen Thesen und Antithesen, sondern versuche ein Stück psychologische Einfühlung in die Menschen, die sich um das für die Kirche zentral wichtige Dogma der Jungfräulichkeit scharen, einschließlich der Selbstwahrnehmung Gottes als Autor der Heilsgeschichte, und dies in Monologen und Dialogen, wie ich sie auch in meiner therapeutischen Arbeit im psychodramatischen Rollenspiel verwende. Wer mit sich und anderen aufrichtig spricht und Argumente und Empfindungen austauscht, kann zu seiner inneren Wahrheit finden, auch wenn sie gar keine überprüfbare mehr ist, sondern nur gewohnheitsmäßig, liebevoll, eingeschüchtert oder angstvoll wirkt wie bei den auftretenden Figuren. Ich mute also meinem biblischen Personal Selbstoffenbarungen zu, auf die sich jeder Leser seinen eigenen Reim machen kann. Manchmal konnte ich Anspielungen auf die heutige Zeit nicht vermeiden.
Fast zwei Jahrtausende hatte der Heilige Petrus an der Himmelpforte den Zugang zum Paradies kontrolliert. Trotz einer irdischen Beichte, Buße und der Absolution, die von den Verblichenen manchmal auch erschlichen war, hatte er viele von sich überzeugte Fromme zurückweisen oder eine Verlängerung des Fegefeuers anordnen müssen. Er kannte inzwischen tausend Tricks, mit denen die Ankömmlinge ihn hinters Licht führen wollten, um ins Paradies zu gelangen. Durch das Anwachsen der Zahl der Christen im Lauf der Menschheitsentwicklung – noch vor dem zahlenmäßigen Niedergang gerade in Deutschland – war er der Aufgabe längst nicht mehr allein gewachsen, im Gegenteil: Die Eingangskontrolle war einer Behörde mit vielen Mitarbeitern anvertraut worden, auch weil die Täuschungsversuche immer dreister geworden waren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Mehr als zwei Prozent der ankommenden Himmelspilger hatten es nicht zu fassen vermocht, dass irdischer Reichtum dort oben einfach nicht einzuführen war, auch wenn sie Petrus umschmeichelten und in der Not anboten, bis zu dreißig Prozent des Wertes ohne Quittung auf ein diskretes Himmelskonto zu überweisen. Da die Wächter auf Petri striktes Verbot hin natürlich auf den Deal nicht eingingen, wurde erbarmungslos alles konfisziert, was sie bei sich hatten. Das Edelmetall wurde sofort an die Heiligenschein-Gießerei weitergeleitet. Seit viele Sterblichen wegen der unsicheren Finanzlage viel Gold horteten, konnten die Heiligenscheine seit längerer Zeit etwas opulenter gestaltet werden.
Im Mittelalter versuchten es besonders Schlaue, ihre Goldvorräte in dreifachen Bocksbeuteln zu verstecken, das Gerücht hielt sich lange auf Erden, dass dies eine Möglichkeit sei, die Prüfer zu übertölpeln. Später verfielen manche darauf, das Gold im Körper zu verstecken, Verdächtige wurden aber einige Tage hingehalten, bis sie alles wieder von sich gegeben hatten. Im Zug der Rationalisierung waren, ähnlich wie heute an Flughäfen, Metalldetektoren eingesetzt worden, die auch durch große Körper-Fettschichten durchschauen konnten. Seitdem waren die himmlischen Zoll-Einkünfte stark zurückgegangen.
