Gesa Schwartz
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
1. Auflage 2016
© 2016 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins
unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock
(Aleshyn_Andrei, Renata Sedmakova, manfredxy)
mg • Herstellung: wei
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-19270-9
V001
www.cbt-buecher.de
Meiner Mutter,
die mich fliegen lehrte
1
Der Nebel zog in geisterhaften Schleiern durch Venedigs Gassen. Tiefschwarz thronte der Nachthimmel über den Dächern, die Kanäle glühten im Schein der Laternen, als bestünden sie aus dunklen Spiegeln, und während Milou durch die verwaisten Straßen lief, konnte sie die Stille atmen hören: wispernd wie ein Geheimnis. Sie liebte es, Venedig in dieser Jahreszeit zu besuchen, wenn der nahende Winter die Schatten schon am Nachmittag in den Hinterhöfen tanzen ließ und nur das leuchtende Rot ihres Koffers die Illusion störte, in eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus lang vergangener Zeit geraten zu sein. Die Sommermonate, in denen die schmalen Gassen aus allen Nähten platzten und riesige Kreuzfahrtschiffe im Hafen anlandeten, waren fern, und mit jedem frostigen Pinselstrich verwandelte die Stadt sich stärker zurück in das, was sie eigentlich war: eine Zauberin, gegen deren Magie Milou seit jeher machtlos gewesen war.
Ihr Koffer rumpelte in störrischem Stakkato über das Pflaster, als wollte er seinen Unmut darüber kundtun, dass sie ihn durch die halbe Stadt zerrte, obwohl es doch verflucht noch eins kürzere Wege gab, um an ihr Ziel zu kommen. Fast meinte sie, in dem ärgerlichen Poltern die Stimme ihres Onkels Mathis zu hören, der ihr eindringlich geraten hatte, die Strecke vom Bahnhof mit einem Vaporetto zurückzulegen. Sie sah ihn vor sich, wie sie sich in Paris verabschiedet hatten: das Gesicht so sorgenvoll, als hätte er sie in ein Kriegsgebiet fahren lassen, und die Augen dunkel umwölkt wie immer, wenn der seltene Fall eintrat, dass er in einer Angelegenheit keine Wahl hatte. Er hasste nichts mehr, als keine Wahl zu haben. Aber die Renovierungsarbeiten in seiner Wohnung verzögerten sich, und während er in dieser Zeit auf Geschäftsreise war, hatten Maler und Bodenleger Milou obdachlos gemacht. Sie selbst hätten Farbgeruch und Baulärm nicht gestört, doch Mathis bestand darauf, dass sie sich auch in den Ferien dem Lernen widmete. Denn trotz der teuren Privatschulen, auf die er sie in den vergangenen Jahren geschickt hatte, war es ihr nicht gelungen, ihre Leistungen seinen Ansprüchen anzupassen. In wenigen Wochen würde daher eine Armada von exzellenten Nachhilfelehrern auf sie warten, um sie unter Mathis’ strengem Blick durch das letzte Schuljahr zu begleiten, und so hatte er einen ruhigen Ort für sie finden müssen, an dem sie sich angemessen darauf vorbereiten konnte. Das war alles andere als einfach gewesen. Er selbst konnte auf Reisen keine Ablenkung gebrauchen, ihre beste Freundin Celine war mit ihren Eltern in Mexiko, und Milou musste grinsen, als sie daran dachte, wie sie nach einer angemessenen Pause Venedig vorgeschlagen und Mathis’ Gesicht sich verfinstert hatte. In derselben Sekunde hatten sie beide gewusst, dass die Stadt in der Lagune ihre einzige Möglichkeit war. Und so verbrachte sie die Ferien bei Nonna, ihrer Großmutter – zum Unwillen ihres Onkels und zu ihrer Freude.
