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Gesa Schwartz

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1. Auflage 2016

© 2016 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins

unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock

(Aleshyn_Andrei, Renata Sedmakova, manfredxy)

mg • Herstellung: wei

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-19270-9
V001

www.cbt-buecher.de

Mei­ner Mut­ter,

die mich flie­gen lehr­te

1

Der Ne­bel zog in geis­ter­haf­ten Schlei­ern durch Ve­ne­digs Gas­sen. Tief­schwarz thron­te der Nacht­him­mel über den Dä­chern, die Ka­nä­le glüh­ten im Schein der La­ter­nen, als be­stün­den sie aus dunk­len Spie­geln, und wäh­rend Mi­lou durch die ver­wais­ten Stra­ßen lief, konn­te sie die Stil­le at­men hö­ren: wis­pernd wie ein Ge­heim­nis. Sie lieb­te es, Ve­ne­dig in die­ser Jah­res­zeit zu be­su­chen, wenn der na­hen­de Win­ter die Schat­ten schon am Nach­mit­tag in den Hin­ter­hö­fen tan­zen ließ und nur das leuch­ten­de Rot ih­res Kof­fers die Il­lu­si­on stör­te, in eine Schwarz-Weiß-Fo­to­gra­fie aus lang ver­gan­ge­ner Zeit ge­ra­ten zu sein. Die Som­mer­mo­na­te, in de­nen die schma­len Gas­sen aus al­len Näh­ten platz­ten und rie­si­ge Kreuz­fahrt­schif­fe im Ha­fen an­lan­de­ten, wa­ren fern, und mit je­dem fros­ti­gen Pin­sel­strich ver­wan­del­te die Stadt sich stär­ker zu­rück in das, was sie ei­gent­lich war: eine Zau­be­rin, ge­gen de­ren Ma­gie Mi­lou seit je­her macht­los ge­we­sen war.

Ihr Kof­fer rum­pel­te in stör­ri­schem Stak­ka­to über das Pflas­ter, als woll­te er sei­nen Un­mut da­rü­ber kund­tun, dass sie ihn durch die hal­be Stadt zerr­te, ob­wohl es doch ver­flucht noch eins kür­ze­re Wege gab, um an ihr Ziel zu kom­men. Fast mein­te sie, in dem är­ger­li­chen Pol­tern die Stim­me ih­res On­kels Ma­this zu hö­ren, der ihr ein­dring­lich ge­ra­ten hat­te, die Stre­cke vom Bahn­hof mit ei­nem Vapo­retto zu­rück­zu­le­gen. Sie sah ihn vor sich, wie sie sich in Pa­ris ver­ab­schie­det hat­ten: das Ge­sicht so sor­gen­voll, als hät­te er sie in ein Kriegs­ge­biet fah­ren las­sen, und die Au­gen dun­kel um­wölkt wie im­mer, wenn der sel­te­ne Fall ein­trat, dass er in ei­ner An­ge­le­gen­heit kei­ne Wahl hat­te. Er hass­te nichts mehr, als kei­ne Wahl zu ha­ben. Aber die Re­no­vie­rungs­ar­bei­ten in sei­ner Woh­nung ver­zö­ger­ten sich, und wäh­rend er in die­ser Zeit auf Ge­schäfts­rei­se war, hat­ten Ma­ler und Bo­den­le­ger Mi­lou ob­dach­los ge­macht. Sie selbst hät­ten Farb­ge­ruch und Bau­lärm nicht ge­stört, doch Ma­this be­stand da­rauf, dass sie sich auch in den Fe­ri­en dem Ler­nen wid­me­te. Denn trotz der teu­ren Pri­vat­schu­len, auf die er sie in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ge­schickt hat­te, war es ihr nicht ge­lun­gen, ihre Leis­tun­gen sei­nen An­sprü­chen an­zu­pas­sen. In we­ni­gen Wo­chen wür­de da­her eine Ar­ma­da von ex­zel­len­ten Nach­hil­fe­leh­rern auf sie war­ten, um sie un­ter Ma­this’ stren­gem Blick durch das letz­te Schul­jahr zu be­glei­ten, und so hat­te er ei­nen ru­hi­gen Ort für sie fin­den müs­sen, an dem sie sich an­ge­mes­sen da­rauf vor­be­rei­ten konn­te. Das war al­les an­de­re als ein­fach ge­we­sen. Er selbst konn­te auf Rei­sen kei­ne Ab­len­kung ge­brau­chen, ihre bes­te Freun­din Ce­line war mit ih­ren El­tern in Me­xi­ko, und Mi­lou muss­te grin­sen, als sie da­ran dach­te, wie sie nach ei­ner an­ge­mes­se­nen Pau­se Ve­ne­dig vor­ge­schla­gen und Ma­this’ Ge­sicht sich ver­fins­tert hat­te. In der­sel­ben Se­kun­de hat­ten sie bei­de ge­wusst, dass die Stadt in der La­gu­ne ihre ein­zi­ge Mög­lich­keit war. Und so ver­brach­te sie die Fe­ri­en bei Non­na, ih­rer Groß­mut­ter – zum Un­wil­len ih­res On­kels und zu ih­rer Freu­de.

