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Das Buch

Seit 2000 widmet sich Dr. Peter Liffler intensiv und mit großem Erfolg der Ursachenforschung der Atopie. In einer beispielhaften Pilotstudie gelang ihm 2017 mit Unterstützung von Prof. Uwe Gieler und Frau PD Eva Peters von der Universität Gießen der Nachweis des Zusammenhanges zwischen erhöhter Sensibilität und der Veranlagung zur Atopie.

Die meisten Atopiker sind empfindsam und einfühlsam, sie sind leicht erregbar, verletzlich und fühlen sich oft überfordert. Es kommt zu gehäuften Stressreaktionen und bei länger anhaltender Überreizung zu Dauerstress. Dadurch kann sich eine atopische Veranlagung entwickeln, die sich in Form von Neurodermitis, Asthma oder Allergien Bahn bricht.

Diese aktuellen Erkenntnisse sind Grundlage eines innovativen Konzeptes der systemischen Hyposensibilisierung. Unter Verzicht auf nebenwirkungsstarke Medikamente werden selbst bei hochgradigen Allergien und schwersten Verläufen der Neurodermitis und des Asthma beeindruckende Verbesserungen erzielt.

Der Autor

DR. PETER LIFFLER studierte Medizin an der Philipps-Universität in Marburg und absolvierte die Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Kassel. Er leitete als Chefarzt das Kinder-Rehabilitations-Zentrum, das Therapeutikum Westfehmarn sowie die Fachklinik Bellevue auf Fehmarn und entwickelte ganzheitliche Konzepte zur Behandlung von Erkrankungen des atopischen Formenkreises. In einer mehrjährigen Studie, die er im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen in Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen durchführte, wurde die Überlegenheit dieser Behandlungsweise nachgewiesen. Sein neues Konzept ist eine Weiterentwicklung, ausgerichtet auf die erhöhte Sensibilität.

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ISBN 978-3-96366-008-5


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Bildteil: privat

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DENKANSTÖSSE

Aus dem Brief einer Mutter:

»Ich habe mein Kind mit Neurodermitis getragen, gestützt, bestärkt, ihm Mut gemacht, getröstet, mit ihm geweint, zwei Kuren besucht, es von Arzt zu Arzt getragen, oft in der Nacht wach gelegen, nachts Schwarztee-Verbände angelegt, Baumwollhandschuhe an Schlafanzüge genäht … Und in den vielen Jahren seiner Kindheit habe ich gegen Kortison gekämpft. Und immer habe ich so unendlich mit ihm gelitten und hätte ihm alles gegeben, vor allem meine gesunde Haut, auch mein Leben. Einmal sagte mir ein Arzt: ›Bedenken Sie immer, der Juckreiz ist der große Bruder vom Schmerz.‹ Das habe ich nie vergessen. Mir wurde als Mutter in den vielen Jahren keine Unterstützung angeboten. In der Kinderklinik in Davos wollten mich die Schwestern immer zum Skilaufen schicken, aber ich konnte doch nicht mein Kind auf der Station zu­rücklassen und mich amüsieren. Ich bin sicher, gerade wenn ich Ihre Studie lese, eine Unterstützung und Stärkung meiner Psyche hätte uns ungemein geholfen. Ich habe immer nach ›Schuld‹ bei mir gesucht. Nach genetischen Dispositionen, die dafür verantwortlich waren. Jetzt ist meine Tochter 30 Jahre alt, und wir sind immer noch stark emotional verbunden. Und tatsächlich, alle Lebensereignisse nehme ich viel inten­siver als alle Menschen aus meinem Freundes- und/oder Familienkreis wahr.«

Ich habe Hunderte Mütter und ihre an Neurodermitis erkrankten Kinder im Verlauf meines Berufslebens kennengelernt. Oft kamen die schwer kranken Kleinen mit ihren Familien erst nach einem langen Leidensweg zu uns nach Fehmarn in die Kinderklinik.

Wie kann es sein, dass in einem der reichsten Länder der Welt, einem Land mit bester medizinischer Versorgung, die Zahl schwer an Allergien und Neurodermitis erkrankter Kinder stetig steigt, und wie kann es sein, dass es gleichzeitig an langfristig wirksamen Therapien mangelt? In den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Kinderarzt wurde für mich eine Frage immer drängender: Haben wir die Mechanismen der Entstehung dieser Krankheiten überhaupt schon richtig verstanden? Denn nur auf einem solchen Verständnis können wirkungsvolle Therapien aufbauen. Nach 30 Jahren ist es mir nun gelungen, Zusammenhänge aufzudecken und wissenschaftlich zu beweisen, die wiederum eine ursächliche Behandlung dieser Krankheiten möglich machen. In diesem Buch möchte ich Sie mitnehmen auf meinem Weg, der zu Einsichten geführt hat, die eine bedarfsgerechte Vorbeugung und nachhaltig wirksame Behandlung ermöglichen.

VORWORT

Ich werde oft gefragt, wie ich dazu gekommen sei, mich so intensiv mit den Erkrankungen des atopischen Formenkreises, das heißt mit Allergien, Neurodermitis, Asthma bronchiale und Heuschnupfen, und insbesondere mit an Neurodermitis erkrankten Kindern zu befassen. Meistens habe ich mein Engagement mit dem unbeschreiblichen Leid begründet, das diese Krankheiten über die Patienten und ihre Eltern bringen. Inzwischen bin ich mir sicher, dass es etwas anderes war, was meine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Es waren nicht nur die kranken Kinder, sondern deren Eltern, vor allem die Mütter und ihre aufopferungsvolle Liebe, die mich an meine eigene Kindheit erinnerten.

