Inhalt

Kapitel 1 – Was kann ein …

Kapitel 2 – »Ich bin Tinka …

Kapitel 3 – »Was treibt ihr …

Kapitel 4 – Manche Fische können …

Kapitel 5 – Tinkilein, im Kühlschrank …

Kapitel 6 – »Ich sag nur …

Kapitel 7 – Es ist schon …

Kapitel 8 – Meine Eltern waren …

Kapitel 9 – »Viel Spaß, Prinzessin.« …

Kapitel 10 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 11 – »Da bin ich …

Kapitel 12 – Ich schlich über …

Kapitel 13 – Gleißend helles Licht …

Kapitel 14 – Der Lido befand …

Kapitel 15 – Am Lido ließ …

Kapitel 16 – Zwei Wochen später …

Kapitel 17 – Vielen Dank für …

Kapitel 18 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 19 – Nachts ging es …

Kapitel 20 – »Hi. Hier ist …

Kapitel 21 – »Was für eine …

Kapitel 22 – »Hereinspaziert.« Mick öffnete …

Kapitel 23 – Am nächsten Tag …

Kapitel 24 – Ich mochte keine …

Kapitel 25 – »Nächste Woche hast …

Kapitel 26 – Ich nahm zum …

Kapitel 27 – Devil hatte mein …

Kapitel 28 – Meine Eltern öffneten …

Kapitel 29 – Ich verlor mehr …

Kapitel 30 – Da war mein …

Kapitel 31 – Wenn ich mit …

Kapitel 32 – »Du bist früh …

Kapitel 33 – »Hey, mein neuer …

Kapitel 34 – Ich brauchte ein …

Kapitel 35 – Lösch sofort mein …

Kapitel 36 – Womit das Biest …

Kapitel 37 – Auf Omimis Grab …

Kapitel 38 – Es kam natürlich …

Kapitel 39 – Tilda wohnte auf …

Kapitel 40 – Ich war völlig …

Kapitel 41 – Es roch nach …

Kapitel 42 – Am Sonntag gab …

Kapitel 43 – Als Tilda die …

Kapitel 44 – Der 3. Juli. Tag X. …

Kapitel 45 – Als wir endlich …

 

Für alle verwundeten KriegerInnen

 

»Ein Nein zerstört die Harmonie, aber es rettet die Würde.«

Kathrin Spoerr, Journalistin,
Die WELT, #mehrmut!, 2017

1

Was kann ein hässliches Biest tun, um sich etwas Würde zu erkämpfen?

Es kann nichts tun, solange es ein Biest ist und niemand es liebt.

Es bleibt ihm nur, einen Schutzwall um sich zu errichten, damit keiner herankommt und es noch mehr verletzt.

Und es kann sich verkleiden, das Kostüm einer wunderschönen Prinzessin anziehen und roten Lippenstift auftragen. Aber es muss aufpassen, dass das Kostüm nicht aufplatzt und man sehen kann, wie hässlich es dahinter ist. Das wäre das Ende.

2

»Ich bin Tinka und kann perfekt die Zähne zusammenbeißen. Eiskaltes Wasser, Schlangen, schwindelnde Höhen … ich bin dabei. Ausziehen ist auch kein Problem. Du sagst ja, dass es dazugehört, wenn man Erfolg haben will. Meine Beine sind endlos lang und ich messe ganze 180 Zentimeter. Es gibt nur einen einzigen kleinen Fehler: Ich bin noch nicht 16. Das nervt abartig. Ich fühl mich wie lebendig begraben und warte darauf, dass die sinnlose Zeit verstreicht und ich endlich aus der Gruft darf. Ich möchte mein Unwesen treiben, endlich das Leben feiern, machen können, was ich will. Mein erstes Mal hab ich wahrscheinlich im Ixclub, mit einem muskulösen, erfahrenen und verdammt gut aussehenden Fremden, der mich hochstemmt und zu den Beats von Bushido gegen die Kabinenwand nagelt. Yessssss! Hey, ich bin nicht psycho oder so. Meine Hemmschwelle ist einfach niedriger als bei anderen Mädels. Was denen peinlich ist, macht mir eher Spaß und das Leben bunter.

So zu werden wie meine Mutter wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte. Mit 20 heiraten, zwei Kinder kriegen, Häuschen am Stadtrand, vor den Nachbarn das perfekte Eheglück heucheln – langweilig!

Dann lieber Driving-Bed-Shootings in hautfarbener Unterwäsche.

Ich hab mir jede deiner Shows bestimmt zehnmal angesehen. Ich weiß jetzt genau, worauf es ankommt im Business. Ich hab die Zeit genutzt, mich vorzubereiten. Hat sich doch gelohnt, oder? Du willst mich doch nicht ernsthaft zappeln lassen bis ich 16 bin? Diese Warterei ist die Hölle. Und vielleicht bin ich dann ja verbraucht, wabbelig und hässlich. Wer weiß das schon.

