Daniel Lehmann

Corona

Liebe im Grenzbereich

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Freitag, 31. Januar 2020

Montag, 10. Februar 2020

Mittwoch, 26. Februar 2020

Freitag, 06. März 2020

Montag, 09. März 2020

Donnerstag, 12. März 2020

Freitag, 13. März 2020

Samstag, 14. März 2020

Sonntag, 15. März 2020

Montag, 16. März 2020

Dienstag, 17. März 2020

Mittwoch, 18. März 2020

Donnerstag, 19. März 2020

Freitag, 20. März 2020

Samstag, 21. März 2020

Sonntag, 22. März 2020

Montag, 23. März 2020

Dienstag, 24. März 2020

Mittwoch, 25. März 2020

Samstag, 28. März 2020

Dienstag, 31. März 2020

Donnerstag, 02. April 2020

Samstag, 04. April 2020

Montag, 06. April 2020

Karfreitag, 10. April 2020

ein Tag im Mai 2020

Impressum neobooks

Freitag, 31. Januar 2020


CORONA

Liebe im Grenzbereich


meinen Eltern



Dieser Roman hat viele biografische Anleihen, ist aber nicht autobiografisch. Die Fluchtgeschichte meiner Großmutter mütterlicherseits, die Spionage-Tätigkeit meiner Großeltern väterlicherseits, deren Haft in Hohenschönhausen und die dadurch nachhaltig geprägte Biographie meines Vaters waren Inspiration für Teile der Geschichte.

Darüber hinaus sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sowie realen Geschehnissen rein zufällig und unbeabsichtigt.


Ich danke meinem Ehemann für die Unterstützung, meiner Schwägerin für die Gespräche und meinen Freundinnen D.H. und A.S. für das Korrektorat.






Julius


So, jetzt ist es bald geschafft. Nur noch zwei Kisten, dann fahre ich den Panda und mein Bruder die Robbe zu Theklas Wohnung. Ich habe schon einen kleinen Lieferwagen genommen… Und ich hatte noch befürchtet, mein Bruder und ich müssten zweimal fahren. Dabei ist die Robbe noch halb leer. Bald werde ich 39 und mein Hausstand passt in einen kleinen Lieferwagen. Irgendwas habe ich wohl falsch gemacht.

„So Brüderchen, das ist die letzte Kiste. Ich fahre dann schon mal zu Thekla. Bist Du sicher, Julius, dass Du bei ihr einziehen willst? Du könntest auch zu uns, vorübergehend.“

„Na, zurzeit ist Tantchen ja noch im Krankenhaus und dann auf Kur. Aber danke für das Angebot. Fahr Du ruhig schon mal vor. Ich schaue nochmal, ob ich alles habe und dann komme ich gleich nach. Will mich nur noch bei meiner alten Nachbarin verabschieden.“

So, hier ist alles in Ordnung. So, das Badezimmer passt auch. Mist, ich habe vergessen, das Klo zu putzen. Ach egal. Wenn ich es so recht bedenke, ich sollte eigentlich noch einmal reinkacken und nicht spülen. Ah, auf dem Balkon ist noch ein Blumenkasten. Den kriege ich aber auch im Panda weg. Dann nur noch bei Frau Simon Tschüss sagen.

„Hallo Frau Simon. Ich wollte mich noch bei Ihnen verabschieden.“

„Verreisen Sie, Herr von Witzleben?“

Das habe ich doch schon alles erzählt.

„Nein, ich ziehe doch aus.“

„Ach, wohin denn?“

„Erstmal nach Zehlendorf zu meiner Tante.“

„Aber warum denn?“

Das habe ich doch schon alles erzählt.

„Die Vermieterin hat auf Eigenbedarf gekündigt.“

„Ja will die denn hier einziehen? In eine Einraumwohnung? Als Anwältin?“

„Sie sagte, sie brauche die Wohnung, wenn sie ihre Enkel in Berlin besuchen will. Sie wohnt ja in Potsdam. Aber ich glaube, sie will die Wohnung verkaufen, gerade jetzt wegen des Mietendeckels.“

„Ach so? Aber warum haben Sie sich dann nicht gewehrt, Herr von Witzleben?“

„Weil ich keine Nerven und kein Geld für einen Prozess habe.“

Schweigen.

