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© 2020 Siegfried Schmidt
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7504-6611-1
Rechtsanwalt Peter Thalbach gehörte seit acht Monaten zum Team Wagenroth & Partner und er war stolz, in dieser renommierten Kanzlei zu arbeiten. Die Kanzlei Wagenroth & Partner residierte im Erdgeschoss eines Jugendstilgebäudes, am Rande eines Parks mit prachtvollen alten Bäumen. Eine Top-Lage, nahe der Stadtmitte und doch fern von Hektik. Als Peter zum Vorstellungsgespräch die Kanzlei betrat, blieb er überwältigt stehen. Ein herrschaftliches Foyer, eingerichtet mit edlem Mobiliar und wertvollen Teppichen auf den Parkettböden empfingen ihn. Adrett gekleidete Mitarbeiter, äußerst höflich und freundlich, gingen geschäftig, doch ruhig ihrer Arbeit nach. Klischee hin, Klischee her, so stellte man sich eine erfolgreiche Kanzlei vor. Die hübsche Blondine am Empfang lächelte ihm zu und fragte wie sie ihm helfen könne. Peter stellte sich vor, sagte sein Sprüchlein auf. Die Frau telefonierte kurz und führte ihn dann zu Dr. Lessing, einem Seniorpartner der Kanzlei. Dessen Büro glich eher einer Suite wie Peter bewundernd feststellte. Doch den Raum beherrschte Dr. Lessing. Eine drahtige Figur in einem maßgeschneiderten Anzug, ein scharf geschnittenes Gesicht, kurzes graumeliertes Haar, eine sonore Stimme, ein kräftiger Händedruck – der Mann strahlte Autorität aus. Ein Top-Anwalt wie aus dem Bilderbuch. Nervös nahm Peter am Konferenztisch Platz und nach Dr. Lessing Aufforderung erzählte Peter vom Studium, von seinen Vorstellungen, seinen Erwartungen im Berufsleben. Dr. Lessing hörte aufmerksam zu, hinterfragte Einzelheiten, hakte nach, wenn er mehr wissen wollte. Während der Gespräche studierte Peter verstohlen
Dr. Lessings Miene, versuchte herauszulesen, wie der ihn einschätzte, welchen Eindruck er hinterließ, aber sein Gegenüber zeigte keine Reaktion. Im Anschluss stellte der die Kanzlei vor, erläuterte deren Strategie und Prioritäten. Peter hörte begeistert zu. Für ihn stand fest: In dieser Kanzlei hier wollte er arbeiten, unbedingt. Am Ende des Vorstellungsgesprächs drückte ihm Dr. Lessing die Hand, dankte für sein Kommen und versprach sich bald zu melden. Während der Rückfahrt reflektierte Peter das Vorstellungsgespräch, fragte sich immer wieder, ob er sich gut verkauft hatte, ob er den Test bestanden hatte. Nervenzehrende Tage vergingen, bis er die Antwort in den Händen hielt – die Zusage. Außer sich vor Freude tanzte er im Zimmer umher. Halleluja, er hatte es geschafft. Endlich würde er in einer renommierten Kanzlei arbeiten.
Mit Grausen dachte Peter an die Kanzlei seines Onkels Ferdinand, in der er seit Abschluss des Studiums arbeitete. Schuld daran war der Familienrat, der noch während seines Jurastudiums beschloss, dass Peter in Onkels Kanzlei eintreten und sie später übernehmen sollte. Das sei ein optimaler Start ins Berufsleben hieß es, den bekommt nicht jeder und so zog Peter, als frischgebackener Jurist, voller Elan in Onkels Kanzlei ein. Doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuße und schon bald bereute er die getroffene Vereinbarung. Der optimale Start entpuppte sich schnell als Alptraum. Herr im Himmel, in was für einem irrwitzigen Anwaltsbüro war er gelandet?
Onkel Ferdinand hatte seine Kanzlei in der Vorstadt, an einer Seitenstraße, die von der Durchgangsstraße abzweigte.
Die Kanzlei lag im ersten Stock eines Eckhauses aus den dreißiger Jahren. Die verwaschene Klinkerfassade gab dem Gebäude ein etwas düsteres, abgewohntes Aussehen und dieser Eindruck setzte sich im Inneren fort. Im schummrigen Treppenhause führte eine hölzerne Treppe mit ausgetretenen Stufen in die einzelnen Stockwerke hinauf. An der Tür zu Onkels Büro prangte ein Messingschild: Rechtsanwalt Ferdinand Thalbach, Amtszeiten von 9 – 12 und von 14-18 Uhr und darunter befand sich ein messinggefasster Klingelknopf. Wem die Tür geöffnet wurde, trat in ein von Zigarettenqualm geschwängertes Büro. Vor den Fenstern baumelten schiefverdrehte Jalousien, so, als schämten sie sich für den Anblick der sich ihnen bot. Ausgebleichte Tapeten klebten an den Wänden, von denen vergilbte Federzeichnungen auf einen wurmstichigen Schreibtisch starrten, hinter dem Onkel Ferdinand in einer dicken Rauchwolke saß. Ein wuchtiger Aktenschrank nahm die linke Raumseite ein und gegenüber stand eine lederne, durchgesessene Sitzecke, die den Besucher eher abschreckte, als zum Verweilen einlud. Wie lange schon trotzte dieser Trödel der Zeit? Als Gymnasiast hatte Peter gerne mal in Onkels Kanzlei vorbeigeschaut, um einen Vorgeschmack vom Anwaltsalltag zu erhalten, denn schließlich wollte auch er Anwalt werden. Hatte er damals diese Schäbigkeit, dieses heillose Durcheinander das hier herrschte nicht gesehen? War er blind gewesen oder hatten ihn damals die heißgeliebten amerikanischen Schwarzweißfilme, in denen Detektive und Anwälte in ähnlich schäbig-tristen Büros hausten, zu sehr beeinflusst? Gut, seit damals waren Jahre vergangen und Onkels Kanzlei mochte einmal besser ausgesehen haben. Trotzdem, diese Rumpelkammer hier musste schleunigst entrümpelt und modernisiert werden. Mit dieser Forderung aber biss er bei seinem Onkel auf Granit. „Vergiss es“, keifte der, „glaubst du, du bist ein besserer Anwalt, wenn du in fürstlicher Suite hinter Designer-Möbeln hockst? Wir sind hier nicht in Düsseldorf auf der ‚Kö’ oder ‚Unter den Linden‘ in Berlin. Es bleibt so wie es ist. Basta! Bisher hat sich noch niemand über meine Kanzlei oder über meine Arbeit beschwert.“ Peter schluckte seinen Ärger hinunter, aber diesem Querkopf würde er Paroli bieten.