Ich war der kleinste und schmächtigste Junge, als ich in Kornwestheim eingeschult wurde. Als Flüchtlingskind beschimpften mich die einheimischen Kinder anfangs als »Zigeuner« oder »Polack«. Schüchtern und völlig verunsichert schämte ich mich für die Armut, in der wir lebten. Wenn mich jemand ansprach, er­rötete ich, und wenn ich im Unterricht keine Antwort wusste, kamen mir die Tränen. Auf dem Gymnasium fühlte ich mich zwischen den Kindern von Notaren, Beamten, Ärzten und Ge­schäfts­leuten völlig fremd und irgendwie unerwünscht. Man belächelte mich wegen meiner Kleidung, und anfangs wollte keiner neben mir sitzen oder überhaupt etwas mit mir zu tun haben. Rückblickend finde ich es irgendwie seltsam, dass ausgerechnet Peter Kletsch, der Sohn eines Hautarztes, später einer meiner besten Freunde wurde. Unsere Freundschaft bestand bis zu seinem Tod im Jahr 2014.

Meine Mutter war ein unermüdliches Organisationstalent. Sie schuf uns mit den bescheidenen Mitteln ein Zuhause, an das ich eigentlich gern zurückdenke. Alles war ordentlich, sauber und liebevoll zurechtgemacht. Sie wollte den Leuten zeigen, dass wir eine anständige Familie und ihre beiden Söhne besonders begabte Kinder sind. Meine Mutter liebte mich über alles und hatte große Pläne, was einmal aus mir werden sollte. Sie war bereit, alles für mich zu tun, das versicherte sie mir immer wieder: »Das tue ich doch nur für dich«, »Glaube mir, es ist nur zu deinem Besten«, »Du solltest mir dankbar sein«, »Ich möchte doch nur, dass es dir mal besser geht«, waren die ständig wiederkehrenden Ermahnungen. Auf ihren Wunsch hin wurde ich Ministrant, lernte die gesamte lateinische Hochamt-Liturgie auswendig und wurde St.-Georg-Pfadfinder. Meine Mutter war stolz auf mich: ihr Peter, vor Hunderten Gläubigen da vorn, dem lieben Gott ganz nah! Sie hatte längst entschieden, dass ich später Theologie studieren und Priester werden sollte.

Ich war meiner Mutter unentrinnbar ausgeliefert. Sie hielt ständig Kontakt zu den Lehrern und zur Kirche und war immer über alles informiert. Am liebsten hatte sie mich aber ständig bei sich. Sie liebte die Natur, und ich musste sie auf ihren Spaziergängen begleiten. Sie ging mit mir ins Freibad und ließ mich nicht aus den Augen. Ich kann mich nicht erinnern, in meiner Kindheit jemals eine Arztpraxis betreten zu haben. Meine Mutter hatte ein dickes Buch, es hieß »Familienmedizin« oder so ähnlich. Da wurden die Teezubereitungen und die Wickel beschrieben, mit denen sie meine Erkältungen behandelte. Meine Mutter hätte eigentlich Heilpraktikerin werden können. Sie interessierte sich für Diäten und Heilverfahren wie Kinesiologie oder Akupressur, von deren Existenz ich selbst erst erfuhr, als ich schon Arzt war. Sie las ständig irgendwelche esoterischen Schriften, machte noch mit 80 Jahren täglich ihre Yogaübungen und gab mir Sinnsprüche mit auf den Weg, wie: »Lass dir Zeit, wenn du’s eilig hast.«

Mein Vater war vor dem Krieg als Sportlehrer und Musiker bei der Polizei tätig gewesen. Weil er während des Krieges als Polizist einer Wehrmachtseinheit zugeordnet worden war, die für Besatzungsaufgaben, das heißt für die Einrichtung der militärischen Verwaltung hinter der Front zuständig war, wurde er nicht »entnazifiziert« und durfte deshalb nicht in den Polizeidienst zurückkehren. Ich habe ihn als unglücklichen, kettenrauchenden Mann in Erinnerung. Er starb bereits mit 57 Jahren an Lungenkrebs.

Unfähig, wirklich zu lieben, und nur darauf bedacht, der Mutigere, Stärkere und Schlauere zu sein, brauchte ich mindestens 20 Jahre, um meine Kindheit nachzuholen und erwachsen zu werden. Irgendwann, ich meine, es war am Ende des Medizinstudiums, als ich Karin, meine heutige Ehefrau, kennengelernt hatte, nahm ich mir vor, ein guter Mensch zu werden. Es hat aber noch mal 20 Jahre gedauert, bis ich verstand, was mich bis dahin umgetrieben hatte. Inzwischen glaube ich gelernt zu haben, meine Empfindungen und Gefühle besser zu kontrollieren. Meine sensiblen Eigenschaften habe ich aber nie ganz abgelegt: Ich mag keine laut sprechenden Menschen, bei rührseligen Anlässen kommen mir die Tränen, und ich stelle oft zu hohe Ansprüche an mich und an die anderen.