Petrus war amtsmüde geworden, als allmählich klar wurde, dass der versuchte Schmuggel von Drogen durch verzweifelte Süchtige sich häufte, die beim Filzen und auf den Bildschirmen kaum sichtbar wurden. Als aber ein Bayer ankam und sich durch eine komische Schrittfolge und Gangart verdächtig machte, war Petrus sofort wach und ließ ihn durchsuchen. Er wurde fündig, entdeckte ein paar Weißwürste in seiner Unterkleidung, wollte aber den Ertappten nicht einfach zurückschicken, sondern behielt das bisher unbekannte Schmuggelgut bei sich und vertraute es dem himmlischen Hauptzollamt an. Er wurde vom Heiligen Geist für seine Findigkeit belobigt, was seine Hoffnung verstärkte, in absehbarer Zeit auf einen ehrenvolleren Posten berufen zu werden. Mehrere frühere Eingaben waren immer wieder kommentarlos zurückgegeben worden, die himmlische Regierung hatte ihm noch nicht verziehen, dass er den Heiland im Garten Gethsemane drei Mal verleugnet hatte. Nicht einmal sein Märtyrertod in Rom hatte diesen Makel vollständig beseitigen können.
Doch zur Prüfung des jeweiligen Schmuggelgutes durfte er die gewundene Straße vom Tor bis zum Vorsaal, wo die Prüfung der unbekannten Gegenstände stattfinden sollte, hochgehen, was ihm angesichts seines Alters recht beschwerlich war. Einen ihm angebotenen Esel als Reittier lehnte er ab: Das erinnere ihn zu sehr an den Einzug Christi in Jerusalem. Um allen Verdacht auf zu große Nähe zu Christus zu vermeiden, hatte er schon bei seiner Kreuzigung in Rom auf ein anderes Verfahren gepocht, nämlich das Kreuz umzudrehen und also kopfüber zu sterben, um zu viel Ähnlichkeit mit dem Kreuzestod des Heiland auszuschließen.
Nun stand er also in einer hinteren Reihe bei dem öffentlichen Prüfungsschauspiel, versuchte durch eine Lücke zwischen den vielen Köpfen hindurch zu spähen, erhaschte aber nur für kurze Momente einen Durchblick auf Mariens Gesicht noch vor ihrer Krönung zur Himmelskönigin, dessen Verfärbungen er aber wahrnahm. Sie war ob der ungewohnten paradiesischen Helle vorübergehend fast erblindet und musste infolgedessen als frühere Hausfrau die Eigenschaften des Gegenstandes ertasten. Er verstand jedoch ihr Zögern vor der Antwort nicht und fragte etwas hektisch Umstehende, was die allgemeine Unruhe bedeute. Aber keiner antwortete, weil jeder inmitten der sich anbahnenden Panik mit sich selbst beschäftigt war und den aufdringlichen Frager abwies. Er wurde mehrfach angerempelt, fiel zu Boden, war froh, dem Getrampel, das über ihn hinweg ging, zuletzt zu entkommen, und weinte in der plötzlich einsetzenden Dunkelheit still vor sich hin. Mit leiser und verlegener Stimme hatte Maria nämlich geäußert, der zu prüfende Gegenstand fühle sich an wie der Heilige Geist. Eine ausführlichere Darstellung der Szene findet sich am Schluss des Buches.
Wenn man die tausenden von Bildern „Verkündigung“ oder „Der Engel der Verkündigung“ oder „Mariä Verkündigung“ betrachtet, so fällt auf, dass Maria nur auf den wenigsten Gemälden das Antlitz hebt, um den Boten Gottes näher zu betrachten. Meist schaut sie in demütiger Ergriffenheit zu Boden, beugt dennoch in vorauseilendem Gehorsam ihren Leib dem Engel entgegen. Sie zeigt entweder vollendete Unschuld, oder aber sie ist als Lesende dargestellt, die im Alten Testament etwas vom kommenden Messias liest. Ihr Herz und ihr damals noch schmaler Verstand sind also von wundersamen Prophezeiungen angefüllt. In ihren mädchenhaften Phantasien malte sie sich aus, wie viele Kinder sie einmal mit ihrem Verlobten Joseph haben wird, und ob eines darunter sein könnte, dem man eine hohe oder höchste Berufung zutrauen möchte.
