1. Auflage, 2021
© 2021 Joachim Angerer
Titelbild: Tatjana Hirschmugl
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-41087-9 (Paperback)
978-3-347-41088-6 (Hardcover)
978-3-347-41089-3 (e-Book)
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Becquerelsche Ränke
Wenn Sie wie ich aus der Mathematik kommen, realisieren Sie, dass es viele Probleme - sogar klassische – gibt, die nicht durch reine Berechnungen gelöst werden können.
Roger Penrose
Kapitel 1
»Frau General!« Der hünenhafte Soldat grüßte Cynthia Skotia zackig. »Der Verdächtige wartet im Verhörzimmer auf Sie!«
Gelassen führte die Offizierin ihre Hand an die Schläfe und erwiderte den Gruß. »Stehen Sie bequem, Korporal«, wies sie ihren Untergebenen sanft an. Ruckartig verschränkte der Soldat die Arme hinter seinem Rücken. Skotia senkte für einen Moment ihren Blick und der Ansatz eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. Die pechschwarzen Stiefel des Soldaten hoben sich glänzend vom mattgrauen Kunststoffboden der Kaserne ab. Doch knapp oberhalb einer der Sohlen stach eine bräunliche Schramme hervor.
Skotia sah nach oben und musterte die dunklen Augen, die über sie hinweg die Wand anstarrten. Obwohl der Korporal um mehr als nur einen Kopf größer war, wagte er es nicht, seinen zu senken.
»Armer Idiot«, dachte Skotia. Vor einem General mit dreckigen Schuhen zu erscheinen, war inakzeptabel.
Wortlos wandte sich die Offizierin von dem Soldaten ab und dem halbdurchlässigen Spiegel vor sich zu. Der Mann, der einsam auf dem metallenen Sessel im Verhörzimmer saß, war Skotias eigentliche Zielperson. Abwertend rümpfte die Offizierin die Nase. Seinen Rücken hielt ihr Gast zwar aufrecht, die Beine dafür verkrampft geschlossen. Seine Arme waren ebenfalls etwas zu eng vor der Brust verschränkt, um trotzig zu wirken.
»Was sagen Sie zu unserem Gast, Herr Korporal?«, fragte Skotia milde lächelnd den Soldaten neben sich.
Der Mann zögerte kurz. »Er hält sich wohl für einen ganz harten Kerl, Frau General«, antwortete er.
»Und was schlagen Sie vor?« Skotia strich sich scheinbar gedankenverloren durch die blonden Haare.
Der Riese räusperte sich betreten. »Der, ähm, braucht die harte Tour, Frau General«, presste er hervor.
Skotia nickte scheinbar zustimmend. Von einem Einfaltspinsel war keine andere Antwort zu erwarten. Es gab eben einen Grund, wieso sie im Offiziersund der Soldat neben ihr nur im Mannschaftsrang stand. Sie musterte den Korporal aus den Augenwinkeln, darauf bedacht, dass er ihre Blicke nicht wahrnahm. Mit seinen über zwei Metern Körpergröße und den Muskelbergen, die sich unter seiner enganliegenden, schwarzen Uniform wölbten, war er perfekt dafür geeignet, um Gefangene einzuschüchtern. Hier aber war diese Fähigkeit wenig hilfreich. Skotia richtete den Blick wieder auf ihren Gast jenseits des halbdurchlässigen Spiegels.
»Vito Lapis, 38 Jahre, alleinstehend, keine Geschwister, Vater und Mutter getrennt lebend, ehemaliger Gefreiter und Mitglied des Wächterkorps«, rezitierte sie aus ihrem Gedächtnis. Die Offizierin gestattete sich, kurz den Mund zu verziehen. Ihre azurblauen Augen, die sich in dem Glas vor ihrem Gesicht spiegelten, zwinkerten vielsagend. Dann gefror ihr Blick. Ein letztes Mal nahm sie den Mann ins Visier. Seit sie ihn beobachtete, hatte er sich keinen Zentimeter bewegt. Einen Anfänger würde er mit solchen Tricks täuschen. Skotia aber war lange genug im Dienst, um auf einen Schlag zu erkennen, ob jemand eiskalt war – oder von Kälte gepackt wurde.
»Ich kümmere mich um ihn. Warten Sie hier auf mich, bis ich Sie aufrufe, Korporal«, befahl Skotia dem Soldaten.
»Jawohl, Frau General.« Ohne zu blinzeln, starrte der Riese geradeaus. Erst, nachdem die Offizierin hinter der Tür zum Verhörzimmer verschwand, senkte er erleichtert seine Lider.
Aufrechten Ganges trat Skotia in den Raum ein. Ein Schwall kühler Luft schlug ihr entgegen. Sie ließ ihn lächelnd von sich abprallen. Das Thermostat stand genauso unter ihrer Kontrolle, wie alles andere hier. Auf ihren Befehl hin, würde sich der Raum mit wohliger Wärme füllen. Aber wozu voreilig die Stimmung verderben?
»Hauptwächter Vito Lapis«, grüßte Skotia mit sanfter Stimme und setzte sich dem Mann gegenüber an den silbrig glänzenden Metalltisch. Ihr Lächeln entblößte eine Reihe perlweißer Zähne. Sie könnten farblich kaum besser zu den gekachelten Wänden passen. »Sehr erfreut Sie kennenzulernen. Ich bin General Cynthia Skotia.« Sie hielt ihm die Hand hin. Er rührte keinen Finger. Ihr Lächeln nicht eine Spur schmälernd, zog sie ihren Arm zurück. Die meisten ihrer Kollegen hätten ihren Gast spätestens jetzt zusammengestaucht. Doch ihnen wäre das leichte Zittern von Lapis’ Unterkiefer nicht aufgefallen. Skotia aber war keine Anfängerin. »Wie geht es Ihnen?«, fragte die Offizierin betont freundlich.
