Inka Loreen Minden

 

Dunkle Träume

 

Wächterschwingen 2

Inhalt

 

Eine Hexe auf der Suche nach ihrer Vergangenheit – Ihr Beschützer, ein begnadeter Kämpfer und zugleich ihr größter Feind.

 

Hexe Jenna macht sich mit dem undurchsichtigen Wächter Kyrian auf die Suche nach ihren Wurzeln. Verstörende Träume plagen sie, in denen sie nach und nach erfährt, wer Kyrian wirklich ist. Aber er rettet ihr das Leben und sie spürt, dass trotz seiner schrecklichen Vergangenheit kein dunkles Herz in ihm schlägt.

Doch Krieger Kyrian muss Jenna seinem König ausliefern. Denn Jenna trägt nicht nur ein Geheimnis in sich, sie ist Kyrians Schlüssel zur Freiheit aus der Sklaverei. Er muss sich entscheiden: ein Leben in Gefangenschaft oder die Frau opfern, in die er sich unsterblich verliebt hat.

 

Info

Auch Jamies Geschichte wird hier weitererzählt. Er kämpft immer noch mit seinem »Problem«. Gargoyle Nicolas steht ihm zur Seite und entwickelt tiefe Gefühle für seinen Schützling.

 

Der Inhalt entspricht ca. 500 Taschenbuchseiten


Ableger der Serie:

Engelslust (Geschichte von Magnus)

Beim ersten Sonnenstrahl (Gay Romance)


Neu ab Herbst 2020: Teil 3 der Wächterschwingen:

Verfluchtes Drachenherz

Prolog

 

Kyrian lag auf dem Bauch seiner Mutter und lauschte den Schlägen ihres Herzens. Das beruhigte ihn, obwohl ihr Herz jetzt, im versteinerten Zustand, viel leiser pochte und ihr Antlitz zu einer hässlichen Fratze verzerrt war.

Der Körper seiner Mama – ihre Schwingen, Klauen und Fänge – bestand nicht wirklich aus Stein, sondern aus einem organischen Material, das Stein ähnelte. Für Kyrian war das genauso normal, wie sich tagsüber in der finsteren Höhle zu verstecken.

Neben ihm schlummerte seine fünfjährige Zwillingsschwester Myra. Er erkannte sie im Dunkeln problemlos, ebenso den Tausendfüßler, der über Mamas Gesicht lief. Flink griff er danach und steckte sich ihn in den Mund. Der Panzer knackte zwischen den Zähnen; der schleimige Inhalt verteilte sich auf seiner Zunge.

Mmm … Ein Insekt schmeckte köstlich, wenn man fast verhungerte. Leider knurrte sein Magen nach diesem Happen nur noch lauter. Außerdem machte sich sein Gewissen bemerkbar. Er hätte Myra die Hälfte aufheben sollen. Sie war so dünn.

Sanft streichelte er durch ihr Haar, das ebenso schwarz war wie seines. Ansonsten hatten sie, bis auf die Fangzähne, nur wenig gemein. Myra war klein und zierlich, eine Elfe mit spitzen Ohren und einem herzförmigen Gesicht, während er mehr nach Mutter kam: groß und stark. Er besaß zwar keine Schwingen, aber einen Gargoyleschwanz und winzige Hörner, worauf er besonders stolz war. »Kleiner Löwe« nannte Mama ihn oft, weil sein Schwanz dem der Raubkatze ähnelte. Kyrian hatte noch nie einen Löwen gesehen, wusste jedoch, dass er in einer anderen Welt der König der Tiere war. Hauptsache, Kyrian ähnelte seinen Feinden nicht zu sehr. Im Gegensatz zu Myra. Trotzdem liebte er seine Schwester von ganzem Herzen. Er würde sein Leben für sie geben.

Aufregung machte sich in seinem Magen breit, weil in Kürze die Sonne unterging. Dann wurde Mama wieder lebendig. Gemeinsam würden sie die Höhle verlassen und Myra und er in Mamas Armen über das Dunkle Land gleiten, um wie jede Nacht nach einem Ausgang zu suchen. Sie mussten das Reich der Dunkelelfen dringend verlassen. Leider waren Kyrian und seine Schwester bald zu groß und zu schwer, um mit ihrer Mutter zu segeln.

Seit er denken konnte, versteckten sie sich in dieser Berghöhle. Seine Mutter hatte ihnen erzählt, ein Dunkelelf habe sie vor langer Zeit aus der Menschenwelt entführt und gefangen gehalten, bis Kyrian und Myra auf die Welt kamen. Erst danach hatte sie es geschafft, ihn zu töten und mit ihnen durch eine geheime Passage zu fliehen.

Nachdenklich betrachtete er die steinernen Schwingen seiner Mama, die sonst aus warmem Leder bestanden. Schade, dass Myra und er keine Flughäute besaßen, dann könnten sie sich aufteilen, jeder in eine andere Richtung gleiten.

Seine Ohren zuckten, als er ein Knirschen hörte. Schnell hob er den Kopf. Schritte näherten sich.

»Sie müssen hier drin sein, Orugh schwört, die drei gesehen zu haben«, hallte eine unbekannte Stimme durch die Höhle.

»Mama«, flüsterte er und rüttelte an der Steinfigur, obwohl er wusste, dass sich ihr Zustand dadurch nicht ändern würde.

Myra hatte die Stimmen auch gehört. Mit großen Augen starrte sie ihn an und krallte ihre zarten Finger in ihr schmutziges Kleidchen. Er bedeutete ihr, still zu sein, und reichte ihr die Hand. Aus seinen Beinen wich jegliche Kraft, während er Myra in den tiefsten Winkel der Höhle zog. Er drückte sie hinter sich und sie schmiegte sich zitternd an seinen Rücken. Die Dunkelelfen kamen, um sie alle zu töten. Mama hatte sie darauf vorbereitet. Kyrian und Myra könnten durch einen engen Felsspalt entkommen, doch er dachte nicht an Flucht, solange seine Mama wehrlos war. Er würde sie beschützen. Außerdem war er bereits zu groß.

Da seine Schwester viel zierlicher war als er, befahl er ihr leise, sich in die Felsnische zu zwängen und zu fliehen. Dank des grauen Kleides verschmolz sie fast mit dem Stein. Sie würde in Sicherheit sein. Keinen Wimpernschlag später blendete ihn Feuer, sodass er sich die Hände vor die Augen halten musste.

»Da ist der Bastard!«, rief einer, packte ihn am Arm und zog Kyrian aus der Nische, wobei er die Fackel dicht vor sein Gesicht hielt.

Er zwinkerte, brachte die Augen jedoch nicht auf. An Licht war er nicht gewöhnt, ebenso wenig an den Ruß der Fackel, der in seinen Lungen kratzte.

»Verdammt, er sieht aus wie einer von uns«, sagte ein Elf.

Nein, das stimmte nicht, er war nicht wie sie. Er wollte ihnen das ins Gesicht brüllen, aber Angst lähmte seine Zunge.

»Nicht ganz«, meinte ein anderer, warf ihn auf den Boden und riss ihm den Lendenschurz ab. »Schau, die Missgeburt hat einen Gargoyleschwanz.«

Hastig krabbelte Kyrian zwischen den drei Elfenkriegern hindurch. Sie sahen unheimlich aus, denn die Perlen in ihren schwarzen Haaren funkelten im Flammenschein wie Insektenaugen, und an ihren spitzen Ohren baumelten Ringe und kleine Knochen. Ihre schlanken Körper steckten in Lederharnischen, und jeder von ihnen trug ein Schwert.

