Ammianus-Verlag
Die Autoren
Judith und Christian Vogt wuchsen in der Nordeifel auf. Durch dichte Wälder von der Zivilisation abgeschottet, begannen sie – noch getrennt voneinander – eine Vorliebe für Geschichten und Geschichte zu entwickeln.
Judith blieb der Buchwelt treu, absolvierte eine Ausbildung zur Buchhändlerin und steht nun seit 2010 auf der anderen Seite der Buchnahrungskette, indem sie Romane schreibt (bereits in der Eifel-Phantastik-Trilogie »Die Geister des Landes« beschäftigte sie sich mit den Überbleibseln keltischer und römischer Kultur). Christian hingegen beschloss, ungelösten Mysterien auf den Grund zu gehen, studierte Physik und promovierte 2013.
Für ihren ersten gemeinsamen Roman »Die zerbrochene Puppe« erhielten sie im Jahr 2013 den Deutschen Phantastik Preis. »Verbranntes Land« schließt ihren ersten historischen Zweiteiler »Eburonenlied« ab.
Eburonenlied:
Band I: Schwertbrüder
Band II: Verbranntes Land
www.jcvogt.de
www.facebook.com/JudithC.Vogt
Judith und Christian Vogt
Verbranntes Land
Eburonenlied II
Historischer Roman
Impressum
Erste Auflage
September 2014
© 2014 Ammianus GbR Aachen
Alle Rechte vorbehalten. Der Druck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und Verbreitung des Werks in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf digitalem oder sonstigem Wege sowie die Verbreitung und Nutzung im Internet dürfen nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags erfolgen. Jede unerlaubte Verwertung ist unzulässig und strafbar.
Umschlaggestaltung: Thomas Kuhn
Illustrationen und Karte: Hannah Möllmann
Lektorat: Martin Wagner
Titel-Schiftart Trajanus Roman by Roger White
Satz: Michael Mingers
Druck: cpibooks Germany
Printausgabe-ISBN: 978-3-9815774-7-1
Ebook-ISBN: 978-3-945025-19-2
www.ammianus.eu
www.facebook.com/AmmianusVerlag
Widmung
Equidem ad pacem hortari non desino; quae vel iniusta utilior est quam iustissimum bellum.
Ich mahne unablässig zum Frieden; dieser, auch ein ungerechter, ist besser als der gerechteste Krieg.
Cicero, Ad Atticum
Wir widmen diesen Roman unseren Vätern:
Alfred und Richard.
Dankesworte
Allen voran gebührt der Dank diesmal Hermann Klinkhammer, den wir beim letzten Mal so schmählich vergaßen.
Das gleiche Schicksal traf auch Tanja Baumgart und Miriam Blümel, deren Magisterarbeiten wir, zusammen mit zahlreichen weiteren Texten, zu Rate zogen.
Fürs Fachlektorat und den Glauben an einen Eburonen-Zweiteiler danken wir Michael Kuhn.
Beim zweiten Band hat uns Dr. Martin Schönfelder archäologisch beraten.
Testgelesen haben Marc und Hannah und Michael Peter Greven – tausend Dank!
Hannah Möllmann schwang erneut als Zeichenfee den Bleistift, Martin Wagner lektorierte.
Dank auf fachlichem Gebiet gebührt außerdem Petra Tutlies von der LVR-Außenstelle in Nideggen-Wollersheim, Prof. Dr. Joachim und Dr. Sabine Hornung.
Dr. Hermann Krüssel stand uns erneut bei den Übersetzungen ins Lateinische zur Seite.
»Schwertbrüder«
eine Zusammenfassung
»Verbranntes Land« ist der abschließende Band eines Zweiteilers. Der erste Band, »Schwertbrüder«, beginnt mit einem Streit um Geiseln: Acco und Arist, Ziehsohn und leiblicher Sohn von Ambiorix, dem König der Eburonen, werden von den Legaten Cotta und Sabinus aus einem Dorf der Aduatucer befreit. Ambiorix versichert den beiden Legaten der vierzehnten Legion daraufhin seine Treue und bietet ihnen eine seiner Fliehburgen als Rückzugsort für den Winter an.
Kaum dort angekommen, wird die Legion umstellt und belagert – Ambiorix verkündet, er sei von seinem Volk unter Druck gesetzt worden, diesen Angriff auf die Römer zu wagen. Sein Volk wolle jedoch nur die Vorräte zurück, um nicht zu hungern, und würde der Legion den Abmarsch gewähren. Legat Sabinus setzt sich gegen Legat Cotta durch, die Legion verlässt die Fliehburg und marschiert durch unwegsames Gelände entlang des Flusses Inda ab. An diesem Fluss attackiert Ambiorix die Armee und trägt einen blutigen Sieg davon. Der Speercenturio Valerius kann als einer der wenigen Überlebenden fliehen und schlägt sich auf das Gebiet der Treverer an der Mosella durch, wo der König Indutiomaro sich ebenfalls mit seinen Getreuen erhoben hat und ein weiteres römisches Winterlager belagert. Wo Ambiorix hingegen von seinem Zweitkönig Catuvolc unterstützt wird, gibt es bei den Treverern einen Konflikt zwischen dem romfreundlichen Cingetorix und dem aufständischen Indutiomaro. Ambiorix und Indutiomaro versuchen, die Stämme zu einen und weitere Legionen zu besiegen, scheitern jedoch an untreuen Verbündeten, Verrat und Niederlagen. Indutiomaro fällt bei einem Kampf, den auch Ambiorix‘ Ziehsohn Acco nur mit Mühe überlebt, und Ambiorix selbst wird im zentralen Gallien in einem Hinterhalt verwundet und kann nur mit der Hilfe seiner Tochter Segova entkommen. Arist, Ambiorix Sohn, schmiedet derweil ein Bündnis mit einem ubischen Stamm, doch auch diese scheinen das Blatt nur kurz zu wenden.
Cingetorix vernichtet Indutiomaros Familie und ermöglicht es dem römischen Centurio Valerius, das Insignium der verlorenen vierzehnten Legion zurückzuerobern, woraufhin diese Legion erneut ausgehoben wird.
Caesar, der ebenfalls Bündnisse mit den Galliern schließt, fällt wegen Unruhen auf der rechten Rheinseite in Germanien ein, wo der römische Reiterpraefect Lucius Basilus den Stamm der Sugambrer, bei denen Cingetorix‘ Schwester Indutia lebt, als Verbündeten gewinnt.
Die Eburonen wähnen sich im Sommer 53 v. Chr. in einer trügerischen Sicherheit.
Prolog
Meist entscheiden Zufälle über große Ereignisse.
Als der Alarmschrei durch den warmen Frühsommertag fuhr, war selbst der, der ihn ausstieß, von dem Gefühl betäubt gewesen, dass der Sommer die Zeit angehalten hatte. Sein Schrei kam zu spät.
Die Zeit hatte nicht angehalten, damit Ambiorix‘ Wunde heilen konnte.
Die Zeit hatte nicht angehalten, damit Accos und Segovas Hochzeit tagelang gefeiert werden konnte.