Dieser ihr Verlobter, der spätere Heilige Joseph, schilt sie gelegentlich, wenn sie abweisend auf ihn reagiert und traumverloren nicht auf seinen Gruß antwortet, wenn er müde aus seiner Werkstatt heimkehrt, ja, manchmal seine kleinen Geschenke unbeachtet lässt. Gelegentlich hat es sogar schweren Streit gegeben, wenn sie ihn ungebildet, ungehobelt, aufdringlich und „ohne seelische Feinheit“ nennt. Er war freilich von Anfang an fasziniert von ihrer durchgeistigt wirkenden Feingliedrigkeit. Ihre depressiven Verstimmungen hatte er für vorübergehende Eigenarten gehalten, die zu mildern ihm manchmal gelang durch zarte Berührungen oder durch lustigen Schabernack, der sie zum Lachen brachte. Beide wünschten sich Kinder, waren aber als gläubig-fromme Menschen vor ihrer Hochzeit noch weit davon entfernt, sich einander geschlechtlich zu nähern. Er war durch seine Freunde einigermaßen aufgeklärt über die angeblichen Tätigkeiten des Storches, dessen Geschichte man auch ihm als Kind aufgetischt hatte, vielleicht waren es auch durchziehende Flamingos oder Kraniche. Aber Maria war ahnungslos, sie hatte leichtfertig plaudernde Freundinnen immer gemieden, und ihre Eltern hielten Aufklärungsgespräche für gottlos, vorausgesetzt, sie wären überhaupt fähig gewesen, darüber scheue Worte zu verlieren.
Wir wissen wenig von den unbewussten Ahnungen Marias über die irdischen Tatsachen des Lebens. Wenn sie gelegentlich mit ihrer Mutter auf der Weide mit ihren Geißen und Schafen weilte, versuchte diese ihren neugierigen Kindskopf abzuwenden, wenn die Böcke ihre Schafe besprangen; und wenn Maria sie doch heimlich beobachtete, so schalt sie die Böcke flüsternd grobe Gesellen, vor denen man die Misshandelten hätte in Schutz nehmen sollen.
Sie lernte Sticken, das half, neben der Lektüre, gegen die Langeweile, denn wegen ihrer Zartheit war sie sowohl von der Feld- wie von grober Hausarbeit entlastet worden. Als es nun eines Tages fast stürmisch an ihre Tür klopfte, geriet sie in Angst, weil außer ihr niemand zuhause war. Sie wollte aber nicht unhöflich sein, und wie ihrer Familie galt auch ihr Gastfreundschaft als heilig. Sie öffnete und erwiderte also den Gruß, der ihr ein wenig gestelzt, um nicht zu sagen feierlich vorkam, wagte aber nicht gleich zu fragen, was das Begehren des kostbar gekleideten Gastes sei, sondern fragte, ob sie ihm etwas anbieten dürfe. Der aber winkte dankend ab, meinte er sei im Dienst und wollte schnell zur Sache kommen. Sein Drängen überraschte sie auf jeden Fall, sie brachte es aber mit den aufgeregten Zeitläufen in Zusammenhang, von denen sie auch in der stillen Ruhe des Dorfes andeutungsweise gehört hatte.
Der hohe Rat der Tempelpriester, der ihn zu ihr sende, so begann er seine Ansprache, sei seit langem beunruhigt, dass sich die verheißene Ankunft des Messias seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden und auch in den letzten Jahren so sehr verzögere, dass sich unter den Gläubigen Ungeduld und Zweifel breit machten, zumal es in der Gegend immer mehr falsche Wanderprediger gebe, die sich, leicht durchschaubar, als Messias oder dessen Vorboten ausgäben. Es herrschte damals eine aufgeregte Endzeitstimmung um die kommende Jahrtausendwende, doch dies ist ein Begriff der neueren christlichen Zeitrechnung, an die noch niemand dachte. Auch die römische Besatzungsmacht habe deshalb bereits Unruhe gezeigt, vermehrte ihre öffentliche Präsenz und Sichtbarkeit, weil feindselige, aufrührerische Zusammenrottungen und Aufstände noch nicht lange zurück lagen, und weil das Militär um die religiöse Verführbarkeit des niederen Volkes wusste und manche der größenwahnsinnigen angeblichen Propheten auch politisch aufrührerische Reden hielten. Der als „Landpfleger“ von Rom eingesetzte Feldherr Pontius Pilatus stand unter strenger Beobachtung des Königs Herodes, der einen guten Draht zum weit entfernten Kaiser hatte, und der des Pilatus’ Karriere schnell hätte beenden können.
