Zum ersten Mal, seit Neal Carey für die »Bank« arbeitet, kommt es ihm nahezu gelegen, dass er einen neuen Auftrag erhält. So kann er wenigstens für eine Weile der Frage entgehen, ob er wirklich Vater werden will. Abgesehen davon ist der Auftrag ein Witz – im fast buchstäblichen Sinne: Neal soll den achtzigjährigen Comedian Natty Silver aus Las Vegas abholen und zurück in sein Seniorendomizil in Palm Desert bringen. Doch Natty entpuppt sich nicht nur als dauer-witzelnde Nervensäge, die die Reise zum Höllentrip macht, er hat außerdem so gar keine Lust, zurückgebracht zu werden. Nach und nach schwant Neal, warum das so ist – kurz bevor er lernen muss, dass man durchaus auch in der Wüste ertrinken kann ...
Don Winslow wurde 1953 in New York geboren. Bevor er mit dem Schreiben begann, verdiente er sein Geld unter anderem als Kinobetreiber, Fremdenführer auf afrikanischen Safaris und chinesischen Teerouten, Unternehmensberater und immer wieder als Privatdetektiv. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Krimi Preis 2011 für Tage der Toten. Don Winslow lebt mit seiner Frau in Kalifornien.
Conny Lösch lebt als Übersetzerin in Berlin. Sie hat u. a. Bücher von William McIlvanney, Elmore Leonard und Ian Rankin ins Deutsche übertragen.
Zuletzt sind von Don Winslow im Suhrkamp Verlag erschienen: London Undercover (st 4580), China Girl (st 4581), Way Down on the High Lonely (st 4582) und A Long Walk up the Water Slide (st 4583).
PALM DESERT
Neal Careys fünfter Fall
Aus dem
amerikanischen Englisch
von Conny Lösch
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel
While Drowning in the Desert
bei St. Martin’s Press, New York
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4584.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Copyright © 1996, Don Winslow
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Umschlagmotiv: FinePic®, München
Umschlag: Werbeagentur ZERO, München,
nach Entwürfen von cornelia niere, münchen
eISBN 978-3-518-74007-1
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In Erinnerung an meinen Vater, Don Winslow, der mir neben so vielem anderen auch beigebracht hat, das Leben mit einem Lachen zu betrachten.
Warum bin ich bloß aus dem Whirlpool gestiegen?
Ich aalte mich im dampfend heißen Wasser, als Karen mich bat, ihr eine Pepsi Light zu holen.
»Wie bitte, was?«, nuschelte ich.
»Ich schwelge in postkoitalen Glücksgefühlen«, sagte sie. »Und wenn ich in postkoitalen Glücksgefühlen schwelge, brauche ich eine Pepsi Light.«
»Warum holst du dir dann keine?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wenn eine Frau in postkoitalen Glücksgefühlen schwelgt, ist es die Aufgabe des Mannes, ihr eine Pepsi Light zu holen«, grinste sie. »So lautet das Gesetz.«
»Ich schwelge selbst in postkoitalen Glücksgefühlen.«
»Pech gehabt.«
Ich sah ein, dass ich in der Auseinandersetzung sowieso den Kürzeren ziehen würde, und stemmte mich aus der Wanne. Sie bedachte mich mit lüsternen Blicken – jedenfalls wollte ich mir das einbilden.
»Außerdem bist du selbst schuld«, meinte sie.
Das hatte sie sehr schön gesagt.
»Dann hast du sicher nichts dagegen, wenn ich mir auch eine hole?«, fragte ich.
»Keineswegs.«
Obwohl uns auf der neuen Terrasse unseres Hauses niemand sehen konnte, wickelte ich mir ein Handtuch um, bevor ich in die Küche trottete. Ich drehte mich noch einmal kurz zu Karen um, sie hatte ihren Kopf auf den Wannenrand gelegt und die Augen geschlossen. Ihr schwarzes Haar war feucht vom Dampf. Auf ihrem breiten Mund lag ein Lächeln.