Die Nachricht, dass römische Reiter auf Eburonenland waren, war nur einfach langsamer gereist als diese Reiter.
Wenige Augenblicke zuvor saß Ambiorix in der Sonne und bewegte langsam seine Schultern. Es war nicht genug gewesen, dass ihn fliehend ein Pfeil in den Rücken getroffen hatte, nein, Schmutz und Stofffasern hatten das ihre dazugetan, und wochenlang war er wie ein Sterbender ans Bett gefesselt gewesen, bis die Entzündung zurückging.
Die Siedlung auf dem Hochkopf oberhalb der Rura hatte sich in den Hochzeitstagen mit Menschen gefüllt. Ambiorix wusste, dass der Ort, an den er sich zurückgezogen hatte, damit seine Wunden heilten, nicht länger ein Geheimnis war.
Er gesundete – sein Aufenthaltsort musste also nicht länger geheimgehalten werden. Sein Volk sollte wissen, dass sein König bei ihm war.
Die Zeit stand still, und kein Römer war auf Eburonenland.
Ambiorix wusste, dass es keinen Grund gab zum Hoffnung schöpfen – das ganze Frühjahr über hatten die römischen Krieger jedes Scharmützel gewonnen, jeden gallischen Stamm zur Ergebenheit gemahnt. In allen Himmelsrichtungen waren sie von ihrem Befehlshaber positioniert worden, doch nun befand sich ihre Hauptstreitmacht jenseits des Rhenus.
Es war eine Frage der Zeit – sie würden zurückkehren, doch wann?
Im Winter, beantwortete sich Ambiorix die Frage selbst. Geschwächt und wieder so hilfsbedürftig wie im letzten Jahr. Auf der Suche nach Vorräten. Auf der Suche nach sicheren Befestigungen.
Unerbittlich verrannen die Augenblicke – im Winter würde er bereit sein. Diesmal würde er keine Freigiebigkeit mehr vortäuschen müssen, diesmal würde es keine List mehr geben. Diesmal würde er seine Krieger in die Schlacht führen und die Römer im Rhenus ersäufen.
Durch die Lider sah er das Sonnenlicht rot.
Er dachte an seine Frau. Er bat Rigani, die Himmelskönigin, und Artio, die Bärin, zu der seine Frau gebetet hatte, darum, dass Segova nicht wie ihre Mutter an einem Kind sterben würde.
Die Götter schubsen uns zwischen Leben und Tod hin und her und erfreuen sich daran, wie wir zappeln.
So viele Momente, in denen der Tod ihm nah gewesen war – und nie hatte er hinabsteigen müssen in den dunklen Schacht, der ihn zu Cernunnos‘ gehörnter Schlange führen würde.
Sein zweiter Sohn war, wie so viele Kinder, als kleiner Junge an einem Fieber gestorben. Ambiorix hatte die zweite Tochter und seine Frau kurze Zeit vorher verloren.
Er erinnerte sich an die kleine Hand, die in der seinen erschlaffte.
Er riss die Augen auf und starrte in den Himmel. Tränen bissen ihn.
All die guten Erinnerungen an seine Frau mündeten in diese Gedanken. Gedanken an sterbende Kinder. An den letzten wachen Blick einer sterbenden Frau, der alles, was davor gewesen war, überschattete.
Er schluckte. Arist und Acco, sein Sohn und sein Ziehsohn, saßen zwischen ein paar Hühnern im Gras und tranken Bier. Brocco würfelte daneben mit Camula, deren Hand sich unauffällig in Arists Hand gestohlen hatte. Beide dachten vermutlich, dass niemand es sehen würde.
Die einstige Sklavin mit der unverhohlenen Todessehnsucht tat ihr Bestes, vorzugeben, sie sei nur ein besonders treu ergebener Ambacto des Königssohns. Ambiorix lächelte. Seine Mutter war einst ein Schwertweib gewesen. Seine Frau war einst eine Sklavin gewesen. Camula ähnelte keiner von beiden so recht, und doch erinnerte sie ihn an beide ein wenig.
Es war nun ungefähr der vierte Tag der Hochzeitsfeierlichkeiten, doch Ambiorix konnte sich nicht ganz sicher sein. Die Tage waren sonnig. Die Nächte waren kühl. Es war, als stünde die Zeit still.
Talio, der Barde, war vor zwei Tagen zum Verräter geworden.
Er hatte nie Glück mit Frauen gehabt. Entweder erwiderten sie seine Liebe nicht oder er nicht die ihre. Oder sie beruhte auf Gegenseitigkeit, verflüchtigte sich jedoch so schnell wie ein Vogel, den das Geräusch vertreibt, mit dem ein Fuß einen Zweig zerbricht.
Aiske war ein Geschenk gewesen, eine Sklavin, mit der man ihn entgolten hatte für seinen Weg von der britannischen Insel und für seine Stimme bei der Versammlung der Stämme auf dem Dollberg. Sie sprach seine Sprache nicht, und er war sich nicht sicher, wie begierig sie darauf war, sie zu lernen.
Sie lauschte seiner Stimme, wenn er eine neue Melodie erprobte, und seinen Worten, wenn er seinen Erinnerungen poetische Form gab. Sie sprach nicht.
Er hatte sich in den vergangenen Monaten eingestanden, dass er sie dafür liebte, dass sie nur lauschte. Vielleicht war es das gewesen – das stete Streben nach Gehörtwerden, das jede vorangegangene Liebesbeziehung ruiniert hatte. Aiske liebte es zu lauschen, und er liebte es, belauscht zu werden.
Zu sorglos, zu ziellos war Talio durchs Land der Eburonen gereist.
Hätte er sich gleich auf den Rückweg nach Britannien gemacht, wäre er nicht auf Lucius Minucius Basilus getroffen. Er wäre nicht zum Verräter geworden. Aber irgendwer anderes sicherlich, es war nur eine Frage der Zeit.
Basilus starrte seinem Gegenüber in die Augen. Der Britannier war blond, wenn auch alt genug für graue Haare. Hochgewachsen, auf eine alternde Weise gut aussehend. Und er zitterte.
»Ich bitte dich, ich weiß nichts. Ich bin nicht von hier, ich bin weit gereist. Ich weiß nichts!«, brachte der Mann auf brüchigem Latein hervor und verschonte Basilus nicht mit zahlreichen Varianten dieser Aussage.
Basilus schüttelte den Kopf. Er war nicht dumm, und er wusste, wen er vor sich hatte. Dieser Mann gehörte einer einflussreichen Fraktion von Mächtigen unter den Galliern an. Die Gallier ehrten die, die ihre Geschichten hüteten, waren sie doch zu abergläubisch, um sie schriftlich festzuhalten.
Dieser hier war einer dieser Hüter der Geschichten. Auf seinem Packpferd verstaut waren Flöten, ein Instrument, das einer Lyra ähnlich war, und verschiedene Gewänder, die wesentlich kostbarer waren als die verschlissene Tunika, die der Mann auf der Reise trug.
Basilus nickte dem neuen ersten Speercenturio Valerius zu, der ihn unbehaglich ansah.