Von dem verheißenen Messias ging für die Römer noch keine große Gefahr aus, sie pflegten den Juden in Angelegenheiten der Religion nicht hineinzuregieren, Gefahr drohte erst von einer eventuellen stürmischen Politisierung der Predigten und Weissagungen, mit vom römischen Geheimdienst kaum noch zu kontrollierenden Verbindungen zu aufrührerischen, ja terroristischen Gruppen.
In dieser Lage geriet auch der eitle und ehrgeizige Hohe Priester Kaiphas zusammen mit dem Hohen Rat in eine gewisse Bedrängnis. Die herrschende jüdische Elite begann die Endzeitstimmung zu fürchten, deren oft verworrene Träger, aber auch ernst zu nehmende eifernde Splittergruppen die immer wütender herbei geredete Ankunft des seit Jahrtausenden versprochenen, ja mehrfach biblisch verheißenen Messias forderten oder sogar als bevorstehend ankündigten. Kaiphas, politisch und theologisch durchtrieben, heckte in seiner wachsenden Not einen fast teuflisch zu nennenden Plan aus. Ihn selbst trieb Ungeduld, ja Panik, weil er sich der uns heute fast irrwitzig erscheinenden Hoffnung hingab, das Ereignis noch zu seinen Lebzeiten feiern und groß inszenieren zu können. Da er den Hohen Rat weitgehend auf seiner Seite wusste, fiel es ihm nicht allzu schwer, eine so verschwörerische wie größenwahnsinnige Stimmung zu erzeugen, sodass bereits konkrete Initiativen ins Auge gefasst werden konnten. Auch der enge Kreis der voll eingeweihten Mitglieder war zur Umgehung von Bräuchen und Gesetzen bereit, auch wenn sie die kriminelle Energie des Hohen Priesters noch nicht ganz durchschauten. Dem war nämlich zu Ohren gekommen, dass es in Nazareth eine bis dahin unbescholtene junge Frau gebe, die heimlich schwanger geworden war, und der, wie ihrem Verlobten, die schlimmsten Strafen drohten. Es klingt abenteuerlich, aber es gab eine Seite seiner Persönlichkeit, mit der er glaubte, göttliche Kräfte und Vollmachten zu besitzen. Er wusste also, dass das gefallene Mädchen erpressbar war, wenn er sie aus ihrem tödlich drohenden Schicksal zu befreien versprach. Er verbrachte von da an Tage und Nächte mit finsteren Grübeleien, wie die Maria genannte Frau zum Mitspielen bei der letztlich auch für ihn möglicherweise bedrohlichen Intrige – ein viel zu schwaches Wort für den Plan – gewonnen werden könnte.
Aber wie nähert man sich einer jungen naiven Frau, mit der man einen destruktiven und hinterhältigen Zweck verfolgt? Der Sekretär des Rates drängte sich vor, er hielt sich nicht nur für unwiderstehlich, sondern hoffte, im Rahmen der kleinen Stadt und des Umlandes, sein Verhandlungsgeschick und seine, wie er meinte, wachsende diplomatische Begabung unter Beweis stellen zu können. Dazu gehörte für seine eitle Selbsteinschätzung eine gewählte Sprache, die er mit einigen städtischen Floskeln anreichern wollte, die er von einer kleinen Ferienreise nach Jerusalem mitgebracht hatte.