Ich liebte sie wahnsinnig.
Gerade hatte ich den Kühlschrank aufgemacht und zwei kalte Dosen Pepsi Light herausgenommen, da klingelte das Telefon.
Und hörte wieder auf.
Ich blieb wie angewurzelt stehen und starrte auf den Sekundenzeiger der Küchenuhr. Nein, nein, nein, nein, dachte ich. Bitte mach, dass sich nur jemand verwählt hat. Ein obszöner Anrufer, der im letzten Moment Schiss bekommen hat. Aber lass es bloß nicht in dreißig Sekunden noch einmal klingeln.
Exakt dreißig Sekunden später klingelte es erneut.
Ich riss den Hörer von der Gabel und blaffte: »Was?«
Ich wusste, wer dran war.
»Hallo, Sohn!« Grahams vergnügt spöttische Stimme schrillte mir ins Ohr.
Dabei war es ein so schöner Abend gewesen.
»Hallo, Dad«, stöhnte ich.
Mein »Dad« war eigentlich gar nicht mein Vater, jedenfalls nicht im biologischen Sinne. Wir lernten uns kennen, als ich zwölf Jahre alt war und er mich dabei erwischte, wie ich ihm die Brieftasche klauen wollte. Danach hat er mich mehr oder weniger großgezogen, mir sogar so etwas Ähnliches wie eine Berufsausbildung angedeihen lassen.
Dank Graham verfüge ich über Kenntnisse auf den Gebieten des Einbrechens, Beschattens, Dokumentendiebstahls (aus Büroräumen), Durchsuchens (von Hotelzimmern) und Aufspürens vermisster Personen sowie verlorener Gegenstände.
Kurz gesagt, er hat mich zum Privatdetektiv ausgebildet.
Weil er selbst einer ist.
»Freust du dich gar nicht, von mir zu hören?«
Ich konnte ihn mir am anderen Ende der Leitung vorstellen, wie er in seinem picobello aufgeräumten Apartment in Murray Hill saß, neben ihm sein künstlicher rechter Arm auf einem Küchentisch, der so sauber war, dass Christiaan Barnard ohne Weiteres darauf hätte operieren können. Ich sah sein kleines Koboldgesicht vor mir, sein dünnes, sandfarbenes Haar, wie immer streng nach hinten gegelt, dazu sein provozierendes, teuflisches Grinsen.
»Geht so.«
Ich weiß, ich weiß. Gemein und unhöflich. Aber ein Anruf, dem ein Code vorausgeht, dient nicht der Übermittlung freudiger Botschaften. Dass er es einmal hatte klingeln lassen und dreißig Sekunden später erneut angerufen hatte, signalisierte mir, dass es sich um kein Freundschaftsgespräch, sondern um etwas Dienstliches handelte.
Und ich wollte nicht wieder zurück in den Dienst.
Graham sagte: »Jetzt hast du mich gefühlsmäßig aber ganz schön verletzt.«
»Ja, schon klar.«
Grahams Gefühle verletzen konnten bestenfalls die Giants, wenn sie zwölf Sekunden vor Spielende noch die Punktedifferenz versauten.
»Wie geht’s mit den Hochzeitsplänen voran?«, fragte er höflich.
Hochzeitspläne?, dachte ich und geriet augenblicklich in Panik. Was gab es da zu planen? Ich hatte gedacht, wir fahren alle raus zur Farm der Milkowskis, Karen und ich geben uns das Jawort, und das war’s.
»Äh, alles super«, erwiderte ich.
»Habt ihr schon einen Hochzeitstisch zusammengestellt?«
»Ja, natürlich.«
Zusammengestellt? Einen Tisch?
»Wie sieht’s aus mit Flitterwochen?«
»Find ich gut.«
»Ein Traumurlaub fällt einem nicht in den Schoß, weißt du das?«, sagte Graham.