Die Stirn runzelnd, starrte Lapis auf das seltsam natürliche Gesicht vor sich. Die Lippen waren nicht aufgeplustert, oder verschwindend schmal. Die Tränensäcke unter den Augen mündeten fast, aber nicht vollkommen nahtlos in die Wangen. Die kurzen, blonden Haare, die der Frau etwa bis an die Ohrläppchen reichten, glänzten unaufdringlich matt im Licht der Deckenlampe. Der Mann räusperte sich.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, hörte er eine Mädchenstimme sagen. Lapis unterdrückte ein Murren. Weibliche Soldaten hatte er schon genügend getroffen. Jugendlich wirkende Rekruten waren ebenfalls nicht selten. Lapis starrte auf die schwarze Uniform vor sich. Die Raumstreitkräfte schmückten sich nicht zu Unrecht mit der Farbe des Weltalls. Das goldbestickte Abzeichen eines Generals, passte aber nichts ins Bild. Vor allem vertrug es sich nicht mit dem Gesicht einer Zwanzigjährigen.
»Habe ich etwas an den Augen?«, fragte Skotia und schlug spöttisch die Lider nieder.
»Alles wunderbar«, knurrte Lapis und verzog den Mund. Eitle Offiziere hatte er in seinem Leben genug getroffen. All den alten Hasen aber, denen er über den Weg gelaufen war, sah man jedes ihrer Jahre im Feld an. Sie weigerten sich, die Zeichen ihrer Dienstjahre entfernen zu lassen. Diese Blondine aber ließ zusätzlich die Spuren ihrer Verjüngungskuren verschwinden. Lapis’ Blick fiel erneut auf das goldene Abzeichen an der Brust der Frau. Es war sicher nicht weniger verfälscht.
Skotia hob abschätzig eine Augenbraue. Der Mann verlor doch nicht etwa schon bei ihrem bloßen Anblick die Nerven? »Sie wissen, was wir von Ihnen brauchen, Herr Hauptwächter?«, fragte sie fast beiläufig.
»Fragen Sie doch die Profis, die mich die letzten sechs Male verhört haben«, blaffte Lapis. »Sie erkennen sie daran, dass Rang, Gesicht und Dienstalter zusammenpassen.«
»Sie haben uns tatsächlich schon einiges von sich erzählt«, sagte Skotia sinnierend. »Etwa, dass Sie Becquerel mit einem Verwundetentransport verlassen haben. Als einer der ersten Wächter überhaupt.« Sie sah ihn eindringlich an. Sein Kopf war vollkommen kahl. Auf der Schädeldecke, am Kinn und selbst über den Augen, spross kein einziges Haar. Dafür durchzogen dunkle Flecken die Haut. »Man verpasste Ihnen den ein oder anderen Spitznamen«, stichelte sie.
»Lapis, der Bulle«. Er nickte abfällig. »Weil die Strahlung mein Gesicht in einen Fleckenteppich verwandelt hat.« Er zuckte mit den Schultern, als bedeuteten ihm seine Zeichnungen nichts. Skotia schüttelte nur langsam den Kopf. »Anfangs ja«, korrigierte die Offizierin. »Später aber nannte man Sie, ich zitiere: Das feige Rindvieh.« Sie nickte Lapis vielsagend zu. Der breite, fast nahtlos in den Kopf übergehende Nacken und die massigen Schultern passten perfekt zu dem Spitznamen. Und wie wenig Mut der Mann besaß, würde sich bald zeigen.
Lapis schnaufte verächtlich, als hätte er seinen Spottnamen schon zu oft gehört, um sich noch groß darüber aufregen zu können, aber nicht oft genug, um ihn zu ignorieren. »Nachdem ich das x-te Mal verstrahlt worden bin, wurde ich endlich ausgeflogen, ja. Das nahmen mir die Halbstarken übel. Sollen sie doch.«
»Und im Gegenzug haben Sie sich von ihnen distanziert. Als man Sie bat, am Putschversuch teilzunehmen, haben Sie sich geweigert, richtig?«
»Richtig. Wenn die Leute was von dir brauchen, melden sie sich.« Lapis murrte erneut. »Aber nicht mit mir. Ich habe den Kerlen gesagt, dass sie mich sonst wo lecken können.« Das haarlose Gesicht fixierte Skotia mit ernster Miene. Die Offizierin lächelte nur. »Wenn alle Wächter so stark wie Sie sind, hätten sie den Krieg bestimmt gewonnen«, heuchelte sie zuckersüß.