Die Tage im Büro verrannen in zähem Einerlei, es gab wenig zu tun. Die Klienten des Onkels waren einfache Leute, die ihre Rechtsstreitigkeiten lieber selbst regelten. Dafür warfen sie ihr Geld keinem Anwalt in den Rachen, der sich ihrer Meinung nach nur an ihnen bereichern wollte. Und so hockte Peter lustlos am Schreibtisch, verfasste für die wenigen Klienten stumpfsinnige Behörden- und Versicherungsanträge. Mehrmals schon passte ihn jemand auf der Straße ab, fragte wie beiläufig, wie man diese oder jene Streitfrage klären könnte, wie die Rechtslage wäre. Ein geschickter Versuch, das Honorar zu umgehen, aber Peter fiel nicht darauf herein. Er forderte die Schlauberger auf, die Angelegenheit in der Kanzlei zu besprechen, natürlich kam keiner der Aufforderung nach. Gelegentlich beauftragte man ihn gegen Pfändungsbescheide oder gegen Geldeintreiber vorzugehen; das versprach mehr Abwechslung. Trotzdem, für ihn waren das alles nur Kinkerlitzchen, Lappalien. Nein, so hatte sich Peter seinen Start ins Berufsleben nicht vorgestellt. Selbst während seiner Referendarzeit in einer Mainzer Kanzlei, hatte er mehr als Anwalt fungiert, als hier bei seinem verschrobenen Onkel. Der ging ihm inzwischen gewaltig auf die Nerven. Ständig meckerte der herum, wusste alles besser, mischte sich, wie selbstverständlich, in Besprechungen mit Mandanten ein. Peters Kritik wischte er unwirsch beiseite: „Das ist meine Kanzlei, und du musst noch viel lernen mein Junge. Hier erlebst du echten, ungeschminkten Arbeitsalltag. Wenn du unbedingt hochhinaus willst, wenn du Schickimickis und überhebliche Neureiche als Klienten vorziehst, wenn du unbedingt vor Gericht streiten willst – bitte! Ich reiße mich nicht drum. Mir reicht‘s wie es ist.“ Peter reichte das nicht. Nach einem halben Jahr hatte er die Faxen dicke, wollte so schnell wie möglich aus Onkels Kanzlei aussteigen. Er bewarb sich bei mehreren Anwaltskanzleien und wartete gespannt auf Antworten. Er wurde überrascht: Mit so vielen Einladungen zum Vorstellungsgespräch hatte er nicht gerechnet. Sein Selbstwertgefühl stieg sprunghaft an. Gründlich arbeitete er die Angebote durch und entschied sich dann für Wagenroth & Partner, die ihm besonders vielversprechend schien.
Nach einem Monat bei Wagenroth & Partner sah Peter die Kanzlei nicht mehr ganz so klischeehaft wie bei seinem Vorstellungsgespräch. Noch immer beeindruckte ihn die noble Ausstattung der Räume, die ruhige, sachliche Art und Weise, wie das Arbeitspensum bewältigt wurde. Die Kollegen nahmen ihn freundlich aber zurückhaltend auf; seriös eben, wie es einer ehrwürdigen Kanzlei ansteht. Und die erwies sich als erste Adresse in der Region. Hier zu arbeiten war ein Privileg und Peter war überzeugt hier das Rüstzeug zu erhalten, um die Karriereleiter hinaufzustürmen. Doch so einfach wie er sich das vorstellte lief es nicht. Während der Einarbeitungszeit studierte er erst einmal alte Rechtsfälle der Kanzlei, fühlte sich mehr als Praktikant denn als Anwalt. Professor Reinhard fiel ihm ein, der während des Studiums an der Uni manchen Enthusiasten vor übersteigerten Erwartungen gewarnt hatte. „Glaubt ja nicht, Justitia wartet auf euch. Das Land hat genügend Anwälte und die Karriereleiter zum Top-Anwalt ist hoch und umlagert. Jede Sprosse wird hart umkämpft und manche ist angesägt.“ Trotz aller Unkenrufe ließ sich Peter nicht beirren. Er würde es schaffen, bis ganz hinauf an die Spitze. Sicher, zuvor musste er praktische Erfahrung sammeln, die Referendarzeit reichte da nicht aus und die Monate in Onkel Ferdinands Kanzlei konnte er vergessen. Bald assistierte er seinem Teamkollegen Dr. Weingarten, saß bei Besprechungen der Kanzlei mit am Tisch und begleitete Kollegen ins Gericht. Der Gerichtssaal – das war seine Welt! Für ihn der Inbegriff seiner Träume, seiner Vorstellung vom Anwaltsberuf. Schon als Gymnasiast saß er als Zuhörer im Gerichtssaal, sog mit allen Sinnen die erhabene Atmosphäre ein. Der Richter und die Staatsanwaltschaft in ihren Roben, Angeklagte und Verteidiger, die Zuschauer, die der Verhandlung gespannt folgten; das alles beeindruckte und erregte ihn. Oft hatte Peter in Gedanken sämtliche Rollen einer Verhandlung durchgespielt, präsentierte sich mit messerscharfen Argumenten, mal als Ankläger, mal als Verteidiger, überzeugte mit flammenden Plädoyers Staatsanwalt und Richter. In seinen Träumen feierte er wahre Triumpfe, beneidet von Kollegen und gefürchtet von seinen Gegenspielern. Peter hegte keine Zweifel, irgendwann würde sein Traum zur Wirklichkeit werden.
Wagenroth & Partner siebte nicht nur seine Angestellten, sondern auch seine Klienten, schließlich hatte man einen Ruf zu wahren. Jeder angenommene Fall sollte der Kanzlei Ansehen und Wertschätzung einbringen und natürlich lukrative Honorare. Auch Kanzleien standen untereinander im Wettbewerb, mühten sich um prestigeträchtige, einträgliche Fälle. Wie in vielen Gemeinschafts-Kanzleien herrschte auch bei Wagenroth & Partner eine hierarchische Struktur. Patriarch Wagenroth thronte an der Spitze, zog die Fäden. Die beiden Seniorpartner, Dr. Lessing und Dr. Reindl, führten das Geschäft, übernahmen die spektakulären Fälle, vertraten prominente Zeitgenossen. Gewöhnliche Rechtsstreitigkeiten – aber was war schon gewöhnlich – übertrugen sie den angestellten Anwälten. Peter fand jeden Fall elektrisierend, mochte der auch noch so kurios oder verzwickt sein. Er hatte sogar schon miterlebt, wie manches Verfahren teilweise zu einer Boulevard-Komödie ausartete, an der die Zuschauer ihre helle Freude hatten. Normalerweise gab es vor Gericht nichts zu lachen, die Verhandlungen waren ernst genug, forderten von den Verantwortlichen Umsicht, Kompetenz und Durchsetzungsvermögen. Als Assistent Dr. Weingartens, absolvierte Peter sachkundig und couragiert seine ersten Auftritte vor Gericht, was ihm bei den Kollegen Lob und Anerkennung verschaffte. Das bestärkte seine Überzeugung: Er war zum Anwalt berufen.