»Bei Mars, Valerius«, zischte Basilus dem Mann zu, dem er weder vorgesetzt noch unterstellt war. Ein diffuses Machtverhältnis, stand doch die Reiterei immer außerhalb der regulären Legionäre. Eigentlich hatte Valerius mit diesen Reitern nichts zu schaffen, Caesar jedoch wollte ihn zu einem Teil der Vergeltung für den Verrat an der Vierzehnten machen.
»Halt sie einfach fest«, wies ihn Basilus an.
Valerius hielt die Hände der jungen Frau an den Handgelenken, und Basilus zog den Pugio vom Gürtel. Er überlegte, was den Barden am schnellsten weichkochen würde – sollte er ihr die Kleider zerschneiden? Ihr eine Wunde im Gesicht zufügen? Ihr die Dolchspitze an Kehle oder Auge legen?
»Kennst du den Hochkopf?«, flüsterte es da bereits hinter ihm. Der Barde stand mit hängendem Kopf neben seinem Packpferd. Das Gepäck wurde gerade von einigen Legionären durchsucht oder vielmehr verwüstet.
»Nein«, sagte Basilus.
»An der Rura. Du kannst es nicht verfehlen, wenn du der Rura folgst. Großer, roter Felsen, der hervorragt wie ein Kopf. Einer der ersten Hänge, wo es hochgeht in die arduinnischen Wälder. Da oben.«
»Ich nehme sie mit. Ich töte sie, wenn du lügst.«
»Ich weiß nicht, ob er noch dort ist!«, beeilte sich der Barde. »Ich weiß, dass er verletzt war, dass sie ihn da hin gebracht haben. Seine Söhne sind auch dort hin, ich habe sie getroffen. Bitte, ich lüge nicht! Es heißt, sie feiern dort oben. Trinken – eine Heirat!«
Basilus sah ihn nachdenklich an, zögerte lange, den Dolch mit der kurzen breiten Schneide immer noch in die Richtung der Sklavin gezückt.
»Wir nehmen sie mit. Ich lasse sie frei, sobald ich Ambiorix habe.«
»Du lässt sie jetzt frei«, flehte der Barde. »Und dafür verrate ich dir etwas über den Hochkopf.«
Basilus lächelte schmal.
»Interessant, dass du das bestimmen kannst – ob ich sie freilasse oder nicht.«
Der Kiefer des Barden trat hervor, als er die Zähne zusammenpresste.
»Ich bitte dich darum«, flüsterte er, und seine Stimme zitterte wie seine Hände.
»Dann verrate mir etwas, und ich entscheide, ob ich deiner Bitte nachkomme.« Mit einem Klacken stieß er den Pugio zurück in die verzierte Metallscheide. Eine Handbewegung gebot den Legionären Einhalt. Valerius lockerte den Griff um die Arme der Frau mit sichtlicher Erleichterung im Gesicht. Der Mann war für seinen Rang eindeutig zu weichherzig.
Basilus breitete die leeren Hände aus.
»Rede, mein Freund. Verrate mir das Geheimnis des Hochkopfs.«
Talio verriet es ihm. Basilus ließ Aiske frei und ritt schnell und ohne in der Nacht Feuer zu entzünden.
Währenddessen stand anderswo die Zeit scheinbar still.
Kleinigkeiten entscheiden über große Ereignisse, und so war es lediglich eine kleinliche Frage von Disziplin angesichts frisch gebrauten Biers.
»Ich wünschte, ich wäre an deinem Posten eingeteilt«, sagte einer zum anderen. Der eine sollte das Flusstal überwachen, der andere die Ebene.
Das Wachestehen auf den Felsen über dem Fluss war eine einsame Angelegenheit, besonders natürlich, wenn woanders gefeiert und getrunken wurde und man selbst nur von der Sommersonne einen dicken Kopf bekam.
»Dann lass uns tauschen«, sagte der andere. Und das taten sie.
Der Wachtposten, der die Ebene bewachte, ließ sich von seinem Mädchen Bier zum Wall hochbringen. Es war gutes, starkes Bier, und es war mit Bilsenkraut versetzt, was den Eindruck verstärkte, dass an einem Sommerabend wie diesem nichts geschehen konnte. Dass Sommerabende lau und friedlich waren, schon seit Anbeginn der Zeit.
Als er den Alarmruf ausstieß, waren sie schon viel zu nah am Tor. Im selben Augenblick durchschlug ein Pfeil seine rechte Schläfe, und das Bier, das er auf dem Boden hinter dem Wall verschüttete, war das letzte, das er in seinem Leben genossen hatte.
Valerius konnte nicht glauben, dass Basilus‘ List sich in diesem Umfang auszahlte.
Sicherlich, sie waren schnell geritten. Sie hatten keine Feuer entzündet, sich verborgen gehalten. Caesar erweckte den Anschein, am Rhenus beschäftigt zu sein.
Aber Ambiorix war bislang niemals dumm gewesen – und somit hatte Valerius einen Hinterhalt gefürchtet, der nie gelegt worden war.
Talio hatte ihnen geschildert, von welcher Seite sie sich nähern, welchen Bogen sie schlagen und im Schatten welcher Wälder sie sich halten mussten, um so spät wie möglich entdeckt zu werden. Dennoch gab es eine Ebene zwischen der Siedlung und dem Wald, und diese musste überwunden werden.
Bis in die Dämmerung hinein hatten sie sich im Wald versteckt gehalten, die Pferde beruhigt, um erst aufzusitzen, als sich die Nacht mit dünnen Schattenfingern aus ihrem Unterschlupf hervortastete.
Die Bogenschützen hatten bereits angelegt, und die Bewegungen der Tiere unter ihnen vermochten die erfahrenen Schützen nicht abzulenken. Pfeile fanden ihr Ziel, als die Gallier bemerkten, womit sie es zu tun hatten.
Valerius wusste, dass mit dem gallischen Bier und den Kräutern darin nicht zu spaßen war. Er hatte jedoch stets gedacht, dass es ein Problem war, mit dem nur er zu kämpfen hatte. Dass man sich mit der Zeit daran gewöhnte.
Offensichtlich war das nicht der Fall.
paulo post
Kurze Zeit später
Segova zog sich hinter ihrem Vater aufs Pferd.
Überall war Geschrei. Überall war Panik.
Um eines der Häuser wurde heftig gekämpft, anscheinend vermuteten die Angreifer Ambiorix dort, und die Krieger gaben alles, um sie in dem Glauben zu lassen. Die Speere dort gaben ihr Leben, damit Acco dem König an anderer Stelle unbemerkt aufs Pferd helfen konnte.
Sie sah alles wie durch einen dünnen Regenvorhang, obwohl es doch ein sonniger Tag gewesen war, der gerade dem Ende zuging.
Viele Speere hatten auf der Fliehburg gesoffen, und sie waren mit heruntergelassenen Bracae erwischt worden. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich von den angreifenden Reitern zwischen den zertrampelten Blumen und umgestürzten Tischen der Festgesellschaft abschlachten zu lassen.