Non­na war die warm­her­zigs­te, ver­rück­tes­te Per­son, die Mi­lou kann­te. Sie hat­te kei­ne Ah­nung von Com­pu­tern oder Han­dys, schick­te ihr aber re­gel­mä­ßig Brie­fe mit ge­press­ten Blu­men und Fo­tos ih­rer Kat­zen (wo­bei sie stets be­ton­te, dass sie viel mehr den Kat­zen ge­hör­te als um­ge­kehrt), sie tanz­te bar­fuß im Re­gen, sie setz­te sich lus­ti­ge Hüte auf und lief da­mit durch die Stra­ßen, wenn sie Mi­lou zum La­chen brin­gen woll­te, sie düste mit ih­rem knall­rot ge­stri­che­nen Mo­tor­boot so ra­sant durch die Ka­nä­le, dass selbst er­fah­re­ne Ve­ne­zi­a­ner auf dem Was­ser vor ihr Reiß­aus nah­men, und sie sang düs­te­re Lie­der aus dem Reich der Sa­gen und Le­gen­den. Bis­wei­len hat­te sie Mi­lou in Pa­ris be­sucht, dann war sie wie ein far­bi­ger Fleck ge­we­sen in die­ser rie­si­gen Stadt und hat­te Ma­this’ nüch­ter­nes Pent­house mit Blu­men und bun­ten Bil­dern voll­ge­stellt. Im­mer wie­der hat­te Mi­lou ih­ren On­kel in den letz­ten Jah­ren ge­drängt, ihr ei­nen Ge­gen­be­such ab­stat­ten zu dür­fen, doch meist hat­te er ab­ge­lehnt, kühl und sach­lich wie im­mer, viel­leicht aus Furcht vor den Er­in­ne­run­gen, die auch ihn zwi­schen die­sen Häu­sern heim­su­chen könn­ten, viel­leicht auch aus Sor­ge vor die­sen Gas­sen, die das Träu­men so leicht mach­ten, dass all­zu schnell jede Stren­ge und Ra­ti­o­na­li­tät, die er Mi­lou in den ver­gan­ge­nen Jah­ren müh­sam ver­sucht hat­te bei­zu­brin­gen, in flüs­tern­den Schat­ten un­ter­gin­gen. Ra­ti­o­na­li­tät. Mi­lou muss­te lä­cheln, als sie die Stim­me ih­rer Groß­mut­ter über die­ses Wort stol­pern hör­te, als wäre es nichts als eine Il­lu­si­on für all jene, die nicht ge­nug Fan­ta­sie hat­ten, die Wahr­heit rings um sie he­rum zu er­ken­nen.

Sie ließ den Blick über die vom Hoch­was­ser ge­zeich­ne­ten Fas­sa­den schwei­fen und stell­te sich vor, wie Ma­this die­se Gas­sen be­trach­ten wür­de: ab­schät­zig und mit küh­ler Stren­ge in sei­nen hel­len blau­en Au­gen, als be­gut­ach­te­te er eine der ma­ro­den Fir­men, die er auf­kauf­te, um sie ge­winn­brin­gend wie­der los­zu­schla­gen. Sie seufz­te. Ma­this hat­te es gut ge­meint, als er ihr zu dem Was­ser­ta­xi ge­ra­ten hat­te. Er selbst leg­te größ­ten Wert auf kom­for­tab­les Rei­sen. Aber er ver­stand nicht mehr von Ve­ne­dig als ihr Kof­fer, und da­her wuss­te er nicht, dass es für sie nur eine Art gab, wirk­lich in die­ser Stadt an­zu­kom­men. Schritt für Schritt hat­te sie in das La­by­rinth der Gas­sen ein­tau­chen und den Ge­ruch in sich auf­neh­men müs­sen, den sie nir­gends so in­ten­siv wahr­neh­men konn­te wie hier: den Duft ih­rer Kind­heit nach Meer, Ge­heim­nis und Aben­teu­er … ein Duft vol­ler Er­in­ne­run­gen, den Ma­this ver­ab­scheu­te, so sehr, dass er es nicht über sich ge­bracht hat­te, sie durch die­se Gas­sen zu be­glei­ten.