Nonna war die warmherzigste, verrückteste Person, die Milou kannte. Sie hatte keine Ahnung von Computern oder Handys, schickte ihr aber regelmäßig Briefe mit gepressten Blumen und Fotos ihrer Katzen (wobei sie stets betonte, dass sie viel mehr den Katzen gehörte als umgekehrt), sie tanzte barfuß im Regen, sie setzte sich lustige Hüte auf und lief damit durch die Straßen, wenn sie Milou zum Lachen bringen wollte, sie düste mit ihrem knallrot gestrichenen Motorboot so rasant durch die Kanäle, dass selbst erfahrene Venezianer auf dem Wasser vor ihr Reißaus nahmen, und sie sang düstere Lieder aus dem Reich der Sagen und Legenden. Bisweilen hatte sie Milou in Paris besucht, dann war sie wie ein farbiger Fleck gewesen in dieser riesigen Stadt und hatte Mathis’ nüchternes Penthouse mit Blumen und bunten Bildern vollgestellt. Immer wieder hatte Milou ihren Onkel in den letzten Jahren gedrängt, ihr einen Gegenbesuch abstatten zu dürfen, doch meist hatte er abgelehnt, kühl und sachlich wie immer, vielleicht aus Furcht vor den Erinnerungen, die auch ihn zwischen diesen Häusern heimsuchen könnten, vielleicht auch aus Sorge vor diesen Gassen, die das Träumen so leicht machten, dass allzu schnell jede Strenge und Rationalität, die er Milou in den vergangenen Jahren mühsam versucht hatte beizubringen, in flüsternden Schatten untergingen. Rationalität. Milou musste lächeln, als sie die Stimme ihrer Großmutter über dieses Wort stolpern hörte, als wäre es nichts als eine Illusion für all jene, die nicht genug Fantasie hatten, die Wahrheit rings um sie herum zu erkennen.
Sie ließ den Blick über die vom Hochwasser gezeichneten Fassaden schweifen und stellte sich vor, wie Mathis diese Gassen betrachten würde: abschätzig und mit kühler Strenge in seinen hellen blauen Augen, als begutachtete er eine der maroden Firmen, die er aufkaufte, um sie gewinnbringend wieder loszuschlagen. Sie seufzte. Mathis hatte es gut gemeint, als er ihr zu dem Wassertaxi geraten hatte. Er selbst legte größten Wert auf komfortables Reisen. Aber er verstand nicht mehr von Venedig als ihr Koffer, und daher wusste er nicht, dass es für sie nur eine Art gab, wirklich in dieser Stadt anzukommen. Schritt für Schritt hatte sie in das Labyrinth der Gassen eintauchen und den Geruch in sich aufnehmen müssen, den sie nirgends so intensiv wahrnehmen konnte wie hier: den Duft ihrer Kindheit nach Meer, Geheimnis und Abenteuer … ein Duft voller Erinnerungen, den Mathis verabscheute, so sehr, dass er es nicht über sich gebracht hatte, sie durch diese Gassen zu begleiten.
Milou nahm es ihm nicht übel. Zu deutlich sah sie ihn vor sich, wie er in jener Nacht vor vielen Jahren auf dem Flur im Krankenhaus von Venedig gestanden hatte, ihr kühler, unnahbarer Onkel, die Hand gegen die Tür gestützt, hinter der ihre Eltern den Kampf um ihr Leben verloren hatten. Nie hatte sie Mathis weinen sehen bis zu diesem Moment. Eine Schwester hatte sie den Gang hinaufgetragen. Er hatte Milou nicht bemerkt, aber sie hatte diesen Augenblick der Schwäche nie vergessen, der so viel mehr Stärke in sich getragen hatte als jeder Moment danach, als Mathis mit der ihm eigenen Eloquenz alle Angelegenheiten geregelt und sie bei sich aufgenommen hatte. Sie kamen aus verschiedenen Welten, er der zielstrebige Karrieremensch, der großen Wert legte auf gesellschaftliches Ansehen und Vorankommen, sie die Träumerin, die viel lieber in den Reichen ihrer Bücher lebte als in dem, was Mathis Realität nannte. Aber sie respektierten einander, und seit jener Nacht im Krankenhaus empfand Milou eine stille Zärtlichkeit, wenn sie in die blauen Augen ihres Onkels schaute, ganz gleich, wie kühl sie blicken mochten – wusste sie doch, dass darin dieselbe Trauer lag, die auch sie tief in sich vergraben hatte.
