Kathrin Fischer

Generation Laminat

Mit uns beginnt der Abstieg

Knaus

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2012

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Linda Strehl

Gesetzt aus der Sabon von

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-07494-4

www.knaus-verlag.de

Einleitung

»Ich wohne auf Laminat. Dabei kann ich Laminat nicht ausstehen«

Ich wohne auf Laminat. Dabei kann ich Laminat nicht ausstehen. Es fühlt sich nicht gut an, denn es wärmt den Fuß nicht, es hört sich nicht gut an, denn es knarrt nicht beruhigend, es sieht auch nicht gut aus, denn man sieht ihm an, dass es vorgibt, etwas anderes zu sein, als es ist. Es spielt Holz, beispielsweise Nussbaum-Schiffsboden, ist aber nur Holzabfall, es will Solidität vermitteln und zeigt doch nur, dass hier jemand gespart hat. Dadurch erinnert es mich daran, dass ich mir Holzboden nicht leisten kann, dass ich aus eigener Kraft nicht den Wohlstand erzeugen kann, in dem ich aufgewachsen bin. Ich dachte, mein Leben ginge immer so weiter, wie es begonnen hat. Tut es aber nicht, flüstert mir jeden Morgen das Laminat in meiner Mietwohnung zu. Mein Sohn wird voraussichtlich später mal kein Haus erben. Was habe ich falsch gemacht?

Nun muss man fairerweise zugeben, dass es drängendere Probleme im Leben eines Menschen geben kann als das Wohnen auf einem ungeliebten Fußbodenbelag. Arbeitslosigkeit. Krankheit. Armut. Verlust.

Das Jammern über Laminat ist Jammern auf hohem Niveau. Da ist es leicht, sich achselzuckend abzuwenden. Doch damit hat man eine Chance vertan: die Chance, dem Wohlstand beim Bröckeln zuzusehen. Denn ist es nicht so, dass die Arbeitsverhältnisse immer unsicherer werden? Dass es immer schwieriger wird, seinen Lebensunterhalt zu verdienen? Warum konnte mein Englischlehrer in den achtziger Jahren Frau und drei Kinder ernähren und ein Haus bauen – von einem Gehalt? Warum kann ich das nicht mehr? Warum kann ich mir von einem durchschnittlichen Akademikergehalt nur noch eine Mietwohnung und Laminat leisten? Was hat sich seit damals verändert? Es muss sich etwas verändert haben, denn mit meinen Wohlstandssorgen stehe ich schließlich nicht alleine da. Findet so etwas wie eine »Laminatisierung« der ehemals soliden Mitte statt?

Auf dem Geburtstagsbrunch eines Kollegen habe ich ein Gespräch geführt, das ich vor fünf Jahren so garantiert noch nicht geführt hätte. Mit Blick in den Garten, einen Aperol Spritz in der Hand stehe ich einem jugendlich wirkenden Herrn Mitte vierzig gegenüber, der als Musikproduzent und Eventmanager arbeitet. Wir reden über Eurokrise und Israelproteste. Ich erzähle von einem Bekannten, der vor drei Jahren seine Lebensversicherung verkauft und in Gold angelegt hat – eigentlich ein ungewöhnliches Partygesprächsthema, jedenfalls in den Kreisen, in denen ich mich normalerweise bewege: Anlagemöglichkeiten werden da nicht diskutiert, erstens, weil die meisten von uns nichts zum Anlegen haben, und zweitens, weil wir Geld für langweilig halten.

Doch mein Gegenüber überrascht mich. »Gold!«, ruft es entsetzt aus. »Doch nicht Gold!«

»Warum kein Gold?«, frage ich und nippe an meinem Aperol Spritz. »Zu teuer?«

»Nein, nein«, schüttelt er den Kopf, »weil Goldbesitz bei einem Staatsbankrott oder einem Währungscrash verboten werden wird. Das war in den USA in den dreißiger Jahren so, und das wird bei uns auch so sein. Und dann«, fügt er mit einer Selbstverständlichkeit hinzu, als dächte er schon seit Jahren darüber nach, was Schutz bieten könnte vor Inflation, Staatsbankrott, Währungsschnitt oder Zwangsenteignung, »dann muss man es entweder abgeben, wird also zwangsenteignet, oder man wird auf dem Schwarzmarkt niemals den Preis erzielen, für den man es eingekauft hat, weil man ja illegal verkaufen muss. Gold ist überhaupt keine Alternative.«

»Was dann?«, frage ich, immer noch verblüfft über die Richtung, die das Gespräch genommen hat.