Also, ich würd mich jedenfalls anstrengen. Perfektion ist mein Motto. Und … meine Eltern unterschreiben alles. Daran soll’s nicht scheitern.«

»Das ist nicht dein Ernst!« Vivi schob ihre Brille über die Haare. »Du ziehst dich quasi nackig aus.«

»Hey, das ist der Sinn der Sache.«

»Bist du verrückt? Willst du dich im Puff bewerben?«

»Die stehen auf lockere Mädchen.«

»Aber nicht auf Nutten.«

»Mensch Vivi, ich muss irgendwas Ausgefallenes machen, etwas Neues. Sonst bemerkt mich doch keiner.«

»Aber das mit dem ersten Mal interessiert doch da keine Sau.«

»Warum nicht? Die sehen, dass ich Ziele habe und sie verfolge.«

»Ziele? Ich dachte, dein Ziel sei Bo, nicht so ein Perverser in ’ner Disco?«

»Ach Bo, das ist wie auf Justin Bieber warten. Dann geht meine Jugend ungelebt vorüber.« Ich legte einen Handrücken an die Stirn und warf den Kopf dramatisch in den Nacken. Vivi lachte.

»Du solltest besser Schauspielerin werden. Den Clip schickst du jedenfalls nicht ab!« Sie stellte sich vor mich und stemmte die Fäuste in die Hüfte. »Das ist wie eine Einladung zum …«

»… zum was? Ich find’s cool. Ein bisschen crazy, ein bisschen lustig. Ist doch nur ein Bewerbungsvideo. Sonni wird drüber lachen. Vielleicht macht sie ja dann eine Ausnahme. Wenn man gesehen werden will, muss man was riskieren.«

»Du hast echt ’ne Megameise.« Vivi zog lachend an meinem Arm. »Aber dafür lieeeebe ich dich … Das mit dem Perversen musst du wirklich löschen. Das kommt so rüber, als wärst du leicht zu haben. Und deine Hemmschwelle ist nur niedrig, wenn du besoffen bist.«

»Zu spät.« Ich hob mein Handy in die Höhe. »Hab’s abgeschickt.«

Wir blickten uns fassungslos an, kreischten um die Wette und trampelten auf der Stelle. Dann ließen wir uns auf mein Bett fallen. Vivi starrte an die Decke, wo ein Plakat von einem Laufsteg hing.

»Hoffentlich geht das gut. Sag mal …« Sie drehte sich zu mir um. »Deine Mutter hat doch gesagt, dass sie dafür niemals unterschreiben würde.«

»Stimmt.«

»Und?«

»Ich mache es selbst.«

»Nein.«

»Doch.«

»Das geht nicht gut.«

»Wart’s ab. Wenn ich erstmal in der Sendung bin, dann sind sie endlich stolz auf mich und der kleine Schwindel ist vergessen. Außerdem bin ich bis dahin wahrscheinlich schon 16. So, jetzt erzählst du was über mich. Das schick ich dann morgen.«

»Ich? Warum ich?«

»Hab ich doch gesagt: Ich muss auffallen. Und ich werde mich immer wieder in Erinnerung rufen. Sonni soll nachts von mir träumen. Also los!« Ich richtete meine Handykamera auf Vivi.

»Also gut.« Vivi strich sich die Haare glatt und setzte sich aufrecht hin. »Hey Leute, meine Freundin Tinka guckt eure Sendung schon, seit sie laufen kann. Man könnte sagen, sie ist mit High Heels auf die Welt gekommen. Es gibt wirklich keine, die heißer darauf ist, Topmodel zu werden, glaubt mir. Und sie würde ALLES dafür tun, sogar über Leichen gehen.« Vivi wedelte unsichtbare Fliegen weg. »Nein, nein, nicht über Leichen, aber definitiv durch schlammige Sümpfe und über wackelige Hängebrücken. Man könnte meinen, sie sei nur auf dieser Welt gelandet, um bei euch dabei zu sein.«

»Sag, was du an mir gut findest«, flüsterte ich aus dem Off.