„Also, Frau Simon, ich wünsche Ihnen alles Gute.“

„Danke. Und danke, dass Sie mir immer die Wasserkisten nach oben getragen haben.“

„Hab ich gerne gemacht. Also, wie gesagt, alles Gute.“

„Ihnen auch, Herr von Witzleben.“

So das war’s. Good Bye, Friedrichshain. Good Bye, eigene Wohnung. So schnell kann‘s gehen. Bald werde ich 39, keine Wohnung, keinen festen Job, keinen festen Freund und mein Hausstand passt in eine halbe Robbe. Irgendetwas muss ich definitiv falsch gemacht haben.



Mittwoch, 09. November 1938


An der Wand hängt ein Ölgemälde. Eine Yacht. Arkona. Die Yacht des Herrn von Witzleben.

Dieser Herr von Witzleben schaut das Material, eine verbesserte Form des Bakelits, genau an und hält es gegen eine Lampe. Das Material ist so dünn, dass das Licht hindurchfällt. Sein Blick fällt auf mein Patent. Er nickt zufrieden und greift nach seinem Scheckbuch. Wir geben uns die Hand. In diesen verrückten Zeiten hätte ich keinen besseren Preis bekommen können, denn meine Fabrik ist, genauso wie das Sudetenland, bereits heim im Reich. Er begleitet mich zu meinem Auto. Im Rückspiegel sehe ich, wie er in seiner Villa am Wannsee verschwindet. Jetzt fahre ich zu meinen Verwandten nach Charlottenburg, hole morgen das Geld von der Bank, fahre zurück nach Prag und schaue, dass ich ein Visum für mich, meine Frau und meine beiden Töchter, Eliska und Lea, bekomme.


Montag, 10. Februar 2020


Daniel


Gleich beginnt der Unterricht. Heute wird Julius 39. Ob ich ihm eine Nachricht schicke? Warum nicht? Aber was schreibe ich Ihm? Es ist ja schon eine Weile her, dass wir Kontakt hatten. Ob er wohl einen Freund hat? So, jetzt bin ich dran mit Kopieren. Wochenrückblick für meine 9. Klasse. Ist immer eine gute Möglichkeit, die nach dem Wochenende wieder auf Spur zu bringen.

10 Minuten später.

„Guten Morgen, liebe Schülerinnen und Schüler.“

„Guten Morgen, lieber Herr Lehmann.“

„So, bitte setzen, wir beginnen mit dem Wochenrückblick, was war wichtig in der letzten Woche? Was habt ihr so mitbekommen… Ja, Kevin.“

„Haben Sie nochmal das Blatt für die Berlinfahrt?“

„Warum?“

„Ja, meine Mutter hat noch nicht überwiesen und ich finde das Blatt nicht mehr.“

„Oh Mann, Kevin. Kann es nicht jemand fotografieren und in den Klassen-Chat bei whatsapp stellen?... Danke, Julia. Marcel?“

„Ich wollte sagen, was letzte Woche passiert ist.“

„Ja?“

„Ein FDP-Politiker wurde mit Stimmen von der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Das war ein großer Skandal.“

„Sehr gut, Marcel.“

Gelächter.

„Warum lacht ihr denn… Ach so, die Blätter mit dem Wochenrückblick sind ja schon verteilt.“

„Ich hab das auch so gewusst.“

Gelächter.

„Na, dann fang mal an Marcel.“

Eine halbe Seite später.