Der Musikproduzent lächelt mich an: »Silber«, sagt er. »Du kannst viele Dinge des täglichen Lebens in Silber kaufen – Besteck, Lampenfüße. Dazu ein paar Münzen. Ist doch sowieso besser, eine Silbermünze gegen eine Wurst zu tauschen als eine Goldmünze.«

So weit sind wir: Dass wir bei gepflegten Kaltgetränken und gehobenen Speisen darüber sprechen, wie wir uns vor den Folgen einer Staatspleite schützen können.

Auch meine Mutter, die immer noch in der Neubausiedlung wohnt, in der ich groß geworden bin, auch wenn die Neubauten mittlerweile längst nicht mehr neu sind, erzählt mir ähnliche Geschichten. Von kinderlosen Ehepaaren in Einfamilienhäusern mit großem Garten, vor deren Einfahrt zwei Autos stehen, die Angst haben, weil der Mann nun schon seit zehn Monaten arbeitslos ist. Nach zwölf Monaten wird das Arbeitslosengeld I durch das Arbeitslosengeld II – im Volksmund Hartz IV genannt – ersetzt. Von Eltern, die zu viel verdienen, als dass ihre Kinder BAföG beantragen könnten, und die dennoch nicht wissen, wie sie das Studium ihrer Kinder finanzieren sollen. »Wir«, sagt meine Freundin Anna, die selbst zwei halbwüchsige Kinder hat, »wir wurden lange unterstützt, aber ich weiß nicht, welche Eltern das heute noch können.«

Überall machen sich Nervosität, Unsicherheit und Angst breit. In der Straßenbahn, auf Partys, unter den Arbeitskollegen, bei den Nachbarn, im eigenen Kopf. Es ist die Angst, die eigene soziale Position auf Dauer nicht halten zu können, sozial abzusteigen. Es ist die Angst, dass der Kuchen nicht für alle reicht. Dass er kleiner sein könnte als gedacht. Es ist eine Angst, die aus dem vagen Bewusstsein von Endlichkeit entsteht. Entgegen unserem bisherigen Lebensgefühl müssen wir in den Folgen der »Multikrise« aus Euro-, Schulden-, Finanz-, Wirtschafts-, Gesellschafts- und Klimakrise feststellen, dass die Phönizier offenbar zu wenig Geld erfunden haben. Und dass auch Wälder, Fische, Erze und Öl irgendwann einfach alle sein könnten.

Soziologen stellen fest, dass innerhalb der letzten zwanzig Jahre das Unsicherheitsempfinden der mittleren Mitte überproportional angestiegen ist.1 Damit hält ein Phänomen in Deutschland Einzug, das man für die USA schon in den neunziger Jahren diagnostiziert hat. Und das sich nicht nur in Deutschland ausbreitet, wie der Sommer 2011 gezeigt hat. Krawalle in Großbritannien, Proteste in Spanien und Israel, Demonstrationen in Griechenland – in all diesen Ländern dreht sich der Protest letztendlich um die Sorge, dass nachwachsende Generationen nicht in dem öffentlichen Wohlstand werden leben können, der für die Älteren noch selbstverständlich war.