»Ah, ja. Also, Tinka sieht nicht nur umwerfend aus, sondern sie ist auch ein echtes Showtalent. Sie stellt sich auf eine Bühne und quatscht über ihr Leben, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Sie kann ihre Zuhörer fesseln, bringt mich immer zum Lachen und hat einen Haufen toller Ideen. Ihre Eltern lassen ihr alle Freiheiten und ihr Bruder ist übrigens ein Fußballstar …«

»Halt, stopp!« Ich ließ das Handy sinken. »Du sollst über mich reden, nicht über meinen Bruder, okay? Über meinen Bruder wird schon genug geredet. Alle reden über meinen Bruder: meine Eltern, meine Freunde, die Medien, sogar der Kerl am Kiosk spricht über ihn.« Ich warf das Handy aufs Bett. »Ich will auf keinen Fall, dass die noch mehr über meinen Bruder erfahren. Es geht hier einfach mal um MICH.«

»Hey Tinka, jetzt beruhig dich mal. Wir machen es einfach nochmal. Ist doch kein Ding. Brauchst ja nicht gleich auszurasten. Also echt. Du könntest doch wirklich mit ihm angeben, oder?«

»Ich brauche meinen Bruder aber nicht, um es zu schaffen. Das hier ist mein Ding. Davon braucht die ganze Verwandtschaft nichts zu erfahren. Erst, wenn ich groß rauskomme und in der Show bin, dann … Was denkst du, wie die glotzen werden. Dads Prinzessin ist plötzlich erwachsen geworden, huch.«

»Deine Entschlossenheit hätte ich gern. Du bist wie eine Silvesterrakete. Die Lunte brennt schon. Das Ding ist kurz vor dem Start und nicht mehr aufzuhalten. Und dann … Boooom! … die funkelnde Explosion. Das ist der Glitter, den sie in der Show über dich schütten, wenn du im Finale zur Siegerin gekürt wirst. Und dann bringst du Schönheit und Glamour in die Welt.«

»Vivi … das ist das Schönste, das ich je gehört habe. Danke.« Ich schlang meine Arme um sie. »Weißt du was, du bist wirklich ein Gottesgeschenk.«

»Und du meine Heldin.« Sie hob meinen Arm in eine Siegerpose.

»Melde dich doch bitte auch an, ja? Wir beide zusammen in der Show … stell dir das mal vor.«

»Nein danke. Für mich ist das nix. Und es kann ja auch nur eine gewinnen. Ich würde lieber bei Felix gewinnen, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Du immer mit deinem Felix. Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als diesen Typen. Wenn du erstmal in der Show bist, dann kannst du jeden haben.« Vivi rollte mit den Augen. »Okay, okay. Du kriegst Felix und ich alle anderen.«

3

»Was treibt ihr da?« Theo kam herein.

»Hey. Anklopfen. Ich bin kein Groupie, bei dem du dir alles erlauben kannst.«

»Locker bleiben, ja?« Theo kam auf uns zu und wuschelte mir durchs Haar. Ich schob seine Hand weg. Er blickte Vivi an. »Hat sie wieder schlecht über mich geredet, mein Lästerschwein?« Er grinste. »Die alte Indianer-Leier?«

»Nein«, sagte Vivi. »Ist aber ’ne gute Idee. Darüber haben wir schon ewig nicht mehr geredet.« Sie stand auf und nahm einen Gürtel vom Garderobenhaken. »Wie war das doch gleich?« Sie wickelte den Gürtel um mich. »Ihr habt sie an den Marterpfahl gefesselt?« Theo stöhnte. »Und Bo hat sie gerettet, weil du sie einfach vergessen hast?«

»Hey, wir waren gerade mal zwölf, Bo und ich, kleine Grünschnäbel.« Er nahm das Stoffpony aus meinem Regal, das Bo mir damals geschenkt hatte, weil er fand, dass ich es mehr brauchte als er, und kickte es abwechselnd mit den Füßen in die Höhe wie einen Fußball.

»Jaha.« Vivi warf den Gürtel auf den Boden. »So klein und unschuldig.« Sie spitzte ihre Lippen. »Und Tinka war sieben, stimmt’s?« Ich stand auf, schnappte das Pony und kniff Theo in die Nase.

»Du Giftzwerg«, lachte Theo und nahm mich in die Arme. »Du hast schon immer gut simuliert. Warst schon damals in Bo verknallt und wolltest von ihm gerettet werden. Ich hab dir also eigentlich einen Gefallen getan.« Er ließ mich los und drückte sich an die Wand, seine Arme hinter dem Rücken eingeklemmt. »Rette mich, Bo. Rette mich vor den bösen Apachen.« Ich lachte und prügelte auf ihn ein.

»Du bist wirklich ein Arsch.«

»Oh ja. Ich bin ein richtig toller Superarsch.« Er streckte mir sein Hinterteil entgegen. Ich gab ihm einen Klaps. »Vorsicht, Schwesterlein, das ist ein teurer Superarsch, besser versichert als dieser Palast hier.« Er ging zur Tür. »Übrigens, Bo lässt dich grüßen.« Er drehte sich noch einmal um. »Eloise übrigens auch.« Er grinste. Ich nahm das Stoffpony und warf es gegen die Tür, die er gerade hinter sich schloss.