»Wohin so eilig?«, hörte er, dann Gelächter, als er brutal an seinem Schwanz zurückgerissen wurde.

Vor Angst, Schmerz und Wut fauchte er, wobei er verzweifelt versuchte, sich umzudrehen, doch jemand trat auf seinen Rücken und presste ihn auf den steinigen Boden. Ein spitzer Kiesel bohrte sich in seine Wange. Der Elf griff in sein Haar und riss seinen Kopf herum. Kyrian blickte in das Antlitz seines Feindes und sah sich selbst in dessen schwarzen Augen, seine hervorgetreten Fangzähne, wodurch sein Gesicht einer Fratze glich, beinahe wie das seiner Mutter.

»Was machen wir mit dem versteinerten Vieh?«, fragte einer.

»Töten«, zischte der Elf, der halb auf seinem Rücken kniete und immer noch sein Haar packte.

Der Krieger, der neben seiner liegenden Mutter stand, holte mit dem Schwert aus. Mit der fehlenden Nasenspitze und dem vernarbten Gesicht sah er besonders bösartig aus.

»Nein!« Kyrians Herz raste, sein verdrehter Nacken schmerzte und pure Angst fraß sich durch seine Eingeweide.

»Tut ihr nichts!«, rief plötzlich Myra, die aus ihrem Versteck kam und auf Mutter zulief.

Kyrian glaubte, zu ersticken.

»Wen haben wir denn da?« Der Elf, der sich neben seiner Mutter befand, packte sie am Haar. »Die hier sieht wirklich aus wie eine von uns.«

Der dritte hob ihr Kleidchen an. »Kein Schwanz.« Dann wühlte er in ihrem Haar und zwang Myra, den Mund zu öffnen. »Keine Hörner, nur kleine scharfe Beißerchen, wie unsere.«

»Wir nehmen sie mit«, befahl der Krieger, der ihn auf den Boden drückte. »Die anderen beiden: töten!«

Der Dunkelelf, der Myra hielt, holte mit der Schwerthand aus und ließ die Klinge herabsausen. Sie durchtrennte mühelos den Kopf seiner Mutter, der zur Seite rollte, genau vor Kyrians Gesicht.

Während Myra wie am Spieß schrie und aus der Höhle gezerrt wurde, konnte Kyrian nur auf die steinerne Fratze starren und auf den Tod warten.

Mama …

Tränen sammelten sich in seinen Augen; der albtraumhafte Anblick verschwamm.

Was würde aus Myra werden, was hatten sie mit ihr vor? Kyrian fühlte sich einer Ohnmacht nah. Wenn er starb, wer würde sie beschützen? Er war der Einzige, den sie noch hatte.

Er zwinkerte. Das Antlitz seiner Mutter musterte ihn anklagend: Du hättest mit ihr fliehen sollen!

Da kehrten seine Lebensgeister zurück. Er sammelte seine Kräfte und sprang auf, sodass er den Soldaten abschüttelte. Blitzschnell rannte er aus der Höhle, aber er hatte noch nicht den Ausgang erreicht, als sich vor ihm wie aus dem Nichts derselbe Soldat materialisierte, der ihn eben gehalten hatte. Kyrian prallte gegen dessen Lederharnisch.

Lachend packte ihn der Krieger an den Haaren. »Du bist wirklich mehr Gargoyle als Dunkelelf, ansonsten könntest du dich translozieren.«

Er könnte was?

»Du bist tot«, zischte der Soldat, wobei sich seine schwarzen Augen zu Schlitzen verengten.

Ein weiterer Elfenkrieger trat neben ihn. »Warte, Lachlain, lass uns ein wenig Spaß mit dem Abschaum haben. Diese verdammten Gargoyles arbeiten mit Hexen und Magiern zusammen. Ich hasse diesen kleinen Mistkerl, wenn ich ihn nur ansehe.«

»Ja, lass uns seine Hörner abschneiden, seine lächerlichen Beißerchen herausreißen und ihn zu Tode quälen. Das wird ein Spaß.« Die beiden lachten. »Fangen wir mit dem Schwanz an.«

Nein! Kyrian versuchte, zu entkommen. Vergeblich. Sie hatten ihn eingekreist. Niemals war er sich so nackt und hilflos vorgekommen. Er fasste hinter sich, um nach seinem Schwanz zu greifen. Nervös zuckte er in seiner Hand, aber die Elfen warfen Kyrian auf den Boden. Er hörte das surrende Geräusch, das eine Klinge machte, die aus der Schwertscheide gezogen wurde. Jemand packte seinen Schwanz, riss daran – schon spürte er einen scharfen Schnitt am Steißbein. Das kalte Metall durchtrennte Haut, Sehnen, Muskeln und Nerven. Glühende Pein raste durch seinen Körper. Kyrian brüllte auf, während die anderen lachten. Sie stopften ihm den abgeschnittenen Körperteil in den Mund, wo er noch ein letztes Mal zuckte. Kyrian schmeckte Blut, dann wurde ihm schwarz vor Augen.

 

Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Rücken vor dem Eingang der Höhle, den Blick auf den weit entfernten Vulkan gerichtet, der Lava und Asche ausstieß und oftmals den Himmel verfinsterte. Dessen Grollen vernahm er bis hierher, und manchmal fühlte er, wie die Erde bebte. Durch den glutroten Morgenhimmel schien der feuerspuckende Berg mit den Sternen zu verschmelzen. Leider konnte Kyrian den grandiosen Ausblick nicht genießen, da ihm schlagartig bewusst wurde, was sich eben abgespielt hatte. Dort, wo einmal sein Schwanz gewesen war, pochte und brannte es höllisch. Der Schmerz lähmte ihn, ließ ihn kaum atmen.

Grinsend hielt ein Krieger seinen abgeschnittenen Körperteil in der Hand und warf ihn über den Felsvorsprung in die Tiefe.

Hoffentlich machten sie schnell. Er wollte nur noch sterben.

Als er die Klinge an einem seiner Hörner spürte, regte er sich nicht. Es war klein, nicht mehr als ein Stummel, dennoch hochsensibel. Kyrian würde die Schmerzen nicht überleben, wenn sie es abschnitten. Doch er war bereit, seiner Mutter zu folgen.

»Der König kommt!«, rief einer.

Sofort ließen die Soldaten von ihm ab und knieten sich in den Staub, die Häupter gesenkt.

Schwerfällig drehte Kyrian den Kopf und musterte den eingetroffenen Elfen, der sich, die Arme in die Hüften gestemmt, vor ihnen aufbaute. Er war größer als die anderen, trug eine prächtige Rüstung aus Silber und ein Schwert, das in der Morgensonne funkelte, weil es mit unzähligen Diamanten besetzt war. Sein langes weißes Haar flatterte im Bergwind.

Der König! Das Oberhaupt dieser Bastarde. Seine Stiefel berührten beinahe Kyrians Nase, so dicht stand er vor ihm. Würde er es zu Ende bringen? Wenn Kyrian die Kraft hätte, würde er ihn anflehen, schnell zu machen.