Sie sah das Blut an der Flanke des Pferdes.
Ein Pfeil aus dem Nirgendwo hatte es gestreift.
Acco zerrte an ihrem Arm, sie wusste jedoch nicht, wohin sie sich wenden sollten, um diesen Kampf noch zu gewinnen. Sie schnaubte wütend, ihre Gedanken waren langsam. Das Pferd war ungesattelt und trug gleich zwei Reiter.
Sie dachte daran, dass es ganz ähnlich gewesen war, als die Parisier sie verraten hatten. Als Ambiorix verwundet wurde. Als Esos starb.
Esos. Duinne, ihre Tante, die noch trauerte, auf der Fliehburg an der Arnefa. Esos war der Vater ihrer Zwillinge. Die Gesichter der beiden Kinder und der Eltern schossen durch Segovas Geist … Nein, fort damit! Hier stand gerade Ambiorix‘ Leben auf dem Spiel – Accos Leben – ihr eigenes!
Die Römer zogen einen Ring um das Innere des Walls, um ihr Opfer nicht entkommen zu lassen. Sie waren aus einem einzigen Grund hier. Ambiorix. Aber noch war der Ring nicht geschlossen, die Reiter unkoordiniert.
Segova trat dem Pferd mit den Hacken in die Seite. Es würde einen Ausweg geben. Es würde Leben kosten, vielleicht auch das ihre, doch es würde einen Ausweg geben.
Für ihren Vater gab es immer einen Ausweg.
Ein Anflug von Selbstmitleid stahl sich in ihre Brust – wie eine ungelegen kommende Wespe, die sie stach. Warum war es ausgerechnet ihre Hochzeit, die in einem Blutband endete? Warum gönnten ihr die Götter nicht einmal ein paar Tage als verheiratete Frau?
Stell dich nicht an wie ein einfältiges Bauernmädchen!, schalt sie sich selbst. Es geht hier um mehr als dich! Ambiorix muss überleben, wenn das Volk der Eburonen nicht untergehen soll!
Dieser Gedanke fühlte sich gut an – er fühlte sich so an, als könne sie etwas bewirken. Sie. Ambiorix‘ Tochter.
Acco zerrte an der Mähne des Tiers und auf zwei panischen Pferden suchten sie eine Lücke durch den wimmelnden Ring aus Kettenhemden, rot bemalten Schilden und Spießen – und fanden sie. Hinüber zum Bach, der die schwächste Stelle der Befestigung war.
Arist war in jedem Kampf verwundet worden.
Camula wusste das. Sie wusste, dass die Götter für diesen Umstand sorgten, dass sie insgeheim darüber lachten.
Eben diese Götter würden ihn aus eben diesem Grund nicht sterben lassen. Sie würden ihm Narbe um Narbe zufügen, und das Muster würde sie erheitern, auch wenn Camula nichts Witziges daran finden konnte.
Daher stand sie über ihm und verteidigte sein Leben mit dem ihren.
Der vorderste der Reiter, die wie kreischende Rachegeister durch das Tor geprescht waren, hatte ihm die Lanze in die Brust getrieben. Arist hielt sich noch einen Augenblick auf den Beinen – sie sah das Bild seines taumelnden Körpers noch vor sich, als wäre es eine grelle Sonne, in die sie zu lange geblickt hatte. Dann war er zusammengebrochen. Unbewaffnet.
Sie wusste es, weil sie immer noch über ihm stand, unbewaffnet. Es war sehr viel Blut, das da aus seiner Brust rann, und seine Hand hatte sich um ihren Fußknöchel geschlossen. Er hielt sich daran fest, während die Erde selbst ihn in sich einzusaugen schien.
Auf die andere Seite des Daseins.
Nein. Die Götter lachten nur. Sie würden ihn nicht sterben lassen.
Er spürte seine Finger nicht mehr.
Er sagte ihren Namen, oder zumindest dachte er, dass er ihn sagte. Sie reagierte nicht, sie stand da. Dann kam ein Reiter und hielt sein Pferd vor ihnen an. Das Pferd war nervös. Das Blut machte es nervös.
Es scheute.
Der Reiter saß ab und rief etwas.
Arists Blickfeld wurde kleiner.
Er spürte seine Arme nicht mehr. Das Blut schien ihm so kalt auf seiner Brust.
Camula sprang den Reiter mit bloßen Händen an, schlug ihm die Faust ins Gesicht, packte seinen Hals über dem darum geschlungenen Tuch, um ihn zu würgen. Der Soldat wurde von ihrer Wucht gegen sein Pferd geworfen.
Ein zweites Pferd, kaum sichtbar am Rand des Blickfelds. Ein Hieb mit dem Knauf. Noch einer.
Beide Hiebe trafen Camula am Kopf. Auch dort Blut.
Er wollte aufstehen, wollte sich wehren.
Jemand trat vor ihn.
»Der hier ist tot«, sagte der Römer, und Arist wusste, dass es keine Lüge war.
»Arist«, brachte Ambiorix hervor. Er saß auf dem Rücken eines stämmigen kleinen Pferdes, was seiner verheilenden Wunde nicht gut tat. Er versuchte, sich umzuwenden.
Segova hinderte ihn daran.
»Lass ihn, er findet einen Weg.«
»Nein. Er findet keinen«, sagte er, obwohl er nicht sagen konnte, woher er das Wissen nahm. So oft, so standhaft musste er Ambio Rix sein, König der Eburonen. Heute wäre er gerne ein Vater gewesen, der seine Kinder überleben sah. Ein Irgendwer. Ein Niemand.
Wo waren diese Römer hergekommen? Wie konnte es sein, dass sie hier waren, aufgetaucht wie ein Albtraum aus den Tiefen eines harmlosen Schlafs?
»Wir müssen …«
»Jeder muss es alleine schaffen«, sagte sie.
»Nicht zum Bach«, wehrte er sich ein letztes Mal. »Wir müssen den Steilpfad nehmen. Ihre Pferde sind auf geraden Strecken besser, sonst wird es wie …«
Auch er dachte daran. An die Nacht, in der zwei seiner Gefolgsmänner getötet worden waren. Esos.
»Das schaffen wir nicht!«, widersprach sie, doch er riss das Pferd herum – es gehorchte ungern, und noch weniger ohne Zügel.
»Sie haben schnellere Pferde«, beharrte er.
Sie hatten nur zwei kleine Lastpferde erreichen können, als der Angriff über sie hereinbrach. Die Kriegsgäule der Eburonen befanden sich außerhalb des Walls, um Platz für die Hochzeitsfeierlichkeiten zu schaffen.
Die Römer waren dennoch nicht gerade für ihre Reitkunst bekannt, so unschlagbar ihre Fußtruppen auch waren. Die Treverer hatten oft damit geprahlt, dass ihre berittenen Krieger die römische Reiterei wieder und wieder das Fürchten gelehrt hatten. Doch die Römer wussten, wie man Schwächen ausgleicht. Die Angreifer am Hochkopf bestanden zu einem großen Teil aus Kriegern keltischer Stämme und Iberern, die ihre Klingen in den Dienst Roms gestellt hatten. Ihre Pferde waren also mit Sicherheit schneller als die der Fliehenden.