Mi­lou nahm es ihm nicht übel. Zu deut­lich sah sie ihn vor sich, wie er in je­ner Nacht vor vie­len Jah­ren auf dem Flur im Kran­ken­haus von Ve­ne­dig ge­stan­den hat­te, ihr küh­ler, un­nah­ba­rer On­kel, die Hand ge­gen die Tür ge­stützt, hin­ter der ihre El­tern den Kampf um ihr Le­ben ver­lo­ren hat­ten. Nie hat­te sie Ma­this wei­nen se­hen bis zu die­sem Mo­ment. Eine Schwes­ter hat­te sie den Gang hi­nauf­ge­tra­gen. Er hat­te Mi­lou nicht be­merkt, aber sie hat­te die­sen Au­gen­blick der Schwä­che nie ver­ges­sen, der so viel mehr Stär­ke in sich ge­tra­gen hat­te als je­der Mo­ment da­nach, als Ma­this mit der ihm ei­ge­nen Elo­quenz alle An­ge­le­gen­hei­ten ge­re­gelt und sie bei sich auf­ge­nom­men hat­te. Sie ka­men aus ver­schie­de­nen Wel­ten, er der ziel­stre­bi­ge Kar­ri­e­re­mensch, der gro­ßen Wert leg­te auf ge­sell­schaft­li­ches An­se­hen und Vo­ran­kom­men, sie die Träu­me­rin, die viel lie­ber in den Rei­chen ih­rer Bü­cher leb­te als in dem, was Ma­this Re­a­li­tät nann­te. Aber sie res­pek­tier­ten ei­nan­der, und seit je­ner Nacht im Kran­ken­haus emp­fand Mi­lou eine stil­le Zärt­lich­keit, wenn sie in die blau­en Au­gen ih­res On­kels schau­te, ganz gleich, wie kühl sie bli­cken moch­ten – wuss­te sie doch, dass da­rin die­sel­be Trau­er lag, die auch sie tief in sich ver­gra­ben hat­te.

Mu­sik und lei­ses Stim­men­ge­wirr durch­dran­gen ihre Ge­dan­ken, als sie an ei­nem klei­nen Res­tau­rant vor­bei­lief. Es war Jah­re her, seit sie ihre Groß­mut­ter zum letz­ten Mal be­sucht hat­te, und doch hat­te sich das Vier­tel Ca­stello kaum ver­än­dert. Noch im­mer war es das Se­stie­re der ein­fa­chen Leu­te, je­nen re­bel­li­schen Frei­geis­tern, die trotz of­fi­zi­el­len Ver­bots im Som­mer wei­ter­hin ihre Wä­sche­lei­nen zwi­schen ih­ren Fens­tern spann­ten. Noch im­mer schau­ten die Häu­ser in den ver­win­kel­ten Stra­ßen aus wind­schie­fen Fens­ter­au­gen auf Mi­lou he­rab und lehn­ten sich an­ei­nan­der, als müss­ten sie sich an­ge­sichts des dro­hen­den Un­ter­gangs am brö­ckeln­den Putz ih­res Nach­barn fest­klam­mern, und noch im­mer fiel es ihr nicht schwer, die Fa­bel­we­sen zu er­ken­nen, die sie schon frü­her in den hu­schen­den Schat­ten der Gas­sen ge­se­hen zu ha­ben glaub­te. Sie zog ih­ren Kof­fer die Pon­te Mar­cel­lo hi­nab und be­ob­ach­te­te, wie ein Sche­men, der ge­ra­de noch ver­teu­fel­te Ähn­lich­keit mit ei­nem Ko­bold ge­habt hat­te, als Kat­ze aus ei­nem Haus­ein­gang her­vor­sprang. Ein Lä­cheln glitt über ihr Ge­sicht. Es war eine ver­lang­sam­te, kost­ba­re Welt, in der Non­na leb­te, und es er­füll­te sie mit ei­nem un­ru­hi­gen Glücks­ge­fühl, zu­rück zu sein … zu­rück in der Ku­lis­se ih­rer Kind­heit, die noch im­mer wie ein Mär­chen war, in dem die Zeit still­stand.