»Gegen echte Kämpfer hätten wir auch gewonnen. Aber diese Ratten sind einfach zu feige!«, posaunte Lapis. Auf einen Schlag schien seine Stimme neue Kraft zu erlangen. Skotia lehnte sich scheinbar beeindruckt nach hinten. War ein Gast in Redelaune, unterbrach man ihn besser nicht. »Warum es nicht direkt aussprechen?«, Lapis wurde lauter. Demonstrativ entfaltete er seine Arme und legte sie auf den Tisch, als steckte er sein Territorium ab. »Ja, sie sind Ratten. Aber was für welche!« Ein kurzes Zittern fuhr durch Lapis’ Finger. »Sie verstecken sich die ganze Zeit und tauchen dann wie aus dem Nichts auf. Zuschlagen und verschwinden. Diese Taktik haben sie perfektioniert. Und dann schaffen sie es auch noch irgendwie, in diesem Drecksloch von Planeten zu überleben. Sie sind nicht bloß Ratten. Sie sind das perfekte Ungeziefer. «
»Sein Hass gibt ihm Mut. Interessant«, dachte Skotia, behielt es aber für sich. Noch war Lapis’ Redelaune nicht gebrochen.
»Bis heute wissen wir nicht, wie die sich so gut an unseren Sensoren vorbeischleichen konnten. Andererseits bekamen wir auch nichts als Schrott. Vor allem diese Drecksroboter. Die waren für wirklich nichts gut.« Lapis machte eine kurze Pause, als müsste er nach dieser kleinen Rede seine Gedanken neu ordnen. Skotia kam ihm dabei gerne zu Hilfe. »In bisherigen Gesprächen haben Sie immer wieder betont, Ihren Kriegseinsatz zu bereuen.« Das Lächeln der Offizierin wurde breiter.
Lapis hob den rechten Unterarm und wies mit dem Zeigefinger auf das kahle Gesicht. »Das hier bereue ich. Dass es viele Kameraden noch schlimmer erwischt hat, bereue ich. Dass es noch mehr bei dieser sinnlosen Umsturzaktion erwischt hat, bereue ich. Wir sind Menschen. Die Strahlenratten nicht.« Lapis rümpfte seine Nase. »Aber ihr Sesselfurzer wollt das nicht kapieren. «
»Faszinierend.« Skotia richtete ihren Oberkörper aufrecht.
»Ist eine Tatsache.« Lapis verschränkte die Arme trotzig vor der Brust.
»Ihre Dummheit ist es, die faszinierend ist«, korrigierte Skotia und bleckte die Zähne. Das kalte Weiß funkelte ihrem Gegenüber drohend entgegen. Lapis schluckte.
»Sie haben gerade zugegeben, dass Sie Überzeugungstäter sind.« Die Offizierin formte ihre Finger zu einem Dach, wie ein Manager, der kurz davor stand, einen faulen Mitarbeiter zu feuern. »Das Wächterkorps ist eine verbotene Organisation. Ehemaligen Mitgliedern, die von seiner Sache nach wie vor überzeugt sind, drohen harte Strafen. Dass Sie einen General beleidigt haben, macht Ihre Situation nicht besser.« Skotia beugte sich nach vorn. Feindselig blitzte Lapis ihr goldenes Rangabzeichen entgegen. »Es herrscht immer noch Ausnahmezustand.« Skotia formte mit einer Hand eine Pistole. »Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, mit welchen Sonderrechten das Militär ausgestattet ist.« Der Lauf schwenkte auf Lapis’ Gesicht.
Der Angesprochene zog seinen Kopf immer weiter ein, bis dieser auf einer Augenhöhe mit dem General war. »Was wollen Sie von mir?«, fragte er vorsichtig.
Skotias Zähne verschwanden wieder hinter ihren Lippen. Der Mann war doch nicht so begriffsstutzig, wie es zunächst schien. »Ich habe tatsächlich Verwendung für jemanden wie Sie«, sagte die Offizierin in verschwörerischem Tonfall.
Lapis kniff die Augen zusammen. »Brauchen Sie einen billigen Killer?« Hinrichtungen abseits des Schlachtfeldes überließen Militärs gerne unterbezahlten „Spezialisten“.
»Sie sollen niemanden umbringen.« Tadelnd hob Skotia den Zeigefinger. »Und über Ihre Entlohnung müssen Sie sich keine Sorgen machen. Die wird mehr als angemessen sein.«
»Aha.« Lapis versuchte, möglichst unbeeindruckt zu klingen.
»Sie erhalten eine lebenslange Invalidenpension.« Ihre Augen wiesen auf die Flecken in Lapis’ Gesicht. Der Gast verzog den Mund. »Die Höhe entspricht dem Lohn eines Unteroffiziers«, fuhr Skotia fort. »Davon können sie vielleicht nicht luxuriös, aber doch recht angenehm leben. Selbstverständlich verleihen wir Ihnen auch den entsprechenden Rang. Nach Abschluss Ihres Einsatzes sind Sie nicht länger Hauptwächter, sondern Wachtmeister. Ihre Weste ist somit offiziell reingewaschen.«
Für eine Sekunde huschte der Ansatz eines Lächelns über Lapis’ Gesicht. „Offiziell“ klang gut. Besser, als „inoffiziell“ und sehr viel besser, als „streng geheim“. Vielleicht war heute sein Glückstag. Vielleicht. »Was soll ich machen?«, fragte er und hob das Kinn.
»Sie werden mich als Berater begleiten. Unser Auftrag lautet, die Ursachen für das Scheitern einer bestimmten Mission zu ergründen. Dafür kann ich jemanden mit Ihren Erfahrungen gut gebrauchen.«
Lapis war nicht länger nach Lächeln zu Mute. Wofür war sein Erfahrungsschatz schon gut? Ja, er konnte schießen und wenn es sein musste, auch tödlich. Die letzten paar Jahre aber, hatte er als Leibwächter irgendwelcher Kleinganoven verbracht. Es gab sicher harte Kerle mit besseren Lebensläufen. »Männer fürs Grobe, die keine Fragen stellen, haben Sie genug«, stellte er fest.