Hätte Ambiorix den Weg über den Bach genommen, der nur von Palisaden, doch nicht von einem Wall befestigt wurde, wären sie vielleicht niedergemacht worden. Oder sie hätten überlebt, wären zu dritt auf zwei Pferden entkommen.
Vermutlich wären sie so oder so zusammen geblieben, ob im Leben oder im Tod – gleichgültig, ob ihre Köpfe auf den Lanzen ihrer Feinde endeten. Und das wäre immerhin schon einmal etwas wert gewesen.
Valerius sah auf den jungen Mann herab. Das Leben verließ den Gallier so rasch, dass der Centurio zusehen konnte. Der Junge quälte sich. Überall waren Schreie. Häuser waren in Brand gesetzt worden. Männer starben, und ja, vermutlich starben auch Frauen, auch wenn es in Basilus‘ Absicht gelegen hatte, sie gefangenzunehmen.
Ein paar von ihnen, Männer wie Frauen, waren geistesgegenwärtig genug gewesen, Waffen oder Werkzeuge zu ergreifen. Pferde waren aufgespießt worden, mindestens ein Dutzend römische Reiter herabgezogen. Fliehende strebten den Wäldern zu, einige Reiter setzten ihnen nach.
Langsam kehrte Ruhe ein. Die Frau, die Valerius angegriffen hatte, lag blutend neben dem Sterbenden.
Es dauerte ihn.
Er konnte es nicht verhindern, dass er sich fragte, ob diese beiden einander geliebt hatten. Nun war er tot, und jemand wie Basilus würde sie mitnehmen.
Jemand wie Basilus – nein, der Praefect war es selbst – glitt neben ihm aus dem Sattel.
»Du bist zielsicher, Valerius«, grinste er, Ruß im Gesicht. »Das ist Ambiorix‘ Sohn. Ich habe ihn bei den Nerviern gesehen. Und das da ist die Frau des nervischen Sklavenhändlers, den Caesar zum König gemacht hat. Er wird sich freuen, wenn wir sie ihm zurückbringen.«
Valerius nickte. »Ambiorix‘ Sohn stirbt.«
Basilus seufzte. »Dann bringe ich immerhin seinen Kopf zu Caesar. Ambiorix selbst hat seine göttliche Gabe, mir zu entkommen, offenbar wieder einmal eingesetzt.«
»Praefect!«, drang in diesem Moment eine Stimme zu ihnen hindurch. »Hier fliehen Pferde zum Steilhang.«
Basilus‘ Miene hellte sich auf. Offenbar gaben die Götter ihm eine zweite Chance. »Das ist er. Mach dem Jungen ein Ende, Primus Pilus!«
Valerius gehorchte dem Mann, der nicht sein Vorgesetzter war, und stieß das Schwert in die Brust des jungen Galliers. Er schloss kurz für Dis Pater die Augen, um nicht Zeuge zu werden, wie die Seele aus dem Körper drang. Der Junge gab einen letzten Laut von sich, ähnlich unartikuliert-erstaunt, wie wohl auch sein erster Laut auf dieser Welt gewesen sein musste.
Die Frau, die ihn hatte beschützen wollen, rührte sich nicht.
Segova hörte die Verfolger hinter sich.
Der Pfad am Steilhang war riskant. Es war ein Fußweg, doch zu Fuß würde man sie unten am Ufer der Rura einholen – nein, sie mussten die Pferde heil hinunter bringen.
Links von ihr ragte der Hang auf, rechts von ihr fiel er steil ab, dort erhob sich der rote Felsen des Hochkopfs wie das Überbleibsel eines verrottenden Riesen.
Acco ritt voraus. Sie hatte nicht gesehen, dass Brocco und Teltiu sich über ihnen im Hang befanden – zu Fuß. Die beiden Leibwächter des Königs schlitterten herab, der ältere Brocco hielt immerhin einen Schild und ein Schwert – ein römisches, wie Segova bemerkte.
»Sie folgen euch!«, zischte Teltiu und dämpfte seine Stimme so, dass sie nicht weit trug durch das Rascheln von Blättern und Zweigen.
»Schneller!«, befahl Ambiorix.
»Die Pferde dürfen nicht abrutschen!«, sagte sie, und als Teltiu und Brocco bei ihnen angekommen waren, glitt sie von der Kruppe des Pferdes.
»Segova, was tust du da?«, fragte ihr Vater und wandte sich ungelenk nach ihr um.
»Ich bin hinter dir. Zwei sind zu viel für das Tier.«
Der Pfad machte eine enge Kehre, wand sich in Serpentinen in die Tiefe. Doch was Brocco und Teltiu konnten, lag auch den römischen Soldaten nicht fern, und so waren bald Männer mit Bögen über ihnen und Männer mit Pferden hinter ihnen.
»Wir müssen sie dazu bringen, dass sie stürzen!«, sagte Brocco barsch und kampferprobt, und Teltiu hob seine Schleuder und legte ein Steingeschoss hinein. Segova löste den geflochtenen Gürtel, mit dem ihr Kleid gebunden war. Das Band war vorn breiter als hinten, wo es zusammengeknotet wurde. Sie hielt eine Hand auf, während sie den schmalen Pfad entlang hastete.
Teltiu begriff und legte ein Geschoss hinein.
Von oben sirrten Pfeile, doch durch das sommerlich bewachsene Unterholz verfehlten sie ihr Ziel und schlugen klappernd gegen Felsen.
Die Reiter hatten größere Pferde. Mit längeren Beinen. Sie würden eher fehltreten, waren nicht so stur und ruhig wie die Pferde, die Acco und ihren Vater trugen.
»Segova!«, schrie Acco.
Er war ganz vorn, und es gab keine Möglichkeit für ihn, zu seiner Frau zu kommen.
»Es ist alles in Ordnung!«, rief sie zurück, als sie mit Teltiu die Schleudern singen ließ.
Es würde nicht mehr alles in Ordnung sein, wenn die Reiter sich nach der Kehre schräg über ihnen befanden – nah, viel zu nah.
Vorher mussten die Pferde fehltreten – vorher mussten sie ihren Vorsprung vergrößern!
Sie ließen beide die Enden der Schleuder los.
Beide trafen sie das Pferd, das schrill aufwieherte – und fehltrat.
Ein Schrei aus zwei Kehlen, einer menschlichen und einer tierischen. Das Rascheln von Hufen, das Stolpern von Schritten.
Sie hasteten weiter, während der Reiter hinter ihnen um die Kontrolle über sein Pferd kämpfte. Um das Verbleiben auf dem Pfad. Um sein Leben.
Er verlor den Kampf.
Segova verharrte kurz, zu fasziniert von dem Sturz von Ross und Reiter. Beide kreischten, beide prallten mit einem harten Geräusch ins Unterholz, und dann, als es so aussah, als würde das Tier sich mit einer strampelnden Bewegung fangen, die seinem Reiter mutmaßlich das Rückgrat brach, riss die Tiefe es an sich, und es krachte mit einem schrillen Wiehern den Abgrund herab. Neben dem hervorstehenden Felsen ging es erbarmungslos in die Tiefe, und dort unten rauschte die Rura. Doch das Pferd fiel nicht in den Fluss – es schlug auf dem felsigen Uferboden auf.