Die amerikanische Psychologin Elaine Aron soll einmal gesagt haben, man muss selbst hochsensibel sein, um Hochsensible zu verstehen. Vielleicht kann ich mich deshalb so gut in Menschen hineinversetzen, die unter atopischen Erkrankungen leiden: Es sind auch empfindsame und einfühlsame Menschen, die hohe Ansprüche an sich selbst stellen und ihre Kinder über alles lieben. Ich verstehe diese Eltern, aber auch ihre Kinder, und glaube oft, deren Gedanken von den Augen ablesen zu können.

Mit der Erforschung der Neurodermitis und der Allergien bin ich mit mir selbst ein Stück weit ins Reine gekommen. Das eine wäre ohne das andere nicht möglich gewesen. Das Buch beschreibt nicht nur meinen Erfahrungs- und Erkenntnisprozess, sondern auch den wissenschaftlichen Nachweis des Zusammenhangs zwischen atopischen Erkrankungen und erhöhter Sensi­bilität. In diesem Buch gehe ich auch der Frage nach, warum heute vor allem Kinder und junge Menschen immer sensibler reagieren und welche therapeutischen Konsequenzen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten sich aus diesen neuen Einsichten ergeben.

EINLEITUNG

Deutschland gehört auf der einen Seite zu den 15 reichsten Ländern der Welt und erwirtschaftet das höchste Bruttoinlandsprodukt Europas. Die Deutschen besitzen das dichteste Autobahnnetz, bauen mitunter die schnellsten Autos und die besten Maschinen. Sie verkaufen die beliebtesten Panzer und brauen das süffigste Bier. 2017 verdiente der Durchschnittsdeutsche jährlich 37.103 Euro Mehr als 40 Prozent wohnten in den eigenen vier Wänden, und in jedem dritten Haushalt standen zwei oder mehr Fernsehgeräte. Jede vierte Familie verfügte oft über einen Zweitwagen.

Auf der anderen Seite scheint das Volk der Dichter und Denker im Vergleich zu anderen Ländern jedoch bemerkenswert schlecht gebildet zu sein. Den PISA-Studien entsprechend liegen die jungen Deutschen auf Plätzen, die den abstiegsbedrohten Rängen der Bundesliga entsprechen. Der Durchschnittsdeutsche vertilgt jährlich 65 Kilogramm Fleisch, 45 Fertiggerichte, 36 Kilogramm Zucker, trinkt umgerechnet 11,5 Liter reinen Alkohol, sitzt täglich mehr als vier Stunden vor dem Fernsehgerät, ist fast ebenso lang »online« und hat zweimal wöchentlich 17 Minuten Sex. Fast die Hälfte der Über-Dreißigjährigen ist übergewichtig und leidet unter Bluthochdruck, Arthrosen, Diabetes, Herzkrankheiten und Asthma. Kein Europäer sitzt häufiger beim Arzt als der Deutsche, und drei Viertel der Gesamtkosten im deutschen Gesundheitswesen entfallen mittlerweile auf die Behandlung chronischer Krankheiten.

Die Deutschen werden immer älter und sind inzwischen nach Italien und Japan das Volk mit dem höchsten Durchschnittsalter weltweit. Man ist geneigt anzunehmen, dass die hohen Krankheitskosten in diesem Durchschnittsalter begründet seien. Natürlich nehmen die Krankheitskosten in einer überalterten Gesellschaft zu, aber doch nicht in dem gegenwärtigen Maße. Denn nach Einschätzung der Krankenversicherer leben immer mehr ältere Menschen gesünder als die jungen. Bewusste Ernährung, regelmäßiger Sport, Teilzeitbeschäftigungen, ehrenamtliche Tätigkeiten und sinnvolle Freizeitgestaltung sind heute für viele ältere Menschen völlig normal. Es sind heutzutage vor allem die jungen Deutschen, die den Krankenkassen Sorgen bereiten.

30 MILLIONEN DEUTSCHE SCHNIEFEN,
KEUCHEN UND KRATZEN SICH

Ungefähr 30 Prozent der Deutschen leiden inzwischen an allergischen Erkrankungen. Waren es 1960 nur 1 Prozent der Deutschen, die im Verlauf ihres Lebens eine Allergie entwickelten, klagt heute fast jeder Zweite irgendwann über irgendeine Unverträglichkeit. 30 Millionen Deutsche schniefen, keuchen, husten und kratzen sich bis aufs Blut. Ähnlich wie bei den psychischen Störungen verzeichnen die Epidemiologen am Robert-Koch-Institut eine dramatische Zunahme der sogenannten Erkrankungen des atopischen Formenkreises. Diese Krankheitsgruppe umfasst Allergien, Neuroder­mitis, Asthma bronchiale, Heuschnupfen, Nesselsucht und Kontaktallergien; ihr gemeinsames Merkmal ist die Überempfindlichkeit der Haut und der Schleimhäute. Daran erkranken immer mehr überwiegend junge Menschen, und es konnten bislang keine zuverlässigen Erklärungen dafür gefunden werden. Allgemein wird diese Zunahme mit verschiedenen Aspekten unseres »westlichen Lebensstils« in Verbindung gebracht. Ein Beweis für diese Hypothese fand sich nach der Wiedervereinigung in Deutschland bei einem Ost-West-Vergleich. In den neuen Bundesländern war die Häufigkeit allergischer Erkrankungen trotz höherer Luftverschmutzung mit sechs Prozent der Bevölkerung deutlich niedriger als in den alten Bundesländern, in denen in den Achtzigerjahren schon über 14 Prozent unter einer allergischen Erkrankung litten. Mit der Angleichung der Lebensstile seit der Wiedervereinigung haben die Deutschen im Osten diesen Prozentsatz nicht nur ausgeglichen, sondern ihre Landsleute im Westen sogar noch überholt. Heute erkranken in den neuen Bundesländern signifikant mehr Kinder an Allergien als in den alten. Eine Erklärung für diese Entwicklung gibt es bislang nicht.