Sie hat­te ge­ra­de die Cal­le Borg­olocco be­tre­ten, als ein Flüs­tern an ihr Ohr drang, lei­se nur und doch so ein­dring­lich, dass sie ste­hen blieb und sich um­sah. Sie schien al­lein zu sein, aber ein Schau­er flog über ih­ren Rü­cken wie frü­her, wenn sie mit den an­de­ren Kin­dern in der Däm­me­rung he­rum­ge­lau­fen war und sie sich ge­gen­sei­tig Gru­sel­ge­schich­ten er­zählt hat­ten. Kurz mein­te sie, das Ge­läch­ter der an­de­ren an den Fas­sa­den der Häu­ser wi­der­klin­gen zu hö­ren, und ob­wohl sie ih­ren Weg rasch fort­setz­te, tauch­ten die Spuk­bil­der von da­mals vor ih­rem geis­ti­gen Auge auf. Sie sah un­heim­li­che Ge­stal­ten mit blei­chen Glie­dern, die laut­los aus den Ka­nä­len kro­chen und al­les Le­ben­di­ge in ihr eis­kal­tes Reich zerr­ten, Geis­ter­frau­en in we­hen­den Ge­wän­dern, de­ren Hän­de den Tod brach­ten, und Clowns in den fins­te­ren Häu­ser­ni­schen, die Zäh­ne rot vom Blut un­schul­di­ger Kin­der. Lang­sam sog sie die Luft ein. Sie wuss­te, dass die­se Bil­der nichts als Aus­ge­bur­ten ih­rer wil­den Fan­ta­sie wa­ren, Ge­dan­ken, die nur in ih­rem Kopf exis­tier­ten. Und den­noch schau­te sie wie da­mals als Kind in den ge­spens­ti­schen Ne­bel, als bräuch­te sie nur die Hand aus­zu­stre­cken, um den Schlei­er über ih­rer Wirk­lich­keit fort­zu­zie­hen – die­se dün­ne Haut, die sie je­des Mal be­rühr­te, wenn sie in ihre Bü­cher ein­tauch­te, wenn sie mit­ten in der Nacht er­wach­te, als hät­te eine stei­ner­ne Klaue ihre Wan­ge ge­streift, oder wenn sich für ei­nen Wim­pern­schlag das Licht ver­än­der­te, das auf den re­gen­nas­sen As­phalt von Pa­ris fiel, schil­lernd wie in ei­nem Ka­lei­dos­kop aus tau­send Far­ben. In sol­chen Mo­men­ten hielt Mi­lou den Atem an, und manch­mal konn­te sie es noch im­mer spü­ren: das Ge­heim­nis, das sie in ih­rer Kind­heit mit ei­ner Mi­schung aus Sehn­sucht und Furcht hin­ter je­dem flüs­tern­den Blatt und je­dem fla­ckern­den Schat­ten er­ahnt hat­te und das ihr seit je­her zu­raun­te, dass es mehr in der Welt gab, als ihre Au­gen se­hen konn­ten … so un­end­lich viel mehr als das. Sie hielt inne, als der Ne­bel vor ihr auf­wall­te wie ein le­ben­di­ges We­sen, und für ei­nen Mo­ment woll­te sie nichts mehr, als auf ihn zu­zu­tre­ten – ih­ren Weg zu ver­las­sen und sich in den wei­ßen Schlei­ern zu ver­lie­ren, als wäre sie noch im­mer das klei­ne Mäd­chen von da­mals, das auf den Schwin­gen sei­ner Ge­dan­ken flie­gen ge­lernt hat­te. Doch gleich da­rauf riss sie ih­ren Blick vom Ne­bel fort und dräng­te die Bil­der zu­rück, wäh­rend sie die Pon­te dei Preti über­quer­te. Sie führ­te sich auf wie ein Klein­kind. Wenn Ma­this sie jetzt se­hen könn­te, wür­de er …