Ich hatte mir unsere Flitterwochen eigentlich nicht unbedingt als Urlaub ausgemalt, aber ich ließ seine Bemerkung einfach mal so stehen. Stattdessen sagte ich: »Du hast mich doch nicht angerufen, um mich über meine Hochzeitspläne auszufragen.«
»Nein, ist mir nur ein kleines Extravergnügen. Wir haben einen Auftrag für dich.«
»Ich dachte, ich bin auf unbestimmte Zeit wegen Unfähigkeit freigestellt«, sagte ich. Ed Levine, unser gemeinsamer Chef bei Friends of the Family, hatte mich offiziell für plemplem erklärt. Ich wusste, dass Ed mich nicht wirklich für verrückt hielt, aber anscheinend brachte ich ihn um den Verstand. So oder so, mir kam es gelegen.
Übrigens heiße ich Neal Carey. Und habe keine Dienstmarke.
Nie gehabt. Selbst als ich noch regelmäßig für die Firma tätig war, nicht. Genauso wenig wie eine Lizenz oder eine Schusswaffe oder sonstige Dinge, die Privatermittler normalerweise haben. Ich hab immer nur gemacht, worum mich die Friends gebeten haben, und wenn das nicht verrückt ist …
»Wir haben beschlossen, dass du genesen bist«, verkündete Graham.
»Nein, ich bin immer noch völlig plemplem.«
»Mach dir nicht in die Hose«, meinte Graham. »Ist nur ein ganz kleiner Job, geht schnell. Eigentlich nicht mal das. Sagen wir’s so: Wir möchten, dass du eine Kleinigkeit für uns erledigst.«
»Was für eine ›Kleinigkeit‹?«
Der Zeitpunkt war denkbar schlecht gewählt für einen Auftrag, egal wie »klein« er sein mochte. Ich hatte nicht nur vor, in zwei Monaten zu heiraten, ich stand auch am Beginn meines letzten Semesters im Masterstudiengang an der Universität von Nevada. Sogar meine Abschlussarbeit zum Thema »Tobias Smollett: Literarischer Außenseiter im England des achtzehnten Jahrhunderts« war fast fertig. Dr. Baskin, mein alter Professor an der Columbia, hatte mir eine Assistentenstelle dort in Aussicht gestellt und Karen hatte nichts dagegen, für zwei Jahre nach New York zu ziehen. Ein abgefahrener Auftrag im Dienst der Friends passte mir daher überhaupt nicht in den Kram.
Und die Aufträge der Friends waren grundsätzlich abgefahren. Friends of the Family ist ein streng vertraulicher Service, den »Die Bank« in Providence, Rhode Island, den wohlhabenderen unter ihren Kunden anbietet. Seit dem Tag, an dem Graham mich mit der Hand in seiner Hosentasche erwischt hatte, habe ich immer wieder für die Friends gearbeitet.
Graham sagte: »Geht um einen alten Knacker, der von zu Hause ausgerissen und in Las Vegas gelandet ist. Seine Nichte hat mehrere Millionen auf der Bank und ist schon ganz krank vor Sorge. Sie meinte, dass er vielleicht unter Alzheimer leidet, und hat sich an die Friends gewandt. Wir dachten, da du sowieso in der Nähe bist, könntest du ihn auflesen und nach Hause bringen.«
Falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte, Karen und ich leben in Austin, Nevada, einem kleinen abgelegenen Städtchen in den Toiyabe Mountains. Sechs Stunden und hundert Jahre von Las Vegas entfernt.
»Und wie soll ich ihn in Vegas finden?«
»Du musst ihn gar nicht suchen«, erwiderte Graham. »Er sitzt in einem hübschen Zimmer im Mirage, und die Hotelsecurity dort hat ihn im Auge. Ist wirklich was für Hirnamputierte, deshalb haben wir ja auch an dich gedacht.«
Es muss einen Haken geben, dachte ich.