Musik und leises Stimmengewirr durchdrangen ihre Gedanken, als sie an einem kleinen Restaurant vorbeilief. Es war Jahre her, seit sie ihre Großmutter zum letzten Mal besucht hatte, und doch hatte sich das Viertel Castello kaum verändert. Noch immer war es das Sestiere der einfachen Leute, jenen rebellischen Freigeistern, die trotz offiziellen Verbots im Sommer weiterhin ihre Wäscheleinen zwischen ihren Fenstern spannten. Noch immer schauten die Häuser in den verwinkelten Straßen aus windschiefen Fensteraugen auf Milou herab und lehnten sich aneinander, als müssten sie sich angesichts des drohenden Untergangs am bröckelnden Putz ihres Nachbarn festklammern, und noch immer fiel es ihr nicht schwer, die Fabelwesen zu erkennen, die sie schon früher in den huschenden Schatten der Gassen gesehen zu haben glaubte. Sie zog ihren Koffer die Ponte Marcello hinab und beobachtete, wie ein Schemen, der gerade noch verteufelte Ähnlichkeit mit einem Kobold gehabt hatte, als Katze aus einem Hauseingang hervorsprang. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Es war eine verlangsamte, kostbare Welt, in der Nonna lebte, und es erfüllte sie mit einem unruhigen Glücksgefühl, zurück zu sein … zurück in der Kulisse ihrer Kindheit, die noch immer wie ein Märchen war, in dem die Zeit stillstand.
Sie hatte gerade die Calle Borgolocco betreten, als ein Flüstern an ihr Ohr drang, leise nur und doch so eindringlich, dass sie stehen blieb und sich umsah. Sie schien allein zu sein, aber ein Schauer flog über ihren Rücken wie früher, wenn sie mit den anderen Kindern in der Dämmerung herumgelaufen war und sie sich gegenseitig Gruselgeschichten erzählt hatten. Kurz meinte sie, das Gelächter der anderen an den Fassaden der Häuser widerklingen zu hören, und obwohl sie ihren Weg rasch fortsetzte, tauchten die Spukbilder von damals vor ihrem geistigen Auge auf. Sie sah unheimliche Gestalten mit bleichen Gliedern, die lautlos aus den Kanälen krochen und alles Lebendige in ihr eiskaltes Reich zerrten, Geisterfrauen in wehenden Gewändern, deren Hände den Tod brachten, und Clowns in den finsteren Häusernischen, die Zähne rot vom Blut unschuldiger Kinder. Langsam sog sie die Luft ein. Sie wusste, dass diese Bilder nichts als Ausgeburten ihrer wilden Fantasie waren, Gedanken, die nur in ihrem Kopf existierten. Und dennoch schaute sie wie damals als Kind in den gespenstischen Nebel, als bräuchte sie nur die Hand auszustrecken, um den Schleier über ihrer Wirklichkeit fortzuziehen – diese dünne Haut, die sie jedes Mal berührte, wenn sie in ihre Bücher eintauchte, wenn sie mitten in der Nacht erwachte, als hätte eine steinerne Klaue ihre Wange gestreift, oder wenn sich für einen Wimpernschlag das Licht veränderte, das auf den regennassen Asphalt von Paris fiel, schillernd wie in einem Kaleidoskop aus tausend Farben. In solchen Momenten hielt Milou den Atem an, und manchmal konnte sie es noch immer spüren: das Geheimnis, das sie in ihrer Kindheit mit einer Mischung aus Sehnsucht und Furcht hinter jedem flüsternden Blatt und jedem flackernden Schatten erahnt hatte und das ihr seit jeher zuraunte, dass es mehr in der Welt gab, als ihre Augen sehen konnten … so unendlich viel mehr als das. Sie hielt inne, als der Nebel vor ihr aufwallte wie ein lebendiges Wesen, und für einen Moment wollte sie nichts mehr, als auf ihn zuzutreten – ihren Weg zu verlassen und sich in den weißen Schleiern zu verlieren, als wäre sie noch immer das kleine Mädchen von damals, das auf den Schwingen seiner Gedanken fliegen gelernt hatte. Doch gleich darauf riss sie ihren Blick vom Nebel fort und drängte die Bilder zurück, während sie die Ponte dei Preti überquerte. Sie führte sich auf wie ein Kleinkind. Wenn Mathis sie jetzt sehen könnte, würde er …
Das Flüstern strich wie ein Atemzug über ihre Wange. Milou fuhr zurück, so heftig, dass sie sich den Arm am Brückengeländer stieß, aber ehe sie noch etwas hinter sich hätte erkennen können, verlor sie das Gleichgewicht, rutschte über die Stufen abwärts und schlug am Boden auf. Ihr Koffer landete neben ihr. Krachend brach er auseinander, und all die Bücher, die sie mühevoll verschnürt und zusammengepackt hatte, ergossen sich über das feuchte Pflaster. Benommen kam sie auf die Beine. Ihr Schädel puckerte, so heftig war sie auf den Steinen aufgekommen, und kurz drängte der Schmerz jedes andere Gefühl zurück. Dann jedoch nahm sie die Stille wahr, die sie nun wieder umgab. Sie hatte jedes andere Geräusch verschlungen, und zum ersten Mal, seit Milou die Stadt betreten hatte, kam sie ihr unheimlich vor – wie ein Luftholen vor einem entsetzlichen Fluch. Seufzend straffte sie die Schultern. War es nicht schlimm genug, dass sie wegen eines lächerlichen Flüsterns die Stufen hinabfiel? Musste sie nun auch noch anfangen, sich Geschichten auszudenken? Betont gelassen begann sie, ihre Bücher in den lädierten Koffer zurückzustopfen, aber sie brachte es dabei nicht über sich, den Nebel aus den Augen zu lassen, der nun in dicken Schwaden über die Mauern des Kanals trat und auf sie zu kroch, langsam wie ein zum Sprung bereites Tier. Im selben Moment kehrte das Flüstern zurück.