„Amy, machst Du bitte weiter?“

„Somit wurde Kemmerich dank der AfD zum neuen Ministerpräsidenten Thüringens gewählt, obwohl alle anderen Parteien zuvor ausgeschlossen hatten, mithilfe der AfD in die Regierung zu kommen. Die Thüringer AfD gilt auch aufgrund ihres Landesvorsitzenden Björn (Gauland / Höcke /Meuthen) als besonders weit rechts orientiert.“

„Amy, Du musst einen Namen auswählen.“

„Gauland?“

„Ne.“

„Höcke?“

„Bingo!“

„Dann kommen wir jetzt zur Rubrik „richtig oder falsch“. Jennifer.“

„Aus aller Welt: Rechts findest du Meldungen aus dem Ausland. – Kreuze an, ob die Meldungen richtig (R) oder Fake News (F) sind: a) Macau schließt Casinos aus Angst vor Coronavirus. Das ist falsch.“

„Ne, das ist richtig.“

„Was ist das Coronavirus und was ist Macau?“

5 Minuten-Pause. Im Klassenzimmer.

„Herr Lehmann, Handys sind im Schulgebäude verboten.“

„Aber nicht für Lehrer. Ich will auch nur schauen, ob ich den Brief für die Berlinfahrt vielleicht auf dem Handy habe…“

„Hallo Julius, ich wünsche Dir alles Gute zum Geburtstag. LG Daniel…

Plink.

„Ja, ja, Herr Lehmann, Sie haben doch gerade eine Nachricht verschickt.“

Plink.

„Herr Lehmann, Sie haben Post.“

Gelächter.

„Die Nachricht konnte nicht zugestellt werden.“

Komisch. Hat Julius die Handynummer gewechselt? Warum hat er sie mir dann nicht gegeben. In der großen Pause werde ich mal schauen, ob Julius noch im Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen arbeitet. Könnte ich überhaupt mit meiner Klasse hingehen.



Donnerstag, 10. November 1938


Mitten in der Nacht wurden wir durch lautes Geschrei geweckt. Dann ein Klirren. Die Scheibe des Bekleidungsgeschäftes meines Cousins wurde eingeschlagen. Wieder Schreie. Die braunen Hemden zogen uns auf die Straße und zwangen uns, Kniebeugen zu machen. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, schlugen sie uns so lange in die Knie, bis wir in die Scherben der zerbrochenen Fensterscheibe fielen. In der Ferne sahen wir die Synagoge brennen. Dann kam die Polizei und nahm uns Männer mit.



Mittwoch, 26. Februar 2020


Julius


„Julius?“

„Ja?“

„Hast Du mal einen Moment?“

„Klar, was gibt es?“

Was will denn der Leiter der Sprachschule von mir? Und warum will er mit mir in seinem Büro darüber sprechen? Was liegt denn da auf seinem Tisch? Das ist doch die Hörübung, die ich mit meinem Kurs letzte Woche gemacht habe.

„Du Julius, das habe ich gestern im Kopierraum gefunden.“

„Ja, und was ist damit?“

Schweigen.

„Wie soll ich das sagen? Meinst Du, Julius, es ist so gut, wenn Du jüdische Themen im Integrationskurs behandelst? In einen Integrationskurs mit…“

„Das Thema, das ich gerade behandle, ist Flucht. Ich habe mit meinem Kurs einen Podcast über die Irrfahrt der St. Louis 1939 gehört…“

„Ja, das sehe ich ja. Frage 1: Das Schiff durfte in Havanna die Passagiere nicht von Bord lassen. Richtig oder falsch?“

„Richtig. Ich verstehe Dein Problem nicht.“

„Ja, Du unterrichtest in Deinem Kurs ja, also Moslems.“

„Die hatten kein Problem damit. Oder hat sich jemand beschwert?“

„Nein, aber stell Dir mal vor, jemand beschwert sich. Wir kriegen das Geld für die Kurse ja vom Berliner Senat. Vielleicht kannst Du auf solche Provokationen in Zukunft verzichten?“

„Ich wollte bestimmt niemanden provozieren. Aber kannst beruhigt sein. Wir schauen in der Einheit nur noch einen Film zur Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten und dann sollen die Kursteilnehmer selber einen Aufsatz schreiben, wie sie nach Deutschland gekommen sind.“

„Sehr gut und nichts für ungut.“

„Also dann.“

Arschloch.