»Und wo wohnt er? In Tibet?«
»Palm Desert.«
»Wo ist das denn?«
»Gleich bei Palm Springs.«
»In Kalifornien?«
»Nein, Palm Springs in der Antarktis.«
Graham neigte zu Sarkasmus.
Pause, dann fasste er noch einmal zusammen: »Ein alter, verwirrter Mann.«
Und Graham steht auf abgeschmackte Klischees. Wobei abgeschmackt ein Wort ist, das sich leider nur selten anbringen lässt. Abgeschmackt, abgeschmackt, abgeschmackt.
»Schon gut«, sagte ich.
»Machst du’s?«
»Wie könnte ich da nein sagen?«
So abgeschmackt, wie die Geschichte klingt.
»Nathan Silverstein«, sagte Graham. »Zimmer 5812. Er erwartet dich, aber melde dich vorher bei der Security an, ja?«
»Okay.«
»Also, was soll ich anziehen?«, fragte Graham. »Hoffentlich wird das nicht so eine Hochzeit, bei der alle in Jeans kommen.«
»Bis bald, Dad.«
»Wiedersehen, Sohn.«
Ich legte auf und holte zwei Dosen Pepsi. Vielleicht gar nicht so schlecht. Wenigstens würde ich mal rauskommen und ein paar Dollar extra verdienen. Mich dabei aber nicht wieder in die Angelegenheiten der Friends verstricken lassen.
Genau, erst mal würde ich meinen Master machen, dann unglaublich glücklich heiraten und für eine Weile zurück nach New York ziehen. Eigentlich hatte ich mein Leben ziemlich gut im Griff. Und wer weiß, vielleicht hatten sich Karens postkoitale Glücksgefühle in meiner langen Abwesenheit schon wieder in präkoitale verwandelt …
Als ich nach draußen auf die Terrasse trat, schluchzte sie herzzerreißend.
»Honey, was ist denn los …?«
Mit rotgeränderten Augen sah sie mich an und heulte: »Ich wünsch mir so sehr ein Baaaaby!«
Warum bin ich bloß aus dem Whirlpool gestiegen?
Ein Baby, dachte ich am nächsten Morgen, als ich mit dem Jeep über den einsamen Highway 93 Richtung Las Vegas fuhr. Ein Baby. Dann ging ich in Gedanken den ganzen Streit noch einmal durch.
»Wir sind noch nicht mal verheiratet«, hatte ich zu Karen gesagt und mich wieder zu ihr in den Whirlpool gesetzt.
»Aber in zwei Monaten«, hatte sie geantwortet.
Wir hatten uns für eine Hochzeit Anfang Oktober auf der Ranch unserer besten Freunde, der Milkowskis, entschieden.
Ich konterte mit einem steinalten Spruch, den ich neulich in einer Talkshow gehört hatte. »Ich dachte, wir gönnen uns erst noch ein bisschen Zeit zusammen als Paar, bevor wir jemand Drittes dazuholen.«
»Wir leben jetzt seit fast zwei Jahren zusammen«, erinnerte sie mich und wurde sauer. »Und was fällt dir überhaupt ein, von unserem Baby als ›jemand Drittes‹ zu sprechen?«
Dabei hatte es im Fernsehen so gut geklungen.
»Das blöde Ding ist noch nicht mal auf der Welt«, nuschelte ich.
Fehler.
»Das blöde Ding?! Das blöde Ding?«
»Du weißt, was ich meine.«
Sie sah mich vorwurfsvoll an. »Du willst gar kein Baby.«
»Doch.«
»Nein.«
»Doch«, erwiderte ich. »Nur nicht jetzt sofort.«
»Wann denn?«
»Willst du das genaue Datum wissen oder was?«
»Ja, ein Datum wäre schön.«
Ich dachte eine Sekunde lang nach und sagte: »In zwei Jahren.«
»In zwei Jahren?«, schrie sie. »Neal, mir kommt schon das Heulen, wenn ich auch nur McDonald’s-Werbung im Fernsehen sehe!«
»Das kann doch auch an den Hormonen liegen«, erwiderte ich.