»Lasst ihn am Leben!«, befahl dieser stattdessen. »Ich habe euch ausdrücklich befohlen, dass ich die Kinder erst sehen will.«

»Was wollt Ihr mit ihnen, Mylord?«, fragte ein Soldat vorsichtig. »Sie sind Abschaum.«

»Der da«, spie der König aus und drückte Kyrian die Schwertklinge gegen die nackte Brust, »kann uns vielleicht nützlich sein.«

»Wobei, Mylord?«

Kyrians Herz trommelte hart gegen den Brustkorb, als sich der Anführer zu ihm herunterbeugte und zischte: »Im Kampf gegen die Hexen und Magier.«

Kapitel 1 – Kyrian

 

Kyr riss die Augen auf. Die Laken klebten an seinem schweißnassen Körper, der Puls klopfte hart in den Ohren und hämmerte schmerzhaft in seinem Schädel. Wie so oft, wenn er aus dem immer wiederkehrenden Grauen erwachte, von dem er seit über zwei Jahrzehnten träumte, wusste er für einige Sekunden nicht, wo er sich befand.

Das war nicht gut.

Menschenwelt … Seufzend massierte er sich die Schläfen und blinzelte. Ein Zimmer. Sein Zimmer, sein karg eingerichtetes Apartment im obersten Stockwerk eines gläsernen Hochhauses in London. Dort besaß die Hexe Noir Hadfield eine Detektei für übersinnliche Fälle, die sie vor ein paar Monaten gegründet hatte. Hier lebten auch Vincent, Noirs Partner und Kyrians Klanführer, sowie drei andere ihrer Bruderschaft: Nicolas, Dominic und Akilah. Der Bruderschaft der Ausgestoßenen. Derjenigen, die keiner haben wollte. Weil sie anders waren. Nichts Halbes, nichts Ganzes oder einfach unerwünscht. Daher nannten sich die Hybriden auch Goyles, nicht Gargoyles.

Kyr streckte sich, bis seine Gelenke knackten, und rieb seine Stirn. Diese verdammten Kopfschmerzen hatte er immer nach den Träumen. Reflexartig griff er an sein Steißbein, wo sein Schwanzstummel unangenehm pochte. Er hasste das daumendicke Überbleibsel, das ihn daran erinnerte, wer er war. Außerdem sah es lächerlich aus.

Schwerfällig stand er auf, schnappte sich eine schwarze Cargohose sowie ein T-Shirt und ging ins Badezimmer.

Als er eine halbe Stunde später aus der Wohnung lief, stieß er im Flur beinahe mit Noir zusammen, obwohl sie kaum zu übersehen war. Kyr sprang zur Seite, um sie nicht umzustoßen, und rannte dafür fast in ihren Jagdhund. Papiere, Dokumentenmappen und seine Sonnenbrille flogen zu Boden.

Noir bückte sich. Sie war sehr groß für einen Menschen, so groß wie er, und ihr silberweißes Haar reichte ihr bis zur Hüfte. Unter ihrem engen Shirt wölbte sich ein Babybauch.

Der graue Hund stellte sich auf die Hinterbeine und legte die Vorderpfoten auf seine Oberschenkel.

»Hey, Räuber«, murmelte Kyr und kraulte das Tier hinter den Schlappohren. Schließlich wollte er vor der Hexe nicht auffallen. Normalerweise gab Kyr nichts auf Streicheleinheiten.

Noir grinste und sammelte die Akten auf, die sie bei ihrem Beinahe-Zusammenstoß fallengelassen hatte. Dabei reichte sie ihm auch seine Sonnenbrille, die seine lichtempfindlichen Augen schützte. »Immer mit der Ruhe, Cowboy. Du hast erst in einer Stunde einen Auftrag, mein Klient hat mich versetzt.«

Gut, er hatte also nicht verschlafen. Kyr schob die Brille in sein Haar und versuchte, nach einem Dokument zu greifen, um so zu tun, als würde er der Hexe beim Aufsammeln helfen. Eigentlich wollte er einen Blick auf den Namen werfen, aber der temperamentvolle Hund ließ ihn nicht in Ruhe. Räuber sabberte ihm auf die saubere Einsatzhose und schleckte über seine Hand. Kyr hatte keine Ahnung, warum der Köter ihn mochte. Er war sehr verspielt und hielt sich gern in seiner Nähe auf. Dummes Vieh, es müsste eigentlich spüren, dass er seinem Frauchen und ihren Kunden an den Kragen wollte, doch so schöpfte die Hexe wenigstens keinen Verdacht.

Die Brauen nach oben gezogen, blickte Noir ihn an. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Hm.« Er vermied es, viele Worte zu wechseln. Außerdem musste er sich ständig zurückhalten, sich nicht zu translozieren, denn er hatte sich an diese Art der Fortbewegung gewöhnt.

Ein weiterer Stich durchzuckte sein Gehirn. Ob die Hexe versuchte, seine Gedanken zu lesen? Sie konnte das, allerdings nur bei Menschen. Mit zwei Fingern rieb er sich über die Schläfen.

»Hast du Kopfweh?« Noir stand auf und balancierte den Stapel Akten in der Hand. Akten, die er zu gern durchsehen wollte.

»Geht schon«, erwiderte er.

»Komm mal mit in mein Büro. Ich geb dir ein Pulver dagegen.«

Hexenmagie – damit wollte er nichts zu tun haben. Dennoch folgte er ihr. Sie brachte ihn dorthin, wo er bereits ewig hineinwollte. Allein.

Die Tür war mittels eines Scanners und Zahlencodes gesichert. Noirs Freund, der Magier Magnus Thorne, hatte die oberste Etage des Hauses in eine Hochsicherheitszone verwandelt. Kein Dämon konnte hier ein Portal erschaffen, und die einzelnen Wohnräume ließen sich nur mit Daumenscan öffnen. Um in Noirs Büro zu kommen, musste man zusätzlich einen Code eingeben.

»Kannst du die mal kurz halten?«

Die Hexe drückte ihm den Stapel in die Hand, dann tippte sie auf das Bedienfeld. Räuber strich um ihre Beine, sodass sie anscheinend vergaß, das Eingabefeld mit ihrem Körper abzuschirmen. Kyr lugte an ihr vorbei. 23 – 5 – 99 – 2. Einen Fingerabdruck hatte er längst nachgebildet, jetzt kannte er auch den Code.

Die Tür ging auf. Räuber bellte ein Mal, wedelte und sah zu Kyrian auf, bevor er sich ins Büro trollte. Noir winkte ihn herein. Verdammt, die Frau vertraute ihm wirklich, wie all ihren Angestellten. Wenn sie wüsste, wer er war, hätte sie ihn längst getötet oder der Magiergilde ausgeliefert. Bisher war er nicht aufgeflogen und so sollte es noch eine Weile bleiben. Seit er vor ein paar Monaten in Vincents Klan gekommen war, hatte er sich unauffällig verhalten, Noirs Aufträge gewissenhaft ausgeführt und nebenher Namen von Hexen und Magiern gesammelt.