Das Maria in ihrer Einsamkeit erschreckende Klopfen stammte also von ihm. In anfangs noch relativ einfachen und eingängigen Worten schilderte er der erstaunt lauschenden Maria die Nöte der um ihre Zukunft besorgten Hohen Priesterschaft. Ein wenig kunstpausierend näherte er sich seinem Anliegen: Der Rat suche eine unbescholtene Jungfrau. Dass dem nicht mehr so war, wusste sie selbst noch nicht genau, nur Mutter Anna vermutete es, und ein Teil des Hohen Rates von einer ahnungsvollen und klatschsüchtigen Nachbarin, die sich, wie das derbe Sprichwort lautet, über die lange Verlobung und die abendlichen Essensbesuche durch Josef bei der künftigen Schwiegermutter und ihrem etwas einfältigen Gatten das Maul zerriss. Sie hatte gegen ein stattliches Trinkgeld bei Kaiphas, dem das vorzeitige Gerücht auch schon zu Ohren gekommen war, versichert, dass sie sich noch selten getäuscht habe bei der Diagnose der Folgen von leichtsinnigen Fehltritten. Er könne sicher sein und anfangen zu überlegen, wie er das weitgehend unschuldige Lamm, über deren drohendem Schicksal bereits das mütterliche Herz blutete, vor dem sicheren Verderben retten könne. Denn dass der Hohepriester nicht aufs Geratewohl Sippenforschung betrieb und angeblichen moralischen Verfehlungen nachging, war ihr sofort so klar, dass sie, gerissen wie sie war, ein anzügliches Lächeln riskierte, wofür sie Hochwürden, um seine Ehre zu retten, augenblicklich ohrfeigte. Dies tat ihm wieder leid tat, denn er wollte sie sich auf jeden Fall mit ihren durchtriebenen Fähigkeiten gewogen halten.
Der Bote und Dorfdiplomat spürte schon an der Tür, dass er Maria nicht weitersprechend überrumpeln konnte, sondern ihr eine Erholungs- und Denkpause einräumen musste, was sie dankbar annahm, und so meldete er sich für den übernächsten Tag wieder an, um das, wie er lobend hervorhob, bereits fruchtbar begonnene Gespräch fortzusetzen. Obwohl Maria nicht verstand, was an dem kurzen Gespräch fruchtbar gewesen sein sollte – sie war eher verwirrt und versuchte ihr klopfendes Herz zu beruhigen –, stimmte sie erleichtert zu, und der geübte Schönredner, das Wort Süßholzraspler oder gar Schleimer war damals noch nicht gang und gäbe, verabschiedete sich mit einem einstudiert scheinenden, für mit städtischen Gewohnheiten vertrautere Menschen lächerlich erscheinenden Kratzfuß mit mehrmaliger Verbeugung. Er schien aber zu ahnen, dass er es in Zukunft mit einer zwar naiven, aber vielleicht doch bedeutungsvollen Person zu tun haben würde.
Anna, heutzutage auch als Heilige verehrt, damals noch eine lebenskluge Hausfrau, doch inzwischen ebenfalls aus angeblich sündenfreier Zeugung stammend und auf berühmten Bildern der berühmtesten Maler in trauter Dreisamkeit, also selbdritt mit Mutter und Tochter und dem kleinen Jesus vereint dargestellt. Aber weil Marias Sohn, schon als Knirps auf den einschlägigen Bildern oft bereits mit einem Heiligenschein versehen, so gerne mit dem kleinen Johannes lustige Knabenspiele spielt, müsste man eigentlich sagen, in fröhlicher Viersamkeit. Anna wächst zur wichtigsten Beraterin und Beichtmutter ihrer Tochter auf ihrem schwierigen Lebensweg heran. Sie wundert sich täglich mehr über die seltsamen Essgewohnheiten ihrer Tochter, bis es ihr zur Gewissheit wird, dass es einen Lebensmakel geben muss an der später in christlicher Zeit eigentlich zur Virgo immaculata verdammten Tochter. Und sie hörte sich aus einem Nebenraum mit fliegendem Atem die Geschichte vom Besuch des servil tönenden Stadtdiplomaten an. Sie ahnte bald einige Zusammenhänge zwischen der Initiative des Kaiphas und dem Zustand ihrer Tochter und erschrak, zischte einige palästinensische Flüche in das trauliche Abenddunkel, wie sie sich für eine gesittete Frau nicht geziemen. Aber schreiben wir sie dem Schock zu, in den sich schon ein Aufmerken auf möglicherweise atemberaubende Perspektiven in naher Zukunft mischen. Heute würde man sagen: Sie beginnt sehr schnell Maria zu beraten, und dies bereits schon für die nächste Begegnung mit dem ihr wenig sympathischen Sekretär. Sie warnt Maria vor vorschneller Zustimmung, rät ihr, sich alles Geplante haarklein erzählen zu lassen, und schreibt ihr sogar einige Fragen auf einen Zettel, die sie stellen und sich lieber einen dritten Termin erbitten soll, bevor „die Kleine“, in Unschuld erzogen, sich möglicherweise übertölpeln lässt.