Epidemiologen des Robert-Koch-Instituts fanden 2014 jedoch auffällige Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit der Neurodermitis und sozioökonomischen Voraussetzungen. So erkrankten Kinder aus Familien mit höherem sozialen Status deutlich häufiger an Neurodermitis als Kinder aus Familien in niedrigen sozialen Verhältnissen. Der Zusammenhang der Erkrankungen des atopischen Formenkreises mit soziodemografischen Daten und sozialen Faktoren ist tatsächlich auffallend.

Nach der aktuellen Berichterstattung des Bundes zur Gesundheit der Deutschen erkranken in Deutschland 20,8 Prozent der Männer und 36,8 Prozent der Frauen, im Gesamtdurchschnitt 28,8 Prozent der Erwachsenen, im Laufe ihres Lebens an einer Krankheit aus dem atopischen Formenkreis. Am häufigsten leiden Erwachsene unter Heuschnupfen (14,8 Prozent), es folgen das Asthma bronchiale mit 8,6 Prozent und die Neurodermitis mit 3,5 Prozent. Im Gegensatz zu den erwachsenen Deutschen erkranken bei den 0 bis 17 Jahre alten Kindern beziehungsweise Jugendlichen 27,8 Prozent der Jungen und 24,1 Prozent der Mädchen, das heißt im Gesamtdurchschnitt 26 Prozent, im Laufe ihres Lebens an einer allergischen Krankheit. Diese jungen Menschen leiden am häufigsten unter Neurodermitis (14,3 Prozent), es folgen der Heuschnupfen mit 12,6 Prozent und das Asthma bronchiale mit 6,3 Prozent.

Die Auffassung, dass es sich bei den Erkrankungen des ato­pischen Formenkreises um psychosomatische Krankheiten handelt, ist weit verbreitet, obwohl 75 Jahre Forschung diesen kausalen Zusammenhang nicht bestätigen konnten. Den vorläufigen Schlusspunkt bildete 2015 eine europaweite, multizentrische Studie von F. J. Dalgard und anderen, deren Ergebnisse an die breite Öffentlichkeit kommuniziert wurden. (So erschien daraufhin beispielsweise in der Welt der Artikel: »Warum die Haut kein Spiegel der Seele ist«.)

Sieht man von edukativen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen ab, die den Juckreiz-Kratz-Zyklus unterbrechen sollen, spielen psychotherapeutische Ansätze in den Empfehlungen bei der Behandlung der Erkrankungen des atopischen Formenkreises jedoch heute leider keine Rolle. Die einschlägigen medizinischen Leitlinienempfehlungen beschränken sich seit Jahrzehnten auf mehr oder weniger unsinnige Vermeidungsempfehlungen.

Im Vordergrund der klassischen Behandlungsmethoden steht die medikamentöse Unterdrückung der Krankheitssymptome mit nebenwirkungsreichen Wirkstoffen. Die Akzeptanz dieser Behandlungsweise ist aber gering. Mehr als die Hälfte der Patienten, beziehungsweise deren Eltern, bevorzugen inzwischen komplementärmedizinische Verfahren, aber auch alternative Methoden mit oft völlig ungesicherter Wirksamkeit.

Inzwischen zeigt sich eine neue Generation von »Atopikern«, die alles bisher Dagewesene übertrifft: Säuglinge mit hochgradigen Allergien gegen alles, was für eine bedarfsgerechte Ernährung unverzichtbar ist. Jeder Versuch eines normalen Nahrungsaufbaus scheitert, selbst Muttermilch erbrechen sie. Wenn sich die Kleinen im Elternbett schreiend blutig kratzen, werden die Nächte zum Albtraum.

Die Therapien und Ratschläge der Dermatologen ändern daran nichts. Viele dieser Kinder werden nie einen normalen Kindergarten oder eine Regelschule besuchen können und degenerieren zu Dauerpatienten eines überforderten Gesundheitswesens.

38 PROZENT DER DEUTSCHEN LEIDEN UNTER PSYCHISCHEN STÖRUNGEN

Parallel zu dieser Entwicklung schlagen die Krankenversicherungen seit Jahren Alarm: Mit einem Anteil von 23,4 Prozent haben sich die psychischen Störungen vor die Herz-Kreislauferkrankungen an die Spitze der krankheitsbedingten Fehlzeiten gesetzt. Der Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz zählte 2012 bereits 59 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen, was einer Steigerung um 80 Prozent in 15 Jahren entspricht. 41 Prozent der Frühberentungen erfolgen mittlerweile aufgrund psychischer Erkrankungen.

Der AOK-Bundesverband teilte in seinem Fehlzeiten-Report 2017 in Berlin mit, dass die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen in den vergangenen zehn Jahren bei den AOK-Versicherten um 79,3 Prozent auf 100 Millionen Fehltage am Arbeitsplatz angewachsen sind. Psychische Erkrankungen führten außerdem zu langen Ausfallzeiten: Mit 25,7 Tagen je Fall dauerten sie mehr als doppelt so lang wie die der Durchschnittskranken mit 11,7 Tagen je Fall.