»Oh ja und die meisten davon sind besser als Sie«, spottete Skotia. Sie entblößte ihre Zähne erneut. Ihr breites Lächeln ähnelte dem eines Haifisches, der sich seiner Beute sicher war. »Aber niemand von denen war auf Becquerel.«
Lapis’ Augen weiteten sich, bis sie fast aus ihren Höhlen zu fallen schienen. Seine Lippen öffneten sich, aber es drang kein Laut aus ihnen. Skotia musterte ihr Gegenüber schweigend. Das Weiß ihrer Zähne schien das Licht der Deckenlampe zu überstrahlen. Lapis senkte den Blick, als ertrage er den Anblick der Offizierin keine Sekunde länger. »Nein«, presste er hervor. Seine Pupillen waren starr auf die Tischplatte gerichtet.
Ohne ihr Grinsen eine Spur zu schmälern, schüttelte Skotia langsam den Kopf. »Wenn Sie nicht kooperieren, sehen wir uns gezwungen, gewisse Maßnahmen zu ergreifen.«
Lapis vergrub sein Gesicht in seiner rechten Hand. Er erinnerte Skotia an einen Strauß, der den Kopf in den Sand steckte. Zu schade, dass dies bei einem Haiangriff nichts half.
Langsam, wie in Zeitlupe, hob Lapis seinen Kopf. Er nahm die Hand wie eine Maske von seinem Gesicht. »Mein letzter Ausflug ins Strahlenland hat mich meine Haare, meine Kopfhaut und noch so manches gekostet. Ein zweites Mal werde ich nicht so leicht davonkommen.« Er atmete tief ein. »Bevor ich im Strahlenland verrecke, nehme ich lieber die Todesstrafe.« Seinen Worten Nachdruck verleihend, lehnte er sich dem Haifisch entgegen. Fast meinte er seinen Atem zu spüren. Statt Wärme schien er Kälte abzugeben.
Die Offizierin erwiderte den Blick. Strahlendes Azurblau starrte mit mattem Braun um die Wette. Der Sieger stand von Anfang an fest.
»Todesstrafe? Ach nein, wie altmodisch.« Skotias Worte strömten wie gefrorene Nebelschwaden aus ihrem immer noch grinsenden Mund. Lapis’ Augen zogen sich hinter ihre wärmenden Lider zurück.
»Unsere Verhörspezialisten werden Ihrem Körper nicht mehr, als ein paar Nadelstiche versetzen.« Skotia sah Lapis ungerührt an, ohne auch nur zu blinzeln. »Sie werden alles noch einmal durchleben. Jeden noch so kleinen Strahlenkater, jede noch so banale Gewalttat. Und sie werden uns davon erzählen. So oft, bis wir genug gehört haben. Wenn uns nicht reicht, was wir hören, pflanzen wir Ihnen einfach ein paar Erinnerungen ein.« Skotia tippte sich neckisch an die Schläfe. Befriedigt sah sie, wie die Farbe aus Lapis’ Gesicht wich. Die von der Strahlung verursachten Flecken, wirkten wie Inseln in einem erbleichten Ozean.
»Es ist faszinierend. Inzwischen lässt sich das menschliche Gedächtnis wie eine Speicherkarte neu bespielen. Wir können sogar Träume nach Belieben gestalten. Sie werden nicht bloß denken, sie wären auf Becquerel. Sie werden es wirklich glauben. Tag und Nacht. Für den Rest Ihres Lebens.«
»So perfekt ist keine Technik«, versuchte Lapis zu erwidern. Seine Körperhaltung strafte ihn einen Lügner. Kraftlos versank er in seinem Sessel.
Skotia nickte zustimmend. »Nein, perfekt ist die Anwendung leider nicht«, gab sie freimütig zu. Sie schmälerte ihr Lächeln. Ab jetzt reichten Worte. »Wir haben die Nebenwirkungen nach wie vor nicht ganz im Griff. Scheinbar mag es das Gehirn nicht, neu beschrieben zu werden. Intelligenz und Wahrnehmungsfähigkeit der Patienten bleiben nach der Behandlung leider dauerhaft gesenkt.«
»Sie wollen mich zum Idioten machen.« Lapis’ Stimme verkam zu einem Flüstern.
»Eher zum Zombie.« Skotia sprach die Worte fast einzeln aus, auf das jedes davon seine Wirkung entfaltete. Erneut schwiegen sie beide, doch nur eine Seite genoss die einsetzende Stille.
»Also, was ist Ihnen lieber?«, brach die Offizierin das Schweigen. »Ein kurzer Aufenthalt auf Becquerel, oder geistig dort für immer zu stranden?«
»Kurz«, hauchte Lapis und starrte ins Leere, als entwich ihm die Lebenskraft. »Was heißt das schon im Strahlenland?«
Skotia hätte gerne entgegnet, dass ein Tag auf Becquerel lediglich um 15 min länger dauerte, als einer auf der Erde. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich in naiver Detailverliebtheit zu verlieren. Skotia räusperte sich. »Stellen Sie sich gefälligst nicht so an!«, fauchte sie. »Die exakte Dauer hängt von unserem Erfolg ab. Je zufriedener ich mit Ihrer Leistung bin, desto eher dürfen Sie zurück auf die Erde.« Sie sah ihn herausfordernd an. »Also, sagen Sie zu? Oder soll ich meinen Spezialisten Bescheid sagen?«
Lapis holte tief Luft. »Ja, verdammt ich nehme an.« Seufzend fügte er hinzu: »Als hätte ich eine Wahl.«
»Ausgezeichnet.« Die Offizierin nickte ihm zu. »Dann kann ich Ihnen ein wenig vom Missionsziel erzählen. Ihre Kameraden haben Ihnen doch sicherlich von der Mission auf Becquerel erzählt.«
Lapis verzog beim Wort „Kameraden“ das Gesicht, als bereite es ihm Schmerzen. »Ja«, presste er hervor.