Das zwischen Theo und mir war so eine Art Hassliebe. Er war ein supercooler Bruder, aber er war tatsächlich auch ein Riesenarsch, dachte immer zuerst an sich selbst und an den Fußball. Er war Profikicker bei St. Pauli. Das kam an allererster Stelle. Und er war mit Donna zusammen, einem Topmodel, das schon erreicht hatte, wovon ich noch träumte. Bo war sein Kindergartenfreund und, seit er mich vor den Apachen gerettet hatte, auch mein Held. Alle wussten es, sogar Eloise, seine Verlobte, eine abnormal dünne Brasilianerin, die ihre Augen immer nur halb öffnete, als ob diese Welt unter ihrer Würde wäre. Und alle machten sich darüber lustig, über die kleine naive Tinki, die noch an goldene Einhörner glaubte. Pfff! Das machte ihnen so viel Spaß, dass sie gar nicht bemerkten, dass die kleine Tinki inzwischen der Märchenwelt entwachsen war. Spätestens mit meiner Teilnahme an Perfect Girl würden sie das nicht mehr übersehen können.

»Ist Theo bei euch?« Mum steckte den Kopf zur Tür herein.

»Er hat doch gleich ein Spiel und sein Trikot lag hinter dem Sofa.« Sie schwenkte das braun-weiße Shirt durch den Türspalt. Plötzlich hielt sie inne. »Sag mal, hast du es da versteckt?«

»Ich? Warum sollte ich?«

»Naja, … schon gut.« Sie schloss die Tür wieder.

»Hier ist ja heute großer Bahnhof. Gibt’s was zu feiern?« Vivi ließ sich aufs Bett fallen.

»Falls es was zu feiern gibt, erfahre ich es jedenfalls als Letzte. Zuerst der Prinz und Thronanwärter Theo der Große, dann König und Königin und dann vielleicht die kleine nutzlose Prinzessin, die immer Lügen erzählt und Dinge versteckt und sowieso an allem schuld ist. Aber die muss ja auch nicht alles wissen, ist ja noch so klein und doof. Hauptsache, sie macht sich hübsch zurecht.« Ich hob mein Shirt hoch und präsentierte Vivi meinen sexy Spitzen-BH. »Den nehm ich mit in die Karibik oder auf die Bahamas oder wo auch immer das Casting für Perfect Girl stattfindet.«

»Tinka, die Sendung heißt nicht Perfect Sexsklavin.« Sie nahm den Gürtel und ließ ihn wie eine Peitsche knallen.

»Du verstehst einfach nicht, worauf es ankommt.«

»Ach ja? Worauf kommt es denn an?«

Ich zog meine D&G-Brille mit den kleinen Strasssteinchen auf und setzte mich in Pose.

»Ein perfect crazy Blingbling-Girl zu sein, mit einem Hauch Fuckability und ’ner Menge Personality.« Vivi lachte.

»Im Moment hast du vor allem Sockenschussity, mit einer Prise Leck-mich-Überallity.«

4

Manche Fische können ertrinken. Kein Scheiß. Labyrinthfische zum Beispiel. Ich war so ein schillernder Labyrinthfisch, der immer wieder an die Oberfläche kommen musste, um Luft zu holen. Sonst wäre ich erstickt. Mein Sauerstoff war das wilde Leben. Das trübe Wasser der Langeweile, in dem ich herumdümpelte, brachte mich um. Um nicht zu ersticken, brach ich also aus, so oft ich konnte, schoss an die Oberfläche und saugte das wilde Leben ein.

»Weißt du was das absolut Coolste war, was mich bisher aus der Ödnis dieses Daseins herausgerettet hat?« Ich saß mit Vivi auf dem Klettergerüst unseres Schulhofs und ließ die Beine baumeln.

»Deine Kindergeburtstage?«

»Du Huhn. Nein, unsere Spritztour mit Bo und Theo.«

»Puh … Ich hab so gekotzt.«

»Ich auch, aber davor war’s der Hammer.« Drüben bei den Mülltonnen standen Sami und Rapha, zwei Typen aus der Oberstufe, und verteilten etwas an ein paar andere Schüler.

»Davor? Du meinst wahrscheinlich nicht den ersten Teil des Abends: die Party von unserem Sonnenscheinchen hier?« Sie nickte in Richtung Sami.

»Nein, sicher nicht. Obwohl die Trinkspiele auch ganz nice waren.«

»Bäh. Ich musste Rapha küssen.«

»Und ich durfte Samis Hemd ausziehen …« Er schien zu bemerken, dass wir über ihn redeten und blickte immer wieder in unsere Richtung.