Freitag, 11. November 1938


Mein Cousin durfte zurück zu seiner Frau. Ob es daran liegt, dass sie Arierin ist? Meinen Onkel behielten sie. Er hatte einmal falsch geparkt. Das reicht anscheinend in diesen Tagen, um als Jude in ein Konzentrationslager zu kommen. Mich behielten sie auch. Ich hätte als ein Tscheche aus dem Sudetenland, der noch dazu ein Jude ist, überhaupt keine Berechtigung, mich in der Reichshauptstadt Berlin aufzuhalten. Beide sollen wir nach Sachsenhausen verlegt werden.


Freitag, 06. März 2020


Daniel


Was wollen der Schulleiter der Realschule und seine Stellvertreterin von Frau Bergmann? Na, da werde ich doch mal meine Lauscher aufspannen und ganz langsam vorbeilaufen.

„Sie müssen jetzt die Leitung für den Gymnasialteil übernehmen, Frau Bergmann. Herrn Kobin haben wir gerade nach Hause geschickt und Frau Herz ist noch nicht da. Und dann müssen sie jetzt, so sind die Vorschriften, als dienstälteste Kollegin einspringen.“

Mal schauen, was kommt.

„Liebe Schülerinnen und Schüler, dies ist eine Durchsage für alle Dietrich-Bonhoeffer-Schulen, Weinheim. Alle Schülerinnen und Schüler, die in den Faschingsferien in Südtirol waren, gehen bitte jetzt nach Hause und kommen erst am 16. April zurück in die Schule. Kollegen, die in den Faschingsferien in Südtirol waren, kommen bitte in das jeweilige Direktorat.“

„War einer von euch in Südtirol?“

Karl meldet sich.

„So Karl, dann gehst Du jetzt bitte nach Hause.“

Allgemeine Aufregung.

„Hat der ein Schwein“, „Das ist ungerecht, wir wollen auch zu Hause bleiben.“

„Wann soll ich wiederkommen, Herr Lehmann? Am 16. April?“

„Nein, der Schulleiter der Realschule hat sich bestimmt vertan und meinte 16. März. Ich schau mal in meinem Kalender. Ah, wartet mal. Es kommt wieder eine Durchsage.“

„Liebe Schülerinnen und Schüler, dies ist eine Durchsage für alle Dietrich-Bonhoeffer-Schulen, Weinheim. Alle Schülerinnen und Schüler, die in den Pfingstferien in Südtirol waren, gehen bitte jetzt nach Hause und kommen erst am 16. März zurück in die Schule. Kollegen, die in den Pfingstferien in Südtirol waren, kommen bitte in das jeweilige Direktorat.“

Allgemeines Gelächter.

„Was meint ihr Kinder: Ich war in den Pfingstferien auch in Südtirol wandern. Muss ich dann auch ins Direktorat?“

Lachen.

„Wieso macht unser Schulleiter denn nicht die Durchsage?“

„Der war in den Ferien auch in Südtirol Skifahren. Hab ich gehört. Seid mal still. Jetzt kommt wieder eine Durchsage. Mal schauen, ob er es diesmal hinbekommt.“

Ansage.

„Also, alles Gute, Karl.“

Karl geht fröhlich zur Tür und winkt. Sein Freund sitzt mit verschränkten Armen am Tisch.

„Sag mal Franz, willst Du Dich nicht auch von Deinem Kumpel verabschieden?“

„Ne, der hat immer Glück. Erst darf er Skifahren und dann kriegt er noch eine Woche Extra-Urlaub.“

Pause.

Was machen denn Kevin und Marcel aus meiner 9.Klasse im Sekretariat? Und warum weinen sie? Ich meine, Jungs weinen nicht so schnell. Jedenfalls nicht öffentlich. Oh Scheiße, mir schwant Böses. Die waren bestimmt auch in Südtirol in den Faschingsferien zum Skifahren.