Noir bedeutete ihm, vor ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen, und Kyr stellte den Aktenstapel darauf ab, bevor er sich setzte. Sie ging zu einem Metallschrank, der ebenfalls mit einem Code gesichert war. Nachdem sie ihn geöffnet hatte, erkannte Kyrian allerhand Fläschchen und Beutel darin. Während Noir ihm etwas zusammenmischte, blickte er sich unauffällig im Büro um. An einer langen Wand reihte sich ein Aktenschrank an den anderen. Sie waren nicht abgesperrt. Einige Schubladen standen offen und enthielten zahlreiche Ordner. Noir hatte seit der Eröffnung ihrer Detektei vor fast einem Jahr schon sehr viele Kunden gewinnen können. Das Geschäft lief gut, besonders Suchaufträge – verlorene Artefakte, Schätze oder Dinge von rein persönlichem Wert – kamen oft herein. Vincents Goyles besaßen verschiedene Eigenschaften, die Noirs Arbeit erleichterten. Sie beschäftigte die Außenseiter und die hatten ein Dach über dem Kopf und profitierten vom Leben in einer Gemeinschaft.

Kyrian würde, sobald die Hexe wieder einmal zu ihrer Vorsorgeuntersuchung ging, hier eindringen und sich alle Namen und Adressen einprägen.

Sie schloss den Schrank und reichte ihm ein braunes Papiertütchen.

»Danke.« Er schob das Tütchen in eine hintere Hosentasche. Bei der nächsten Gelegenheit würde er es entsorgen.

»Eine Messerspitze voll in etwas Flüssigkeit gerührt, nach dem Aufstehen getrunken, müsste dir helfen«, sagte sie und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Du siehst furchtbar aus. Bist du krank? Mir ist schon öfter aufgefallen, dass du morgens recht zerknautscht aussiehst.«

Er schüttelte den Kopf. »Das hab ich bereits fast mein ganzes Leben.«

»Falls es nicht besser wird, lass dich lieber mal untersuchen.«

Noir drehte einen Bilderrahmen herum, der auf ihrem Schreibtisch stand. Das Foto zeigte sie und eine Frau mit blondem Haar, die fast zwei Köpfe kleiner war als Noir. Ihre Augen leuchteten so blau wie Lapislazuli. Ein weiterer Stich fuhr durch sein Gehirn und er sah Bilder von Personen, die er sich hatte einprägen müssen, weil er sie ausliefern musste. Sie war dabei: Isla. Blondes Haar, blaue Augen, spitzes Kinn – eine elfenhafte Schönheit.

Verdammt, wäre er doch zu dieser blöden Erstuntersuchung erschienen, zu der Noir all ihre Goyles bat, dann hätte er Isla längst gefasst und hätte mit ihr ins Dunkle Land zurückkehren können.

Seine Gedanken verschwammen, weil er den Blick nicht von ihr losreißen konnte. Was war nur los mit ihm? Mühsam unterdrückte er ein Zittern. Normalerweise zeigte er keine Regung, wenn ihm eine gesuchte Person unterkam, aber diese Frau war vielleicht seine und Myras Karte in die Freiheit. Jahrelang war er als Sucher durch die Menschenwelt gestreift und hatte es schon als glücklichen Zufall gesehen, dass Noirs Freund Magnus ihn für Vincents Klan aufgespürt hatte, doch nie hätte er geglaubt, hier Isla zu finden. Sein König wollte sie haben, um jeden Preis.

Noir stellte den Rahmen an seinen Platz zurück. »Das ist meine Freundin Jenna Fairchild. Sie ist Ärztin.«

»Jenna?« Er schluckte. Da musste ein Irrtum vorliegen, das war Isla. Wenn er sich einen Namen und ein Gesicht einprägte, dann war das unwiderruflich in sein Gehirn eingebrannt. Dafür hatten sie gesorgt. Er war einer ihrer besten Jäger, ein Meisterspion. Er irrte sich nie.

»Ja, das ist diejenige, zu der du nicht wolltest.« Offen lächelte sie ihn an.

Kyr hatte sich erfolgreich vor der Einstellungsuntersuchung drücken können. »Ist sie auch eine Hexe?«, fragte er verwirrt, weil er dachte, die Antwort längst zu kennen. Er konnte sich unmöglich täuschen, sein Gedächtnis war zuverlässiger als ein Computer.

Noir nickte. »Sie arbeitet mit ihrem Vater in seiner Schönheitsklinik.«

»Sie ist Chirurgin?« Isla war Heilerin …

»Angehende. Sie assistiert ihrem Dad.«

Interessant. Vielleicht irrte er sich und diese Ärztin war nicht die Person, für die er sie hielt. Dennoch erschien sie ihm äußerst nützlich. Sie konnte ihm bei einem persönlichen Problem helfen und er käme über sie an weitere Namen von Hexen und Magiern. Vielleicht sollte er ihr einen Besuch abstatten.

Kapitel 2 – Nicolas Tremante

 

Nicolas schlich durch den dunklen Flur des Wohntraktes, die Schwingen dicht an den Körper gepresst. Seine nackten Füße hinterließen kein Geräusch auf dem Teppichboden, nur das raue Leder seiner langen Hose raschelte leise. Nick fühlte, dass der Kerl, den er verfolgte, etwas ausheckte. Bewegungslos verharrte der große Mann im Dunkeln und wartete offensichtlich, bis Noir ihr Büro verließ. Es war spät, sie würde es in dieser Nacht nicht mehr betreten. Seit sie schwanger war, achtete sie auf ausreichend Schlaf.

Schon ging die Bürotür auf, Noir trat heraus und Licht flammte auf. Nick kniff die Lider zusammen. Als Dämon-Gargoyle-Hybrid sah er in der Finsternis ausgezeichnet. Noir drehte ihnen den Rücken zu und ging in Richtung ihrer Wohnung. Sie hatte ihn beauftragt, ein Auge auf ihren Bruder zu haben. Sie wusste immer noch nicht, ob sie Jamie vertrauen konnte, solange er den Zash in sich nicht beherrschte.

Zu recht, denn als sie um die Ecke bog, huschte Jamie über den Teppich und steckte etwas, das aussah wie eine Karte, in den Rahmen, bevor die Tür zufiel. Dann blieb er im Flur stehen und lauschte. Noirs Schritte entfernten sich. Nick hörte, wie sie ihre Wohnung betrat. Sofort drückte Jamie die Tür auf und verschwand im Büro. Nick zögerte keine Sekunde und lief lautlos hinter ihm her. Schade, dass er in dieser Etage kein Dämonenportal erzeugen konnte, ansonsten hätte er sich jetzt ins Büro schmuggeln können. Doch Noir hatte vorgesorgt, also musste er Jamie auf konventionelle Art verfolgen, bevor die Tür zufiel. Er durfte nur nicht vergessen, den Kopf einzuziehen. Da er von allen Goyles der größte war, hatte er mit menschlichen Behausungen seine Probleme. Dennoch war er froh, hier zu sein, und dass die Hexe ihm den Job anvertraut hatte. So hatte er wenigstens einen Grund, dem Jungen nahe zu sein. Okay, ein Junge war Jamie nicht mehr, sondern ein Mann von fünfundzwanzig Jahren, mit allem, was dazugehörte. Trotz zwei dicker Narben an einer Wange sah er verdammt gut aus. Er hatte nur einen Makel, einen enormen sogar: Sein Körper war von einem Zash, einem Lenkerdämon, besetzt. Man konnte ihn zwar austreiben, jedoch würde das Jamies Tod bedeuten. Ein Höllenfürst hatte ihm vor vielen Jahren die Seele genommen und seitdem hielt ihn der Zash namens Zorell am Leben. Nick verabscheute diesen Widerling zutiefst.