»Aber dann bist du umgekippt.«

»Zum Glück. Sonst hättest du nicht Theo angerufen.«

»Mann, war der sauer, musste selbst ’ne Party verlassen, um dich wiedermal aus der Scheiße zu fischen.«

»Ach, der feiert genug. Aber dass sie mit den Motorrädern gekommen sind und ich bei Bo hintendrauf sitzen durfte, auf seiner Kawasaki … Das werde ich NIEMALS vergessen. Da war Bo noch nicht mit Eloise zusammen und ich konnte mir immerhin für 20 Minuten einbilden, dass ich nun im Himmel wäre. Er hatte selbst drauf bestanden, dass ich meine Arme um ihn schlinge.« Ich blickte Vivi an. »Ich hab mich zu Hause gefühlt. So frei und sicher zugleich. Der Wahnsinn.«

»Bis du tatsächlich zu Hause warst.« Vivi senkte die Stimme. »Und ich … kann mich nicht erinnern, dass ich mich jemals irgendwo zu Hause gefühlt habe.«

Vivi hatte einen Säufervater, der sogar prügelte, wenn er nicht bei Sinnen war. Und ihre Mutter war früh abgehauen und hatte sie zurückgelassen. Ne richtige Scheißbio. Sie wusste zwar von der Onkel-Freddy-Sache, aber dennoch war immer unausgesprochen klar zwischen uns, dass ich mehr Glück gehabt hatte als sie. Es kam mir vermessen vor, mich zu beschweren und so schluckte ich die ganze Scheiße herunter, zupfte mein Prinzessinnen-Kostüm zurecht und setzte meine Alles-ist-gut-Maske auf. Nur manchmal brach unerwartet der Giftstachel durch die Nähte, wenn das Biest, das in mir wohnte, Überhand gewann. Und das waren die Momente, in denen ich mich selbst hasste.

Meine Eltern hatten nach der Party nicht viel gesagt, weil ich so gut in der Schule war und weil sie ohnehin nicht ahnten, was ich trieb. Aber wenn sie gewusst hätten, wie wild mein wildes Leben war, hätten sie mich wahrscheinlich an die Kette gelegt und einen Exorzisten geholt. Dass ich noch Jungfrau war, ahnte in der Schule jedenfalls keiner, nur Vivi wusste Bescheid.

»Vivi?«

»Hm?«

»Ist es normal, mit 15 noch keinen Sex gehabt zu haben? Oder stimmt was nicht mit uns?«

»Total normal«, sagte Vivi, »wir haben noch Zeit ohne Ende. Sollte schon mit dem Richtigen sein.«

In der Beziehung lebte sie hinterm Mond. Dabei war sie eine getarnte Granate, brauchte nicht mal einen Push-up, so vollkommen waren ihre Brüste. Dagegen war bei mir Wüste. Sie hätte jeden haben können. Aber sie stand nur einzig und allein auf Felix. So einer von den lieben, netten Langweilern. Sah zwar gut aus, aber das war’s auch schon. Die beiden könnten schon längst ein Paar sein, aber offensichtlich traute sich keiner, den Anfang zu machen. Und ich forcierte das auch nicht, denn Vivi ging mit mir auf alle Partys und passte auf mich auf, wenn ich völlig hacke war, anstatt mit Felix Händchen zu halten. Sie hatte mich schon aus so manchen Vorratskammern und Gartenhäuschen herausgezogen. Sonst hätte ich »es« wahrscheinlich schon hinter mir gehabt. Allerdings wäre so ein wodkaseliges Blackout wäre bei meiner Scheißangst vor dem verdammten ersten Mal bestimmt hilfreich. Sollte ja wehtun. Und ich wollte natürlich richtig gut sein und erfahren wirken. Deshalb die Idee mit dem fremden Typen in der Disco. Wenn dabei was schiefging, würde es in der Schule niemand mitkriegen und die leidige Sache wäre abgehakt. Vivi sagte, sie fände das pervers. Aber genau das wär ich ja gern gewesen, denn es klang nach viel Spaß und irgendwie auch erwachsen. Beim Nacktshooting käme so ein Hauch Fuckability bestimmt auch gut. Die Fotografen in der Show standen darauf. Dabei träumte ich arglos von Prinz Bo, für den ich wohl immer das kleine siebenjährige Mädchen bleiben würde, das er vom Marterpfahl gerettet hatte, und bekam rote Flecken im Gesicht, wenn Sami mich nur ansah. Die einzige Möglichkeit, den Blicken heißer Kerle standzuhalten, war, mir die Kante zu geben. Ohne Vorglühen ging gar nichts.

»Hey Schönheiten.« Sami stand plötzlich vor uns, die Hose hing ihm im Schritt, unter dem T-Shirt zeichneten sich gut trainierte Muskelpakete ab und seine haselnussbraunen Augen leuchteten wie kleine Wärmestrahler.