1Holger Lengfeld/Jochen Hirschle: Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg, S. 196

»Wir sind in ein Zeitalter der Unsicherheiten eingetreten – wirtschaftliche Unsicherheit, physische Unsicherheit, politische Unsicherheit.« So analysiert der britische Historiker Tony Judt die gegenwärtige Situation. »Unsicherheit erzeugt Angst. Und Angst – Angst vor Veränderung, Angst vor dem sozialen Abstieg, Angst vor Fremden und einer fremden Welt – zerfrisst das wechselseitige Vertrauen, auf dem die Bürgergesellschaft beruht.«2

2 Tony Judt: Dem Land geht es schlecht, S. 16

Natürlich könnte man die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Gefühl dieser Wohlstandsbedrohung nicht exakt den Gefahren entspricht, denen wir tatsächlich ausgesetzt sind. Vielleicht, halten mir manchmal Gesprächspartner entgegen, vielleicht sind wir einfach satte Wohlstandsbürger, die seit ihrer Jugend immer ein Mehr gewohnt waren und die nun die Furcht vor einem möglichen Weniger in Schockstarre versetzt. »Heul doch«, sagt beispielsweise meine amerikanische Freundin Ally, die ein Leben lang ohne jegliche Absicherung als Künstlerin gearbeitet hat. Solange ich noch Biobratwürste auf den Kugelgrill lege, nimmt sie mich nicht ernst und bezeichnet meine zunehmenden Ängste und Unsicherheiten als typisch deutsches Gejammer und Genörgel. Brillant imitiert sie, was sie in den Cafés in Frankfurt so zu hören kriegt. »O weh, da kann sich jemand nur dann Biospaghetti leisten, wenn er alle sechs statt vier Wochen zum Friseur geht! O Gott, o Gott, in der staatlichen Schule um die Ecke sind so viele Ausländerkinder, aber die Waldorfschule kann man sich nur leisten, wenn Opa das Schulgeld zahlt – und der will dann dafür mit in den Urlaub, das ist ja furchtbar!«

Aber auch viele deutsche Freunde und Kollegen halten meine Sorgen, Ängste und Überlegungen wahlweise für kollektive Wohlstandsphantasmen oder individuelle neurotische Angstattacken. Auf jeden Fall für nichts, was man politisch ernst nehmen müsste. Ihre Argumente: das hohe Niveau, auf dem wir klagen, der Reichtum des Landes, in dem wir leben, die Zahlen des wirtschaftlichen Wachstums, die Sozialausgaben, die die Bundesregierung leiste. »Ich kann dieses Gerede über gefühlte Ängste nicht mehr hören«, regt sich meine sonst gut gelaunte Kollegin Christine auf, »ich bin ein Faktenjunkie, schau dir mal die Zahlen an. Dieses Land ist die am stärksten wachsende Volkswirtschaft Europas. Hier brummt’s!«

Und über einen Satz meines Freundes Michael lacht sie sich halb tot. »Zur Not«, hatte der mir gesagt, »könnte ich den Flügel verkaufen.« Michael und ich hatten über unsere unsicheren Arbeitsverhältnisse beim Rundfunk gesprochen. Wir sind beide nicht fest angestellt, was in den permanenten Konsolidierungsplänen, in denen wir seit Jahren stecken, mittlerweile zu einer echten Belastung geworden ist. Fest angestellte Redakteure unterhalten sich in unserer Gegenwart darüber, wie froh sie seien, in diesen Zeiten fest angestellt und außerdem mit einer Oberstudienrätin verheiratet zu sein, die als Beamtin den Kredit fürs Haus gewährleiste. Ältere Kollegen sprechen davon, dass sie vor zwanzig Jahren vor dem Haupteingang gestreikt hätten. Vor zwanzig Jahren waren allerdings auch noch viel mehr Kollegen fest angestellt. Vor zwanzig Jahren waren viel mehr in der Gewerkschaft organisiert. Und vor zwanzig Jahren hatten alle weniger Angst vor der Zukunft. Aufgrund dieser Situation hatten Michael und ich überlegt, wo wir das Geld sparen könnten, das wir künftig möglicherweise nicht mehr zu verdienen in der Lage sein würden. Und da hatte Michael diesen Satz gesagt.

»Zur Not könnte ich den Flügel verkaufen«, das klingt ungefähr nach so großer Not wie die Klage, dass man heutzutage kein gutes Personal mehr bekommt, dass die Handwerker, die das Parkett verlegen, tatsächlich sehr schmutzen oder dass im neuen SUV die Frage, wohin mit der Sonnenbrille, nicht gerade geschickt gelöst sei. Wer solche Sätze sagen kann, dem geht es nicht wirklich schlecht. Der klagt auf ganz hohem Niveau. Ein solcher Satz entwertet sich durch den Luxus, den ein Flügel verkörpert.