Noch immer fühlte Milou es eiskalt an ihrer Wange und sie zögerte nicht länger. Eilig griff sie nach ihrem Koffer, klemmte sich die übrigen Bücher unter den Arm und setzte sich in Bewegung. Jede Verzauberung, die sie gerade noch empfunden hatte, wurde von dem seltsamen Wispern zerrieben und ließ nichts in ihr zurück als rasende Anspannung. Sie zwang sich, nicht zu laufen, wusste sie doch, dass es mit jagendem Puls schier unmöglich werden würde, die aufkeimende Angst in sich klein zu halten. Stattdessen zerrte sie ihren Koffer über das Pflaster, als wäre er ein bockiger Hund, und versuchte vergeblich, das Flüstern zu ignorieren, das ihr rasch nachglitt. Mit klopfendem Herzen schaute sie über die Schulter zurück, aber ihr Blick perlte an der Wand aus Nebel ab wie Regen von Glas, und sie wich erschrocken zurück, als die Straßenlaternen zu flackern begannen.
Jedes Mal, wenn das Licht der Laternen für die Dauer eines Atemzugs erlosch, schienen sich die Gassen ringsherum zu verändern. Die Fassaden der Häuser wurden brüchig, als bestünden sie aus verbranntem Papier, das Pflaster knackte unter Milous Schritten wie brechendes Eis, und selbst das Licht wandelte sich wie in jenen seltenen Augenblicken vollkommener Stille, die niemand wahrzunehmen schien als sie selbst. Milou schaute zu den Häusern auf, die in der Dunkelheit wirkten wie aus Blei gegossen, und sie lief auf die erleuchteten Fenster zu, die nicht weit entfernt ihr Licht in die Nacht sandten. Eine tiefe Erleichterung brach in ihr auf, als sie die Menschen in ihren Wohnungen sah, wie sie vor dem Fernseher zusammensaßen oder in der Küche miteinander sprachen, gewöhnliche Venezianer, die vermutlich laut lachen würden, sollten sie das Mädchen aus der fernen Stadt mit hochroten Wangen durch albernen Nebel hetzen sehen, als wäre der Teufel hinter ihm her. Aufatmend strich Milou sich das Haar zurück und verlangsamte ihre Schritte. Doch kaum, da das Licht aus den Wohnungen ihre Haut traf, hoben die Menschen die Köpfe, ruckartig wie witternde Tiere, und ihre Züge verzerrten sich zu entstellten Fratzen.
Nur im letzten Augenblick unterdrückte Milou einen Schrei. Sie starrte in die Fenster, die plötzlich vergittert und dunkel wie Totenaugen dalagen, als hätten sie nie etwas anderes gezeigt als reglose Nacht. Dann riss sie ihren Blick fort und begann zu rennen. Ihr Koffer sprang über das Pflaster, als hätte auch ihn der Schreck erfasst, und Milou gelang es nicht, auf die mahnende Stimme in ihrem Inneren zu hören, die ihr zurief, dass sie sich beruhigen und die vernünftige Erklärung für die Ereignisse suchen sollte. Denn die gab es, die musste es einfach geben. Zu eindringlich verfolgte sie das Flüstern im Rhythmus ihrer eigenen Schritte. Immer schneller jagte es ihr mit Schwaden aus klebrigem Nebel hinterher, glitt an ihr vorbei und trieb sie von Brücken und Straßen zurück, bis der Dunst so dicht geworden war, dass sie nicht mehr sagen konnte, wo sie war. Atemlos bog sie um eine Ecke – und fand sich in einer Sackgasse wieder. Sie fuhr herum. Haushoch türmte der Nebel sich vor ihr auf, und gerade, als sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß, verstummte das Flüstern.