Doch nicht nur Arbeitnehmer sind von psychischen Krankheiten betroffen: Schon Kinder leiden unter ADHS, Jugendliche unter Angststörungen, die jungen Erwachsenen unter Depressio­nen unter anderem als Folgen von Alkoholmissbrauch. In diesem Zusammenhang weisen die aktuellen Daten der Kranken­kassen auf eine alarmierende Zunahme des Alkoholkonsums hin. Die Häufigkeit des Komasaufens Jugendlicher nahm seit 2012 von 12.000 Fällen auf 22.000 im Jahr 2017 zu. In jenem Jahr kamen bundesweit 22.309 Menschen zwischen 10 und 20 Jahren völlig betrunken in eine Klinik. Das geht aus einer aktuellen Statistik des Statistischen Bundesamtes hervor. Die Krankenkasse DAK-Gesundheit hatte die Daten recherchiert.

Entsprechend einem Bericht zur Kindergesundheit (KIGGS) des Bundesgesundheitsministeriums 2017 leiden etwa zwei bis sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter krankhaften Störungen der Aufmerksamkeit und an motorischer Unruhe. Die Behandlungsraten von ADHS waren nach Aussage der Kassen­ärztlichen Vereinigung von 2005 bis 2008 im ambulanten Bereich um 46 Prozent und im stationären um 35 Prozent gestiegen. Laut BARMER GEK stieg die Verordnung von Methylphenidat (Ritalin) von 2006 bis 2014 um 46 Prozent.

Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK, ließ 2017 mit dem Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung (IFT-Nord) eine Schulstudie an 7000 Schülern durchführen. Das Ergebnis: Fast jeder zweite Schüler (43 Prozent) litt unter Stress, der sich negativ auf die Gesundheit auswirkte: Ein Drittel der betroffenen Jungen und Mädchen hatte Beschwerden wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Schlafprobleme.

Wenn Ängste besonders stark auftreten, über mehrere Monate anhalten und die normale Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen, spricht man von einer Angststörung. Angststörungen im Kindes- und Jugendalter haben eine Schrittmacherfunktion für die Entwicklung psychischer Störungen im Erwachsenenalter, fanden Woodward und Fergusson in einer Studie 2001 heraus. Nach den Erhebungen des Robert-Koch-Instituts zur psychischen Gesundheit von Kinder- und Jugendlichen (BELLA-Studie) sind rund zehn Prozent der Kinder- und Jugendlichen in Deutschland von einer akuten Angststörung betroffen. Angststörungen gehören damit zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in dieser Altersgruppe. Das bestätigte auch Bernhard Blanz von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP).

Depressionen sind bei jungen Erwachsenen nicht ungewöhnlich. Bei der direkten persönlichen diagnostischen Untersuchung im DEGS1, einer Studie des Robert-Koch-Instituts, erfüllten jüngere Frauen im Alter von 18 bis 34 Jahren mit über 15 Prozent besonders häufig die Kriterien für eine Depression, bei der Altersgruppe der 55- bis 64-jährigen Frauen hingegen ging die Zahl auf sechs Prozent zurück.

»Immer mehr junge Erwachsene leiden unter psychischen Er­kran­kungen wie Depressionen, Angststörungen oder Panikattacken. Allein zwischen den Jahren 2005 bis 2016 ist der Anteil der Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen mit psychischen Diagnosen um 38 Prozent, und darunter bei Depressionen um 76 Prozent gestiegen.« Dieses Zitat stammt aus dem aktuellen BARMER-­Arztreport 2018, der in Berlin vorgestellt wurde. Demnach ist selbst bei den Studierenden, die bislang als weitgehend »gesunde« Gruppe galten, inzwischen mehr als jeder Sechste (17 Prozent) von einer psychischen Diagnose betroffen. Das entspricht rund 470.000 Personen. Und es wird leider nicht besser: »Vieles spricht dafür, dass es künftig noch deutlich mehr psychisch kranke junge Menschen geben wird. Gerade bei den angehenden Akademikern steigen Zeit- und Leistungsdruck kontinuierlich, hinzu kommen finanzielle Sorgen und Zukunftsängste.«

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Hans-Ulrich Wittchen von der Technischen Universität Dresden hat 2010 für das European College of Neuropsychopharmacology (ECNP), European Brain Council (EBC) und die Bundesregierung eine Studie über die »Größenordnung, gesellschaftliche Belastung und Kosten durch psychische und neurologische Erkrankungen in Europa« durchgeführt und dramatische Missstände in der Versorgung erkannt. Die Studienergebnisse basieren auf einer über drei Jahre andauernden Studie und beziehen sich auf alle 27 EU-Staaten sowie die Schweiz, Island und Norwegen mit einer Gesamt-Einwohnerzahl von 514 Millionen Menschen. Es wurden mehr als 100 unterschiedliche psychische und neurologische Krankheitsbilder berücksichtigt. Damit war dies die weltweit erste Studie, die ein nahezu vollständiges Spektrum von psychischen und neurologischen Störungen umfasst. Die Studie lieferte erstmals ein realistisches Bild von der Häufigkeit und Belastung psychischer Störungen für alle europäischen Länder sowie für Europa als Ganzes. Die Hauptergebnisse ergaben deutlich mehr psychische Störungen als bisher angenommen und erschüttern das gesamte Bild vom Gesundheitszustand nicht nur der deutschen, sondern der Gesamtbevölkerung Europas. Die psychischen Störungen treten zudem sehr viel häufiger auf, als man bisher vermutet hatte, und sind in Europa zur größten gesundheitspolitischen Herausforderung des 21. Jahrhunderts geworden.