»Hi.« Ich war stocknüchtern und bemüht, die Balance zu halten.

»Samstag steigt bei mir eine Porn-Party. Kommt ihr?«

»Ne Porn-Party?« Vivi hatte ihren Gouvernantenblick aufgesetzt. »Was soll das denn sein?«

»Lass dir was einfallen, Chica.«

»Dreht ihr ’n Filmchen oder was?« Sami lachte.

»Gute Idee. Aber es soll eher ’ne Kostümparty werden. Für Filme wäre ich aber auch zu haben.« Er zwinkerte eindeutig.

»Nee, lass mal stecken.« Vivi hüpfte vom Klettergerüst und zupfte am Bund seiner Hose. »Oh, hast du dein Kostüm etwa schon an?« Sami hielt Vivis Hand fest.

»Kannst es wohl nicht mehr erwarten, oder? Also, überlegt es euch.« Und damit zog er ab. Vivi verdrehte die Augen.

»Was für ein Arschloch.« Ich sprang neben sie.

»Aber ein heißes Arschloch.«

»Oh Tinka, nicht dein Ernst, oder? Du willst doch da nicht hingehen! Die Typen wollen sich doch nur an uns aufgeilen. Also da mach ich nicht mit.« Ich holte ein Fläschchen Desinfektionsmittel aus der Hosentasche und rieb mir die Hände ein.

»Blödsinn, Sami ist okay. Der klopft zwar hohle Sprüche, aber ich finde, er ist das Beste, was unsere Schule aktuell zu bieten hat. Hast du ihm mal tief in die Augen gesehen? Die sind der Wahnsinn. Komm schon. Ich brauch doch jemanden, der auf mich aufpasst.«

»No way.« Sie nahm mir das Fläschchen aus der Hand und hielt es hinter ihren Rücken, während ich versuchte, es zurückzubekommen. »Hör doch mit diesem Quatsch auf. Er hat dich ja nicht mal berührt.«

»Aber beinah.« Ich wusste selbst, wie bescheuert das klang, aber ein schmutziger Gedanke reichte, die Ahnung eines pikanten Körperkontakts, und ich musste dagegen anwischen, gegen all das Schlechte, das herausquoll. Panisch angelte ich nach dem Fläschchen.

»Sorry«, sagte Vivi und gab es mir zurück.

5

Tinkilein, im Kühlschrank ist noch Kartoffelgratin und ein Tofuschnitzel. Ich hab dich lieb. Mum

Ich knüllte den Zettel zusammen und zielte auf einen offenen Topf, der noch dreckig im Abguss stand. Dann nahm ich mir einen Apfel und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo Omimi bis vor Kurzem gewohnt hatte. Sie fehlte fürchterlich. Ihre zauberblauen Augen, ihre Pfirsichhände, und auch ihr Plüschmuseum fehlte. Es fehlte einfach alles von ihr. Wie immer zählte ich die Stufen, als ich hinaufging, 16 waren es. Und auf jeder einzelnen Stufe hielt ich kurz inne und berührte die jeweilige Sprosse des Geländers. Mein spezielles Omimi-Gedächtnis-Ritual. Mum nannte es einen Tick, wie sie fast alle meine Rituale, die sie nicht verstand, einen Tick nannte. Und Dad schwenkte dazu kaum merklich den Kopf, aber deutlich genug, um mir zu signalisieren, dass irgendetwas bei mir schiefgelaufen sein musste und die Sorgen ihn lähmten.

Omimi hatte mittags immer gekocht, das beste Essen der Welt. Jetzt war sie tot und aus dem Plüschmuseum hatte Mum im Nullkommanix ein kleines Fitnessstudio gemacht. War zwar extrem cool, ein eigenes Fitnessstudio, aber das Plüschmuseum fehlte mir entsetzlich. Und Omimi natürlich. Sie war auch die Einzige gewesen, die mir geglaubt hatte, damals, als das mit Onkel Freddy passierte. Die Einzige! Mum hatte mich für eine Dramaqueen gehalten, Dad hatte so getan, als wäre nichts gewesen und in seine Zeitung geblickt und Theo einfach davon geredet, wie gut Onkel Freddy Fußball spielen könne. Damit war das Thema vom Tisch. Omimi hatte mich in den Arm genommen und ihren Rosenduft verströmt. Sie hatte gesagt, dass es fürchterlich sei, Onkel Freddy nicht recht gehandelt habe und ich immer zu ihr kommen könne, wenn es mir schlecht ginge. Und das habe ich auch gemacht, jahrelang. Omimi und ihr Plüschmuseum waren meine Höhle gewesen, in der ich alles sein durfte, in der ich meine Unvollkommenheit zeigen konnte und in der ich keine Schuld an irgendetwas hatte. Und jetzt war dieser Ort ein steriles Fitnessstudio mit Hightech-Stepper, Laufband und Speedbike geworden, ein seelenloser Raum. Ich setzte mich auf das Rad, trat wütend in die Pedale und aß nebenbei den Apfel. Die Fettpolster an meinen Oberschenkeln mussten weg. Das nächste Video für Sonni wollte ich im Bikini drehen. Ihr müsst hart werden, ich will nichts schwabbeln sehen, hatte sie ihren Mädchen in der letzten Staffel von Perfect Girl gesagt. Es fehlte nicht mehr viel, aber noch war die Lücke zwischen den Oberschenkeln zu klein. Ich trat in die Pedale wie eine Verrückte. Wenn ich es in die Show schaffen sollte, dann würde ich alles geben, denn wer nicht alles geben kann, geht unter. Mein Magen knurrte und ein Knöchel tat weh. Nicht drüber nachdenken. Scheiß auf den Schmerz. Ich würde es schaffen.