Peter erinnerte sich noch an seinen ersten, eigenen Fall. Dr. Weingarten hatte ihm eines Tages eine Akte auf seinen Schreibtisch gelegt und gesagt: „Ihr Fall Kollege. Ein Nachbarschaftsstreit. Ich habe den Mandanten für den Nachmittag in ihr Büro bestellt. Wenn Sie Hilfe benötigen, ich stehe ihnen gerne zur Seite.“ Peter war freudig überrascht. Sein erster Fall! Er schlug die Akte auf und las über den Streit zweier Nachbarn. Schnell war ihm klar: Da hatten zwei Nachbarn ihre Querelen zu einem Kleinkrieg aufgeplustert. Am Nachmittag empfing Peter seinen Mandanten. Der erzählte ihm aufgebracht, dass sein Nachbar ihn ständig ärgere und drangsaliere, dass der ihn auf der Straße öffentlich anpöbelte und beleidigte. Der tat so, als gehörte ihm die Straße, parkte seinen SUV wo er wollte, auch vor seiner Einfahrt. Ungeniert warf er Laub- und Gartenabfälle in den Nachbarsgarten, lärmte während der Ruhezeit in Haus und Garten. Alles Zureden half nichts, im Gegenteil, der Rowdy lachte nur und verhöhnte ihn. Als der Rabauke zum wiederholten Mal dessen Ausfahrt blockierte, stellte er ihn wutentbrannt zur Rede. Das Gespräch eskalierte zum Streit und der Nachbar wurde handgreiflich. Er versetzte seinem Kontrahenten zwei Ohrfeigen und streckte ihn dann mit einem Faustschlag in den Magen nieder und machte sich aus dem Staub. Der Mandant schilderte, wie seine Frau schreiend aus dem Haus stürzte, sich neben ihn warf, heulte und den brutalen Schläger lauthals verfluchte. Irgendjemand musste die Polizei und den Krankenwagen alarmiert haben, denn die trafen fast gleichzeitig ein. Der Notarzt untersuchte ihn und nahm ihn vorsorglich mit in die Klinik. Unterdessen befragte die Polizei seine Ehefrau zum Tathergang, aber die konnte keine konkreten Angaben machen, sie hätte den Streit nur gehört. Auch die Neugierigen, die inzwischen den Tatort säumten, wollten nichts gesehen haben und der Übeltäter war nirgends aufzufinden. Sobald der Malträtierte aus der Ambulanz entlassen wurde, erstattete er Anzeige bei der Polizei und schaltete die Kanzlei Wagenroth & Partner ein, um den Schläger zu verklagen.
Bevor Peter seinen Mandanten empfing, hatte er schon mit der Polizei gesprochen, die ihm aber nicht weiterhelfen konnten, weil es nichts Neues zu berichten gab. Peter besprach mit seinem Mandanten, wie sie vorgehen sollten. Da beide Parteien einer außergerichtlichen Einigung nicht zustimmten, sahen sich Opfer und Täter vor Gericht wieder. Zu Beginn der Verhandlung beschimpfte der Angeklagte Peters Mandanten, bezichtigte ihn als linken Spießer, dem ein Denkzettel verpasst werden musste. Außerdem hätte er sich nur gegen dessen Diffamierungen verteidigt. Das sah das Gericht anders und verurteilte ihn zu einer saftigen Geldstrafe, mit der Auflage, sich künftig vom Grundstück seines Nachbarn fernzuhalten.
Peter hatte seinen ersten Fall gewonnen.
Seit frühester Jugend träumte Peter von einer Karriere als Rechtsanwalt. Warum konnte er selbst nicht sagen; das war Berufung. Nach dem Abitur verwirklichte er seinen Vorsatz und ging nach Mainz, um Jura zu studieren. Noch heute erinnerte er sich an den Tag, als er voller Idealismus in ein neues Abenteuer seines Lebens aufbrach. Sein Vater brachte ihn damals an den Bahnhof und Peter erinnerte sich, wie untröstlich die Mutter war, den Sohn an die große Welt zu verlieren. Mütter leiden, wenn sie loslassen müssen, wenn ihr Kind in die Fremde zieht. Dabei fuhr er nur nach Mainz. Trotzdem verspürte er einen Kloß im Hals, als der Zug aus dem Bahnhof schlingerte und die Stadt, seine Stadt, am Fenster vorüberzog. Wehmütig blickte ihr Peter hinterher; der Abschied fiel schwerer als gedacht. Schon in diesem Augenblick vermisste er sein Zuhause, seine Freunde und durch seinen Kopf schwirrten die Jahre, die er nun zurückließ, die ihm auf einmal schön und glücklich erschienen. Und jetzt fuhr er ins Unbekannte, in eine ungewisse Zukunft. Was würde ihn erwarten? Versonnen schaute er aus dem Fenster in die vor-überhuschende Landschaft und sein Herz pochte im Rhythmus der Räder auf der Schiene. Erst die Zugdurchsage: „In Kürze erreichen wir Mainz-Hauptbahnhof“, riss ihn aus seinen Gedanken. Er sprang auf, schnallte den Rucksack auf den Rücken, griff den Koffer und zwängte sich durch den Gang dem Ausstieg zu. Sobald der Zug hielt drängte eine Herde Fahrgäste hinaus und eilte geschäftig dem Ausgang zu. Peter lief ein paar Schritte aus dem Gedränge heraus, stellte den Koffer ab und schaute sich um. Bahnsteige heißen nicht gerade willkommen, sie weisen eher ab, schaffen trotz reger Betriebsamkeit eine elegische Stimmung. Bahnsteige sind nichts weiter als ein Umschlagplatz für Waren und Reisende.
In der Bahnhofshalle schlängelte sich Peter durch lebhaftes Treiben, vorbei an Schaltern und Läden, und ein Mischmasch aus quirliger Geschäftigkeit, aus Essensgerü-chen und abgestandener Luft hing wie eine Käseglocke über dem Gewusel. Draußen auf dem Bahnhofsplatz atmete er auf und schaute neugierig in die Runde. „Hallo Mainz! Hier bin ich!“, grüßte er sein neues Zuhause. Die Stadt schaute ihm gleichmütig entgegen. Sie sah jeden Tag bekannte und fremde Gesichter, fragte nicht woher sie kamen und wohin sie gingen. Peter nahm den Koffer auf und ermutigte sich: „Okay, packen wir es an. Auf zur Universität.“ Man hatte ihm gesagt, er solle die Buslinie 69 nehmen und wie auf Kommando rollte auch schon der Bus auf die Haltestelle zu. Er lief hinüber, die Türen des Busses sprangen auf und ergoss die Fahrgäste auf den Bahnhofsplatz. Peter hievte den Koffer hinein, dachte noch, „den hätte ich im Schließfach deponieren sollen“, aber es war zu spät, der Bus fuhr bereits wieder los.
Neugierig schaute Peter aus dem Fenster. Auf den Straßen brodelte der Verkehr und zahllose Menschen liefen geschäftig vorüber. Die Stadt pulsierte ungestüm, hektischer als seine Heimatstadt. Gut, Mainz war eine Großstadt. Peter kannte etliche Großstädte und sicher würde Mainz nicht viel anders sein. Obwohl, eine Großstadt auf Stippvisite zu erleben ist etwas anderes, als in ihr zu wohnen. Okay, er würde in Mainz schon klarkommen und mit der Zeit würde er sich eingewöhnen.