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Experten der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie prophezeien einen Anstieg der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen im Kindesalter bis 2020 um mehr als 50 Prozent. Seelische Krankheiten werden künftig zu den »fünf häufigsten Ursachen für Krankheit, Tod und Beeinträchtigung der Lebensqualität« zählen.

Die epidemiologische Erforschung der psychischen Erkrankungen steckt noch in den Anfängen. Zuverlässige Angaben über deren Zunahme beruhen weniger auf epidemiologischen Studien als auf den Angaben der Krankenversicherungen, die am ehesten über entsprechende Längsschnittdaten verfügen. In Bezug auf die Häufigkeit psychischer Störungen zeigt sich eine besorgniserregende Zunahme psychischer Störungen vor allem bei Kindern und jungen Menschen.

HABEN ALLERGISCHE ERKRANKUNGEN
UND PSYCHISCHE STÖRUNGEN DIESELBEN URSACHEN?

Besteht ein Zusammenhang zwischen der Zunahme der psychischen Störungen und der Häufung allergischer Erkrankungen? Gibt es möglicherweise gemeinsame Ursachen?

Von einer zuverlässigen Klärung dieser Fragen ist die Medizin weit entfernt, da vergleichbare Längsschnittuntersuchungen für die psychischen Störungen und für die Erkrankungen des atopischen Formenkreises nicht existieren. Gleichwohl gibt es einige Indikatoren, die für einen Zusammenhang und mögliche gemeinsame Ursachen sprechen:

Sind es also mehrheitlich besser verdienende Hypochonder und Dienstleistende in sozialen Bereichen, die heute die Wartezimmer der Ärzte füllen?

JAMMERN DIE DEUTSCHEN AUF
HOHEM NIVEAU?

Die Zunahme der beiden »Volkskrankheiten« Allergien und psychische Störungen wird kontrovers diskutiert. Während die Krankenversicherungen, die das Ganze ja bezahlen müssen, vor den nicht absehbaren Folgen für die Sozialversicherungssysteme warnen, wiegeln die betroffenen medizinischen Fachgesellschaften und Ärzteverbände ab und verweisen als Gründe für die Zunahme auf die erhöhte Aufmerksamkeit der Fachärzte hinsichtlich dieser Krankheiten und das gestiegene Gesundheitsbewusstsein der Menschen, die mit diesen Erkrankungen angeblich offener umgehen.

Auch die Deutsche Dermatologische Gesellschaft (DDG) führt in ihrer Leitlinie Neurodermitis 2016 den Häufigkeitsanstieg der Neurodermitis auf die erhöhte Aufmerksamkeit der Ärzte und das gestiegene Gesundheitsbewusstsein der Deutschen zurück. Auf Seite 16 der Leitlinie beschreiben die Autoren die bestehenden Versorgungsstrukturen: »grundsätzlich qualitätsgesichert, interdisziplinär, mit einer größeren Zahl von Spezialisten (Hautärztinnen und Hautärzte, Ärztinnen und Ärzte für Kinder- und Jugendmedizin, Ärztinnen und Ärzte für Allergologie), die eine differenzierte Diagnostik und Therapie durchführen können. Für Eltern von erkrankten Kindern sowie für Patienten ab dem achten Lebensjahr stehen Schulungsangebote zur Verfügung. Stationäre Interventionstherapien bei schweren Schüben oder Komplika­tionen oder orale Provokationstestungen in Notfallbereitschaft sind möglich.«

Zahlreiche Studien haben in den vergangenen Jahren allerdings auch die Verweildauer der Patienten in den Arztpraxen der Vertragsärzte untersucht. Danach hält sich ein Patient im Durchschnitt nicht länger als zehn Minuten im Sprechzimmer des Arztes auf. In dermatologischen Praxen dringt der Patient oft überhaupt nicht bis in das Sprechzimmer des Arztes vor, sondern wartet in einer Untersuchungskabine auf den Arzt. Diese »Sprechstunden« enden in der Regel mit einigen Empfehlungen und einem Rezept. Von einer erhöhten Aufmerksamkeit kann dabei nicht die Rede sein.

Die Ergebnisse der 2010 von der TU Dresden durchgeführten Studie zu den psychischen und neurologischen Erkrankungen zeigen eindeutig dramatische Missstände der Gesundheitsversorgung. Höchstens ein Drittel aller Betroffenen erhielt demnach professionelle Aufmerksamkeit oder eine Therapie. Meist erst Jahre nach Krankheitsbeginn wurde etwas angeboten, was aber meistens nicht einmal den minimalen Anforderungen einer adäquaten Therapie entsprach. Die Ursachen dafür lagen laut Studie in der ungebrochenen Neigung der Deutschen, psychische Störungen zu tabuisieren und zu bagatellisieren. Die Betroffenen fürchteten (gemäß Wittchen et al.) eine Stigmatisierung und Benachteiligungen im Berufsleben. Hier ein Beispiel:

»Andreas L. war ein total unauffälliger, netter Typ«, meinte ein Kollege des Germanwings-Piloten, der am 24. März 2015 ­einen Airbus A320-211 der Lufthansa-Tochter auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf vorsätzlich zum Absturz gebracht hatte. Alle 150 Menschen an Bord der Maschine kamen ums ­Leben.