Nun muss man wissen, dass mein Freund Michael sich seinen Flügel, einen gebrauchten Steinway, über viele Jahre von seinem keineswegs üppigen Gehalt abgespart hat, auch in den Zeiten, in denen er gleichzeitig sein BAföG abbezahlen musste. Er hat diesen Flügel, dessen Anzahlung ihm ein Freund geliehen hat, tatsächlich mühselig, Taste für Taste, durch geschickte Sparsamkeit erworben. Michael besitzt seinen Flügel nicht aus Statusgründen, er besitzt ihn, weil es ihn glücklich macht, so oft wie möglich auf ihm zu spielen. Mindestens einmal täglich. Am besten ein paar Stunden. Wenn Michael seinen Flügel verkaufen müsste, wäre das ein harter Schlag für ihn und ein ernsthafter Verlust an Lebensqualität. Weiß man das alles, hört sich der Satz »Zur Not könnte ich den Flügel verkaufen« möglicherweise weniger bizarr an. Was er unnachahmlich gut zum Ausdruck bringt, ist die Tatsache, dass hier jemand Zukunftssorgen hat, dem es zurzeit materiell ziemlich gut geht. Besser als vielen anderen, besser als der zunehmenden Zahl von Leiharbeitern, Niedriglohnbeziehern, Teilzeitbeschäftigten, Aufstockern, Arbeitslosen oder Hartz-IV-Empfängern.

Ist das Gerede von Flügelverkauf und Laminatabneigung also genau das, nämlich Gerede? Handelt es sich schlicht um eine individuelle Unfähigkeit der »Generation Laminat«, sich an veränderte gesellschaftliche Lebensbedingungen anzupassen? Wenn der Wohlstand sinkt, dann muss man eben Verzicht üben. Und zwar ohne zu jammern. Dann muss ein Michael eben seinen Flügel verkaufen, davon geht die Welt nicht unter. Es muss ja nicht das biologisch-dynamische Lummerlandbrot aus dem Bioladen für vier Euro zwanzig sein, die großen Discounter bieten auch Brot an. Geschichte geht voran. Lebensbedingungen ändern sich. So what? Auch meine Mutter reagiert so. Sie hält meine Lebenshaltungskosten aufgrund dessen, was sie Lifestyle nennt, für übertrieben hoch und nennt mir Familien aus ihrem Bekanntenkreis, die ohne Fernseher leben, Zahnpastatuben aufschneiden und mit Zelturlauben glücklich sind. Die sind bescheidener als ich. Die heulen nicht rum, nur weil sie ihr eigenes Nest nicht so weich polstern können wie das, in dem sie aufgewachsen sind.

Soziologisch ausgedrückt klingt mein Problem so: »Während des späten Wirtschaftswunders aufgewachsen, haben diese (westdeutschen) Mittelschichtsangehörigen bei ihren Eltern ein relativ hohes Niveau an beruflicher Sicherheit und einen steten Zuwachs an Wohlstand kennengelernt. Heute selbst erwachsen, reklamieren sie zwar dieses Wohlstandsversprechen auch für sich, realisieren jedoch, dass sie sich im Vergleich zu ihren Eltern auf ungewohnte Unsicherheiten, unterbrochene Erwerbsverläufe und ein geringeres Rentenniveau einstellen müssen.«3 Jürgen, Architekt, Mitte dreißig, drückt es folgendermaßen aus: »Dieser Wohlstands- und Sicherheitswahn, den unsere Eltern uns vermittelt haben, ist ein großes Problem.«

3 Holger Lengfeld/Jochen Hirschle: Die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg, S. 190

Menschen definieren heutzutage ihre Position im sozialen Gefüge einer Gesellschaft nicht mehr von der Überwindung der Armut her, wie es die Generation nach Krieg, Flucht und Vertreibung tat. Meine Mutter fühlt sich immer noch reich, wenn sie an kalten Tagen einen heißen Tee trinken kann, weil ihr der Hunger und die Kälte ihrer Flucht aus Polen noch in den Knochen stecken. Für mich gilt das nicht mehr, für mich ist meine heutige Situation, der Wohlstand, in dem ich lebe, der Punkt, von dem aus ich messe, wo ich sozial stehe, und von dem aus ich meine Zukunftsperspektiven einschätze.