Der Sekretär hatte sich gut auf die unerfahrene und arglose Frau eingestellt und redet zum ersten Mal konkreter über Marias künftige Aufgaben. Es ist von umfassender Hilfe bei der kommenden Rolle die Rede, von der Notwendigkeit vorläufiger Geheimhaltung, von absolut notwendigem korrektem Lebenswandel, der ihr eigentlich selbstverständlich sei, auch von gottgefälligem Gebaren an der Öffentlichkeit, kurz von absolut unverdächtigen Verhaltensweisen – sie verstehe schon –, meinte er beinahe lüstern. Aber Maria versteht nur die Hälfte, würde am liebsten Anna herbeirufen, doch der Schmeichler, sehr gerissen, lehnt mütterliche Beratung ab und sagt, sie sei doch selbst erwachsen und brauche keine wohl nur schädlichen Einflüsterungen. „Aber besprechen darf ich das alles mit Mama?“, fragt Maria ängstlich, und der Sekretär spürt, dass er ihr das nicht verwehren kann, also wird er in Bälde auch bei Anna vorsprechen müssen, um für Maria unverständliche Details, Geldzuwendungen und Ausstattungsfragen zu diskutieren.
Bei Anna in deren gastlicher Küche wird schon mehr Klartext geredet, auch über konkrete Erziehungsziele der kommenden Monate, über psychologischen Beistand aus der Stadt, wie er ihn nur Anna gegenüber angedeutet hatte; weiter über würdige und noch einzuübende Gesten und den Umgang mit später fälligen Pilgerbesuchen und Gaffern ums Haus. Maria, so schmeichelt er der durchaus empfänglicher werdenden Mutter, habe eine unschuldige, aber wirksame Würde
auszustrahlen, und auch der Hohe Rat sei inzwischen zuversichtlich hinsichtlich des ungeheuren religionspolitischen Unternehmens.
Auch wirksame Werbung und nötige Propaganda sowie die historische Einbettung in die alten Schriften und Verheißungen sei garantiert, sodass die Geburt des Messias glaubhaft anzukündigen sei. Seine Worte hörten sich freilich viel gewählter an. So wurde verständlich, dass Maria den Plan nicht gleich ausreichend begriff. Sie spürte zuerst nur, dass sie zu etwas Außergewöhnlichem auserwählt sein sollte, erneut wurde Stillschweigen angemahnt, es war von einem angemessenen Entgelt die Rede, auch wolle man ihr helfen, die vorgesehene Rolle angemessen zu spielen. Schon die Worte Rolle und Entgelt waren der jungen Frau unbekannt, sie spürte immer noch ein Befremden, ja Misstrauen dem Gast gegenüber. Aber der wusste sie zu beruhigen, verwies auf das vor ihr aufgeschlagene Buch mit dem entsprechenden Kapitel des weissagenden Propheten und der vor langen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden aufgezeichneten Ankündigung eines Erlösers, und er wusste die Mischung aus Verblüffung, Angst und Neugier zu mildern. Der Gast stand sichtlich unter Druck, als ob er sich der Kühnheit, ja Verwegenheit seines Anliegens bewusst wäre. Es war in der langen Berufsgeschichte seines Angestelltenlebens der zweifellos weitreichendste Auftrag, den er auszuführen hatte, und ihm winkten entweder Schande oder ein sprunghafter Aufstieg in der Lokalpolitik oder gar in der gesamten Region. Der Auftrag war ihm zugesprochen worden, weil man seine Loyalität, seine Diskretion wie seine vermittelnden Fähigkeiten hoch einschätzte. Kurzum, in seinen werbenden Sprachklang drängte sich, selbst bei Anna, auch Aufregung und absolutes Bewährungsstreben, obwohl er nicht im Entferntesten ahnen konnte, wie viel vom Gelingen seiner Unternehmung welthistorisch abhängen konnte.