Im Bus kündigte eine wohlklingende Stimme, anders als in seiner Heimatstadt, die nächsten Haltestellen an. Peter achtete auf die Durchsagen, um sein Ziel nicht verpassen. An der Universität stieg er mit einer Schar Studenten aus dem Bus und folgte ihnen auf das Universitätsgelände. Da stand er nun. Hierher hatte es ihn gezogen, hier würde er Jura studieren, hier erfüllte sich seine Bestimmung. Ein erhabenes Gefühl durchwallte ihn. Doch sein Überschwang verflog, als er den Andrang von Studienanfängern vor der Information sah; damit hatte Peter nicht gerechnet. Was sollte das? Die Anmeldeformalitäten waren doch bereits erledigt. Aber alles jammern half nichts, er stellte sich in die Schlange und als er endlich an die Reihe kam, studierte er Vorschriften und brachte Einweisungen hinter sich. Dann endlich hatte er es geschafft – er war Student der Rechtswissenschaft. Dem großen Ziel einen entscheidenden Schritt näher.
Seit dem frühen Morgen war Peter unterwegs, im Zug, im Bus, in der Universität, schleppte Rucksack und Koffer mit sich herum. Was für eine Plackerei. Er war froh als er wieder im Bus saß, der ihn in die Innenstadt zurückbrachte. Jetzt wollte er nur noch in seine Wohnung, das Gepäck abstellen und sich frisch machen. Außerdem war er gespannt auf sein neues Zuhause. Gute Freunde seiner Eltern, die aus Mainz stammten und noch immer intensive Beziehungen dorthin pflegten, hatten ihm in der Altstadt ein Appartement vermittelt, mit Kochecke und eigenem Bad. In einer Universitätsstadt ein außerordentlicher Glücksfall. Der Wohnungsmarkt war leergefegt und Peter wusste, wie verzweifelt Studenten nach einer erschwinglichen Unterkunft suchten. Natürlich wurde das ausgenützt, denn selbst für eine schäbige Kammer verlangte man horrende Mieten. In der freien Marktwirtschaft bestimmten halt Angebot und Nachfrage den Preis. Der Staat griff da nicht ein.
Peter kannte zwar die Adresse seiner Wohnung, aber nicht deren nächstgelegene Haltestelle und prompt stieg er zu früh aus dem Bus. Er fragte sich durch, lief ungehalten auf Straßen die ihm fremd waren, voller Leute die er nicht kannte. In all dem Trubel fühlte er sich allein, ausgegrenzt von all den Menschen ringsherum. Auf dem Marktplatz schaute er ehrfürchtig über die hochaufragenden Mauern des Doms; den kannte er von Bildern und vom Fernsehen her. Seltsam, dass Gotteshäuser, wo immer sie auch standen, so vertraut, so heimisch wirkten. Peter besichtigte gerne Kirchen, aber im Augenblick zog ihn nichts in den Dom hinein. Das konnte er noch oft genug nachholen, der lief ihm nicht weg. Er bog in die Gassen der Altstadt ab und staunte über die vielen Läden und Kneipen und wie viele Leute an diesem frühen Abend hier unterwegs waren. Zum Glück musste er nicht lange suchen und stand bald an der angegebenen Adresse. Argwöhnisch musterte er das Haus, in dem er die nächsten Jahre wohnen würde. Er öffnete die Tür und trat in ein düsteres Treppenhaus. Man hatte ihm gesagt, er solle sich beim Hausmeister Voss melden. Er entdeckte das Namensschild und noch bevor er klingeln konnte, streckte eine kleine, dürre Frau den Kopf aus der Wohnungstür, musterte ihn streng und fragte wohin er wolle. Leicht pikiert entgegnete Peter, dass er hier wohne, oben im Appartement. Die Frau trat in den Flur hinaus. „Ach Sie sind Herr Thal-bach, der neue Student. Herzlich willkommen! Ich bin Frau Voss, die Hausmeisterin. Warten Sie einen Moment, ich hole die Schlüssel.“ Sie verschwand und kehrte kurz danach mit den Schlüsseln und einer Mappe unter dem Arm zurück. „Dieser Schlüssel ist für die Haustür und der für ihre Wohnung“, erklärte sie, „verlieren Sie die nicht. Und das hier ist die Hausordnung. Bitte befolgen Sie die“ und fügte würdevoll hinzu, „wir sind ein anständiges Haus.“ Sie reichte ihm die Schlüssel und die Mappe. „Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich ruhig an mich, ich helfe ihnen gerne.“
Aus der Wohnung quäkte eine Männerstimme: „Maria, wer ist denn da?“ Ohne sich umzudrehen rief Frau Voss zurück: „Sei nicht so neugierig. Es ist der neue Mieter von der Mansarde oben.“ Sie verdrehte die Augen und hob unwirsch ihre Arme: „Mein Mann!“, erklärte sie und fragte gleich weiter: „Sie studieren Jura? Ein sicherer Beruf. Die Leute haben immer was zu streiten und Anwälte verdienen dabei gutes Geld.“ Sie lächelte verschmitzt und fragte: „Sie kommen aus Andernach? Sind Sie das erste Mal in Mainz?“ Peter kam nicht umhin seine Lebensgeschichte preiszugeben und bestimmt hätte er noch mehr erzählen müssen, hätte drinnen in der Wohnung nicht das Telefon geläutet. Frau Voss entschuldigte sich und Peter stieg schnell die Treppe hinauf: Mein Gott, wie kann man nur so neugierig sein! Vor der Tür seiner ersten eigenen Wohnung, verharrte er einen Augenblick, dann schloss er auf und trat gespannt in sein neues Zuhause. Er war überrascht. So geräumig und so gemütlich eingerichtet hatte er sich das Appartement nicht vorgestellt, hier würde er es aushalten. Er stellte sein Gepäck ab, ging ans Fenster und schaute auf einen kleinen Innenhof hinab – prima, hier würde er seine Ruhe haben.