Tja. So einfach ist das. Bei meinem Problem handelt es sich schlicht um eine Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität. Es sind schließlich nie Autos mit Lautsprechern durch die Straßen gefahren und es werden auch nie Autos mit Lautsprechern durch die Straßen fahren, die Menschen wie mir versprechen, dass alles glattläuft. Vielleicht habe ich das geglaubt, weil ich im wirtschaftlichen Wohlstand und der sozialen Sicherheit der sechziger, siebziger und achtziger Jahre aufgewachsen bin. Herausgekommen sind »great expectations«, wie meine Freundin Ally das nennt.

Robert ist der gleichen Ansicht. Er ist Ende vierzig, ein brillanter Autor, der als Freiberufler sehr erfolgreich ist, weil er alles schreiben kann, was man sich wünscht. Robert gibt, wie er selbst sagt, gerne mal den »Guido« und hält glühende Reden für Freiheit und Selbstverantwortung und gegen das »süße Gift der Versorgung«. Unnötig zu erwähnen, dass wir uns öfter politisch streiten. Robert findet meine Zukunftssorgen um meine soziale Position und mein ökonomisches Auskommen vollkommen unnötig.

»Die Abstiegsängste, die man hat, messen sich ja in der Regel am Wohlstand der Eltern. Und wenn es um die Mittelschicht geht, dann ist ja von Armut gar keine Rede, sondern dann geht es darum, dass man erlebt hat, dass es immer besser wird, dass es den Eltern immer besser ging, einem selber auch, und dass man dann erwartet oder gehofft hat, dass es einem für alle Zeiten besser gehen wird. Dass ein normales Leben daraus besteht, dass man immer mehr verdient und mit kleinen Rückschlägen immer weiter kommt, und dann möglicherweise sich das leisten kann, was sich die Eltern leisten konnten, ein Haus, eine Eigentumswohnung. Dass man immer mehr in den Urlaub fährt. Und dass immer alles besser wird.«

Auch viele andere meiner Freunde und Kollegen reagieren verständnislos bis gereizt auf die Rede von den Abstiegsängsten derer, die einen Flügel im Wohnzimmer stehen haben und darüber klagen, dass sie sich nicht den Fußboden leisten können, den sie gerne hätten. Wenn ich wirklich so unter dem Laminatboden leide, kommentiert auch mein Kollege Erich meine Klagen, solle ich mir Parkett legen, zur Not eben auch in die Mietwohnung, aber mir nicht permanent den Kopf darüber zerbrechen, wie schön es wäre, wohnte ich auf Parkett: »Eines Tages stirbst du und hättest eigentlich eine super Party auf deinem Laminat feiern können. Oder einen schönen Teppich drauflegen können. Also lerne dein Laminat lieben!«

Zusammengefasst lautet die Reaktion so: »Schau dich um, wertschätze, was du hast, bestell dein eigenes Gärtlein und reiß dich zusammen.«

Die Zahlen und der Buddhismus geben meinen Freunden Recht. Man kann nur sich selbst verändern. Ein einleuchtender und sympathischer Ratschlag. Warum missfällt er mir trotzdem?

Bin ich nicht bescheiden genug? Zu selbstmitleidig? Erwarte ich von der Gemeinschaft, was nur ich allein leisten kann? Glaube ich noch an große Ideologien statt an private Veränderungsfähigkeit?