Die Hexe vertraute ihm, Nicolas, mehr als ihrem Bruder, obwohl Nick selbst ein halber Dämon, ein jahrhundertealter Inkubus war. Aber er hatte Noir mehr als ein Mal seine Loyalität bewiesen, schon, als er noch gar nicht Vincents Klan angehörte. Nick gefiel es, einer Gemeinschaft anzugehören. Die wenigsten Wesen waren gern allein. Er mochte die Aufgaben, die Noir ihm zuwies, und er mochte London. Falls es ihn ab und zu woandershin zog, konnte er in seiner Freizeit mittels Portalen überallhin reisen. Nur jetzt durfte er nicht an Urlaub denken – den er zu gern mit Jamie verbringen wollte, zumal der Junge dringend auf andere Gedanken gebracht werden musste –, denn der Kleine durchwühlte Noirs Schreibtisch. Porca vacca!

Nicks langes blondes Haar, das er meist zu Zöpfchen geflochten trug, war auffällig. Jamie sollte ihn nicht schon entdecken, denn Mondlicht drang durch die Panoramascheiben der Dachterrasse. Daher verbarg er sich, so gut er es bei seiner Größe vermochte, zwischen zwei Aktenschränken, die Schwingen um den Körper gelegt, und verfolgte gebannt, was Jamie suchte. Die Daten der Klienten schienen ihn nicht zu interessieren, vielmehr hatte er es auf persönlichere Dinge abgesehen. Er förderte eine Quietscheente zutage, mit der Räuber gern spielte, ein Notizbuch, das er hastig durchblätterte, und ein kleines Fotoalbum. Dann warf er alles zurück in die Schublade.

»Verdammt«, zischte Jamie, doch es war nicht seine Stimme. Der Zash in ihm – Zorell – hatte sich nach vorn gedrängt. Nick hasste diesen Dämon, das konnte er nicht oft genug betonen.

Jamie schloss die Schubladen und kickte gegen den Schreibtisch. »Sie muss es in ihrer Wohnung aufbewahren.«

Schnell trat Nick vor, sodass er den Ausgang blockierte. Da er hier nicht befürchten musste, von Zorell auf dämonische Art angegriffen zu werden, verschränkte er die Arme vor der Brust. »Was muss sie in ihrer Wohnung haben?«

»Verdammter Schwanzlutscher!« Zorells pechschwarze Augen blitzten, und er wollte sich an Nick vorbeidrängen. »Geh mir aus dem Weg!«

Schwanzlutscher? Wie kam der Widerling darauf, dass er sich bloß für Männer interessierte? Ihm war es völlig egal, mit wem er schlief. Als halber Inkubus kam es ihm nur auf die Energie an, die er aus dem Beischlaf bezog. Diese Kraft brauchte er, um Portale zu erschaffen und sein dämonisches Leben zu verlängern. Er hatte es bereits auf 387 Jahre gebracht, obwohl er optisch nicht älter als die anderen Goyles aussah. Alles Weitere, das er zum Leben brauchte, erhielt er von gewöhnlichen Nahrungsmitteln.

Nick widerstand dem Drang, Zorell windelweich zu prügeln. Immerhin steckte er in Jamies Körper. »Was hast du hier zu suchen?« Erst als seine Knöchel knackten, bemerkte er, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Mit Worten kam er bei dem Zash ohnehin nicht weit, also packte er Jamie so vorsichtig er konnte an seinem kurzen Haar, und drängte ihn gegen die Wand. »Ich will Antworten!«

»Fick dich«, knurrte Zorell, sah zu ihm auf und spuckte ihm ins Gesicht.

Das ist Jamies Speichel, sagte er sich, ließ die Zunge lasziv um den Mund kreisen und säuselte: »Nein, ich ficke dich.« Dann küsste er ihn hart, weil das der einzige Weg war, an den Kleinen heranzukommen. Normalerweise waren Nicks Bekannte und Freunde für ihn tabu, besonders für den Inkubus in ihm, doch hier musste er eine Ausnahme machen. Der Dämon hasste Jamies Homosexualität.

Zorell leistete erst Widerstand, aber bald entspannte er sich, wobei Nick nie den Blick von ihm abwendete. Die schwarze Flüssigkeit, die sein Augenweiß komplett bedeckt hatte, verschwand. Zorell zog sich zurück und Jamie erwiderte den Kuss.

Nick war überrascht. Seine Hand lockerte sich, ihre Küsse wurden intensiver. Zum ersten Mal schmeckte er den Mund des Mannes, den er glaubte, seinen Freund nennen zu dürfen. Mit dem Daumen fuhr er über Jamies vernarbte Wange, wo der Dämonenfürst Ceros ihn einst verbrannt hatte. Nicks Finger wanderten in Jamies Nacken, um ihn näher zu sich zu ziehen, ihn intensiver zu genießen. Seine Erektion drückte sich an Jamies Bauch. Jamies Augen blieben klar, die grünen Pupillen leuchteten regelrecht im hereinfallenden Mondlicht. Seine Lider flatterten, ansonsten blieb er reglos stehen, lediglich Mund und Zunge bewegten sich. Nick atmete schwer, sein Schwanz pochte im wilden Stakkato seines Herzens. Abrupt ließ er Jamie los. Es hatte ihn erregt, ihn zu küssen. Porca puttana!

Jamie starrte ihn nur an.

»Es tut mir leid, dass ich dich …« Nick räusperte sich und versuchte, seine zitternden Schwingen unter Kontrolle zu bringen. »Es war der einzige Weg, den Bastard zu vertreiben.« Mittlerweile kannte er Jamie gut, nur leider nicht so gut, wie er wollte.

»Wenn du ihn doch für immer verschwinden lassen könntest«, flüsterte Jamie und stieß sich von der Wand ab.

Nick spannte den Körper an. Was meinte er genau? Er wunderte sich über sich selbst. Machte er sich etwa Hoffnungen, dem Jungen zu gefallen?

»Was hatte Zorell hier zu suchen?« Er folgte Jamie durch die gläserne Tür auf die geräumige Dachterrasse, die das obere Stockwerk umgab. Geräusche der Stadt drangen von weit unten herauf. Das Haus war das höchste in der Umgebung.

»Er weiß es«, sagte Jamie und sah so verzweifelt aus, dass sich in Nicks Magen ein Knoten bildete.

Der laue Sommerwind, der um das Hochhaus wehte, wirbelte Jamies kurzes braunes Haar durcheinander, das er meist mit Gel im Zaum hielt. Wie gern wollte Nick noch einmal seine Finger darin vergraben.

»Was weiß wer? Sprichst du von Zorell?« Nicolas packte ihn am Arm, aber der Kleine riss sich von ihm los. Schnellen Schrittes ging er über die Terrasse.

»Ich muss mit Ash sprechen.« Jamie blickte sich um. »Ash, bist du hier?«

Der Engel tauchte jedoch nicht auf. Ash wachte über Vincents Klan und über diesen Stadtteil. Bis letztes Jahr war er ein Dämon gewesen und hatte mit Jamie in der Unterwelt gelebt, um dem Höllenfürsten Ceros zu dienen. Der Kleine hatte eine Menge durchgemacht, musste im Alter von dreizehn Jahren mit ansehen, wie seine Eltern vor seinen Augen von Ceros abgeschlachtet wurden. Ash hatte ihm in der finstersten Zeit seines Lebens Halt und ein wenig Geborgenheit gegeben.