Teltiu schloss seine Hand um ihren Arm. »Weiter!«, keuchte der junge Mann.
Die beiden Pferde hatten die Kehre hinter sich gebracht.
»Komm herunter!«, schrie Acco ihr aus der Kehrschleife unter ihr zu. »Komm auf mein Pferd!«
Über ihnen krachte es im Geäst, die Bogenschützen näherten sich. Die Reiter kamen heran. Sie wagte den Sprung die Steilwand hinunter nicht – was würde geschehen, wenn sie Acco und sein Ross verfehlte und ebenfalls einen tiefen Fall antrat?
Sie rannte den schmalen Pfad entlang, Teltiu vor ihr.
»Segova!«, brüllte jemand, es war nicht Acco.
Warum brüllte jemand? Hinter ihr waren Hufgeräusche. Sie rannte. Der Atem brannte in ihrer Kehle. Die Angst vor dem Abgrund biss in ihrem Bauch.
Acco war längst nicht mehr unter ihr – sie schlitterte um die Kehre, und dann begriff sie endlich, was geschah. Eines der Pferde hinter ihr tat einen Satz auf sie zu, auch dieses Tier verlor den Halt und rutschte von der höher gelegenen Kehrschleife auf die niedrigere – es knickte im Vorderbein ein, dann prallte die Stute mit der Flanke gegen sie, stieß sie in Brombeerranken.
Ein Huf traf sie in den Rücken, sie war nicht schnell genug. Der Reiter auf dem verletzten Ross hingegen reagierte geistesgegenwärtig. Er packte sie am Haar und riss sie an sich, gegen die Flanke des panischen Pferdes, hinein in das Hufgetrappel und den Geruch nach Tierschweiß.
Der Pferdeleib schnitt sie von den anderen Fliehenden ab – doch das sich humpelnd aufrichtende Pferd versperrte auch den Verfolgern den Weg.
»Ambio Rex – ich habe deine Tochter!«, schrie der Reiter auf Latein. Sie verstand ihn, und sie wusste, dass auch ihr Vater ihn verstehen würde.
»Reitet weiter!«, brüllte sie, während der Reiter sie schmerzhaft am Haar zog. Ihr Kleid war zu lang, verfing sich in den Ranken.
Trotzdem war da keine Angst, die sie erfüllte. Es war ein merkwürdig zorniger Trotz. Der Römer über ihr hatte sie – sie von allen Gefolgsleuten ihres Vaters – gepackt. Sie spuckte ihn an, schlug nach ihm, doch er zog sein Schwert nicht.
Pfeile verfolgten die Fliehenden. Reiter stiegen ab und versuchten es zu Fuß.
»Segova!«, schrie Acco von weiter unten nach seiner Braut.
»Reite weiter!«, antwortete sie gellend und schloss dann leiser: »Reite bloß weiter.«
Er konnte gar nicht umkehren. Er war vorn und gefangen auf dem engen Pfad. Er konnte nicht.
Acco sprang aus dem Sattel.
Ambiorix packte ihn an der Schulter.
»Tu nichts Dummes.«
»Und wie ich etwas Dummes tun werde!«, keuchte sein Neffe.
»Sie kommt zurecht. Sie werden sie nicht töten. Arist ist auch da oben, es wird ihnen etwas einfallen.«
»Leck mich«, widersprach Acco und wollte schräg in die Dornbüsche und den Steilhang steigen.
»Acco – du musst mit mir gehen.«
»Vielleicht sollte keiner von uns gehen!«, brüllte Acco. »Vielleicht ist heute der Tag gekommen, an dem wir sterben sollten wie Männer statt zu laufen wie Hasen!«
Ambiorix lächelte schmal. »Nicht für mich, Acco. Ich bin heute der Hase und morgen der Mann. Und der morgige Tag ist wichtiger als der heutige, sonst fällt alles zusammen!«
»Es ist … schon alles zusammengefallen! Indutiomaro ist tot! Die Nervier unterworfen! Die Römer sind hier! Es ist alles zusammengefallen, und sie werden nicht … meine Frau gefangennehmen!«
Ambiorix ließ die Schulter des anderen los.
»Wenn du hinaufkletterst, wird sie dich dafür hassen. Sie werden dich mit Pfeilen spicken, und sie wird dich hassen.«
Acco sah hinauf. Das Gesträuch schluckte seinen Blick – er konnte nicht ermessen, ob Pfeilspitzen auf ihn gerichtet, ob Bögen gespannt waren.
Doch er kannte Segova gut genug. Er wusste, dass Ambiorix Recht hatte.
Zerknirscht zog er sich auf das kleine Pferd, das unruhig herumgetrappelt war.
»Ich werde sie befreien.«
»Aber nur, wenn du morgen noch lebst, Acco.«
Unter ihnen rauschte die Rura.
Camula erwachte neben Arist.
Sie begriff sofort, dass er tot war. Es gab nichts, was daran nicht zu begreifen gewesen wäre. Seine Haut, sein Gesicht, seine Augen. Nichts davon war mehr Arist, alles war wie die Nachbildung eines Menschen, geknetet aus klebriger bleicher Erde.
Sie betrachtete ihn.
Sie berührte seine Hand.
Dann erwiderte sie den Blick, der von oben auf sie gerichtet war. Es war der Blick eines römischen Soldaten mittleren Alters, sein Helm wies ihn als Centurio aus.
Sie erwiderte seinen Blick trotzig. Er würde sie nicht trauern sehen. Er würde ihre Tränen nicht sehen, er würde nicht sehen, dass ihr bewusst war, wen sie da gerade verloren hatte.
Sie presste die Lippen zusammen. In ihr breitete sich etwas aus wie ein schwarzer See.
»Ich weiß, wie du dich fühlen musst«, sagte der Centurio auf Latein. »Es tut mir leid.«
Er hatte eine leise Stimme. Sie zog die Nase hoch.
»Ich verfluche, wen auch immer du verloren hast. Möge sie in ewiger Dunkelheit schmoren, möge Eso sie nie aus der Unterwelt lassen, möge Teutates sie nie zu neuem Leben erwecken!«
»Sie war ein er«, sagte er, unbeeindruckt von ihrem mit zusammengebissenen Zähnen hervorgebrachten Fluch. »Und er war ein Gallier wie du.«
Sie schwieg. Es interessierte sie nicht, wen er geliebt zu haben glaubte. Sie fühlte schwarzes Wasser in ihrem Inneren. »Jeder ist für mich jetzt tot«, zischte sie. »Du bist ein Toter.«
Er zuckte mit den Schultern. Sie legte den Kopf an Arists Schulter und hörte zu, wie die Siedlung am Hochkopf unterging.