Das Flüs­tern strich wie ein Atem­zug über ihre Wan­ge. Mi­lou fuhr zu­rück, so hef­tig, dass sie sich den Arm am Brü­cken­ge­län­der stieß, aber ehe sie noch et­was hin­ter sich hät­te er­ken­nen kön­nen, ver­lor sie das Gleich­ge­wicht, rutsch­te über die Stu­fen ab­wärts und schlug am Bo­den auf. Ihr Kof­fer lan­de­te ne­ben ihr. Kra­chend brach er aus­ei­nan­der, und all die Bü­cher, die sie mü­he­voll ver­schnürt und zu­sam­men­ge­packt hat­te, er­gos­sen sich über das feuch­te Pflas­ter. Be­nom­men kam sie auf die Bei­ne. Ihr Schä­del puc­kerte, so hef­tig war sie auf den Stei­nen auf­ge­kom­men, und kurz dräng­te der Schmerz je­des an­de­re Ge­fühl zu­rück. Dann je­doch nahm sie die Stil­le wahr, die sie nun wie­der um­gab. Sie hat­te je­des an­de­re Ge­räusch ver­schlun­gen, und zum ers­ten Mal, seit Mi­lou die Stadt be­tre­ten hat­te, kam sie ihr un­heim­lich vor – wie ein Luft­ho­len vor ei­nem ent­setz­li­chen Fluch. Seuf­zend straff­te sie die Schul­tern. War es nicht schlimm ge­nug, dass sie we­gen ei­nes lä­cher­li­chen Flü­sterns die Stu­fen hi­nab­fiel? Muss­te sie nun auch noch an­fan­gen, sich Ge­schich­ten aus­zu­den­ken? Be­tont ge­las­sen be­gann sie, ihre Bü­cher in den lä­dier­ten Kof­fer zu­rück­zu­stop­fen, aber sie brach­te es da­bei nicht über sich, den Ne­bel aus den Au­gen zu las­sen, der nun in di­cken Schwa­den über die Mau­ern des Ka­nals trat und auf sie zu kroch, lang­sam wie ein zum Sprung be­rei­tes Tier. Im sel­ben Mo­ment kehr­te das Flüs­tern zu­rück.

Noch im­mer fühl­te Mi­lou es eis­kalt an ih­rer Wan­ge und sie zö­ger­te nicht län­ger. Ei­lig griff sie nach ih­rem Kof­fer, klemm­te sich die üb­ri­gen Bü­cher un­ter den Arm und setz­te sich in Be­we­gung. Jede Ver­zau­be­rung, die sie ge­ra­de noch emp­fun­den hat­te, wur­de von dem selt­sa­men Wis­pern zer­rie­ben und ließ nichts in ihr zu­rück als ra­sen­de An­span­nung. Sie zwang sich, nicht zu lau­fen, wuss­te sie doch, dass es mit ja­gen­dem Puls schier un­mög­lich wer­den wür­de, die auf­kei­men­de Angst in sich klein zu hal­ten. Statt­des­sen zerr­te sie ih­ren Kof­fer über das Pflas­ter, als wäre er ein bo­cki­ger Hund, und ver­such­te ver­geb­lich, das Flüs­tern zu ig­no­rie­ren, das ihr rasch nach­glitt. Mit klop­fen­dem Her­zen schau­te sie über die Schul­ter zu­rück, aber ihr Blick perl­te an der Wand aus Ne­bel ab wie Re­gen von Glas, und sie wich er­schro­cken zu­rück, als die Stra­ßen­la­ter­nen zu fla­ckern be­gan­nen.

Je­des Mal, wenn das Licht der La­ter­nen für die Dau­er ei­nes Atem­zugs er­losch, schie­nen sich die Gas­sen rings­he­rum zu ver­än­dern. Die Fas­sa­den der Häu­ser wur­den brü­chig, als be­stün­den sie aus ver­brann­tem Pa­pier, das Pflas­ter knack­te un­ter Mi­lous Schrit­ten wie bre­chen­des Eis, und selbst das Licht wan­del­te sich wie in je­nen sel­te­nen Au­gen­bli­cken voll­kom­me­ner Stil­le, die nie­mand wahr­zu­neh­men schien als sie selbst. Mi­lou schau­te zu den Häu­sern auf, die in der Dun­kel­heit wirk­ten wie aus Blei ge­gos­sen, und sie lief auf die er­leuch­te­ten Fens­ter zu, die nicht weit ent­fernt ihr Licht in die Nacht sand­ten. Eine tie­fe Er­leich­te­rung brach in ihr auf, als sie die Men­schen in ih­ren Woh­nun­gen sah, wie sie vor dem Fern­se­her zu­sam­men­sa­ßen oder in der Kü­che mit­ei­nan­der spra­chen, ge­wöhn­li­che Ve­ne­zi­a­ner, die ver­mut­lich laut la­chen wür­den, soll­ten sie das Mäd­chen aus der fer­nen Stadt mit hoch­ro­ten Wan­gen durch al­ber­nen Ne­bel het­zen se­hen, als wäre der Teu­fel hin­ter ihm her. Auf­at­mend strich Mi­lou sich das Haar zu­rück und ver­lang­sam­te ihre Schrit­te. Doch kaum, da das Licht aus den Woh­nun­gen ihre Haut traf, ho­ben die Men­schen die Köp­fe, ruck­ar­tig wie wit­tern­de Tie­re, und ihre Züge ver­zerr­ten sich zu ent­stell­ten Frat­zen.