Nick lief hinter Jamie her; seine Schwingen flatterten im Wind. »Du kannst auch mit mir sprechen!« Wie oft hatte er versucht, zu Jamie vorzudringen, nur ließ er keinen richtig an sich heran. Längst hatte Nicolas erkannt, wie sensibel und verstört er war. Über ein Jahrzehnt hatte er in der Unterwelt gelebt, war dort vom Jungen zum Mann herangereift. Das hatte ihn geprägt. Er kam in der Menschenwelt nicht zurecht, flüchtete sich in Dämonenbars, betrank sich und suchte Ablenkung, indem er mit Männern schlief. Besonders zu einem jungen Mann, sein Name war Al, ging Jamie oft. Er war ein Sklave, der in der Dämonenbar Desiderio die Gäste bespaßen musste. Nick sah den beiden oft zu, wobei er jedes Mal einen Stich in der Brust spürte. Bereits vor Wochen hatte er sich in den Kleinen, wie er ihn liebevoll nannte, verguckt. Er durfte sich nicht in ihn verlieben, nicht in den Bruder der Hexe, verdammt! Er musste einen klaren Kopf behalten.

»Jamie«, rief er erneut, »was hat Zorell gesucht?«

Der Kleine stand an der Brüstung und schaute hinunter in eine Seitenstraße, die im Dunkeln lag. Nick stellte sich neben ihn und blickte über London. Die Stadt war nachts, wenn Ruhe einkehrte, wunderschön. Das war Nicks Zeit. Dann breitete er die Schwingen aus, schwebte über die Dächer, drang in Häuser ein, schlief mit Frauen oder Männern und raubte ihnen ein klein wenig ihrer Lebensenergie. Am nächsten Tag fühlten sie sich erschöpft und konnten sich an nichts erinnern, ansonsten ging es ihnen gut. Ein Mal schadete nicht. Nicolas würde jedoch niemals einen Partner haben können, mit dem er regelmäßig Sex hatte. Das würde ihn töten.

»Kleiner … hör mal«, begann er zögerlich und war versucht, seine Hand auf Jamies zu legen, die auf dem Geländer ruhte. »Ich kann dir helfen, wenn du mich lässt.«

Jamie ließ den Kopf hängen. »Niemand kann mir helfen«, flüsterte er. »Zorell ist zu stark. Ich komme kaum noch gegen ihn an.« Plötzlich wurde seine Stimme lauter und er schaute Nick an. »Bitte sag meiner Schwester, dass ich sie über alles liebe. Aber ich sehe keinen anderen Ausweg.«

»Wovon sprichst du?« Er wollte ihn am liebsten schütteln.

Bevor Nick irgendwie handeln konnte, schwang sich Jamie vor seinen Augen über das Geländer.

»Merda!« Sofort sprang er hinterher. Kopfüber stürzte er sich in die Dunkelheit und sah den taumelnden Körper zwei Armeslängen tiefer. Nick verfluchte sich, weil er nicht erkannt hatte, was Jamie plante. Verzweifelt versuchte er, schneller zu fallen als Jamie, indem er wie ein Pfeil in die Tiefe schoss, um den Luftwiderstand zu verringern. Als sie bestimmt schon dreißig Stockwerke abgestürzt waren, bekam er Jamie am Hosenbein zu fassen, riss ihn an sich, presste ihn gegen seine Brust und breitete die Schwingen aus. Der abrupte Widerstand riss ihm beinahe die Schulterblätter heraus, doch er biss die Zähne zusammen, um den Fall abzubremsen. Sie waren immer noch zu schnell und gemeinsam mit Jamies Gewicht zu schwer.

In der dunklen Gasse unter sich erspähte Nick vollgestopfte Mülltüten. Darauf steuerte er zu, drehte sich kurz vor dem Aufprall herum und landete auf den Beuteln. Quälende Schmerzen explodierten in seiner Wirbelsäule – aber Jamie lag sicher an seiner Brust. Er war unverletzt, das war alles, was zählte. Ohne ihn loszulassen, setzte sich Nick zwischen den aufgeplatzten Beuteln auf. Er war so erschüttert, dass er kaum sprechen konnte. »Wieso … wolltest du dich umbringen?« Was quälte ihn so sehr, dass er nicht mehr leben wollte?

Jamie starrte ins Nichts und antwortete erst nach einer Weile flüsternd: »Ich bin doch längst tot. Was hat mein Leben noch für einen Sinn?«

»Was ist passiert? Bitte rede endlich mit mir«, sagte Nick sanft und strich ihm das Haar aus der Stirn. Plagten ihn Schuldgefühle, weil Zorell stärker war als er und deswegen seine Eltern tot waren? Hasste er ein Leben, das er mit einem Dämon teilen musste, der, wann immer ihm danach war, seinen Körper übernehmen konnte? Nick dachte scharf nach. Als er damals in Vincents Klan gekommen war, hatte er geglaubt, Jamie würde sich erholen. Es hatte den Anschein erweckt, er würde sich gegen Zorell durchsetzen; doch bald hatte sich der Kleine total zurückgezogen. Ob er sich verloren gefühlt hatte, weil sein bester Freund Ash nun ein Engel war und kaum noch Zeit für ihn hatte? Fühlte er sich einsam, weil seine Schwester schwer verliebt in einen Goyle war, von dem sie ein Kind erwartete? Kam sich Jamie ausgeschlossen vor? Noir tat alles, um ihn glücklich zu machen, beschäftigte ihn, ließ ihn an ihrem Leben teilhaben, zeigte ihm ihre Liebe. All das schien nicht zu reichen.

Nick drückte ihn fester an seine Brust, wobei er die Rückenschmerzen ignorierte. Jamie war Noirs Ein und Alles. Er durfte ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Noir würde ihm nie verzeihen, wenn ihrem Bruder etwas zustieße. Er selbst würde es sich nie verzeihen. »Tu das nie wieder«, knurrte er, »oder ich zeige dir, wie ungehalten ich werden kann.«

Jamie streckte die Hand aus und ließ eines von Nicks Zöpfchen durch die Finger gleiten. Beinahe wirkte er wie der junge Mann, als den er ihn kennengelernt hatte. »Du und ungehalten?« Er lächelte matt.

»Ich bin der große, böse Dämon, schon vergessen?« Wie anziehend der Kleine auf ihn wirkte, wenn er nur er selbst war. Leider dauerte der Moment viel zu kurz. Schwarze Flüssigkeit lief wie Tinte in Jamies Augen. Verdammt, ausgerechnet jetzt musste dieser Bastard zurückkehren.

Sofort nahm seine Stimme einen anderen Klang an und er kämpfte sich aus Nicks Umarmung. »Verpiss dich, du Missgeburt, ich pass schon auf, dass Jamiel sich nichts antut, ist ja auch mein Körper!«

»Das hab ich gesehen«, zischte Nick.

Zorell stapfte auf eine Hauswand zu und malte mit der Hand einen großen Kreis darauf. Es bildete sich ein Ring aus blauknisternder Energie, in dessen Mitte ein schwarzes Loch klaffte. Der Mistkerl wollte in die Unterwelt verschwinden.

»Wehe, du folgst mir«, spie Zorell ihm entgegen und stieg durch den Kreis, der sich hinter ihm zusammenzog.

Nick sprintete zur Wand und bekam gerade noch den Zeigefinger in das Portal, bevor es sich aufgelöst hätte. So wartete er eine Weile, die ihm wie Stunden vorkam, und zog das Portal wieder auf. Das war einer der Vorteile, wenn man selbst ein Dämon war. Von nun an würde er dem Kleinen auf Schritt und Tritt folgen.