Was mir an diesem Ratschlag nicht gefällt, ist, dass er sich nur auf die private Dimension meines Unbehagens bezieht. Die prinzipielle Sorge um unser bisheriges Gesellschaftsmodell lässt er völlig außer Acht. Es ist nämlich nicht so, dass der Wohlstand in Deutschland schrumpft. Im Gegenteil. Er wächst. Im Zeitraum von 1999 bis 2009 hat die Gesamtbevölkerung bei den verfügbaren Realeinkommen einen Zuwachs von knapp drei Prozent erlebt. Das ist auch das Lieblingsargument meiner Kollegin Christine. Allerdings übersieht sie dabei ein entscheidendes Detail: Von diesem Zuwachs profitiert im Wesentlichen nur das obere Fünftel der Bevölkerung.4 Oder wie die taz-Redakteurin Ulrike Herrmann, die ein erhellendes Buch über den Selbstbetrug der Mittelschicht geschrieben hat, im Interview schlicht schlussfolgert: »Man muss sich klarmachen, dass die Wirtschaft wächst. Es gibt eigentlich immer mehr. Die Bevölkerung wächst nicht, das Pro-Kopf-Einkommen aber schon, und wenn davon bei Ihnen nichts ankommt, dann liegt das an der Verteilung.«

4 Markus M. Grabka: Probleme und Herausforderungen des »Modells Deutschlands«, S. 78

Die Verteilung in Deutschland ändert sich rasant, wie auch Jan Goebel vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung bemerkt: »Seit 2000 beobachten wir eine sogenannte absolute Polarisierung: Es wurden in diesen unteren und oberen Bereichen nicht nur mehr Personen, sondern deren Einkommen hat sich auch noch weiter auseinanderentwickelt. Das heißt, die Ärmeren wurden ärmer und die Reicheren wurden reicher.«5

5 www.diw.de/de/diw_01.c.357516.de/themen_nachrichten/einkommensentwicklung_in_deutschland_die_mittelschicht_verliert.html (2.1.2012)

Mir als Mittelschichtskind geht es nicht einfach nur um die private Angst, von der sich öffnenden Schere nach unten gerissen zu werden. Es geht mir um ein ganzes Gesellschaftsmodell.

Das »Modell Deutschland«, dieses besondere Gleichgewicht zwischen Markt und Staat, das ökonomischen Erfolg mit sozialem Ausgleich verbindet,6 diese Balance wackelt. Deutschland ist längst keine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« mehr, in der die Klassengegensätze überwunden scheinen – wie es der deutsche Soziologe Helmut Schelsky 1953 euphorisch formulierte. Die Gesellschaft spaltet sich in Gewinner und Verlierer. Dadurch verschärft sich die Ungleichheit, alte Klassenstrukturen werden wieder bedeutsamer und Ressentiments zwischen Bevölkerungsgruppen heftiger.

6 Markus M. Grabka: Probleme und Herausforderungen des »Modells Deutschlands«, S. 76

Die zunehmende Verachtung gegenüber den sozialen Verlierern kann ich selbst in meinem eigenen Bekanntenkreis spüren. »Wenn du über die Mittelschicht schreibst«, sagt die eine, »dann musst du auch über den Sozialadel schreiben, über die, die in dritter Generation vom Staat leben und sich prächtig eingerichtet haben.« Und auch einem anderen fallen als Erstes die vielen Hartz-IV-Empfänger ein, die unseren Staat so viel kosten, dass er an den Sozialausgaben zugrunde gehen wird. »Weißt du, was der größte Haushaltsposten dieses Staates ist?«, fragt mich auch meine kluge Redaktionskollegin Christine. »Die Sozialausgaben. 143 Milliarden Euro jährlich. Danach kommt erst mal lange nichts. Und du willst mir erzählen, dass der Sozialstaat in Gefahr ist?« Zunehmend wächst die Überzeugung, die am unteren Rand nicht mehr mitversorgen, sich die Sozialausgaben als dicksten Haushaltsposten nicht mehr leisten zu können: In den gegenwärtigen Debatten geht es häufig um die Frage, ob eine solidarische Gemeinschaft überhaupt noch gewährleistet werden kann.7