Peter ahnte nicht, dass seine Wohnung schon wenige Wochen später ein beliebter Treffpunkt seiner Kommilitonen sein würde. Die erkannten schnell die Vorteile, die eine Bude in der Altstadt bot. Dafür ignorierten sie Peters penible Prinzipien, sein zugeknöpftes Wesen, das Freundschaften nicht gerade förderte. Anfangs war Peter alles andere als begeistert. Die Jungs beschlagnahmten sein Appartement, lümmelten auf seinen Sesseln, auf seinem Bett herum, schwadronierten das Blaue vom Himmel herunter, tranken sein Bier und qualmten die Bude voll. So einen Einstand hatte er nicht erwartet. Aber er unterdrückte seinen Unwillen, denn Freunde waren wichtig und er war froh, dass er so schnell welche gefunden hatte, selbst wenn er das vor allem seiner Wohnung verdankte. Abend für Abend fiel ein Trupp von Nachtschwärmern zum „aufwärmen“ in seiner Bude ein, bevor sie durch die Kneipen der Altstadt zogen und am nächsten Morgen litt manche Vorlesung in der Uni an Zuhörerschwund. So konnte das nicht weiter gehen, nicht alle Tage. Im Gegensatz zu manchem seiner Kommilitonen verlor Peter sein Ziel, studieren und promovieren, nicht aus den Augen. Trotz heftigem Protest der Clique setzte Peter maximal drei Abende pro Woche fest, an denen er mit ihnen durchs Viertel zog. Das Abkommen bewährte sich. Peter fand eine vertretbare Balance zwischen Bohème und Studium, die er konsequent durchzog. Außerdem reduzierte der Beschluss die Clique auf einen kleinen aber festen Freundeskreis und Frau Voss machte drei Kreuze, musste sie doch nicht mehr so häufig um Ruhe mahnen, wenn die Meute durch ihr Treppenhaus polterte.
Bereits in einer der ersten Vorlesungen entdeckt er Judith, einen blonden Engel, wie er schon immer durch seine Fantasie geisterte. Schon als Junge malte er gern Frauen mit langem, blondem Haar – wie hätte wohl Siegmund Freud das interpretiert? Jedenfalls, seit er Judith das erste Mal sah, war es um ihn geschehen: Peter brannte lichterloh. Im Hörsaal setzte er sich so, dass er sie sah und schmachtete seinen Engel heimlich an. Auf dem Campus folgte er ihr in sicherem Abstand und beobachtete eifersüchtig, mit wem sie redete, mit wem sie lachte. Sie anzusprechen, das traute er sich nicht. Nur in seinen Träumen ging er mit ihr Hand in Hand oder hielt sie fest umschlungen und ihre Küsse raubten ihm den Verstand. Würde er je den Mut aufbringen sie anzusprechen, ihr seine Liebe zu gestehen? Er litt Höllenqualen, verfluchte seine Feigheit, seine elende Schüchternheit – seine große Liebe schien unerreichbar. Natürlich bekamen die Freunde seine Leidenschaft für Judith schnell mit. Anfangs zogen sie ihn auf, gossen Öl ins Feuer, stichelten gehässig und verstärkten so ungewollt seine Qual. Als sie aber merkten, wie ernst es ihrem Freund war, wie sehr er litt und dass er keinen Mut aufbrachte seine Angebetete zu erobern, griffen sie ein und spielten Schicksal. Tatsächlich schafften sie das scheinbar Unmögliche: Sie verkuppelten die beiden miteinander. Eine reife Leistung! Peter konnte sein Glück kaum fassen. Er und Judith ein Paar. Plötzlich strahlte alles in einem heiteren, hellen Licht. Er könnte die ganze Welt umarmen, herausschreien wie glücksselig er war und in rosigen Farben malte er sich bereits ihre gemeinsame Zukunft aus. Judith ließ ihn träumen. Peter war nicht gerade ihr Traummann, aber sie mochte seine ruhige, verträumte Art. Seine Zuverlässigkeit, seine Disziplin, wie er sein Studium konsequent durchzog, das beeindruckte sie. Peter würde seinen Weg machen, warum sollte sie nicht mit ihm gehen? Bis sie ihre Promotion in der Tasche hatten, würde noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen, dann würde man weitersehen. Sollte es wirklich zu einer dauerhaften Bindung kommen, würde sie ihn schon zurechtbiegen. Für Peter stand ihre gemeinsame Zukunft außer Frage. Doch Glück ist ein flüchtiges Gut und das dicke Ende kommt meist unerwartet. Peter erwischte es viel zu schnell. Judith erhielt ein Stipendium für internationales Wirtschaftsrecht in den USA. Für sie ein Traum, den sie sich nicht entgehen lassen wollte und so brach sie nach einem Jahr in Mainz die Zelte ab und wechselte an die Universität nach Stanford. Mit einem Schlag zerbrach Peters Traum von einer gemeinsamen Zukunft. Insgeheim hatte der Zweifler in ihm befürchtet, dass es einmal so enden würde und er verdammte das heimtückische Schicksal, das ihn um seine große Liebe betrog. Beide versprachen sich in Verbindung zu bleiben, die Beziehung aufrecht zu erhalten. Wie naiv, denn ihnen war klar: Das war das Ende. Enttäuscht und verbittert haderte Peter mit sich und der Welt, verkroch sich hinter seine Bücher, vertiefte sich in sein Studium; doch nichts vermochte die Leere seines Herzens zu füllen. Wehmütig trauerte er seiner verlorenen Liebe hinterher. Die Freunde konnten seine Schwermut nicht nachvollziehen, ermutigten ihn: „Andere Mütter haben auch schöne Töchter.“ Beharrlich schleiften sie ihn durch Kneipen und Festivitäten, organisierten Verabredungen mit Mädels, unternahmen alles um den Trübsinnblasenden wieder unter die Leute zu bringen, ihn aus seinem Schneckenhaus zu befreien. Es dauerte bis Peter den Tiefschlag überwand, aber Judith konnte er nicht vergessen. Sie blieb ihm als süßer Traum in Erinnerung. Acht Studienjahre vergingen. Im Nachhinein wie im Flug. Es war eine schöne, aufregende Zeit und trotz mancher Schlappe mochte er keines der Jahre missen. Mit Auszeichnung absolvierte er sein Studium und kehrte als Dr. jur. in sein Elternhaus zurück. Peter hatte sein erstes Ziel erreicht. Jetzt würde er für mehr Gerechtigkeit auf der Welt sorgen.
Diesen Vorsatz konnte er bald unter Beweis stellen.
Die Stadtverwaltung hatte, nach heftigen Debatten, ihre Bürger davon überzeugt, dass ein neues, modernes Verwaltungsgebäude gebaut werden müsse. Nicht jeder in der Stadt war von diesem Beschluss begeistert und das Für und Wider spaltete die Bürgerschaft. Als wäre das nicht schon genug, platzte eine Nachricht in die aufgeheizte Stimmung, schlug ein wie eine Bombe – der Stadtrat ist korrupt! Schwarz auf Weiß stach die Anschuldigung aus der Zeitung, sprang ins Bewusstsein der Leser, riss sie aus ihrer trügerischen Idylle. Korruption! In unserer Stadt!
Bürgermeister Braun und die Stadträte ereilte die Nachricht zu Hause am Frühstückstisch. Wie jeden Morgen schlugen sie die Zeitung auf und ließen sie entsetzt fallen und der Bissen blieb ihnen im Halse stecken. Verdammt, sie waren aufgeflogen! Welcher Judas hatte sie verraten? Wer hatte ihr geheimes Abkommen der Presse gesteckt? Der Schreck verdarb ihnen den Appetit, riss sie aus ihrer morgendlichen Ruhe. Sie sprangen von ihren Stühlen, dass ihre Ehefrauen erschrocken zusammenfuhren und irritiert ihren Männern hinterher sahen, die ohne ein Wort zu sagen aus dem Haus stürmten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Aufgebracht eilten sie zum Rathaus hin, hetzten die Treppe hinauf und platzten ins Büro des Bürgermeisters hinein. Ihre Panik entlud sich in hysterischem Geschrei: Verrat! Man hatte sie verraten!