Als sich die Reiter sammelten – mindestens dreihundert Männer auf erschöpften Pferden – war es Nacht. Camula hörte, dass Ambiorix entkommen war. Der alte Mann war entkommen und hatte seine Kinder zurückgelassen. Arist tot und Segova in Gefangenschaft.
So wie ich. Tot und gefangen.
Rija, nicht Camula. Sie sah im Eiswasser hinter ihren geschlossenen Augen ihr Spiegelbild. Die gefangene Frau. Die freigelassene Sklavin des Sklavenhändlers. Die Mutter seines Kindes. Rija, die sie früher gewesen war, stieg empor, und Camula, die Arist gekannt hatte, war plötzlich Vergangenheit. Wie Cernunnos, der am Rand der Unterwelt zu Eso wird.
Das Lied der Niederlage
»Das ist ein junger Mann«, stellte Caesar nüchtern fest.
»Das ist Ambiorix‘ Sohn.«
»Und pflegst du nun Köpfe zu sammeln, Lucius, wie ein Gallier das tut?«
»Ich habe es mir angewöhnt, um herauszufinden, wen ich getötet habe. Und um die Gallier zu demoralisieren, die es erschreckt, wenn wir mit ihnen so verfahren wie sie mit uns.« In der Stimme des altgedienten Offiziers schwang Unsicherheit mit.
»Ist es nicht Rom, das die römischen Sitten zu seinen Feinden bringt? Oder bringen nun die Feinde ihre gallischen Sitten in die Republik?« Caesar wusste bei jedem seiner Untergebenen, wo er einen Hebel ansetzen konnte. Bei Basilus war es dessen Liebe zur Republik. Eine Zornesfalte bildete sich im mittlerweile ausgemergelten Gesicht des Mannes aus Ciceros Legion.
»Natürlich ist das nicht so«, widersprach Basilus beherrscht und betrachtete den Kopf des jungen Galliers mit zunehmendem Abscheu. »Aber hätte ich den ganzen Leichnam transportieren sollen? Dann hätte ich wesentlich länger gebraucht, auch wenn wir reichlich Karren und anderes Zeug erbeutet haben.«
»Eines habt ihr nicht erbeutet. Ambiorix. Und daher ist es mir egal, wessen Kopf du mir mitbringst, so lange es nicht der des Gallierfürsten selbst ist«, sagte Caesar mit flacher Stimme.
»Es ist sein einziger Sohn.«
»Und kein tauglicher Anführer, nach allem, was ich höre. Er wird ihm auf persönlicher Ebene wichtig sein – das sind alle Söhne ihren Vätern. Aber er hat politisch nicht die geringste Bedeutung.«
»Sein Tod schwächt Ambiorix«, wandte Basilus ein und zog nun beinahe verschämt den Sack über dem Schopf des jungen Mannes zu. Caesar lächelte nachgiebig. »Praefect Lucius Basilus. Ich schwäche Ambiorix. Ich werde diesen Fürsten und sein Land und sein Volk und sogar ihre Götter in die Knie zwingen.«
Der Praefect war seiner Reiterei mit wenigen Begleitern zur Fliehburg an der Arnefa vorausgeritten. Die anderen Reiter bildeten nun einen regelrechten Tross – Wagen, Sklaven, Beute. Entlang des Weges waren noch etliche Bauern überrascht worden und nun auch in römischen Besitz übergegangen. Auf Gegenwehr waren sie noch nicht gestoßen.
Eigentlich ein Erfolg. Eigentlich.
Nein. Basilus kompensierte seinen Misserfolg mit Sklaven und Beute. Caesar jedoch konnte das nicht täuschen. Diese Mission, auf die er den Praefecten seiner Reiterei entsandt hatte, war fehlgeschlagen.
»Gräme dich nicht, Praefect«, lächelte Caesar. Auch er hatte einen Misserfolg verbucht. Die Fliehburg an der Arnefa war verlassen gewesen – die Bewohner hatten die Überquerung des Rhenus früh genug bemerkt und sich in die Wälder geflüchtet. »Wir haben Spione. Wir haben Soldaten. Wir haben Händler, die jeden Stein im Eburonenland kennen. Wir finden Ambiorix. Wenn Caesar gelobt, Rache zu üben, dann übt er Rache, und wenn wir noch Monate warten müssen. Selbst …« Er legte Basilus die Hand auf die Schulter. »Selbst, wenn es Jahre dauert.« Er zog die Hand rasch zurück. Caesar war kein herzlicher Mensch.
»Wir rotten sie aus, Lucius. Mann für Mann, bis nur noch Ambiorix übrig ist. Klein und verlassen inmitten der Wälder. Wir lassen ihn die Folgen seines Verrats spüren. Jeden Tag, bis wir ihn haben. Jeden einzelnen Tag.«
I.
Genau das hatte Segova niemals sein wollen.
Eine Frau, gefangen, aber nicht getötet, die mitansehen musste, wie sie der Leiche ihres Bruders den Kopf abschlugen und das Haus seiner Seele mit sich nahmen. Den Rest seines Leichnams legten sie in die Mitte der verwüsteten Siedlung, damit jemand ihn finden würde.
Wie um diese Schandtat auszugleichen, lief einer ihrer Priester, der sein Haupt mit einer weißen Kapuze verhüllte, in der zerstörten Siedlung herum und rief unter wilden Gesten die Götter des Orts an. Er lud sie ein, fortan in Rom zu wohnen, damit sie den Legionären nicht wegen der Zerstörung ihrer Heimstadt zürnten und den Feldzug mit Unglück straften.
Danach rückten die Truppen ab.
Wäre sie bei ihrem Vater, würde sie nicht Arists Kopf am Sattel des Befehlshabers sehen. Sie würde um ihn trauern, sicherlich würde sie das. Aber anders.
Camula lag auf einem Wagen, Segova hatte sie gesehen. Ihr Kopf war blutig geschlagen, und offenbar konnte sie nicht laufen.
Oder sie hat versucht, sie alle umzubringen, und deshalb haben sie sie gefesselt auf einen Wagen geworfen. Segova suchte sie mit den Augen, es gelang ihr jedoch nicht, Camula auszumachen. Zu viele waren um sie herum – zu groß war dieser traurige Tross geworden.
Ich habe den Römern bei Aduatuca eine Angst eingejagt, dass sie sich einnässten! Camula hat mit den Männern im Schildwall gestanden! Wir sind nicht die Frauen, die sich bald für römische Legionäre bücken.
Wütend setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Nacht würde kommen. Die Nacht war auch gestern gekommen, doch die Reiter waren offenbar erschöpft gewesen und hatten die neuen Sklaven nur misstrauisch beäugt. In dieser Nacht waren sie ausgeruhter. Segova wusste, dass es nicht schadete, sich jetzt schon in Gedanken damit zu befassen.
Noch vor Einbruch der Nacht war ein römischer Reiter der Ansicht, dass es ihm zum Vorteil gereichte, sich in Segovas Nähe aufzuhalten.