Milous Herz schlug so heftig, dass sie meinte, es in den Steinen in ihrem Rücken widerklingen zu fühlen. Sie presste die Handflächen gegen die Mauer, bis die scharfen Kanten sich in ihr Fleisch gruben, und starrte in den Nebel, der sich ihr lautlos näherte. Irgendetwas in ihr rief ihr zu, dass sie sich zusammenreißen musste, dass es nichts als Nebel war, dass ihre Fantasie ihr einen Streich spielte wie so oft. Aber ganz gleich, was diese Stimme in ihr sagen mochte – sie fühlte, dass etwas in diesem Nebel sie anstarrte, reglos und lauernd, und sie hörte auf zu atmen, als sich ein schattenhafter Umriss aus dem Dunst hob.
Im ersten Moment meinte Milou, die Gestalt eines Minotaurus mit mächtigem Stierkopf und messerscharfen dunklen Hörnern erkennen zu können. Dann zog der Schemen sich zusammen. Sie glaubte, Luftballons von einem Clown in Pluderhosen aufsteigen zu sehen, und schließlich begann die Gestalt zu flackern wie die Straßenlaternen zuvor, so schnell, dass ihr schwindlig wurde. Schritt für Schritt trat sie auf Milou zu und blieb schließlich stehen, halb noch vom Nebel umschmeichelt. Es war ein Mädchen, etwa siebzehn Jahre alt, ein wenig pummelig mit langen dunklen Locken und beinahe kindlichem Gesicht, die Brauen in leichtem Trotz verzogen. Milou wich das Blut aus dem Kopf. Sie selbst war es, die da vor ihr stand, reglos wie eine Figur aus Eis. Doch anstelle ihrer dunklen Augen prangten Spiegel in dem blassen Gesicht, Spiegel, die das Meer zeigten … das Meer in sturmumtoster Nacht.
Milou stand da wie gelähmt. Die Bücher glitten ihr aus den Händen, aber sie hörte sie kaum am Boden aufschlagen. Alles, was sie deutlich wahrnahm, war das Meer, das sich mit tödlicher Kraft um ihre Kehle schlang und ihr die Luft abpresste, ohne dass sie auch nur das Geringste dagegen tun konnte. Es fühlte sich an, als schlösse sich eine eisige Hand um ihr Herz, gnadenlos und kalt wie … eine Erinnerung … Das Mädchen vor ihr schien zu lächeln, so grausam, dass Milou zu zittern begann. Sie meinte schon, die Gischt des Meeres auf ihrer Haut fühlen zu können, doch gerade als ihr schwarz vor Augen wurde, ging ein Ton durch die Luft – so laut und durchdringend, dass der Nebel vor ihm zurückwich und jede Stille zerbrach. Es war der Schrei eines Raben.
Abrupt riss das Mädchen vor ihr den Kopf herum, und Milou meinte, ein Knurren aus ihrer Kehle dringen zu hören, dunkel wie bei einem Tier. Dann fuhr ihr Spiegelbild herum und ohne sich noch einmal umzudrehen, tauchte es im fliehenden Nebel unter.
Die Lähmung wich so plötzlich aus Milous Gliedern, dass sie sich an der Wand abstützen musste, um nicht zu fallen. Schwer atmend hob sie den Blick, und da sah sie eine hochgewachsene Gestalt am Ende der Gasse stehen, einen Mann, in einen schwarzen Mantel gekleidet, kapuzenbewehrt und umgeben von Schatten. Milou erkannte kein Gesicht in der Dunkelheit und doch erschien ihr irgendetwas an diesem Anblick seltsam vertraut. Langsam richtete sie sich auf, die Finger noch immer in die Mauer gekrallt, aber sie wandte sich nicht für einen Wimpernschlag von dem Fremden ab. War es seine Reglosigkeit, die sie bannte? Das Schweigen, das sich wärmend um ihre Schultern legte und jedes Flüstern aus ihren Gedanken vertrieb, oder das halblange, seidig schimmernde Haar, das in der Düsternis glühte wie eine silberne Flamme? Kurz meinte Milou, ein Lächeln in der Finsternis unter der Kapuze erahnen zu können, stolz und spöttisch und zugleich von einer sanften Vorsicht, die sie auf den Fremden zutreten ließ, instinktiv, als würde in seiner Dunkelheit etwas auf sie warten, das sie lange gesucht hatte, ohne es zu wissen – wie damals als Kind, wenn sie im Haus ihrer Großmutter an ihr Fenster getreten war und hinaus in die Nacht gesehen hatte in der Hoffnung, jemand würde diesen Blick erwidern.