„Ruhe!“, schrie der Bürgermeister in den Tumult hinein, „Ruhe!“, obwohl auch ihm zum Schreien war. Verdammt, er war erledigt. Nur ein Wunder konnte ihm das Amt noch retten. Um aus diesem Desaster herauszukommen, brauchte er schlagkräftige Argumente und viel, sehr viel Glück. Hastig berief er eine Krisensitzung ein. Nach dem Tumult im Büro, saßen die Stadträte nun bleich am Konferenztisch des Sitzungssaals. Das Gespenst „Demaskierung“ rumort durch ihre Köpfe. Ihr gepflegtes Image vom Saubermann geriet zur Farce. Wer von ihnen steckte nicht in dubiosen Abhängigkeiten? Wer handelte schon immer korrekt und uneigennützig? Angst und Sorge vor den Konsequenzen der Enthüllung lähmte ihr Denken.
Bürgermeister Braun schlug mit der Faust auf den Tisch und sein Gesicht war zu einer hässlichen Grimasse verzerrt. „Verdammt Leute“, rief er ungestüm, „wir sitzen gewaltig in der Scheiße! Welcher hirnverbrannte Idiot hat uns da hineingeritten? Der Schlag soll diesen Bastard treffen! Der Verrat kostet uns Kopf und Kragen, wenn wir nicht schleunigst aus diesem Schlamassel herauskommen.“ Blanke Wut blitze aus seinen Augen.
Lothar Deuser, der städtische Baudezernent, saß leichenblass im Sessel und krampfte seine Hände um die Lehnen. Verflucht und zugenäht, er war geliefert. Ebert, dieser schmierige Zeitungsfritze hatte ihn ins Messer laufen lassen. Dieser Intrigant hatte ihn zu einem Plausch unter Freunden eingeladen, hatte ihn mit zwei Flaschen altem Bordeaux geködert, zum Reden gebracht und, verdammter Mist, er hatte die Kontrolle über sich verloren. Ein unüberlegtes Wort, eine vage Andeutung und dieser Wortverdreher Ebert hakte nach, quetschte eine Information nach der anderen aus ihm heraus. Und jetzt stand sein Verrat Wort für Wort in der Zeitung. Wie konnte ihm dieser hinterhältige Schuft das antun? Sie waren doch Kumpels. Der Baudezernent saß wie auf glühenden Kohlen und rutschte auf seinem Stuhl herum. Verdammt, es gab keinen Ausweg. Er musste Farbe bekennen. „Tut mir leid Leute“, krächzte er in die Runde hinein. „Der Ebert hat mich ausgetrickst. Ich wollte dem nichts sagen, aber der hat mir die Worte aus der Nase gezogen. Ich hätte nie gedacht, dass der das veröffentlichen würde.“
Die Stadträte starrten fassungslos auf das Häufchen Elend, das sich tief in den Sessel hineindrückte. Der Bürgermeister sprang, wie von der Tarantel gestochen, aus dem Sitz. „Verdammt, Lothar“, schrie er außer sich vor Zorn und sein kahler Schädel leuchtete wie eine reife Tomate. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Welcher Teufel hat dich geritten diesem Schmierfink Ebert Internes zu erzählen? Du verdammter Idiot! Du hast uns ans Messer geliefert! Wir sind erledigt!“ Wutschnaubend warf er sich in den Sessel zurück und starrte wütend auf den Verräter.
Der Baudezernent zitterte wie Espenlaub, presste zerquält die Hände vor die Augen; er konnte die feindseligen Blicke seiner Freunde nicht mehr ertragen. Verdammt, was hatte er da angerichtet, wie konnte ihm das passieren? Er hoffte, die Erde täte sich auf und würde ihn verschlucken.
Hübner schnauzte: „Du Trottel! Wie konntest du dich von diesem Zeitungsfritzen einwickeln lassen und das Maul aufreißen. Hat der dich abgefüllt und dir Honig um dein Schandmaul geschmiert? Verdammt noch mal, du kennst doch diesen Aasgeier. Der wartet doch nur darauf, dass jemand das Maul aufmacht, schlachtet die Story aus und druckt sie in seinem Käseblatt ab. Verflucht, jetzt ist die Kacke am Dampfen.“ Hübners Spezi Schneider schüttelte verdrossen den Kopf. In der Tat, sie waren geliefert, egal was sie unternehmen würden. Wie konnte Lothar nur so dämlich sein und ausgerechnet bei Ebert den Mund aufreißen. Klar, dass der die Indiskretion in die Zeitung setzte und sie damit an den Pranger stellte. Dieser gottverdammte Schmierfink! All die zähen Verhandlungen, in denen Hübner und er die Stadträte gegängelt hatten, um den Zuschlag für den Neubau der Stadtverwaltung zu bekommen, waren jetzt null und nichtig. Sie hatten den Deal heimlich ausgehandelt, niemand sollte davon erfahren. Was zum Teufel war falsch daran? Wer heute im Wettbewerb steht, muss mit harten Bandagen kämpfen und wenn nichts mehr voran ging, keine Argumente mehr stachen, dann half halt Bakschisch. Mein Gott, so lief das eben. Aber sobald das an die große Glocke gehängt, wenn es von den Medien plattgewalzt wurde, erwachte plötzlich das kleinbürgerliche Gewissen der Leute. Die sind schockiert? Scheiß der Hund drauf. Jeder muss sehen wo er bleibt. Schneider schnaufte verächtlich; der ganze Hickhack war für die Katz gewesen. „Lothar, du musst aus der Schusslinie“, schnauzte der Bürgermeister. „Nicht, dass du noch mehr Mist verzapfst. Du tauchst vorerst ab, bis sich die Wogen geglättet haben. Dann sehen wir weiter.“
Die Stadträte hofften, mit dieser Entscheidung wären auch sie aus dem Schneider. Sie redeten sich ein, mit ein paar Blessuren, aber sonst mit heiler Haut davonzukommen. Doch im Hinterkopf klopften Angst und Zweifel. Mit Recht, denn noch während der Sitzung erreichte sie eine neue Hiobsbotschaft aus dem Büro des Staatsanwalts. Einer der unterlegenen Anbieter für den Verwaltungsneubau hatte gegen die Bauvergabe eine Klage wegen Klüngelei und Vorteilsnahme eingereicht. Der Zeitungsartikel hatte seinen Verdacht bestätigt, dass die Ausschreibung ein abgekartetes Spiel war, ein hinterhältiges Komplott. Das ließ er sich nicht gefallen, das würde er diesen Halunken heimzahlen.