Das war’s. Sie stand auf und stampfte zurück ins Haus, noch bevor ich hinzufügen konnte: »Oder vielleicht auch nicht.«
Als ich am nächsten Morgen sagte: »Karen, Liebes, ich fahr jetzt«, presste sie nur ein kurzes »gut« hervor.
»In zwei Tagen bin ich zurück.«
»Juhu.«
»Soll ich dir was mitbringen?«
»Spermien.«
Spermien, dachte ich, als ich die Vorstädte im Norden von Vegas erreichte. Jetzt bestehe ich also nur noch aus Spermien. Spermien zum Babys-Machen. Und dann kommt der ganze Rattenschwanz hinterher, Windeln, Ausschlag, Koliken und eine Person, was irgendwie das Erschreckendste daran war, denn kleine Personen erwarten alles Mögliche von einem. Daddyartiges.
Das Problem ist, dass ich keinerlei Erfahrung damit habe. Auch keine Vorbilder, denn mein eigener Vater gehörte eher zur klassischen Gruppe der anonymen Samenspender. Er hat meine Nuttenmutter geschwängert, und das war’s. Kein Rolemodel weit und breit, es sei denn, man wollte Joe Graham, den zwergwüchsigen einarmigen Privatermittler, der mich großgezogen, ausgebildet und zu den Friends of the Family gebracht hat, als ein solches gelten lassen.
Toller Vater.
Ich weiß ja nicht.
Ich dachte noch darüber nach – und bekam allmählich fiese Kopfschmerzen davon –, als ich dem Pagen vor dem Mirage meinen Jeep übergab und das Büro der Security im Kellergeschoss des Hotels aufsuchte.
»Hi«, sagte ich zu dem muskulösen Mann im blauen Blazer hinter dem Tresen. Ich schob ihm meine Brieftasche vor die Nase – aufgeklappt, so dass der Führerschein zu sehen war. »Ich bin Neal Carey und soll Mr. Silverstein nach Hause begleiten.«
»Natty Silver«, sagte der Mann schmunzelnd.
»Kennen Sie ihn?«
»Sie nicht?«
»Leider nein.«
»Natty Silver!«, half mir der Mann auf die Sprünge. »Das ist einer der ganz Großen des Varietés. Als es damit zu Ende ging, hat er als Komiker gearbeitet. Der ist schon hier in der Stadt aufgetreten, als es außer dem Flamingo noch nichts anderes gab. Wahrscheinlich haben Sie ihn bei Ed Sullivan gesehen.«
»Der Natty Silver?!« Dunkel erinnerte ich mich an seine weite karierte Hose und die knochentrockene Art. »›Wo du hingehst, da bist du dann‹-Natty Silver?«
»Der und kein anderer.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»Ach, er hat immer weiter als Komiker gearbeitet, ein paar bescheuerte Strandfilme gedreht, in denen er sich von ein paar Kids verarschen ließ. Ging dann allmählich bergab mit ihm. Du lieber Gott, der ist inzwischen bestimmt um die sechsundachtzig oder siebenundachtzig.«
»Natty Silver«, wiederholte ich.
»Ich ruf oben an und sag Bescheid, dass Sie kommen«, sagte der Mann.
Natty Silver. Könnte lustig werden. Mh-hm.
Ich klingelte an der Tür von Zimmer 5812.
»Wer ist da?«, fragte eine Stimme hinter der Tür.
»Mr. Silverstein, ich bin’s. Neal Carey.«
»Erwarte ich Sie?«
»Ja.«
In meinem Kopf pochte es.
»Woher kommen Sie, Neal Carey?«
»Ursprünglich aus New York.«
Lange Pause.