Er wusste, dass Caesar Vergewaltigungen für gewöhnlich untersagte – nicht aus Menschlichkeit, sondern um die Disziplin und Einsatzbereitschaft der Legionäre sicherzustellen. Doch Vergewaltigungen waren nicht nur eine gängige Praxis, um Gegner zu demoralisieren, sie waren außerdem keine Straftat, wenn es sich um Sklaven handelte. Und diese Frauen waren nun zu Sklaven geworden. Es gab keinen Grund, nicht ein wenig Anspannung abzubauen, bevor man an der Arnefa ankam, und bevor die Sklaven anderweitig verwendet wurden.
»Aber ich bin Ambiorix‘ Tochter«, hatte Segova dem Soldaten gesagt und ihm eine Münze in die Hand gelegt. »Wisst ihr, wo ihr hereingeplatzt seid mit eurem Angriff?«
Der Römer hatte den Kopf geschüttelt.
»In eine Hochzeit. Ihr habt hier nicht nur Ambiorix‘ Tochter, ihr habt Ambiorix‘ Schwiegertochter Camula, ihr habt die Töchter der wichtigsten Männer der Eburonen«, log sie. »Ihr solltet sehr vorsichtig sein, wie ihr die Nacht verbringt. Es könnte sein, dass es Lösegeld geben wird. Und dass es zornige Gallier gibt. Du hast schon mal zornige Gallier gesehen, oder?«
Sie sah in seinen Augen, dass dem so war. Vielleicht bei Aduatuca, vielleicht am Dollberg, vielleicht in den vergangenen Jahren der Kriege und Feldzüge.
»Wo ist euer Anführer?«
»Vorausgeritten«, sagte der Soldat.
»Wo ist dieser andere, der Centurio? Der meinen Bruder getötet hat?«
Der Soldat schüttelte ratlos den Kopf, dann erhellte sich seine Miene. »Valerius? Er ist erster Speercenturio der Vierzehnten – der neuen Vierzehnten.«
Sie hatte gehört, dass ein einzelner Mann den Adler der vierzehnten Legion, die bei Aduatuca vollständig aufgerieben worden war, von den Treveren wiederbeschafft hatte und die Legion somit neu aufgestellt werden konnte. Es hieß, Cingetorix, Zweitkönig der Treverer, habe seine Hand im Spiel gehabt.
Segova zuckte mit den Achseln.
»Bring mich zu ihm«, hatte sie gesagt. »Bring mich hin, und du hast keine zornigen Gallier zu verantworten.«
Valerius war verständig gewesen. Ein Mann mit Mitleid im Blick, und auch diese Nacht war ruhig. Segova schloss die Augen und hörte das Wispern der Sklaven um sie herum.
Zornige Gallier wird es geben. So oder so.
In dieser Nacht verschwand der erste Legionär.
II.
Accos Hass hatte bereits ein gefährliches Maß angenommen.
Sie waren die Rura hinaufgeflohen, in die arduinnischen Wälder hinein, in Wildnis und unwegsames Gelände. Er hasste es wegzulaufen, und er wünschte sich, dass es hinter ihnen krachte, dass Pferde durchs Unterholz brachen, dass er seine Wut in die Klinge fahren lassen konnte, und wenn es nur ein Messer war, das er am Gürtel trug. Selbst damit würde er gerüsteten Römern seinen Hass spüren lassen.
Doch es krachte nichts hinter ihnen durchs Unterholz. Ambiorix bestand darauf, noch tiefer in die Wälder zu flüchten.
Acco schwieg verbissen, keines seiner Worte war zum König durchgedrungen.
Dumpf pochte in seinem Schädel die Gewissheit, dass Arist tot war. Mit Sicherheit konnte er es nicht sagen – Teltiu hatte gesehen, wie Arist blutend zu Boden gegangen war. Selbst, wenn er noch lebte, war er nicht entkommen. Und wenn er nicht entkommen war, hatten sie ihn getötet.
»Vielleicht haben sie ihn gefangengenommen. Um dich zur Aufgabe zu bewegen«, hatte er Ambiorix gesagt, ohne Überzeugung. Ambiorix hatte ihn nur aus verschatteten Augen angesehen. Irgendwann, Stunden später, war seine Stimme tonlos aus der feuerlosen Dunkelheit der Nacht erklungen.
»Sie wissen doch längst, dass ich nicht aufgebe.«
Ambiorix‘ Trupp schlug sich in einem weiten Bogen durch die arduinnischen Wälder – dort, wo sie begannen, südlich der jahreszeitlich wechselnden Karrenwege zwischen Rhenus und Mosa, ragten vielerorts Hänge steil auf wie am Hochkopf, und die Besiedelung wurde spärlicher. Nördlich der Wälder wurde das Land bewirtschaftet, doch das Königreich der Göttin Arduinna war launenhaft und wurde von ihrem Gefolge bewohnt, wilden Tieren und Schlimmerem, den Geistern ihrer Unterwelt, die so reich an Eisen und anderen Erzen war. Und nicht nur Baumriesen und undurchdringliche Urwälder lauerten dort, sondern auch Sümpfe und Moore, und bis zur Grenze des Trevererlandes hatten sich nur wenige, kleine Stämme an dieses Dasein im Nirgendwo gewöhnt.
Ambiorix steuerte nicht die Arnefa an, obwohl sich Duinne, Accos Ziehmutter und Ambiorix‘ Schwester, in der Fliehburg dort aufhielt – oder vielleicht längst von den Römern überrascht worden war.
Ambiorix fand die Inda und folgte ihrem Lauf in den Norden und in besiedeltes Land. Sie reisten im Schutz der Dämmerung und der Nacht, und Ambiorix schien stets damit zu rechnen, dass auch hier Reiter aus dem Nichts auftauchen mochten.
Sie strebten dem Flickenteppich aus großen und kleinen Siedlungen im Flachland zu, wohin Catuvolc sich zurückgezogen hatte, einen halben Tagesritt nördlich von Aduatuca.
Der Priesterkönig hatte sein Eibenheiligtum verlassen, und Acco wurde mit einem plötzlichen Schock bewusst, dass er nicht wusste, welches Schicksal Catuvolcs Tochter ereilt hatte. Sie war am Hochkopf gewesen – zunächst, um Ambiorix‘ Wunde zu heilen, dann, um seine und Segovas Hände miteinander zu verbinden.
An einem brütend heißen Tag im Hochsommer erreichten sie die Siedlung an der Inda.
Catuvolc, der weißhaarige Priesterkönig, war älter, als Acco ihn in Erinnerung hatte.
Nicht einmal ein Jahr.
Doch der alte Mann musterte auch ihn, als bemerke er ähnliche Spuren an dem jüngeren Mann, als sie einander gegenübertraten.
Ambiorix umarmte seinen Zweitkönig. Catuvolcs Blick ging ins Leere, als er begriff, was es hieß, dass Ambiorix mit drei abgerissenen Kriegern bei ihm eintraf, kurz nach Einbruch der Nacht. Und erst, als Ambiorix sich nicht vom Älteren lösen konnte, begriff Acco, dass sein Ziehvater weinte. Er starrte ihn an, und für einen Moment verwandelte sich der Hass in seinem Inneren in blanke Angst.