Tatsächlich leitete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein und das Unheil nahm seinen Lauf. Unter dem Druck der Ermittler bekannte der Baudezernent, dass zwischen dem Stadtrat und dem „Konsortium Hübner-Schneider“ Absprachen getroffen und Zugeständnisse vereinbart wurden. Mehr dazu wollte er vorerst nicht sagen. Aber er empfand Genugtuung, dass er seinen Kollegen, die ihn so schofelig behandelten, die Suppe versalzte. So durften die mit ihm nicht umspringen. Sie saßen alle im selben Boot und er würde nicht allein über Bord gehen.
Die Stadträte durchlebten Tage und Nächte voller Hoffen und Bangen. Ihr Ansehen, ihre Karriere stand auf dem Spiel. Die Leute in der Stadt zerrissen sich bereits die Mäuler und einige beschimpften sie sogar als Betrüger, als Lumpenpack und forderten rigorose Strafmaßnahmen. So viel Feindseligkeit hatten die Stadträte nicht erwartet. Was hatten sie denn verbrochen? Mauschelei, ein kleiner Nebenverdienst, das aber zum Wohl der heimischen Wirtschaft; war das so verwerflich? Mein Gott, was regten sich die Leute da auf? Okay, der Deal war nicht ganz legal und niemand sollte von ihren Machenschaften erfahren. Und jetzt waren sie aufgeflogen.
Die Stadträte schwitzten Blut und Wasser, hofften inständig, der schmutzige Deal könne unter den Teppich gekehrt werden. Stattdessen aber erhielten sie eine Vorladung vor Gericht. Jetzt brannte ihnen der Boden unter den Füßen. Verdammt, sie waren geliefert. Für Hübner und Schneider war Polen noch nicht verloren, so schnell gaben sie nicht auf. Sie beauftragten die sie vertretende Kanzlei Wagenroth & Partner mit ihrer Verteidigung und Dr. Lessing übernahm den Fall. Sein Team wälzte Ermittlungsakten, quetschte ihre Mandanten und Vertreter der Stadt aus, durchforstete deren Vorgehensweise. Sie stachen in ein Wespennest und nach Sichtung aller Fakten erkannte das Team: Da war ein abgekartetes Spiel gelaufen.
Bereits nach wenigen Wochen eröffnete die Staatsanwaltschaft das Hauptverfahren. Im Gerichtssaal saßen die Zuschauer dichtgedrängt, sie wollten hören, wie und warum ihnen ihre Stadträte das Fell über die Ohren zogen, wie sie ihre Steuergelder verprassten. Die Angeklagten saßen blass und angespannt neben ihren Verteidigern. Hübner und Schneider hockten äußerlich gelassen zwischen Dr. Lessing und Dr. Thalbach auf der Anklagebank. Stoisch übergingen sie das Murren und die vernehmbaren Schmähungen aus dem Publikum. Anwalt Peter Thalbach war nicht weniger nervös als seine Mandanten. Er stand zum ersten Mal im Licht öffentlichen Interesses – darauf hatte er lange gewartet. Ein Prozess gegen käufliche Stadträte, gegen angesehene, doch korrupte Unternehmer der Stadt machte Furore. Die Bürger waren zu Recht aufgebracht. Peter hatte mit seinen Mitarbeitern die Anklageschrift studiert, hatte Punkt für Punkt recherchiert und mit den Mandanten besprochen. Nach Abschluss der Ermittlungen hatte er eine Verteidigungsstrategie ausgearbeitet und sie seinem Chef vorgelegt. Der drückte Peters Hand. „Gute Arbeit Thalbach! Damit holen wir das Bestmögliche für unsere Mandanten heraus.“ Peter strahlte, denn ein Lob von Dr. Lessing bekam man nicht alle Tage.
In der Verhandlung kamen die dubiosen Machenschaften von Stadtverwaltung und des Konsortiums Hübner-Schneider vollends ans Licht der Öffentlichkeit. Zu viele hatten den Mund zu- und die Hand aufgehalten. Schmiergeld gab den Ausschlag für die Vergabe des Bauvorhabens. So mancher Prozessbeobachter tönte großspurig, dass er schon lange dem Stadtrat misstraute. Diese Möchtegern-Politiker hätten eine Menge Dreck am Stecken, füllten sich die eigenen Taschen auf Kosten ihrer Mitbürger. Warum aber hatten die Aufrührer so lange geschwiegen? Bisher schien es ihnen egal zu sein, wie die Stadt die Geschicke ihrer Bürger lenkte. Hatten sie Repressalien, negative Folgen befürchtet, wenn sie den Mund aufmachten? Sicher, Zivilcourage macht einsam, aber als Mitläufer machten sie sich mitschuldig. Jetzt, da alles an die Öffentlichkeit gelangte, machten die Aufwiegler einen auf Saubermann, als plagte sie das Gewissen. Gespannt verfolgten sie die Gerichtsverhandlung, waren empört, wie bedeckt sich die Angeklagten hielten. Die überließen Aussage und Argumentation weitestgehend ihren Anwälten. Die Beschuldigten wuschen ihre Hände in Unschuld – seit Pontius Pilatus ein gängiges Konzept. Der Baudezernent aber geriet im Laufe der Verhandlung gewaltig unter Druck. Gab es geheime Absprachen, einen Deal? Jedenfalls wälzte man die Verantwortung der Straftat auf den Baudezernenten ab. Lothar Deuser konnte dem nichts entgegensetzen; er wurde sang- und klanglos überfahren. Einer musste den Kopf hinhalten und den Geständigen beißen nun mal die Hunde. Trotzdem, die Beobachter im Gerichtssaal trauten ihren Ohren nicht, als das Gericht den Baudezernenten zum Hauptschuldigen erklärte und ihn wegen Vorteilsnahme und Amtsmissbrauchs, zu einer saftigen Geldstrafe und zu sechs Monaten Bewährung verurteilte. Lothar Deuser nahm das Urteil mit steinerner Miene entgegen. Bürgermeister und Stadträte kamen mit einem Bußgeld glimpflich davon. Das Gericht rügte zwar den Stadtrat wegen Fehler bei der Vergabe des Bauvorhabens und wegen Versäumnis der Aufsichtspflicht und mahnte mehr Transparenz bei Beschlüssen des Stadtrates an. Das war’s. Die Zuhörer empfanden den Richterspruch nicht gerecht, zumal auch Hübner und Schneider mit einem blauen Auge und einer Geldstrafe davonkamen, denn ihre Anwälte überzeugten den Richter, nicht dem Strafmaß der Staatsanwaltschaft zu folgen. Ein brillanter Erfolg der Verteidigung. Anwalt Thalbach hatte seine Feuertaufe bestanden. Doch Peter hätte lieber die beiden Schlitzohren angeklagt denn verteidigt. Aber so ist das Leben.