„Herr Lehmann, wir dürfen nicht mit nach Berlin.“

„Ja Scheiße, das tut mir ganz schrecklich leid. Aber wenn ihr in Tirol wart, dann dürft ihr an keiner Schulveranstaltung teilnehmen.“

„Bitte reden Sie noch einmal mit Frau Herz.“

„Wir haben sowieso gleich ein Treffen wegen der Berlinfahrt. Aber ich denke, dass es wohl dabei bleiben wird. Wenn nicht sowieso die ganze Berlinfahrt wegen Corona abgesagt wird.“

„Bitte Herr Lehmann. Alle fahren aus unserer Klasse, nur wir nicht. Und wenn, dann sorgen Sie wenigstens dafür, dass keiner fährt.“

Beim Weggehen höre ich noch „Dreckschinesen!“

Treffen im Konferenzzimmer.

Die stellvertretende Schulleiterin Frau Herz sitzt wie eine Schülerin zum Nachsitzen im Konferenzzimmer. Oh, und am Gesichtsausdruck meiner lieben Kollegin und Freundin Steffi sehe ich, dass sie schon wieder gut on fire ist.

„Also, jetzt wo Herr Lehmann da ist, können wir ja anfangen.“

Ich setze mich neben Steffi, die gleich das Wort er- und Frau Herz angreift.

„Du willst also wirklich alle 9.-Klässler des Bonhoeffer-Gymnasiums nach Berlin fahren lassen. Ich finde das vollkommen unverantwortlich.“

„Es fahren ja nicht alle, Steffi.“

„Ja, bis auf die paar Schüler, die in Südtirol waren. Ich habe keine Lust, am Ende mit 120 Schülerinnen und Schülern im Hotel in Quarantäne zu sitzen.“

„Dazu wird es ja nicht kommen. Jetzt gehen wir einfach mal von dem Besten aus.“

„Und wer informiert uns, wenn sich bis Sonntag die Lage noch ändert?“

„Steffi, ich kann Dir ja die Nummer vom Gesundheitsamt in Heidelberg geben. Die sind auch für uns in Weinheim zuständig. Da kannst Du ja am Sonntag nochmal anrufen.“

„Oh, ich werde da bestimmt nicht anrufen, das ist eindeutig eine Aufgabe der Schulleitung.“

Gut, dass die große Pause zu Ende ist. Sonst würde Steffi noch platzen.



Samstag, 24. Dezember 1938


Nun bin ich schon eine Weile in Sachsenhausen. Gestern ist mein Onkel gestorben. Er hat die schreckliche Kälte in den Baracken und die Behandlung durch die SS-Männer nicht verkraftet. In dem Lager klammern sich alle inhaftierten Juden an eine Hoffnung: es heißt, wenn die Verwandten ein Visum zur Ausreise und eine Schiffspassage organisieren, dann darf man das Lager verlassen. Wie soll meine Frau in Prag mir ein Visum besorgen? Ohne Geld? Der Scheck, der liegt bei meinem Cousin. Wenn er nicht verbrannt ist, denn ich habe keine Ahnung, was mit der Ladenwohnung passiert ist, nachdem wir abgeholt wurden. Ich werde hier verrecken. Wie ein Viech. Ich will nicht in einem Lager sterben.


Montag, 09. März 2020


Julius


Vorstellungsgespräch im ehemaligen Stasi-Gefängnis.

Ich glaube, ich war bislang ganz gut. Vorstellungsgespräche sind ja sonst nicht so mein Ding. Ich mag es nicht, mich zu verkaufen. Aber so läuft das Spiel eben. Das Zimmer hier sieht aber auch mehr nach einem Verhörzimmer aus.

„Herr Dr. von Witzleben. Die Zeit geht nun zu Ende, können Sie noch einmal kurz zusammenfassen, warum Sie der geeignete Kandidat für die Stelle sind?“

„Gerne. Ich arbeite nun schon fünf Jahre in der Gedenkstätte Hohenschönhausen und führe Gruppen durch das ehemalige Stasi-Gefängnis. Durch meine Promotion zum Thema Der Einfluss der Adenauerschen Arbeitsmarktpolitik auf den Mauerbau 1961 und meine Tätigkeit an der Freien Universität Berlin bin ich zusätzlich umfassend über den aktuellen Forschungsstand der Deutsch-Deutschen Geschichte informiert.“

„Und es stört Sie nicht, dass die Stelle nur einen Umfang von 30 Stunden hat?“

„Nun gut, Sie meinen wohl, dass nur 30 Stunden vergütet werden? Aber nein, das macht mir nichts. Als Historiker bin ich es gewohnt. Für meine Promotion hatte ich auch nur eine halbe Stelle und habe dennoch voll für meinen Professor gearbeitet und eine ganze Promotion geschrieben.“

Freundliches Lachen.