Der neue Bikini war ein Hauch von Nichts. Ich schlüpfte in die High Heels und übte den Walk: Zuerst den Kopf drehen, den Blick starr geradeaus und dann erst den Körper folgen lassen. Ich knickte um. Verdammt. Der Knöchel schmerzte noch mehr. Scheiß auf den Schmerz. Ich stand wieder auf und begann von Neuem. Üben, üben, üben. Als ich mich sicherer fühlte, baute ich die Handykamera auf und leuchtete den Pseudo-Laufsteg in meinem Zimmer aus. Dann ging es los: Füße voreinander, Kopf, Blick, und rum. Nach zwei Runden blieb ich stehen und sah in die Kamera, mit diesem stechenden Blick, den ich geübt hatte.

»Hi, Sonni, da bin ich wieder. Den Walk hab ich übrigens schon als kleines Mädchen gelernt. Jedes Jahr war das Motto meiner Geburtstagsfeiern Perfect Girl. Meine Mum hat dich gespielt und uns Aufgaben gegeben. Der Walk war die erste, dann durften wir aus einem Berg Klamotten etwas aussuchen und uns damit präsentieren. Als Nächstes kam ein Shooting mit Plüschschlangen und Plastikratten und am Ende wurde getanzt und Konfetti geworfen. Manchmal gab es auch eine Schmollmund-Challenge. Mein Vater hat den Bradley gegeben, den Starfotografen. Er hat uns angefeuert und schließlich eine Diashow der Bilder auf der weißen Wohnzimmerwand präsentiert, während die Eltern, die zum Abholen kamen, mit einem Glas Prosecco in der Hand die Jury spielen sollten. Natürlich gewannen alle zusammen, war ja ein Kindergeburtstag und wir waren Freundinnen. Aber ich werde nie vergessen, wie mein Dad mich auf den Schoß nahm, wenn alle gegangen waren, und mir weitere Fotos von mir zeigte. Er sagte: Du bist einfach die Schönste von allen. Wenn ich diese Bilder gezeigt hätte, wären die anderen Mädchen traurig geworden, weil sie gesehen hätten, dass keine so schön ist wie du. Und dann war ich sein Topmodel of the year. Er hat natürlich furchtbar übertrieben, aber so ist er nun mal. Ich hab mich einfach großartig gefühlt und damals schon beschlossen, dass ich zu dir will, dass ich dieses tolle Gefühl immer wieder haben möchte. Fünf Staffeln haben wir geschafft, bevor es schwierig wurde. Dann fingen wir an, uns ständig zu vergleichen. Manche Mädchen blieben klein, andere bekamen ein breites Becken oder ein Bäuchlein, eine große Nase oder dicke Oberschenkel. Und meine beste Freundin bekam pralle Möpse. Die sind toll, aber ich glaub, nur bei italienischen Models gefragt, oder? Melde dich bitte, Sonni. Ich werde ALLES geben.«

6

»Ich sag nur Hodenhagen.« Vivi nahm die Hände über den Kopf und ging in Deckung.

»Du Miststück.« Ich gab ihr lachend einen Klaps. »Hätte ich es dir bloß nie erzählt. Wehe Sami erfährt davon …« Ich blickte auf mein Handy. Er hatte mir die Einladung nochmal per Whatsapp geschickt. Dazu ein Foto von einer Giraffe mit Lippenstift. Für die Schönste, stand darunter.