Unmittelbar nach dem Urteil beurlaubte die Stadtverwaltung ihren Baudezernenten. Ein Sündenbock war gefunden und überführt. Die Stadt schrieb das Bauvorhaben neu aus und schon bald herrschte wieder Friede in der Stadt. Wie schnell doch die Leute in den Alltag zurückkehrten. In dieser schnelllebigen Zeit, in der eine Sensation die andere jagte, stumpften Wahrnehmung und Empfindung ab. Vetternwirtschaft und Korruption im Stadtrat: Mal ehrlich, wer außer ein paar Gutgläubigen war wirklich überrascht? Jeder weiß doch, in der Politik sind Vetternwirtschaft und schmutzige Deals an der Tagesordnung. Eine Hand wäscht die andere und je höher die Stellung, umso größer die Hand. Lobbyisten durchsetzen Regierungen, kaufen Politiker jeglicher Couleur – das nennt man dann Interessenausgleich. Die globale Gier hat uns längst überrollt, fordert gnadenlos Tribut. Korruption frisst sich wie ein Krebsgeschwür durch die Gesellschaft und nichts kann die Metastasen stoppen. Sie wachsen und gedeihen prächtig, widerstehen jeder Therapie, jeder Operation. Wir wissen das und doch nehmen wir es hin. „Man könne eh nichts daran ändern“, beschwichtigte man sich. Selbstgefällig lästern wir über ferne „Bananenrepubliken“, dabei leben wir selbst mitten im Affentheater, belogen und betrogen von selbsternannten Heilsbringern. Klüngelei und Vetternwirtschaft? Wir nehmen es gelassen hin, zucken ergeben mit der Schulter. Wie soll man dieses Übel bekämpfen?
***
Die Wogen, nach dem Prozess „Vergabe Neubau Stadtverwaltung“, hatten sich kaum geglättet, da schockierte eine neue Schreckensmeldung die Stadt. Peter arbeitete gerade im Büro an einem neuen Fall, als ihn die grässliche Nachricht ereilte. Eine Lektion, zu was ein gedemütigter Mensch fähig war.
Der geschasste Baudezernent der Stadt konnte die Schmach, die Schande die ihm widerfahren war nicht verwinden. Man hatte ihn aufs Kreuz gelegt. Er war das berühmte Bauernopfer, das seinen Kopf für die Schandtaten anderer hinhalten musste. Selbst sein alter Freund, Bürgermeister Braun, war ihm ohne mit der Wimper zu zucken in den Rücken gefallen. Wie konnte der ihm das antun? Sie waren doch Freunde seit ihrer Schulzeit, studierten zusammen Sozialwissenschaften, traten gemeinsam in die Partei ein, starteten ihr Berufsleben im Rathaus ihrer Heimatstadt; das verbindet doch. Sicher, Braun war ihm immer mehrere Schritte voraus. Er glühte vor Ehrgeiz, taktierte geschickt und gerissen, gebrauchte seine Ellenbogen. Seine kräftige Gestalt flößte Respekt ein und sein eiserner Wille erstickte jeden Widerstand. Er stieg schnell auf, sowohl in der Partei, als auch im Rathaus; da konnte Lothar nicht mithalten. Zu seinem Glück vergaß Braun seinen alten Weggefährten nicht und schleifte ihn von Amt zu Amt hinter sich her. Im Rathaus hieß es bald: Wo der Bürgermeister ist, ist Lothar nicht weit. Ohne Braun wäre Lothar nicht bis zum Baudezernenten aufgestiegen. Aber diese Abhängigkeit von seinem Gönner machte ihn zu dessen Vasallen. Lothar fügte sich in diese Rolle. Er hätte nie gedacht, dass Braun ihn einmal fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Und jetzt, in seiner bittersten Stunde, war Lothar Deuser vogelfrei. Das gab ihm den Rest. Nach seiner Verurteilung zeigten die Leute mit dem Finger auf ihn, zischelten hinter seinem Rücken und die gehässigen Seitenhiebe die er einstecken musste, zermürbten ihn. Freunde und Bekannte wandten sich von ihm ab. Aber das Schlimmste war: Seine Frau und seine beiden Söhne hatten ihn verlassen. Die Schande des Ehemanns, des Vaters, traf auch sie und das Spießrutenlaufen durch die Stadt, die böswilligen Beleidigungen waren die Hölle für sie. Dieses Opfer wollten sie nicht länger bringen. Lothar und Anna waren seit 25 Jahren verheiratet und die bevorstehende Silberhochzeit sollte im Freundeskreis groß gefeiert werden. Danach wollten sie zu einer Rundreise durch die USA aufbrechen, auf die sie sich schon lange freuten. Und mit einem Schlag hatte er durch Leichtsinn alles verloren, hatte er seine Zukunft verspielt. Das war zu viel, das warf ihn aus der Bahn. Seine heile Welt brach zusammen, seine Träume waren ausgeträumt, nichts ergab mehr einen Sinn. Ihn beherrschte nur noch eines – Rache. Er wusste wann der Stadtrat tagte und an einem dieser Tage ging er ins Rathaus, stieg die Treppe zum Sitzungssaal hinauf und öffnete die Tür. Ohne ein Wort zu sagen, zog er eine Pistole, schoss auf den Bürgermeister und dann wahllos in die Runde. Die Schüsse peitschten durch den Raum, während Lothar ein berauschendes Gefühl von Würde und Gerechtigkeit durchflutete. Diesen Moment kostete er aus – erst dann jagte er sich eine Kugel in den Kopf.
Der Nachhall der Schüsse hing im Raum, dann wurde es totenstill. Schockiert und paralysiert begriffen die Stadträte nicht, was für ein Inferno über sie hereingebrochen war. Doch jäh erwachten sie aus ihrer Starre. Sie sprangen von den Stühlen, schrien ihre Angst, das Grauen aus sich heraus, stürmten dem Ausgang zu. Fort, nur fort aus dem entsetzlichen Inferno. Auf dem Gang fielen sie den Kollegen, die aus ihren Büros in den Sitzungssaal eilten, in die Arme. Entsetzt hielten sie sich umfangen, unfähig das Grauen zu fassen. Wenig später stürmten Polizei und Rettungskräfte in den Sitzungssaal hinauf und auch sie standen fassungslos dem Horror gegenüber. Sie hatten schon schreckliches erlebt, aber was sich hier vor ihren Augen abspielte, sprengte alles was sie bisher ertragen mussten.
Bürgermeister Braun hing reglos auf seinem Stuhl. Sein kahler, feister Schädel hing auf seiner Brust und ein rotes Rinnsal lief über sein Gesicht. Er war tot. Tot wie sein Kämmerer Roloff. Der war wohl aufgesprungen als die Schüsse durch den Raum krachten, denn er lag hinterrücks auf dem Boden und Blut färbte sein Hemd dunkelrot. Der Schütze lag kurz hinter der Tür auf dem Parkett. Die Kugel hatte sein Gehirn durchschlagen und um seinen Haarkranz trug er eine blutrote Krone. Zwei weitere Stadträte bluteten aus Schusswunden, aber sie schienen nicht lebensgefährlich verletzt; sie waren der Apokalypse entkommen. Kein Opfer, kein Augenzeuge würde die schrecklichen Bilder je wieder loswerden und auch die Zeit würde daran nichts ändern.