„Im Ernst, 30 Stunden Archivarbeit und dann noch die Führungen, das ist ideal für mich.“

„Ich danke Ihnen, Herr Dr. von Witzleben.“

„Ich danke Ihnen, meine Herren.“

„Herr Dr. von Witzleben, ich würde Sie gerne noch kurz im Sekretariat sprechen. Warten Sie bitte dort auf mich. Ich bin in 15 Minuten bei Ihnen.“

15 Minuten später.

„Und, wie war ich?“

„Sehr überzeugend. Du warst sehr überzeugend, Julius.“

„Und habe ich den Job?“

„Das darf ich Dir nicht sagen. Und es muss ja auch noch zum Personalrat, zur Schwerbehindertenvertretung...“

„Also ich habe den Job.“

„Also, ich sage nichts. Inoffiziell. Ja. Aber, ich wollte noch kurz über den aktuellen Stand der Führungen mit Dir sprechen.“

„OK.“

„Könntest Du gleich noch einspringen? Heinrich hat sich gerade per whatsapp bis auf Weiteres krankgemeldet. Die Gruppe startet in 15 Minuten.“

„Mist. War abzusehen. Es ging ihm die letzte Zeit nicht gut mit seiner Depression. Was die Stasi-Schweine auch mit ihm gemacht haben. Klar, mache ich. Ich muss dann aber leider den Turbo einlegen, denn ich habe heute Abend noch den Flüchtlingskurs an der Sprachschule.“

„Super. Auf Dich ist echt Verlass, Julius. Am Mittwoch fällt die Führung dafür leider aus. Die Schule hat wegen Corona abgesagt.“

„Und am Donnerstag? Die Gruppe aus Weinheim. Kommt die?“

„Ja. Stand jetzt kommen die.“

„Ok, dann gehe ich mal meine Gruppe im Hof suchen.“

Weinheim. Daniel ist in Weinheim. Wir wollten nach Weinheim ziehen. Vorgestern hatte Daniel Geburtstag. Hätte ich ihm vielleicht eine Nachricht schicken sollen? Wie lange hatten wir jetzt schon keinen Kontakt mehr? Er hatte ein Beileidsschreiben für mich zu Thekla geschickt, als mein Vater Weihnachten starb. Komisch. Weinheim. Und plötzlich ist es, als wäre es gestern gewesen.



Sonntag, 13. Februar 1938


Ein SS-Mann hat seine Sympathie für mich entdeckt. Er kommt auch aus dem Sudetenland, wie ich und freut sich, dass seine Heimat nun Teil des neuen starken Reiches ist. Ich halte meinen Mund, wenn er so spricht. Er will bestimmt nicht hören, dass meine Frau, meine zwei Töchter und ich unser Haus, die Fabrik, einfach alles zurücklassen mussten, als das Sudetenland heim ins Reich geführt wurde. Er spricht ein paar Brocken Tschechisch und freut sich, wenn ich mit ihm etwas Tschechisch rede. Er ist nicht bösartig, wie die anderen. Nur etwas dumm.


Donnerstag, 12. März 2020


Julius


Was für ein schöner Sonnenaufgang. Da steht ja schon meine liebe Tante Thekla und winkt mit einer Krücke. Ich finde, die weißen Haare machen sie alt. Aber ich kann ja nicht sagen: Komm liebe Thekla, ich lade Dich heute zum Friseur ein, ich will nicht, dass Du alt aussiehst. „Kuck mal, mein Lieber, es geht schon ganz gut.“

So Küsschen, Koffer verpacken und nun zurück nach Berlin. Heute Nachmittag habe ich ja noch die Schülergruppe aus Weinheim im Stasi-Gefängnis.