Nur im letz­ten Au­gen­blick un­ter­drück­te Mi­lou ei­nen Schrei. Sie starr­te in die Fens­ter, die plötz­lich ver­git­tert und dun­kel wie To­ten­au­gen da­la­gen, als hät­ten sie nie et­was an­de­res ge­zeigt als reg­lo­se Nacht. Dann riss sie ih­ren Blick fort und be­gann zu ren­nen. Ihr Kof­fer sprang über das Pflas­ter, als hät­te auch ihn der Schreck er­fasst, und Mi­lou ge­lang es nicht, auf die mah­nen­de Stim­me in ih­rem In­ne­ren zu hö­ren, die ihr zu­rief, dass sie sich be­ru­hi­gen und die ver­nünf­ti­ge Er­klä­rung für die Er­eig­nis­se su­chen soll­te. Denn die gab es, die muss­te es ein­fach ge­ben. Zu ein­dring­lich ver­folg­te sie das Flüs­tern im Rhyth­mus ih­rer ei­ge­nen Schrit­te. Im­mer schnel­ler jag­te es ihr mit Schwa­den aus kleb­ri­gem Ne­bel hin­ter­her, glitt an ihr vor­bei und trieb sie von Brü­cken und Stra­ßen zu­rück, bis der Dunst so dicht ge­wor­den war, dass sie nicht mehr sa­gen konn­te, wo sie war. Atem­los bog sie um eine Ecke – und fand sich in ei­ner Sack­gas­se wie­der. Sie fuhr he­rum. Haus­hoch türm­te der Ne­bel sich vor ihr auf, und ge­ra­de, als sie mit dem Rü­cken ge­gen die Wand stieß, ver­stumm­te das Flüs­tern.

Mi­lous Herz schlug so hef­tig, dass sie mein­te, es in den Stei­nen in ih­rem Rü­cken wi­der­klin­gen zu füh­len. Sie press­te die Hand­flä­chen ge­gen die Mau­er, bis die schar­fen Kan­ten sich in ihr Fleisch gru­ben, und starr­te in den Ne­bel, der sich ihr laut­los nä­her­te. Ir­gend­et­was in ihr rief ihr zu, dass sie sich zu­sam­men­rei­ßen muss­te, dass es nichts als Ne­bel war, dass ihre Fan­ta­sie ihr ei­nen Streich spiel­te wie so oft. Aber ganz gleich, was die­se Stim­me in ihr sa­gen moch­te – sie fühl­te, dass et­was in die­sem Ne­bel sie an­starr­te, reg­los und lau­ernd, und sie hör­te auf zu at­men, als sich ein schat­ten­haf­ter Um­riss aus dem Dunst hob.

Im ers­ten Mo­ment mein­te Mi­lou, die Ge­stalt ei­nes Mi­no­tau­rus mit mäch­ti­gem Stier­kopf und mes­ser­schar­fen dunk­len Hör­nern er­ken­nen zu kön­nen. Dann zog der Sche­men sich zu­sam­men. Sie glaub­te, Luft­bal­lons von ei­nem Clown in Plu­der­ho­sen auf­stei­gen zu se­hen, und schließ­lich be­gann die Ge­stalt zu fla­ckern wie die Stra­ßen­la­ter­nen zu­vor, so schnell, dass ihr schwind­lig wur­de. Schritt für Schritt trat sie auf Mi­lou zu und blieb schließ­lich ste­hen, halb noch vom Ne­bel um­schmei­chelt. Es war ein Mäd­chen, etwa sieb­zehn Jah­re alt, ein we­nig pum­me­lig mit lan­gen dunk­len Lo­cken und bei­na­he kind­li­chem Ge­sicht, die Brau­en in leich­tem Trotz ver­zo­gen. Mi­lou wich das Blut aus dem Kopf. Sie selbst war es, die da vor ihr stand, reg­los wie eine Fi­gur aus Eis. Doch an­stel­le ih­rer dunk­len Au­gen prang­ten Spie­gel in dem blas­sen Ge­sicht, Spie­gel, die das Meer zeig­ten … das Meer in sturm­um­tos­ter Nacht.