7 Olaf Groh-Samber/Florian R. Hertel: Abstieg der Mitte?, S. 138

Um diese politische Dimension geht es mir. Denn natürlich kann ich bei aller Klage auf Laminat wohnen, ohne ein psychosomatisches Belastungssyndrom zu entwickeln. Aber warum können immer mehr Menschen sich nicht mal mehr Laminat leisten? Während andere bei der Manufaktur für Luxusböden Geld ausgeben, das sie möglicherweise dadurch erwirtschaftet haben, dass sie Risikostaaten wie Griechenland Geld geliehen haben – gegen hohe Zinsen wegen des Risikos der Zahlungsunfähigkeit des griechischen Staates. Das sie nun aber ohne jedes Risiko zurückbekommen werden, weil Menschen wie ich und mein Sohn es ihnen mit unseren Steuern und unseren zukünftigen Renten zurückzahlen werden. Wird mein Sohn später mal in einer Massenuniversität minderer Qualität studieren, weil der Staat nach der absurden Schirmspannerei kein Geld mehr für Bildung hat? Fließen meine nicht unbeträchtlichen Steuern nicht in die Bildung unserer Kinder, die Versorgung der Rentner, den Schutz unserer Umwelt, sondern versickern in Banken und den maroden Staatsfinanzen europäischer Länder?

»Insgesamt kann man sagen, dass die Generation der heute Zehn- bis 40-Jährigen Nettozahler sind, während alle anderen lebenden Jahrgänge mehr vom Staat empfangen, als sie ihm geben.«8 So analysieren die beiden Wirtschaftsprofessoren Hanno Beck und Aloys Prinz die Lage.

8 Hanno Beck/Aloys Prinz: Abgebrannt, S. 45

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich persönlich hätte gar nichts dagegen, dem Staat mehr zu geben, als ich kriege – wenn es wirklich so wäre, dass der Staat dieses Geld in die Infrastruktur unserer Gemeinschaft steckt und die Belastungen einigermaßen gerecht verteilt wären. Und damit meine ich nicht das Geld, das Arbeitslose oder Hartz-IV-Empfänger vom Staat beziehen. Ich gehöre nicht zu den 60 Prozent Deutschen, die der Überzeugung sind, dass wir es uns schlicht nicht mehr leisten können, die am unteren Rand der Gesellschaft mit durchzufüttern.

Ich meine diese andere Ungerechtigkeit, die erstaunlicherweise für viel weniger Wut sorgt: Die Tatsache, dass das obere Fünftel der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren beim verfügbaren Realeinkommen Zuwächse von 23 Prozent verbuchen konnte, während die ärmsten zehn Prozent Einbußen von knapp zehn Prozent hinnehmen müssen.9 Ich meine die Tatsache, dass durch die Finanz- und Staatsschuldenkrise die Vermögensungleichheit weiter ansteigt, dass mittlere und untere Einkommenslagen ärmer und die oberen reicher werden, dass wir uns zunehmend in resignierte Verlierer und erfolgsfixierte Gewinner spalten. Dass »Wohlstand für alle« kein Slogan mehr für Deutschland nach den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts ist.

9 Markus M. Grabka: Probleme und Herausforderungen des »Modells Deutschlands«, S. 78

Wenn Menschen aber nicht mehr daran glauben, dass sie ihre Zukunft selbst positiv gestalten können, daran, dass morgen alles besser wird; wenn sie nicht mehr davon überzeugt sind, dass sie legal zu Wohlstand und Status oder auch nur zu einer bescheidenen bürgerlichen Existenz gelangen können, dann verliert die Gesellschaft ihre Legitimität. Dann könnte tatsächlich der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft gefährdet sein. Oder wie es der französische Soziologe Robert Castel mit einigem Pathos formuliert: »Wir könnten vielleicht unser Morgen verlieren.«10

10 Robert Castel: Die Krise der Arbeit, S. 9

»Weißt du«, seufzt auch Michael bei einem gemeinsamen Frühstück, »als ich hierhergefahren bin, hab ich gedacht: Schade, dass ich nicht zwanzig Jahre älter bin. Dann hätte ich jetzt eine ordentliche Rente und diesen ganzen Mist hinter mir.«

Viele Menschen, die ich kenne, fühlen sich den Verhältnissen, in denen sie leben, mittlerweile hilflos ausgeliefert. Das erzeugt Angst und Unsicherheit, obwohl wir im Wohlstand leben. Aber wie lange noch?