In den fünf Jahren vor dem Absturz hatte Andreas L. bei mehr als 40 Ärzten, Psychiatern und Psychotherapeuten vergeblich Hilfe gesucht. Professionell attestierten ihm seine Prüfer überdurchschnittliches Können. Ihm wurde regelmäßig die volle Flugtauglichkeit bescheinigt.

Oder ein anderes Beispiel aus meiner Berufspraxis: Ich war leitender Arzt der Kinderfachklinik für pädiatrische Allergologie, Dermatologie und Pneumologie in Petersdorf auf Fehmarn und führte 2016 eine schriftliche Befragung von Eltern neurodermitiskranker Kinder durch, die zur stationären Akutbehandlung aufgenommen wurden. Die Eltern bekamen einen Fragebogen, in dem sie befragt wurden, ob sie die 15 wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen bisher erhalten haben, die in der dermatologischen Leitlinie empfohlen werden. Die Ergebnisse offenbarten dramatische Versorgungsmängel: 82 Prozent der Eltern an Neurodermitis erkrankter Säuglinge und Kleinkinder hatten weder eine ausreichende Diagnostik noch eine angemessene Therapie entsprechend der Leitlinie Neurodermitis bekommen. Auf die psychosozialen Belastungen der Eltern war am wenigsten eingegangen worden. Die Mehrzahl der befragten Eltern, selbst diejenigen der schwer an Neurodermitis erkrankten Kinder, hatte demnach keine bedarfsgerechte Versorgung erhalten. Über 80 Prozent der Eltern nahmen deshalb alternative Angebote in Anspruch.

Ich mache das an einem konkreten Beispiel deutlich: Im Frühjahr 2016 wurde der zweieinhalbjährige Felix S. bei uns stationär aufgenommen. Er litt seit seinem vierten Lebensmonat unter einer schweren Neurodermitis mit großflächigen Rötungen und akuten, teilweise nässenden und blutenden Kratzwunden. Die Nächte wurden für ihn und seine Eltern zum Albtraum. Die Eltern waren an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt.

Obwohl sie immer wieder den Verdacht auf Nahrungsmittelallergien geäußert hatten, waren entsprechende Untersuchungen vor der Aufnahme in unserer Klinik bisher nie durchgeführt worden. Auch in der Ambulanz einer Universitäts-Hautklinik, wo der Junge eine Woche zuvor vorgestellt worden war, hatte man den Eltern für Felix ohne weiterführende Diagnostik nur ein Rezept für eine kortisonhaltige Salbe ausgestellt.

Bei uns ergaben die allergologischen Untersuchungen einen um das Hundertfache erhöhten IgE-Antikörperwert, ein Hinweis auf eine außergewöhnlich starke Allergie des sogenannten Sofort-Typs, bei dem der Betroffene ohne Verzögerung besonders heftig reagieren kann. Wir fanden unter anderem hochgradige Allergien gegen mehr als 40 Nahrungsmittel sowie gegenüber zehn Substanzen, die über die Atemwege aufgenommen werden, wie Bäume- und Gräserpollen. Die Geschichte des kleinen Felix, den wir übrigens nach vier Wochen nahezu erscheinungsfrei entlassen konnten, steht beispielhaft für zahlreiche ähnliche Verläufe.

Eine gestiegene Aufmerksamkeit der Ärzte hinsichtlich der Erkrankungen des atopischen Formenkreises konnte man also nicht feststellen. Doch vieles spricht nicht nur für erschreckende Mängel in der medizinischen Versorgung, sondern auch dafür, dass die Entwicklung dieser Krankheiten häufig zu spät erkannt und der Behandlungsbedarf falsch eingeschätzt wird.

ATOPIA – DIE BEGEGNUNG
MIT DEM UNGEWÖHNLICHEN

Der Begriff »Atopie« wurde 1923 von Coca und Cooke, den Herausgebern des Journal of Immunology, in die Wissenschaft eingeführt. Die aus dem griechischen Wort atopia (»das Ungewöhnliche«, »Ortlosigkeit«, »Begegnung mit dem Ungewöhnlichen«, aber auch »seltsame Menschen«, »sonderbares Verhalten«) abgeleitete Wortneuschöpfung sollte auf eine zugrunde liegende Überempfindlichkeit hinweisen. Der Begriff »Atopie« steht seither weltweit für die »Erkrankungen des atopischen Formenkreises«.

Die Neurodermitis ist eine dieser Erkrankungen. Außerdem zählen dazu die Allergien, das Asthma bronchiale, der Heuschnupfen, das Nesselfieber und die Kontaktallergien, nur um die wichtigsten zu nennen. Die Neurodermitis spielt insofern eine Sonderrolle, als sie bereits im Säuglings- und Kleinkindalter auftritt und sich niemand erklären kann, warum das Neugeborene einer gesunden Mutter plötzlich so schwer erkrankt. So etwas berührt die Menschen seit jeher besonders stark, was grundsätzlich den Forschungsdrang erhöht hat. Die Suche nach den Ursachen reicht bis in die Vierzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zurück und war beträchtlich. Die Ursache für die Neurodermitis und die anderen Erkrankungen des atopischen Formenkreises wurde allerdings bis heute nicht gefunden.