Sie hielt inne. Wie lange hatte sie nicht mehr daran gedacht? Die Finsternis unter der Kapuze schien aufzuglühen wie eine Antwort und im selben Moment überkam Milou heftiger Schwindel. Sie griff erneut nach der Hauswand, als würde ein einziger weiterer Schritt auf diese Dunkelheit zu genügen, um ihr den Boden unter den Füßen zu nehmen. Die Schatten am Ende der Gasse begannen zu tanzen. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um den Fremden noch erkennen zu können, und ihr ging der Gedanke durch den Kopf, ob er überhaupt wirklich da war. Seine Umrisse verschwammen bereits, und wie er so dastand, von Finsternis umtost, sah er aus, als wäre er ein Traum … nichts als ein Traum aus Nacht und Schatten. Kurz schien es Milou, als würde er vor ihr den Kopf neigen. Dann loderte die Dunkelheit um ihn herum auf und er war verschwunden.
Milou schwankte angesichts der flackernden Düsternis und schloss die Augen, um den Schwindel zurückzudrängen. Langsam atmete sie ein, und als sie aufschaute, war der Nebel gänzlich verschwunden. Das Licht der Straßenlaternen fiel ihr ins Gesicht, sie hörte Gelächter von einem nahen Balkon, und die Häuser, die gerade noch wie in Blei gebannt dagestanden hatten, zeigten nun ihr vertrautes, von Wellen und Menschen gebeuteltes Gesicht. Milou stieß die Luft aus. Verflucht, was war los mit ihr? Genügte tatsächlich schon ein wenig Nebel, um eine gewöhnliche Taschendiebin für sie in eine Spukgestalt zu verwandeln? Mit aller Kraft drängte sie die Gedanken an ihr Ebenbild mit den Spiegelaugen zurück und griff nach ihren Büchern. Sie war kein Kind mehr, das sich von diesen Gassen verhexen ließ wie früher! Ärgerlich wühlte sie in ihrer Tasche herum und holte ihr Pfefferspray heraus. Sollte noch einmal jemand auf die Idee kommen, sie zu belästigen, würde sie sich zu helfen wissen, so viel war sicher.
Mit entschlossenen Schritten setzte sie sich in Bewegung. Sie sah Mathis vor sich, die Sorge in seinem Blick – und das nur halb unterdrückte spöttische Funkeln angesichts der Hirngespinste, denen sie sich offensichtlich noch immer mit derselben Faszination hingab wie damals als Kind. Dabei gab es etliche naheliegende Erklärungen für das, was geschehen war. Vermutlich war sie einer Diebesbande auf den Leim gegangen, die sie mit gespenstischem Flüstern durch die Gassen gejagt hatte, nur um sie dann mit einer billigen Frauenmaske und dunkler Perücke in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Fratzen hinter den Fenstern waren ihrer eigenen Panik geschuldet gewesen, ebenso wie die Fassaden aus Blei, und flackernde Straßenlaternen waren in dieser Stadt nun wirklich kein Anlass zur Beunruhigung. Die Erleichterung strich kühl durch ihre Glieder, während ihr Verstand die Ereignisse an einen harmlosen Platz rückte, und ihr Herzschlag hatte sich schon fast wieder beruhigt, als sie das Ende der Gasse erreichte.
Kurz nur wandte sie den Blick in die Schatten, und im selben Moment ging ein Ton durch die Luft, gerade dort, wo der rätselhafte Fremde gestanden hatte. Der Laut fuhr Milou ins Mark, so durchdringend, dass sie sich erst nach einigen Augenblicken dazu zwingen konnte, ihren Weg fortzusetzen. Mit festem Griff zog sie ihren Koffer über das Pflaster. Polternd sprang er über die Steine und drängte jede Erinnerung an das merkwürdige Flüstern in ihr zurück. Der Ton vom Ende der Gasse jedoch ging ihr nach, leise und betörend, und so sehr sie es auch versuchte: Es gelang ihr nicht, ihn aus ihren Gedanken zu vertreiben. Ein Lachen war es, so vertraut, als hätte sie es vor langer Zeit schon einmal gehört, und doch fern … so fern wie aus einer anderen Welt.