»Erzählen Sie mir, was man Ihnen gesagt hat.«
Lapis’ Blick wanderte zur Decke, doch die Beleuchtung nahm ihm das Sprechen nicht ab. Er schluckte. »Irgendwer hat eine neue Humandrohne gebaut und wollte sie testen, hieß es. Das Ding sollte menschliche Soldaten endgültig ablösen und nicht von ihnen unterscheidbar sein. Um das auch zu beweisen, hat man das Ding gleich an den schlimmsten aller Orte geschickt. Statt zu funktionieren, ist der Roboter aber durchgedreht und hat seine Begleiter umgelegt. Zwei Wächter, die sich als Aufpasser in die Mission rein geschmuggelt haben, konnten das Ding schließlich zerstören.« Lapis nahm seinen Blick von der Decke. »Ich schätze Ihre Version klingt anders«, fügte er hinzu, wobei er es vermied, Skotia direkt anzusehen.
»Interessant«, sagte Skotia, ohne mit einer Wimper zu zucken. »Es wird unsere Aufgabe sein, herauszufinden, wie viel Wahrheit in Ihrer Erzählung steckt.«
Der Mann sah erneut zur Decke. Als hätten die Militärs nicht längst entschieden, was im Strahlenland geschehen war. Geschichte schrieb der Sieger. Hätten die Wächter gewonnen, wären sie jetzt unsterbliche Helden. Einen unbesiegbaren Stier würde man Lapis nennen, statt einem feigen Rindvieh. Aber so war es eben nicht gekommen. Heute war „Hochverrat“ noch das netteste Wort, das man im Zusammenhang mit dem Korps verwendete.
»Was immer wir herausfinden«, Skotia formte ihre Hände erneut zu einem Dach. »Sie werden Stillschweigen bewahren.« Die azurblauen Augen nahmen Lapis ins Visier. »Andernfalls…«
»Natürlich«, beeilte sich Lapis, zu antworten. Nicht einmal seine Gedanken waren vor der Frau sicher.
»Gut.« Skotia entfaltete ihre Hände. »Dann lassen Sie mich Ihnen etwas mehr erzählen.« Die Offizierin zwinkerte ihrem Gast zu. »Die Humandrohne, von der Ihre Kameraden behaupten, sie hätten sie zerstört, wurde lediglich deaktiviert. Und wir werden sie reaktivieren.« Lapis’ Augen weiteten sich erneut. Er holte tief Luft, hielt dann jedoch inne, als hätte er sich verschluckt. »Nur zu, reden Sie«, wies ihn die Offizierin an.
»Wie oft müssen die Dinger noch versagen, bis ihr die Finger von denen lasst? Die waren damals schon nutzlos.«
»Nun, so erfolgreich waren Ihre Kameraden auch nicht. Roboter machen immer noch weniger Ärger, als Menschen. Vor allem putschen sie nicht.« Skotias Zähne blitzten erneut kurz auf. Lapis zuckte zusammen. »Gibt es sonst noch Fragen, oder Kommentare von Ihrer Seite?«
Lapis öffnete den Mund, aber es drang zunächst kein Laut heraus. »Ich… Weiß nicht… Wie ich es sagen soll…«, stammelte er.
»Tun Sie es einfach«, wies ihn eine kalte Stimme an.
»Es ist nur…«, begann er einen erneuten Versuch, »…Ich verstehe nicht ganz, wofür Sie mich brauchen. Außer bloß als…« Er holte tief Luft. »…Opfer.«
Schweigend runzelte Skotia die Stirn. Lapis biss sich auf die Lippe. »Ich stehe zu meinem Wort«, sagte sie bestimmt. »Und Ihre Erfahrung ist wertvoller, als Sie sich vorstellen können. Sehen Sie, dieser Prototyp ist eine echte Humandrohne. Er ähnelt nicht bloß äußerlich seinem Vorbild, sondern auch verhaltenstechnisch. Er hat eine Persönlichkeit – oder besser gesagt, er simuliert eine. Und für eine Simulation braucht es ein existierendes Vorbild.« Sie nickte ihrem Gast belehrend zu. Lapis’ Kinnlade klappte nach unten.
»Die Humandrohne führte eine Erkundungsmission auf Becquerel an. Das langfristige Ziel war die friedliche Erschließung des Planeten.« Skotia zuckte mit beiden Schultern. »Wer wäre für so eine Aufgabe besser geeignet, als ein ehemaliger Wächter, der vom Krieg genug hat?«
Mit einem Schlag fühlte sich Lapis von einer bleiernen Müdigkeit gepackt. Resignierend schloss er die Augen. Die ständigen Verhöre – die immer wieder gleichen Fragen… Er hatte sich oft gefragt, warum man ihn nicht endlich in Ruhe ließ, oder wenigstens wegsperrte. Selbst der karrieregeilste Idiot sollte längst kapiert haben, dass es hier für ihn nichts zu holen gab. Aber vielleicht war ja Lapis der Idiot. Der nützliche Idiot. Er hob erneut die Lider. Mehr als einen Spalt breit konnte er seine Augen aber nicht öffnen.