Im Moment sieht es so aus: Wir sehen uns mit bleibender Arbeitslosigkeit konfrontiert, mit zunehmender Ungleichverteilung, mit überbordenden Sozialausgaben, abenteuerlicher Staatsverschuldung, fortgesetzter Naturzerstörung und bedrohlichem Klimawandel. Na Prost.

Da kann man sich schon mal fragen: Ist das, was wir gerade erleben, tatsächlich nur eine der viel beschworenen Krisen, die zum Kapitalismus dazugehören wie das Wasser zum Duschen? Oder stehen wir vor dem Ende der Ära?

Als Jugendliche habe ich mir nichts erträumt für meine Zukunft, außer: Dass alles so bleibt, wie es ist. Ich hatte schließlich alles, was ich brauchte. Hermann-Hesse-Romane und Sade-Platten, alte Männerhemden und ein Teegeschirr, Urlaube auf Sylt, dezidierte Ansichten, ein eigenes Pferd und mit achtzehn einen weißen R4. Wenn ich mir damals meine Zukunft vorstellte, dann sah ich nichts weiter vor mir als das Leben meiner Eltern, nur irgendwie cooler. Womöglich gehöre ich der ersten Nachkriegsgeneration an, die sich für ihre Zukunft nichts erträumte als die Fortsetzung der Gegenwart. Warum auch nicht? Anders als die vieler Vorgängergenerationen war unsere Gegenwart nicht schlecht. Wir mussten Flucht, Krieg und Vertreibung nicht erleben. Wir lebten nicht in einem totalitären Regime. Die meisten unserer Eltern waren zu jung, um Nazis gewesen zu sein. Und die schwarze Pädagogik hatten die Achtundsechziger hinweggefegt. So gesehen könnte man sagen: Ich habe mir nichts erhofft und kriege noch nicht einmal das. Ich bin mit – na ja – zumindest einem silbernen Löffel im Mund aufgewachsen und werde nach Maßgabe der Dinge mit dem Blechlöffel im Hintern alt werden. Ich werde es nicht einmal besser haben als meine Eltern, ich habe es schlechter. Wo die auf Parkett wohnten, wohne ich auf Laminat.

Wohlstandsphantasmen, Jammern auf hohem Niveau, Luxussorgen?

Ja – wenn es um mich persönlich geht. Nein – wenn es um unsere Gesellschaft geht. Wenn Sicherheit porös, Wohlstand prekär und die gesellschaftliche Position labil wird, dann verändert sich etwas. Und wenn das, was wir gerade erleben, erst die Risse im Gebälk des Sozialstaates sind – bedeutet das dann, dass demnächst das gesamte Haus einstürzen wird? »Man könnte alle möglichen Indizien anführen, die darauf hindeuten, dass wir nach einer lang anhaltenden Periode beträchtlicher Aufstiegsmobilität in eine der Abstiegsmobilität geraten sind«, schreibt Robert Castel.11 Was bedeutet das? Erlebt unsere Wohlfahrtsgesellschaft den Anfang vom Ende? Gibt es keine Möglichkeit, Wohlstand und Sicherheit für alle unter den gegenwärtigen weltweiten Bedingungen zu erzeugen? Werden wir uns auf sozialen Unfrieden gefasst machen müssen, auf Wachmänner, die eingezäunte Villen bewachen, während arbeitslose Jugendliche aus den Problemvierteln Autos anzünden? Werde ich mich irgendwann noch mal nach meinem Laminat zurücksehnen?

11 Ebd.

Es sind diese Fragen, die aus meinem persönlichen Unbehagen, aus meiner individuellen Abneigung gegen Laminat mehr werden lassen als reine Wohlstandssorgen. Es sind diese Fragen, die aus einem Gefühl eine Stimmung und aus der Stimmung eine Debatte entstehen lassen: eine Debatte um nichts weniger als darum, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Ich denke mittlerweile, dass sich die Gegenwart nicht fortsetzen wird, wenn wir sie nicht verteidigen, und dass der Ausgang dieser großen Veränderung davon abhängt, was wir tun oder lassen.