Gönnen wir uns eine Pause des Nachdenkens. Mir als Kind und auch dem späteren Erwachsenen wurde über dieses Ereignis eine ganz andere, erstaunliche Geschichte erzählt, wie sie dann in mehreren Variationen im so genannten „Neuen Testament“ berichtet und in hunderten von Übersetzungen in alle Welt verbreitet wurde. Gott schickte einen wohlgekleideten, demütigen Engelsboten, manchmal tritt er auf den herrlichen Bildern still ins Gemach der lesenden Jungfrau, manchmal hat er es eilig und naht im Sturzflug, das Gesicht noch gerötet von der Weltraumkühle, die er durchqueren musste. Die Botschaft, die er bringt, ist so wuchtig, dass sie den Körper Marias zu durchdringen, in Wallung zu bringen scheint. Auf anderen Bildern sieht man sie unterwürfig erstarrt, und trotzdem bleibt sie geistesgegenwärtig und sagt sofort, es gebe ja keinen Mann in ihrer Umgebung („da ich von keinem Manne weiß“). Da erscheint schon klar, dass Joseph nicht einfach ein zeugender Mann ist, sondern der kommende keusche Hausmann.
An der Heilsgeschichte Zweifelnden und Ungläubigen wurden später Höllen- und Todesstrafen angedroht, letztere auch massenhaft verhängt und vollstreckt. Über kleine Varianten der Geschichte mit hoher theologischer Bedeutung wurden Kriege geführt, aber im Großen und Ganzen wurde die „biblische Wahrheit“ in Etappen durchgesetzt und es entstand aus geringen Anfängen mit der katholischen Kirche eine grandiose und weltumspannende Institution, die sich der Bewahrung, Reinhaltung und Verkündigung der Botschaft auf prunkvolle Weise verschrieb. Die zunächst einfache Verkündigungsgeschichte mit dem tausendfach gemalten Engel, der verdutzten oder erwartungsvoll überraschten Maria und den millionenfachen Lob- und Dankpredigten wurde durch die Jahrhunderte unendlich oft ausgelegt, angereichert, besungen und bedichtet, ja sie wurde, da sich Millionen Menschen in den Dienst ihrer Propagierung und seelischen Vertiefung stellten, ein Urgrund der abendländischen Kulturentwicklung, die sich sowohl so glanzvoll entfaltete wie sie von Ängsten und Schuldgefühlen durchzogen war. Denn das Ende der Weihnachtsgeschichte war, wie wir wissen, bitter, der lang ersehnte Heiland brachte zunächst kein Glück. Er wurde wegen Aufruhr, Anmaßung und Gotteslästerung gefoltert und hingerichtet, und wir Menschen sollten fortan alle ihm und dem gütigen Vater für dieses grausame Sterben danken. Es wurde das Sterben am Kreuz als Opfertod für unsere Sünden erklärt, deren Katalog in der Theologie später ständig wuchs zu ganz unhandlichen Folianten, Pflichtlektüre für alle jungen Priester, die auch Beichtväter werden sollten.