»Na, so schlimm ist das auch nicht.« Skotia machte eine wegwischende Handbewegung.
»Ja«, brummte Lapis. »Langsam sollte ich mich daran gewöhnen, vom Militär verarscht zu werden.«
»Die Humandrohne«, sagte Skotia und hob den Zeigefinger, »hat angeblich auch einen Hang zu Obszönitäten.«
»Das Drecksding ist also eine billige Kopie von mir, ja?« Lapis’ Zorn weckte ihn aus seiner Lethargie.
»Die Humandrohne wurde anhand der Daten programmiert, die seinen Entwicklern zugänglich waren.« Skotia zuckte unschuldig mit den Schultern. »Vieles lag unter Verschluss und musste durch eigene Vorstellungen ersetzt werden.«
»Es ist also mehr eine Verarschung, als eine Kopie.«
»Aber, aber.« Skotia schwenkte spöttisch langsam ihren Zeigefinger. »Nachahmung ist die größte Form der Bewunderung. Festzustellen, wie sehr das gelungen ist, wird eine Ihrer Aufgaben sein.«
»Von mir aus«, murrte Lapis.
»Sehen Sie es als Ihre Chance, den Konstrukteuren der Humandrohne in die Suppe zu spucken«, argumentierte Skotia. »Wenn Sie glaubhaft zeigen können, dass der Roboter eine Fehlkonstruktion ist, wird das für seine Erbauer nicht ohne Konsequenzen bleiben.« Sie machte eine Pause. »Oder ist Ihnen die Alternative doch lieber?« Skotia schlug naiv die Lider nieder. »Noch können Sie sich umentscheiden.«
»Ich nehme Ihr großzügiges Angebot gerne an, Frau General«, presste Lapis zerknirscht hervor.
»Ausgezeichnet.« Skotia erhob sich, als wäre die Sache damit beendet. »Herr Korporal!«, rief sie dem halbdurchlässigen Spiegel entgegen. Kaum hatte sie ausgesprochen, schwang die Türe des Verhörzimmers auf und ein Riese von einem Mann trat ein. »Korporal Miller meldet sich wie befohlen, Frau General«. Er salutierte zackig. »Führen Sie Herrn Lapis zum Trainingsgelände«, wies Skotia den Mann an und wandte sich zum Gehen.
»Jawohl!« Der Riese trat auf Skotias Gast zu.
»Einen Moment noch!« Die scharfe Stimme der Offizierin ließ den Soldaten mitten im Schritt erstarren. »Herr Lapis hat mich darauf hingewiesen, dass Ihre Schuhe nicht richtig geputzt sind.« Skotia beobachtete die beiden Männer abwechselnd aus den Augenwinkeln. Der Korporal stand da, wie versteinert. Lapis dagegen hielt die Augen weit aufgerissen und die Lippen nach vorne geschürzt. Sein haarloses Gesicht ähnelte nun mehr dem eines Frosches, der vom Storch überrascht wurde.
»Welcher Teufel hat Sie geritten, die Armee gegenüber dem Wächterkorps bloßzustellen?« Tadelnd stemmte Skotia die Hände in die Hüften.
»Ich - äh«, stammelte der Korporal. »Bitte um Verzeihung.«
»Keine Sorge. Wir haben genügend Paare Stiefel zum Üben. Melden Sie sich gleich im Anschluss bei der Uniformausgabe.«
»Natürlich«, antwortete der Korporal mit fahler Stimme.
»Gut.« Skotia schritt Richtung Ausgang. Als hätte sie etwas vergessen, blieb sie im Türrahmen stehen und drehte sich um. »Nehmen Sie Herrn Lapis zur Uniformausgabe mit.« Die Nase rümpfend, wies sie auf das zerknitterte Hemd des ehemaligen Wächters. »Er ist zwar kein echter Soldat wie wir, aber er arbeitet für uns. Lassen Sie ihn als Dank für seinen Hinweis ordentlich aussehen.«
»Ordentlich. Zu Befehl.« Die Stimme des Korporals gewann erneut an Kraft. Lapis dagegen verzog nur schweigend den Mund.
Kapitel 2
Die Offensive stand kurz vor ihrem Abschluss und alles deutete darauf hin, dass sie erfolgreich sein würde. Der Verteidiger war in die Ecke gedrängt und seines Handlungsspielraumes beraubt. Es blieb ihm nur der Weg zurück. Dieser würde ebenfalls bald enden. »Schade nur«, raunte Pirey und strich sich eine ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht, »dass du trotzdem verloren hast.« Sie stieß einen Seufzer aus, wandte ihre Augen vom Bildschirm ab und sah Richtung Zimmertür.
»Was wollen Sie?«, fragte sie demonstrativ mürrisch. Ihr Besucher hatte sich wie üblich angeschlichen, aber die stampfenden Schritte Armins, der ihm wie eine Klette folgte, waren meterweit zu hören.
Wortlos trat Oren an Pireys Bildschirm. Der Anblick seiner eingefallenen Wangen weckte bei ihr Sehnsucht nach den Whiskeyflaschen im Lager.