Mit diesem Buch möchte ich Sie auf eine Entdeckungsreise mitnehmen, an deren Ende ich erstmals Zusammenhänge nachweisen konnte, die für die Vorbeugung und Behandlung nicht nur der Neurodermitis, sondern auch für die von Allergien, Asthma bronchiale und Heuschnupfen einen Paradigmenwechsel einleiten sollten. Zu diesen Einsichten kam ich über die vertiefte Betrachtung der Neurodermitis. In ihr lag für mich der Schlüssel zum Verständnis der Erkrankungen des atopischen Formenkreises.

Wer kennt sie nicht? Die traurig-müden Augen, ihre verschwollen-faltigen, fast wimpernlosen Lider, die spärlichen Augenbrauen und die rötlich-schuppige Mundpartie mit den trocken-rissigen Lippen. Die Patienten, ob kleiner oder größer, sind für jedermann erkennbar krank. Während ihrer Kratzanfälle scheinen sie wie von Sinnen zu sein, sodass man sie einst in die Nähe von »Nervenkranken« gerückt hat. Unverdrossen setzen die Dermatologen auf kortisonhaltige Salben, doch die Patienten sehen hinterher oft schlimmer aus als zuvor. Nicht selten mutieren die betroffenen Familien zu Asketen, schlafen gemeinsam im Familienbett, ernähren sich mit ihren Kindern solidarisierend mit absurden Diäten, die Mütter stillen ihre Kinder jahrelang. Sie entwenden den Kleinen ihre Stofftiere, verbieten ihnen schweißtreibende Tätigkeiten und verlegen den Urlaub ans Tote Meer. Längst hat die Familie Hund und Katze verschenkt. Wenn alle Therapien und Einschränkungen nichts geholfen haben, was mehrheitlich der Fall ist, gehen sie mit ihren Kindern zu selbst ernannten Heilern und Schamanen. Sie lassen sie Vitamine und Spurenelemente schlucken, Probiotika, Dutzende Arten von Globuli. Manche Eltern gehen sogar so weit, Eigenbluttherapien für ihre Kinder in Erwägung zu ziehen – oder Bäder im eigenen Urin.

So viel Leid, so viel Mühe – und dennoch gibt es keine Therapie, die auf jeden Fall zu einem dauerhaften Behandlungserfolg führt. Je mehr ich mich mit Neurodermitiskranken auseinandersetzte, umso größer wurde mein Wunsch, den rätselhaften Ursachen dieser Krankheit auf die Spur zu kommen.

Das Buch soll einen Einblick in die Welt der Atopiker vermitteln, die man vermutlich nie wirklich verstehen kann, wenn man diese Menschen nicht persönlich erlebt hat. Heute weiß ich, dass man mit diesen Patienten und ihren Familien gelebt haben muss, um sie richtig verstehen zu können. Mein Vorteil gegenüber den reinen Wissenschaftlern bestand darin, dass ich Hunderte dieser kranken Kinder und ihre Eltern im Rahmen mehrwöchiger stationärer Aufenthalte erlebt habe. Wir, meine Familie und ich, wohnten in der Klinik. Und nur durch dieses alle Bereiche des täglichen Miteinanders umfassende Zusammenleben waren Beobachtungen und Erfahrungen möglich, die weit über das hinausgehen, was im Rahmen ambulanter Behandlungen machbar ist. Zwischen uns und den Familien baute sich ein Vertrauensverhältnis auf, ohne das wir nie auf ihre Besonderheit aufmerksam geworden wären. Dieser enge Kontakt machte den Eltern Mut, über Zusammenhänge zu sprechen, die sie ansonsten niemandem anvertraut hätten, und nur so erhielten wir Informationen, die für die richtige Einschätzung ihrer Lebenssituation wichtig und für die Behandlung oft entscheidend waren. Die Geschichten von unzähligen Familien führten im Verlauf von Jahren vergleichbar mit einem tausendteiligen Puzzle schließlich zu einem Bild über die Ursachen der Atopie. Nur auf diese Weise wurde mir bewusst, wie Mütter und Väter mit ihrem Verhalten unbewusst zur Entwicklung und Aufrechterhaltung dieser Krankheit beitragen können.

Das Buch wird deutlich machen, dass allergische Erkrankungen nicht von einem einzelnen, von außen einwirkenden Störfaktor verursacht werden, sondern durch die abnehmende Anpassungsfähigkeit und zunehmende Verletzlichkeit vieler Menschen. Insofern sind die folgenden Kapitel auch eine Zeitreise durch die jüngere Sozialgeschichte mit ihren tiefgreifenden Veränderungen. Die psychischen und allergischen Krankheiten spielten in den Siebzigerjahren, das heißt vor einem halben Jahrhundert, zahlenmäßig eine untergeordnete Rolle, nahmen aber seither dramatisch zu. Es waren der um sich greifende Egoismus und die zunehmende Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen, unter denen sich die neuen Volkskrankheiten entwickelten. Ich habe diesen Entwicklungsprozess von Beginn an miterlebt, und lange bevor die Epidemiologen vom Robert-Koch-Institut auf die Bedeutung des »westlichen Lebensstils« aufmerksam geworden waren, hatte ich die Ursachen der Allergien bereits in unserer Lebensweise vermutet. Inzwischen zeigt sich, dass immer weniger Menschen dem Tempo des sozialen Wandels und den damit einhergehenden Belastungen gewachsen sind.