Kapitel 3 – Jenna Fairchild

 

Vincent stand neben der Liege und blickte Jenna gebannt an.

»Keine Hörner, keine Schwingen?«, fragte Noir, als sie sich das Gel vom Bauch wischte.

Lächelnd legte Jenna das Ultraschallgerät zur Seite. »Mit eurem Baby ist alles in Ordnung. Es entwickelt sich völlig normal.« Sie wusste, welch große Sorgen sich ihre Freundin und ihr Partner machten, denn Vincent war zur Hälfte ein Gargoyle. Seine Mutter war ein Mensch und bei seiner Geburt gestorben, weil Menschenfrauen nicht so große Geschöpfe austragen konnten. Auch der große, sexy Kerl, der nebenan im Aufwachraum lag, war ein Goyle.

Jennas Herzschlag beschleunigte sich, als sie an Kyrian dachte. Sie brauchte sich nur sein ernstes Gesicht vorzustellen und schon musste sie über diesen Mann nachdenken.

Vincent, der sich als einziger Goyle verwandeln und eine komplett menschliche Gestalt annehmen konnte, riss sie aus den Gedanken. »Druckst du mir bitte noch ein zweites Ultraschallbild aus?«

Mit zitternden Händen fuhr er durch sein braunes Haar, die steingrauen Augen fest auf den Monitor gerichtet. Stolz funkelte in ihnen. Obwohl er Angst hatte, freute er sich ungemein auf ihren Jungen.

Jenna nickte. »Klar.«

Noir setzte sich auf und Vincent half ihr. Er war unglaublich besorgt um seine Gefährtin, dass es Jenna ein Schmunzeln entlockte. Der zärtliche Wächter und die mächtige Hexe – die beiden waren ein Traumpaar.

»Wozu brauchst du zwei Bilder?«, wollte Noir wissen.

Vincent kratzte sich am Kinn. »Kara möchte unseren Sohn sehen.«

Jenna drückte ihm die Bilder in die Hand. »Eins für Kara, eins für dich.« Kara war der Wächterengel der Londoner Bruderschaft der Gargoyles, die Vincent verstoßen hatte. Der Engel war seine Ziehmutter gewesen. Daher standen sich die beiden nah.

»Kann ich dich allein lassen?«, fragte er Noir. »Kara muss heute Nachmittag weg und ich wollte ihr vorher unbedingt …«

Noir lachte. »Geh schon.« Sie küssten sich und Noir gab ihm einen Klaps auf den Hintern.

Nachdem Vincent Jenna gedankt hatte, war er bereits zur Tür hinaus. Sie seufzte. Der Mann ihrer Freundin war ein Traum. Ein attraktiver Beschützer mit dem Herzen am rechten Fleck. Sie freute sich für die beiden. »Du hast so ein Glück mit ihm«, sagte sie zu Noir.

»Ja, das habe ich.«

Jenna stand auf, reichte Noir ein weiteres Papiertuch und öffnete die Tür zum Nebenraum einen Spaltbreit. Vincent hatte während der Untersuchung immer wieder darauf gestarrt, als ob er gewusst hätte, dass sich einer seiner Goyles dahinter befand. Bestimmt hatten seine Instinkte ihm das verraten. Ihr Patient schlummerte bäuchlings auf einer Liege. Sein schwarzes Haar bedeckte die Hälfte seines Gesichts. Jenna war versucht, zu ihm zu gehen, um es ihm wegzustreichen und die Linien seines Kinns und der Wangenknochen nachzuzeichnen.

Plötzlich kitzelten silberweiße Strähnen ihre Nase, als Noir über ihren Kopf lugte. »Kyr hat doch keine schlimme Krankheit, oder?«

»Was?« Schnell zog sie die Tür zu. »Wieso bist du so neugierig?«

»Mir sind Vincents Blicke nicht entgangen.«

Jenna rollte übertrieben mit den Augen. »Ihr beide seid echte Schnüffler.«

Schulterzuckend erwiderte Noir: »Kyrian hat über Kopfschmerzen geklagt und ich habe ihm empfohlen, dich aufzusuchen.«

Von Kopfschmerzen wusste sie nichts.

»Oh Gott, hatte er einen Gehirntumor?« Noir zog sich ihr T-Shirt über den Babybauch und war im Begriff, die Tür erneut zu öffnen, doch Jenna stellte sich davor. »Er wurde operiert, oder?«, fragte Noir. Sorge lag in ihrem Blick.

Jenna nickte. »Ich darf dir nicht sagen, weshalb Kyrian hier ist, Schweigepflicht und so. Du verstehst?«

»Aber …«

Beruhigend legte sie ihrer Freundin die Hand auf den Arm. »Es geht ihm gut. Morgen ist er wieder voll einsatzfähig.« Dank ihrer Gabe, nur musste das niemand wissen.

Auf einmal fühlte sie ein Ziehen im Kopf. Intensiv schaute Noir sie an. »Untersteh dich!« Jenna grinste. »Du weißt, dass das bei mir nicht funktioniert, außerdem sollst du nicht zaubern.« Sie hatte schon früh gelernt, ihre Gedanken abzuschirmen, beziehungsweise klappte das bei Jenna ohnehin von Haus aus.

»Ich zaubere nicht, das passiert von ganz allein«, verteidigte sich Noir.

Als Jenna ihre tot geglaubte Freundin letztes Jahr wiedergesehen hatte, war sie sehr verletzt gewesen, weil Noir sie nicht eingeweiht hatte. Immerhin waren sie die besten Freundinnen gewesen, bis Noir im Alter von fünfzehn Jahren spurlos verschwunden war, genau wie der Rest ihrer Familie. Hätte Jenna gewusst, dass sie vor Dämonen auf der Flucht war, hätte sie alles getan, um ihr zu helfen. Aber jetzt verstand sie Noir – es wäre zu gefährlich gewesen. Außerdem hütete sie ihr eigenes Geheimnis. Seit dem Tag vor so vielen Jahren hatte sich eine Menge verändert. Ihre Freundin hatte sich verändert. Sie hieß nicht mehr Malou LeMar sondern Noir Hadfield und hatte silberweißes langes Haar anstatt ebenso blondes wie Jenna. Das Einzige, was sich nicht verändert hatte, war Jennas langweiliges Leben.

»Ich hab’s: Er hat sich Po-Implantate machen lassen.« Noir grinste so verschmitzt, dass Jenna lachen musste.

Sie gab ihr einen Klaps auf die Schulter. »Du bist unmöglich!« Als ob Kyrian irgendwelche Schönheitsoperationen nötig hätte. Zumindest jetzt nicht mehr. Sein Hintern war perfekt. Alles an ihm war perfekt.

Da Noir nicht zu einem normalen Frauenarzt gehen konnte, hatte Jenna angeboten, sie und ihr Kind zu untersuchen. In die Klinik ihres Vaters kamen fast nur Hexen, Zauberer und einige andere Geschöpfe. Hier blieben sie unter ihresgleichen und ihre Fähigkeiten unentdeckt. Ein Baby-Gargoyle auf dem Ultraschallbild war zwar auch hier etwas Ungewöhnliches, hatte jedoch niemanden schockiert.

»Er hat sich bestimmt nur für dich unters Messer gelegt, um dir nah zu sein«, sagte Noir.