„Lieb, dass Du mich abholst. Hättest Du aber nicht gemusst. Die hätten mich auch wieder mit dem Kleinbus nach Berlin gefahren. Hat nach der OP auch ganz wunderbar funktioniert.“

„In diesen Zeiten wollte ich sichergehen, dass Du nach Hause kommst. Und man soll ja auch Abstand halten. Und das ist in einem vollen Kleinbus ja schwer möglich.“

„Ist jedenfalls sehr lieb von Dir.“

„Hast Du denn noch Wassergymnastik gemacht?“

„Ne, da hätte ich noch länger bleiben müssen, aber das hat die Krankenkasse abgelehnt. Ich hatte fest mit einer zweiten Verlängerung gerechnet. Die Ärzte auch. Liegt vielleicht an Carona. Was meinst Du?“

„Du meinst Corona, Thekla.“

„Ja, Du weißt ja, ich krieg die Worte manchmal nicht so richtig raus wegen der Meningitis, die ich nach dem Krieg hatte.“

Schweigen.

„Wäre gerne noch ein wenig in Beelitz geblieben, Julius. War schön da. Wie im Hotel.“

„Belzig, Thekla. Du warst in Belzig. Honecker war in Bad Beelitz, bevor er nach Chile durfte. Du warst in Bad Belzig.“

„Wie kommst Du denn jetzt auf Honecker? Du und Deine DDR-Forschung.“

Lachen.

Dann kurzes Schweigen.

„Du solltest auch Lehrer werden. Hast Du ja schließlich auch studiert. Und die suchen ja auch so dringend. Überleg es Dir mal. Und irgendwann wird Berlin auch wieder verbeamten. Das mit diesen freien Jobs, das ist doch nichts.“

„Vielleicht. Aber vielleicht kriege ich jetzt nen festen Job im Gefängnis.“

„Toll. Dann wärst Du endlich nicht mehr Inoffizieller Mitarbeiter.“

Lachen. Schweigen.

„Na ja, und das Frühstück, Julius. Lecker. Und abends gab es immer so ein tolles Salatbuffet. Mittag war auch immer gut. Und reichlich. Aber zugenommen habe ich nicht, bei dem vielen Sport. Aber wäre auch egal in meinem Alter.“

„Was für ein Alter? Du bist 83 und siehst mindestens aus wie grad mal 70.“

Zumindest wenn Du Dir wieder die Haare färben würdest.

„Aber laufen tue ich gerade wie eine 90jährige. Aber ich habe mir alles schon genau überlegt. Ich gehe jeden Tag mit meinem Rucksack in die Onkel-Tom-Ladenstraße und kaufe mir immer nur ganz wenig ein. Dann habe ich jeden Tag Training und kann mich versorgen.“

„Schwachsinn.“

„Wieso Schwachsinn. Wohne doch genau gegenüber von der Ladenstraße. Und weil ich wegen der blöden Krücken keine Hand frei habe, werde ich den Rucksack nehmen. Und zuhause mir eine Schürze umbinden, dann habe ich immer alles zur Hand.“

„Du, Tante Thekla, ich bin schon mal vorsorglich bei Dir eingezogen und bleibe erst einmal bei Dir, um mich zu kümmern. Das ist doch das Mindeste, nach allem, was Du für mich getan hast.“

„Brauchst Du nicht. Du hast doch Dein eigenes Leben.“

Habe ich das? Ein eigenes Leben?

„Doch. Keine Diskussion.“

„Ich freue mich natürlich. Du, dann kann ich Deine Lieblingsgerichte für Dich kochen. Ich find, Du bist schon wieder so arg dünn geworden.“

„Findest Du?“

„Aber Ritalin nimmst Du doch hoffentlich nicht wieder?“

„Nein, schon fast 8 Jahre nicht mehr.“

„Gut so. Also am Ende Deiner Doktorarbeit, das war nicht mehr schön.“

„Ich weiß. Aber eigentlich wollte ich für Dich kochen.“

„Seit wann kannst Du das denn?“

„Kann ich immer noch nicht.“

„Na, siehst Du.“

Noch 40 Kilometer.