Maria wusste bald nicht mehr so recht, wie ihr zumute war. Ein Gefühl von Fremdheit dem Gast gegenüber überkam sie, ja sie wurde immer misstrauischer, versuchte es aber zu unterdrücken. Schließlich, so meinte sie zögernd, kam ihr eine für den Augenblick rettend erscheinende Idee. „Ich muss das mit Joseph besprechen“, sagte sie, erleichtert über ihren Einfall. Doch der Gast schien darauf vorbereitet, er zog die Stirne kraus, schüttelte lange den Kopf, überprüfte seine längst vorbereiteten Worte und merkte, dass er sie nicht überfordern durfte durch ein allzu rasches Nein zu ihrer Ausflucht. „Die Sache ist heikel. Nichts darf vorzeitig bekannt werden. Der Hohe Rat besteht vorerst auf strikter Geheimhaltung. Selbst Josef darf nichts erfahren. Auch er wird seine Rolle spielen müssen, er wird rechtzeitig kontaktiert und informiert werden. Ich nehme an, Geheimnisse zu haben war für ein Mädchen wie Sie bisher auf kleinste Geschehnisse begrenzt, wenn Sie überhaupt je in der Situation waren, dicht halten zu müssen. Wie steht es damit?“
Maria überkam ein Gefühl absoluter Einsamkeit. Sie war es gewohnt, Josef an allem, was sie fühlte und dachte, teilhaben zu lassen. Das ihr abverlangte Schweigegebot erschien ihr übermächtig. „Ich bin fast noch ein Kind“, murmelte sie, sodass der Gast nachfragen musste, was sie geäußert habe. „Ich konnte nicht einmal vor meiner Mutter Geheimnisse haben, sie hätte es mir sofort angesehen.“
Dem Boten wurde es unbehaglich, er ließ sich aber nichts anmerken, dachte nur im Stillen: „Die Kleine ist überfordert, die wird sich irgendwann verplappern.“ Trotzdem stellte er mit ruhiger Stimme weitere Fragen, entschuldigte sich sogar für die Indiskretion seiner besonderen Frage, ein Begriff, den die junge Frau auch noch nie gehört hatte. „Trotzdem müssen wir wissen, wie es um Ihre Unschuld steht.“ Wieder reagiert Maria verständnislos. „Ich lasse die Frage fallen“, meinte er resigniert, machte aber auf einer Liste, die er mittlerweile aus einer feinen Lammledertasche gezogen hatte, heftig einen Strich. Auf die Frage nach ihrem Alter erhielt er eine nur annähernd brauchbare Antwort, als ungefähre Geburtszeit nannte sie das Jahr der großen Dürre, der Bote versuchte sich zu erinnern und rechnete und kam auf ein Alter von etwa vierzehn Jahren. „Wie lange seid ihr schon verlobt?“, hakte er nach. „Fünf Vollmonde zurück“, war ihre ungenaue Antwort, „es wurde bis in die Nacht hinein gefeiert und Dattelwein getrunken, deshalb weiß ich es.“
Verzweifelt bemühte er sich, Maria beizubringen, was eine „Erwählung“ sei, und dass das Los auf sie gefallen sei, weil man ihre Wohlanständigkeit kannte und auch ihre Familie einen guten Ruf hatte. Es war eine dreiste Lüge, mit einer infamen Zweideutigkeit, der sie wiederum nicht gewachsen war. So schwierig hatte er sich die Einfädelung dieses Plans oder besser Komplotts nicht vorgestellt. Maria war keine Spur einer schulischen Unterweisung zugutegekommen. Ihre Mutter Anna hatte zuhause erfolgreich versucht, ihr das Lesen beizubringen. Seither hatte sie immer ein Buch bei sich, kam aber selten über eine oder zwei Seiten am Tag hinaus.
Sie war noch immer unfähig, und blieb es teilweise bis zum bitteren Ende, die Dimension des Anliegens zu verstehen. „Ich werde noch mehrmals wiederkommen“, versprach der Gast, und in Marias Ohr klang es fast wie eine Drohung. An wen sollte sie sich wenden in ihrer Not? Mit Gott verkehrte sie in vorgefertigten, kurzen Gebeten, an ein Ausschütten ihres nun gequälten Herzens vor ihm war nicht zu denken. Sie fühlte sich wirr im Kopf, ahnte nur, dass ihr etwas Ungeheuerliches zugemutet werden sollte, und doch fand sie in sich die erste Spur einer Bereitschaft, mitzumachen bei einem Unternehmen, das ihre Fassungskraft doch weit überstieg.