»Ich habe großartige Neuigkeiten«, verkündete Oren. Ein schiefes Lächeln durchzog sein bleiches Gesicht, wie ein Riss in einer Marmorplatte. »Es wird Ihnen gefallen.«
Pirey rümpfte die Nase. Orens Lächeln dagegen blieb unverändert, als wäre es in seinen Schädel gemeißelt. »Hören Sie mich doch einfach an«, sagte er. »Ich fürchte, Ihr Spiel werden Sie ohnehin nicht mehr gewinnen.« Er deutete auf den Bildschirm. »Immerhin. Gegen das Programm ganze 37 Züge durchzuhalten, ist beachtlich.«
Pirey rollte genervt mit den Augen. Dass ein Programmierer auf Seiten des Schachprogrammes stand, war kaum verwunderlich.
»Ich weiß nicht, ob ich in so einem körperlichen Zustand, so lange durchhalten könnte«, stichelte Oren weiter. Er hielt sich eine Hand vors Gesicht. Der abgestandene Geruch von verschüttetem Alkohol schien Pirey aus jeder Faser ihres Leibes zu entweichen: Aus den langen, dunklen Haaren, die matt fettig im Licht der Bunkerbeleuchtung glänzten, aus den aufgequollenen, scheinbar übernächtigen Augen und aus dem Rumpf, der wie halb eingestürzt auf dem Sessel kauerte. Ihre eingesunkene Sitzhaltung ließ Pirey trotz ihrer Körpergröße seltsam untersetzt wirken. Sie verhielt sich wie eine umgekehrte Maskenbildnerin. Statt ihr Äußeres aufzupolieren, versuchte Pirey möglichst heruntergekommen zu erscheinen. Oren seufzte innerlich. Wenn es denn nur so wäre. Der Programmierer hatte Verständnis für Leute, die ihre Hässlichkeit zelebrierten. Er selbst achtete darauf, dass sein Kinn immer glatt rasiert war. Die Kopfhaare standen nie mehr als wenige Millimeter von der Haut ab. Orens ungewöhnlich knöchriges Gesicht, von dem einige meinten, es könne jederzeit vom darunterliegenden Skelett aufgesogen werden, hatte ihm schon so manchen guten Dienst erwiesen. Oren fixierte das breite Becken Pireys. Nein, sie zelebrierte nichts an sich.
»Okay!«, murrte die Forscherin und zog ihren offenen, mit Flecken besetzten Labormantel zu. »Ich höre mir Ihre Geschichte an, wenn Sie aufhören, mich anzustarren.«
Oren nickte bedächtig. »Also…«
»Halt!« Pirey hob abwehrend eine Hand. »Ich sagte, ich höre mir Ihre Geschichte an, nicht Ihr Gerede.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf den massiven Roboter hinter Oren. »Armin!«, wies sie die Maschine mit menschlicher Gestalt, aber den Proportionen eines sich aufbäumenden Riesenbären, an. »Erzähle du es mir.«
Ursprünglich war Armin, Pirey und Oren zur Seite gestellt worden, um Fluchtversuche von Becquerel zu unterbinden. Inzwischen war diese Aufgabe längst erfüllt. Außer Pireys Senkrechtstarter gab es kein zusätzliches Gefährt in der Anlage. Dieser war nicht weltraumgängig. Die beiden könnten sich höchstens aus dem Bunker hinausstehlen und die Weiten Becquerels zu Fuß erkunden. Die Tatsache, dass diese durchgehend verstrahlt und lebensfeindlich waren, schmälerte die Reiselust etwas.
Da Maschinen mit abstraktem Denken überfordert waren, spielte Armin weiterhin die Rolle des Bewachers. Das Überwachungssystem des Bunkers, mit dem er gekoppelt war, machte die Aufgabe vollends zur Farce. Den zwei menschlichen Bewohnern war eine wahre Armee von in den Betonwänden verbauten, Kameras und Mikrofonen, zugeteilt. Eine lückenlosere Überwachung konnte es kaum geben. Pirey fragte sich manchmal, wie Oren mit dieser Situation zurechtkam. Sie selbst kümmerte der Verlust ihrer Privatsphäre erstaunlich wenig. Eine Zeit lang, war sie ehrlich besorgt, man könne Details ihres Tagesablaufs gegen sie verwenden. Inzwischen waren Pireys Karrierepläne aber längst begraben. Sie empfand nur mehr Mitleid für jene armselige Gestalt, die sich die Mühe machte, ihr Leben zu dokumentieren.
»Eine Delegation von der Erde ist auf dem Weg nach Becquerel«, verkündete die Armin genannte Maschine.
»Was?!« Pirey richtete sich schwungvoll in ihrem Sessel auf. Sie musste sich am Tisch abstützen, um nicht umzufallen.
»Es handelt sich um den General der Raumstreitkräfte Cynthia Skotia und ihre Begleitperson Vito Lapis«, fuhr der Roboter ungerührt fort. »Man will die Ursachen für das Scheitern der Erkundungsmission Viktor Steiners ergründen. Dafür wird Ihr Wissen benötigt. Als Belohnung für den erfolgreichen Abschluss der Untersuchung, dürfen Sie zur Erde zurückkehren.«
»Die Erde…«, hauchte Pirey. Ihr Gesicht wurde lang.
»Ich sagte doch, es wird Ihnen gefallen«, stichelte Oren.