»Wie kommst du da drauf?«, fragte Jenna möglichst beiläufig, während sie das Ultraschallgerät ausschaltete.

»Du hättest sehen müssen, wie er reagiert hat, als er dein Bild auf meinem Schreibtisch sah. Dem sind fast die Augen rausgefallen. Und obwohl er sonst kaum ein Wort herausbringt, wollte er plötzlich alles über dich wissen.«

»Wirklich?« Jenna war skeptisch, vielleicht wollte Noir nur kuppeln.

»Wäre Kyr kein Typ für dich?«

Sie zuckte mit den Schultern. Im Moment wollte sie an keine Männer denken.

»Stört es dich, dass er ein halber Gargoyle ist?« Noirs Gesicht bekam einen weichen Ausdruck. »Man gewöhnt sich schnell daran. Dann willst du nur noch wilde, animalische Kerle. Miau.«

Sie lachten so laut, dass Jenna Angst hatte, Kyrian zu wecken. Bevor er aufwachte, musste sie dringend noch etwas erledigen. »Er ist süß, keine Frage. Aber ich hab erst mal genug von den Männern.«

Noir hob die Brauen.

»Es ist wegen Ben«, sagte sie schließlich. Ihre Freundin würde ohnehin keine Ruhe geben, bis sie alles wusste.

»Ich dachte, es ist aus zwischen euch.«

»Von meiner Seite schon, aber er und mein Vater …« Sie seufzte. »Dad hat immer geglaubt, wir würden bald heiraten.«

»Er weiß es also noch nicht.«

»Ich habe Ben gebeten, ihm erst mal nichts zu sagen.«

»Und genau darum macht Ben sich Hoffnungen.« Jetzt rollte Noir mit den Augen. »Ein Grund mehr, sich den sexy Goyle von nebenan zu schnappen und allen zu zeigen, dass du nicht mehr zu haben bist.«

»Ich muss erst wissen, was ich wirklich will.«

»Das wäre?«

Jenna zögerte. Wie viel sollte sie ihrer Freundin erzählen? »Ich muss wissen, wer ich wirklich bin. Wie du weißt, redet mein Vater nie über meine Mutter, wer sie war, woher sie kam, wie sie starb … ob sie überhaupt starb.« Auch wenn er das stets behauptete. »Irgendwas verheimlicht er mir. Daher habe ich beschlossen, einen Monat Urlaub zu nehmen, um zu recherchieren.«

»Jetzt?« Noir riss die Augen auf. »Ich bin bald im achten Monat! Was, wenn ich dich brauche?«

»Nicht jetzt. Ich habe noch einige Operationen, die ich nicht verschieben kann. Ich fahre erst in drei Wochen.« Jenna lächelte, als Noirs Augen vor Entsetzen noch größer wurden. »Ich werde dich wissen lassen, wo ich bin. Jamie oder Nick können mich jederzeit holen.« Die beiden konnten schließlich Dämonenportale erzeugen. »Außerdem sind Dad und Ben ja auch noch da.«

Noir stieß die Luft aus. »Du hast echt Nerven.«

»Süße, mit deinem Baby ist alles in Ordnung.«

»Mach das Vince mal klar. Er denkt immer noch, ich werde bei der Geburt sterben, genau wie seine Mutter. Er hat mich mit seiner Panik schon angesteckt.«

Wer hätte gedacht, dass es etwas gab, das einer so mächtigen Hexe Angst einjagte? Jenna konnte sie allerdings verstehen. Niemals würde sie zulassen, dass ihrer Freundin oder dem Baby etwas passierte.

 

Als sich Jenna von Noir verabschiedet hatte, schlüpfte sie in den Nebenraum und blieb bei der Liege stehen, auf der Kyrian schlummerte. Hätte sie nicht gewusst, dass er zur Hälfte ein Gargoyle war, würde sie ihn für einen gewöhnlichen Menschen halten. Er war nicht so groß wie die anderen Goyles und hatte keine sichtbaren Auffälligkeiten. Außer seinen kurzen Fangzähnen. Da er nicht viel sprach, blieben sie weitgehend unentdeckt und sahen eher wie besonders spitze Eckzähne aus. Jenna vermutete, dass sie sich erst verlängerten, wenn er aufgeregt war.

Unter dem MRT hatte sich allerdings offenbart, dass Kyrian kein normaler Mann war. An den Schulterblättern befanden sich winzige Auswüchse, die äußerlich nicht zu erkennen waren. Dort saßen bei einem Gargoyle die Schwingen. Die hatten sich bei Kyrian nicht entwickelt.

Jenna hatte Vincent studiert, der sich als der einzige Gargoyle-Hybride, den sie kannte, entweder in einen Menschen oder einen richtigen Gargoyle verwandeln konnte. Auch partiell. Kyrian und die anderen Goyles besaßen diese Eigenschaft nicht. Nicolas und Kyrian versteinerten genau wie Vincent am Tag ebenfalls nicht, nur das Weibchen Akilah und der Gargoyle Dominic, beides reinrassige Wesen. Daher sah man sie tagsüber nie.

Vorsichtig strich sie Kyrs rabenschwarzes Haar zur Seite. Seine Ohrmuschel war etwas spitzer geformt, und auf den Aufnahmen hatte sie Hörner gesehen. Zögerlich fuhr sie tiefer in sein weiches Haar, bis ihre Fingerspitzen an einen Hörnerstummel stießen. Er war kleiner als der von Vincent. Warm fühlte er sich an und leicht rau. Als sie darüberstrich, knurrte Kyrian leise, drehte den Kopf in die andere Richtung und murmelte etwas Unverständliches.

Schnell zog sie die Hand zurück. Was hatte sie nur geritten? Sie wusste von Noir, dass die Hörner eines Gargoyles erogene Stellen waren. Hoffentlich hatte Kyrian nichts mitbekommen.

Nach einer Vollnarkose waren die meisten Patienten relativ schnell wieder ansprechbar, zumindest auf einer Halbschlafbasis. Aber mehr als Ja sagen und seinen Namen nennen war kaum möglich, wirklich bei Bewusstsein war man erst deutlich später. Kyrian schien noch einmal eingeschlafen zu sein. Seine Atmung ging langsam und gleichmäßig. Jenna musste sich beeilen, bevor er richtig wach wurde.

Vorsichtig zog sie die Decke nach unten. Kyrian war nackt und trug nur einen am Rücken offenen Kittel. Breite Schultern kamen zum Vorschein, ein schöner Männerrücken, auf dessen Haut einige alte, verblasste Narben zu erkennen waren, und ein Hintern, der trotz Kompresse so knackig aussah, dass sie am liebsten hineinbeißen wollte.

Ben, ihr Dad und sie hatten in einer zweistündigen Operation seinen Schwanzstummel entfernt. Jenna hatte den Goyle nicht gefragt, wieso sein Schwanz verstümmelt war. Sie konnte es sich denken. Wurde ein Gargoyle von seiner Bruderschaft verstoßen, zeichnete man ihn, indem ihm ein Horn oder der Schwanz abgeschnitten wurden. Wie schmerzhaft musste das gewesen sein, als sie ihm Nervenstränge, Muskeln und Blutgefäße durchtrennt hatten. Ihr Herz zog sich zusammen.

Wieso empfand sie bei diesem Patienten so viel? Sie benahm sich unprofessionell.