„So, da wären wir.“

„Schau, da ist ein Parkplatz.“

„Du, ich bring Dich und den Koffer nur schnell nach oben und dann muss ich schon weiter flitzen. Habe gleich noch eine Gruppe im Stasi-Gefängnis.“

„Ja, kein Problem. Geh Du mal zu Deiner Stasi.“



Daniel


Im Hof des Gefängnisses.

„Herr Lehmann, und wird die Schule nun schließen?“

„Weiß nicht. Gestern hat unsere Kultusministerin noch gesagt, die Forderung vom Philologenverband, die Schulen in ganz Baden-Württemberg zu schließen, wäre unverantwortlich.“

„Was ist ein Philologenverband?“

„Ein Verband, der die Gymnasiallehrer vertritt. Wie eine Gewerkschaft.“

„Was ist eine Gewerkschaft?“

„Du, das haben wir gerade letzte Woche in Wirtschaft und Berufsorientierung gemacht.“

„Herr Lehmann, meine Mutter hat mir heute früh geschrieben, dass das Elsass jetzt auch Risikogebiet geworden ist. Müsste ich nicht jetzt eigentlich nach Hause?“

„Das fällt Dir ja früh ein. Wann warst Du wo genau?“

„Am Dienstag in den Faschingsferien waren wir in Straßburg.“

„Puh, dann ist die 14tägige Phase, in der Du nicht hättest in die Schule gehen dürfen, eh schon vorbei. Wahrscheinlich hast Du uns eh schon alle angesteckt…“

Gelächter.

„Herr Lehmann, wann geht es endlich los?“

„Sobald unser Führer da ist.“

„Ich glaube, da kommt unser Führer, Herr Lehmann.“

Da kommt er schnellen Schrittes. Julius. Immer noch so dünn. An seinem Pokerface könnte er arbeiten. Jetzt, da er mich gesehen hat, sind ihm kurz alle Gesichtszüge entglitten. So, jetzt hat er sich wieder gefangen.

„Was für ein Zufall, Daniel.“

„Nein kein Zufall, Julius, hab extra nach Dr. von Witzleben gefragt.“

„Wenn überhaupt nur Dr. Witzleben bitte. Du weißt, wie ich das von im Namen hasse.“

Ja, das von. Das ging ihm schon immer gegen den Strich. Jetzt lächelt er wenigstens mal. Er hat immer noch das verschmitzte Lächeln, die funkelnden Augen und die putzigen Grübchen.

„Steht da hinten Deine Klasse?“

„Ja.“

„Die sehen nett aus.“

„Die sind auch sehr nett. Und haben sich die Woche ganz toll benommen. Mit dem Programm mussten wir ja etwas improvisieren. In den Bundesrat konnten wir noch, aber nicht mehr in den Bundestag. Geschlossen wegen Corona.“

„Ja, verrückte Zeiten.“

„Oh ja, bis letzten Sonntag war auch unklar, ob wir überhaupt fahren.“

„Wann fahrt ihr zurück? Samstag?“

„Ne, morgen schon. Heute ist noch große Abschiedsparty in so nem Club, der bis 11 nur für uns offen hat.“

„Wo?“

„Im Maxiim“

„Maxiim? Kenne ich nicht.“

„Kreuzberg, gleich um die Ecke haben wir gewohnt.“

Das ist Julius nun sichtlich unangenehm.

„Ah schön. Wollen wir?“

Die Führung neigt sich dem Ende zu. Wir stehen in einer Gefängniszelle im neueren Teil des Stasi-Knasts.

„So, habt ihr noch Fragen?“

Kevin meldet sich.

„Nein, eigentlich keine Frage. Aber die Zellen hier im neuen Bereich sehen eigentlich gar nicht so schlimm aus. Sieht jedenfalls besser aus als in einem amerikanischen Gefängnis.“