Mi­lou stand da wie ge­lähmt. Die Bü­cher glit­ten ihr aus den Hän­den, aber sie hör­te sie kaum am Bo­den auf­schla­gen. Al­les, was sie deut­lich wahr­nahm, war das Meer, das sich mit töd­li­cher Kraft um ihre Keh­le schlang und ihr die Luft ab­press­te, ohne dass sie auch nur das Ge­rings­te da­ge­gen tun konn­te. Es fühl­te sich an, als schlös­se sich eine ei­si­ge Hand um ihr Herz, gna­den­los und kalt wie … eine Er­in­ne­rung … Das Mäd­chen vor ihr schien zu lä­cheln, so grau­sam, dass Mi­lou zu zit­tern be­gann. Sie mein­te schon, die Gischt des Mee­res auf ih­rer Haut füh­len zu kön­nen, doch ge­ra­de als ihr schwarz vor Au­gen wur­de, ging ein Ton durch die Luft – so laut und durch­drin­gend, dass der Ne­bel vor ihm zu­rück­wich und jede Stil­le zer­brach. Es war der Schrei ei­nes Ra­ben.

Ab­rupt riss das Mäd­chen vor ihr den Kopf he­rum, und Mi­lou mein­te, ein Knur­ren aus ih­rer Keh­le drin­gen zu hö­ren, dun­kel wie bei ei­nem Tier. Dann fuhr ihr Spie­gel­bild he­rum und ohne sich noch ein­mal um­zu­dre­hen, tauch­te es im flie­hen­den Ne­bel un­ter.

Die Läh­mung wich so plötz­lich aus Mi­lous Glie­dern, dass sie sich an der Wand ab­stüt­zen muss­te, um nicht zu fal­len. Schwer at­mend hob sie den Blick, und da sah sie eine hoch­ge­wach­se­ne Ge­stalt am Ende der Gas­se ste­hen, ei­nen Mann, in ei­nen schwar­zen Man­tel ge­klei­det, ka­pu­zen­be­wehrt und um­ge­ben von Schat­ten. Mi­lou er­kann­te kein Ge­sicht in der Dun­kel­heit und doch er­schien ihr ir­gend­et­was an die­sem An­blick selt­sam ver­traut. Lang­sam rich­te­te sie sich auf, die Fin­ger noch im­mer in die Mau­er ge­krallt, aber sie wand­te sich nicht für ei­nen Wim­pern­schlag von dem Frem­den ab. War es sei­ne Reg­lo­sig­keit, die sie bann­te? Das Schwei­gen, das sich wär­mend um ihre Schul­tern leg­te und je­des Flüs­tern aus ih­ren Ge­dan­ken ver­trieb, oder das halb­lan­ge, sei­dig schim­mern­de Haar, das in der Düs­ter­nis glüh­te wie eine sil­ber­ne Flam­me? Kurz mein­te Mi­lou, ein Lä­cheln in der Finsternis un­ter der Ka­pu­ze er­ah­nen zu kön­nen, stolz und spöt­tisch und zu­gleich von ei­ner sanf­ten Vor­sicht, die sie auf den Frem­den zu­tre­ten ließ, ins­tink­tiv, als wür­de in sei­ner Dun­kel­heit et­was auf sie war­ten, das sie lan­ge ge­sucht hat­te, ohne es zu wis­sen – wie da­mals als Kind, wenn sie im Haus ih­rer Groß­mut­ter an ihr Fens­ter ge­tre­ten war und hi­naus in die Nacht ge­se­hen hat­te in der Hoff­nung, je­mand wür­de die­sen Blick er­wi­dern.

Sie hielt inne. Wie lan­ge hat­te sie nicht mehr da­ran ge­dacht? Die Fins­ter­nis un­ter der Ka­pu­ze schien auf­zu­glü­hen wie eine Ant­wort und im sel­ben Mo­ment über­kam Mi­lou hef­ti­ger Schwin­del. Sie griff er­neut nach der Haus­wand, als wür­de ein ein­zi­ger wei­te­rer Schritt auf die­se Dun­kel­heit zu ge­nü­gen, um ihr den Bo­den un­ter den Fü­ßen zu neh­men. Die Schat­ten am Ende der Gas­se be­gan­nen zu tan­zen. Sie muss­te die Au­gen zu­sam­men­knei­fen, um den Frem­den noch er­ken­nen zu kön­nen, und ihr ging der Ge­dan­ke durch den Kopf, ob er über­haupt wirk­lich da war. Sei­ne Um­ris­se ver­schwam­men be­reits, und wie er so da­stand, von Fins­ter­nis um­tost, sah er aus, als wäre er ein Traum … nichts als ein Traum aus Nacht und Schat­ten. Kurz schien es Mi­lou, als wür­de er vor ihr den Kopf nei­gen. Dann lo­der­te die Dun­kel­heit um ihn he­rum auf und er war ver­schwun­den.