»Ist doch cool. Wer kann schon sagen, dass er in einem Safaripark geboren wurde.«

»In einem deutschen Safaripark? Sehr cool, wirklich. Für Sami die beste Vorlage, um fortan in jeden Satz Hoden einzubauen. Hey, Hoden Tag, Tinka, hast du Lust auf Hoden on the rocks? Nein? Hoden nochmal, wie schade.« Ich stand breitbeinig in Mackermanier vor Vivi und schwenkte mein Becken vor und zurück, während sie sich lachend auf mein Bett fallen ließ.

»Okay, okay, ich komm mit auf Samis Porn-Party. Aber ich zieh mich normal an.« Sie streckte einen Finger in die Luft wie meine Mum, wenn sie mir drohen wollte, mich einzusperren, falls ich zu spät nach Hause kommen sollte. »Und ich werd nix trinken. Nur Coke.«

»Uähhh. Vivi. Nicht dein Ernst. Wenigstens einen Hugo, komm schon.«

Sie schüttelte energisch den Kopf.

»Ich muss doch auf dich aufpassen.«

»Du klingst wie ein prüdes Kindermädchen. Hab doch einfach Spaß.«

»Ich find’s viel spaßiger, euch zuzusehen, wie ihr euch alle zu Affen macht. Wie im Zoo, mit kostenfreiem Eintritt. Oder besser: im Safaripark. Ihr lauft ja immerhin frei herum.«

»Wie du willst.« Ich blickte wieder auf mein Handy, vergrößerte Samis Profilbild und machte einen Screenshot von seinen Haselnussaugen. »Kommst du nachher mit shoppen? Ich brauch noch Strapse oder so etwas.«

»Ich kann nicht, hab noch eine Verabredung.«

»Mit?«

Vivi wurde rot und wandte den Kopf ab.

»Nein.«

»Doch. Er hat mich ins Kino eingeladen.«

»Ich fass es nicht. Das erzählst du jetzt erst?«

»Ich will dazu keine blöden Sprüche von dir hören, ja?«

»Welcher Film denn?«

»Das schönste Mädchen der Welt.« Ich schrie auf.

»Dann ist ja alles klar. Ruf mich später an, ja?«

»Tinkilein?« Mum drückte die Klinke herunter. »Hast du schon wieder abgeschlossen?«

»Ja, ich hab Angst vorm bösen Wolf.« Ich zwinkerte Vivi zu. »Und nenn mich nicht immer Tinkilein. Ich bin schon im gebärfähigen Alter.«

»Na, dann kannst du ja auch etwas mehr Verantwortung übernehmen, die Geschirrspülmaschine ausräumen und die Wäsche aufhängen.«

»Welches Geschirr? Ich ess direkt aus der Plastikverpackung, wenn ich deine edlen Menüs aus der Mikrowelle hole.«

»Tut mir leid, dass ich kein Hausmütterchen bin, sondern Geld verdiene.«

»Omimi dreht sich gerade im Grab rum.«

»Ha. Die hat sich schon rumgedreht, als sie noch lebendig war. Und zwar immer genau dann, wenn ich den Raum betreten habe und ihr schlagartig wieder bewusst wurde, dass ich ihre Schwiegertochter bin … Ich muss los, bin erst um elf zurück. Ich hab dich lieb, du kleine Kröte. Dich auch, Vivi.« Ein lautes Schmatzgeräusch und weg war sie.

»Oh Mann.« Ich ließ mich rückwärts auf die Bettdecke fallen. »Immer dieser Haushaltsscheiß.« Vivi blickte traurig zur Tür. »Sorry, war taktlos.« Und schnell die Alles-ist-gut-Maske aufgesetzt. Voilá!

7

Es ist schon fast Mitternacht und du hast mich noch nicht angerufen. Alles klar bei dir? Es kam sofort eine Sprachnachricht.

Ja … ich, äh, … ja. Ich ruf dich morgen an, ja? Kann gerade nicht gut reden.

Mitternacht. Vivi konnte gerade nicht reden. Das gab es noch nie. Das konnte nur eins bedeuten. Sie war mit Felix zusammen. Wahooooo! Ich hüpfte im Zimmer herum und freute mich … kurz. Dann ging es los in der Birne: War sie jetzt so richtig mit Felix zusammen? Was würde nun aus mir werden? Brauchte sie mich überhaupt noch? Und würden die beiden womöglich miteinander …? Oh Gott, vielleicht erzählte sie ihm, dass ich noch nie … Verdammt … Nein, das konnte sie doch nicht tun. Oder? Dann hätte ich sowas von verschissen bei den Jungs, wenn sich das rumsprechen würde. Hilfe. Dann könnte ich mich nirgends mehr blicken lassen. Die würden sich die Mäuler zerreißen und bestimmt irgendeinen Scheiß posten. So von wegen: Alles Fake News. Tinka ist noch ’ne verdammte Jungfrau. Bitch-Level nullbitte kein Wort!!!!