»Gibt es sonst noch etwas? Hat dieser General eine Nachricht für uns?« Pirey tat so, als hörte sie den Programmierer nicht. Stattdessen waren ihre Augen starr auf Armin gerichtet.
»Nein, das ist alles«.
Missmutig ließ Pirey den Kopf hängen. Sie wandte sich wieder von Armin ab. Mit zittrigen Fingern langte sich nach dem Einschaltknopf des Computers. Sie fand ihn und der Bildschirm erlosch. »Meine Rache am Programm. An allen Programmen«, raunte Pirey, Orens fragenden Blick in ihrem Rücken spürend. »37 gemachte und abertausende berechnete Züge hat er darauf verschwendet, mich in die Ecke zu treiben. Und alles was ich brauche ist eine kurze Handbewegung und alles war umsonst.« Sie drehte sich erneut Oren zu. »Und dieser General wird es mit uns genauso machen.«
»Eine interessante Theorie. Aber leider vollkommen falsch«. Mahnend nickte die hagere Gestalt, mit dem geschorenen Haupt und den eingefallenen Wangen, Pirey zu. Die Forscherin fühlte einen kalten Schauer ihre Wirbelsäule entlang kriechen. Für einen Moment schien es ihr so, als fälle der Sensenmann selbst ein Urteil über sie. »Im Gegensatz zum Schachprogramm haben wir dem General mehr anzubieten, als totgeschlagene Zeit.« Das knöchrige Gesicht grinste breit. Breit wie ein Totenkopf. Pirey schüttelte sich angewidert. »Und das wäre?«, zischte sie.
»Die Wahrheit. Ich habe einen Weg gefunden, Steiners Erinnerungen für uns zugänglich zu machen.«
Schweigend massierte Pirey ihre Schläfen. Oren war sich nicht sicher, ob sie nachdachte, oder nur versuchte, ihre Kopfschmerzen zu vertreiben.
»Eine Sache haben Sie übersehen«, sagte die Forscherin. Oren wiegte fragend den Kopf. »Unser Kanal ist immer noch gesperrt. Dieser General kann Armin vielleicht Nachrichten schicken, aber wir können nicht antworten. Wenn man unsere Hilfe wirklich will, würde man uns anders behandeln.«
»Ich verstehe.« Für einen Moment schien Orens Blick in die Ferne zu wandern. »Das war sehr aufschlussreich. Danke.« Er nickte Pirey zu und wandte sich zum Gehen. Stirnrunzelnd sah ihm die Forscherin nach. Als habe er Augen im Rücken, blieb der Programmierer im Türrahmen stehen. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Der General wird in knapp 24 Stunden auf Becquerel eintreffen. Es wäre gut, wenn Sie bis dahin keinen Alkohol trinken. Wir wollen ja einen guten Eindruck machen.«
Pirey schürzte die Lippen. »Verschwinden Sie!«, rief sie Oren nach, doch dieser war längst aus dem Zimmer verschwunden. Nur Armin stand weiterhin regungslos da, als warte er auf Befehle. Ein Wunsch, den ihm die Forscherin gerne erfüllte. »Armin«, wies sie die Humandrohne an, »geh ins Lager und hole mir eine Flasche Whiskey.«
»Zu Befehl.« Gehorsam stapfte der Roboter von dannen.
Armin war von Anfang an mehr, als nur ein Gefängniswärter gewesen. Seine Programmierung sah vor, Pirey und Oren dienlich zu sein, solange diese nicht versuchten, den Bunker zu verlassen. Da die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Flucht längst den Wert 0 erreicht hatte, war aus dem Wärter eine Art Butler geworden. Hinter dieser scheinbaren Großzügigkeit, Pirey und Oren einen mechanischen Diener zu überlassen, steckte ein Kalkül: Menschen, denen man im Kleinen entgegenkam, neigten weniger dazu, sich selbst oder der Einrichtung zu schaden.
Gierig streckte Pirey der zurückkehrenden Humandrohne den Arm entgegen. Um zu erkennen, dass er half, ihre Leber zu schädigen, reichte Armins Denkvermögen glücklicherweise nicht aus. Zufrieden seufzend, schenkte sich die Forscherin ein volles Glas ein.
Oren schlenderte den Weg zu seinem Quartier ebenfalls entspannt entlang. Pirey überprüfte tatsächlich noch das Funkgerät. Andernfalls könnte sie nicht wissen, dass die Sendefunktion nach wie vor gesperrt war. Wie es schien, hatte sie die Hoffnung doch nicht aufgegeben. Die Forscherin und er verfolgten somit das gleiche Ziel. Im günstigsten Fall formte sie das zu Verbündeten. – wahrscheinlicher war aber das Gegenteil. Nun, Oren würde mit einer Gegnerin mehr schon zurechtkommen. Vor allem, wenn diese sich selbst die größte Feindin war. Lächelnd hob der Programmierer den Kopf. Umkehrpsychologie war eine unterschätzte Taktik. Der General würde es nicht gut heißen, wenn jemand verkatert vor ihm erschien. Umgekehrt würde ein diszipliniert auftretender Untergebener, sicher den einen oder anderen Pluspunkt sammeln. Vielleicht noch nicht genug, um eine Gegenleistung zu erhalten. Ein gelungener Ersteindruck aber, brachte ihn seinem Ziel näher. Außer… Den stummen Warnruf einer inneren Stimme vernehmend, schmälerte Oren sein Lächeln und versteifte seinen Gang. …Außer er ließ sich seine Absichten zu leicht anmerken.