Mi­lou schwank­te an­ge­sichts der fla­ckern­den Düs­ter­nis und schloss die Au­gen, um den Schwin­del zu­rück­zu­drän­gen. Lang­sam at­me­te sie ein, und als sie auf­schau­te, war der Ne­bel gänz­lich ver­schwun­den. Das Licht der Stra­ßen­la­ter­nen fiel ihr ins Ge­sicht, sie hör­te Ge­läch­ter von ei­nem na­hen Bal­kon, und die Häu­ser, die ge­ra­de noch wie in Blei ge­bannt da­ge­stan­den hat­ten, zeig­ten nun ihr ver­trau­tes, von Wel­len und Men­schen ge­beu­tel­tes Ge­sicht. Mi­lou stieß die Luft aus. Ver­flucht, was war los mit ihr? Ge­nüg­te tat­säch­lich schon ein we­nig Ne­bel, um eine ge­wöhn­li­che Ta­schen­die­bin für sie in eine Spuk­ge­stalt zu ver­wan­deln? Mit al­ler Kraft dräng­te sie die Ge­dan­ken an ihr Eben­bild mit den Spiege­lau­gen zu­rück und griff nach ih­ren Bü­chern. Sie war kein Kind mehr, das sich von die­sen Gas­sen ver­he­xen ließ wie frü­her! Är­ger­lich wühl­te sie in ih­rer Ta­sche he­rum und hol­te ihr Pfef­fer­spray he­raus. Soll­te noch ein­mal je­mand auf die Idee kom­men, sie zu be­läs­ti­gen, wür­de sie sich zu hel­fen wis­sen, so viel war si­cher.

Mit ent­schlos­se­nen Schrit­ten setz­te sie sich in Be­we­gung. Sie sah Ma­this vor sich, die Sor­ge in sei­nem Blick – und das nur halb un­ter­drück­te spöt­ti­sche Fun­keln an­ge­sichts der Hirn­ge­spins­te, de­nen sie sich of­fen­sicht­lich noch im­mer mit der­sel­ben Fas­zi­na­ti­on hin­gab wie da­mals als Kind. Da­bei gab es et­li­che na­he­lie­gen­de Er­klä­run­gen für das, was ge­sche­hen war. Ver­mut­lich war sie ei­ner Die­bes­ban­de auf den Leim ge­gan­gen, die sie mit ge­spens­ti­schem Flüs­tern durch die Gas­sen ge­jagt hat­te, nur um sie dann mit ei­ner bil­li­gen Frau­en­mas­ke und dunk­ler Pe­rü­cke in Angst und Schre­cken zu ver­set­zen. Die Frat­zen hin­ter den Fens­tern wa­ren ih­rer ei­ge­nen Pa­nik ge­schul­det ge­we­sen, eben­so wie die Fas­sa­den aus Blei, und fla­ckern­de Stra­ßen­la­ter­nen wa­ren in die­ser Stadt nun wirk­lich kein An­lass zur Be­un­ru­hi­gung. Die Er­leich­te­rung strich kühl durch ihre Glie­der, wäh­rend ihr Ver­stand die Er­eig­nis­se an ei­nen harm­lo­sen Platz rück­te, und ihr Herz­schlag hat­te sich schon fast wie­der be­ru­higt, als sie das Ende der Gas­se er­reich­te.

Kurz nur wand­te sie den Blick in die Schat­ten, und im sel­ben Mo­ment ging ein Ton durch die Luft, ge­ra­de dort, wo der rät­sel­haf­te Frem­de ge­stan­den hat­te. Der Laut fuhr Mi­lou ins Mark, so durch­drin­gend, dass sie sich erst nach ei­ni­gen Au­gen­bli­cken dazu zwin­gen konn­te, ih­ren Weg fort­zu­set­zen. Mit fes­tem Griff zog sie ih­ren Kof­fer über das Pflas­ter. Pol­ternd sprang er über die Stei­ne und dräng­te jede Er­in­ne­rung an das merk­wür­di­ge Flüs­tern in ihr zu­rück. Der Ton vom Ende der Gas­se je­doch ging ihr nach, lei­se und be­tö­rend, und so sehr sie es auch ver­such­te: Es ge­lang ihr nicht, ihn aus ih­ren Ge­dan­ken zu ver­trei­ben. Ein La­chen war es, so ver­traut, als hät­te sie es vor lan­ger Zeit schon ein­mal ge­hört, und doch fern … so fern wie aus ei­ner an­de­ren Welt.