»City oder State?«, fragte die Stimme.
Poch, poch, poch.
»City«, erwiderte ich.
Pause.
»East oder West Side?«
»West.«
Wieder lange Pause. Das Pochen in meinem Kopf wurde zum Hämmern.
»Mr. Silverstein?«, fragte ich. »Alles klar bei Ihnen?«
»Wer liegt unter dem Grant Memorial begraben?«
Eine Fangfrage.
»General Grant und seine Frau«, sagte ich. Da muss man schon früher am Nachmittag aufstehen, um Neal Carey reinzulegen.
»Was ist an der Ecke Fifty-eighth und Amsterdam?«, fragte er.
»Es gibt keine Ecke Fifty-eighth und Amsterdam.«
Was glaubte er, mit wem er’s zu tun hatte, einem Kind? Hätte ich mich nicht so geärgert, hätte ich mir vielleicht die Frage gestellt, warum Nathan Silverstein so wahnsinnig vorsichtig war und wovor er sich fürchtete? Aber ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um auf das Naheliegendste zu kommen. So kann’s gehen.
Die Tür öffnete sich einen Spalt. Ich sah ein winziges Gesichtchen mit großen blauen Augen herausspähen.
Toll, dachte ich. Meine Verlobte wünscht sich unverzüglich ein Kind, und ich verdinge mich als Meister Yodas Babysitter.
»Hi«, sagte ich.
Okay, okay. Hab nie behauptet, besonders originell zu sein.
»Selber hi.«
»Darf ich reinkommen?«
»Warum nicht?«
Nathan Silverstein war ein kleiner Mann mit feinem weißen Haar, einem Schnäbelchen statt einer Nase und einer Haut so zerknittert und braun wie eine alte Papiertüte. Er trug einen weißen Frotteebademantel mit eingesticktem Hotellogo und Stoffpantoffeln.
»Sind wir uns nicht schon mal in Cleveland begegnet?«, fragte er.
»Ich war noch nie in Cleveland.«
»Ich auch nicht«, sagte Silverstein. »Dann waren’s wohl zwei andere.«
»Sie haben nicht zufällig ein paar Aspirin für mich?«, fragte ich.
»… sagt der Mann: ›Keine Ahnung, hab’s nie angezündet!‹«
Nat Silver servierte mir den steinalten Witz und sah mich erwartungsvoll an.
Ich lachte höflich und erwiderte: »Mr. Silverstein, ich bin hier, um Sie nach Hause zu begleiten.«
»Sind Sie vom Begleitservice?«, fragte Silver. »Als ich das letzte Mal dort angerufen habe, kam ein blutjunges Geschöpf mit dicken Möpsen. Ich meine, Sie sehen ja ganz gut aus, aber …«
»Wieso sind Sie hier, Mr. Silverstein?«
»Jeder muss irgendwo sein«, erwiderte Silverstein schulterzuckend. Dann setzte er hinzu: »Wo du hingehst, da bist du dann.«
»Aber wieso Vegas …«
»Hier sind Ihre Aspirin.«
»Danke.«
»Wollen Sie die Tiger sehen?«, fragte Silverstein. »Die haben hier welche.«
»Nein, danke.«
»Weiße Tiger.«
Und wenn sie kariert wären, dachte ich. Wir müssen zum Flughafen.
»Wir haben Tickets für den Flug um vier nach Palm Springs«, sagte ich. Nathan runzelte die Stirn und schlurfte zu einem Sessel in der Ecke. Langsam ließ er sich nieder, starrte den Fußboden an.
Irgendwie sah er bemitleidenswert aus.
Nathan Silverstein war mindestens Mitte achtzig und entsprechend gebrechlich, aber er hatte die Augen eines Achtjährigen im Süßwarenladen.
Jetzt starrte er unter sich und gab sich die allergrößte Mühe … bemitleidenswert zu wirken.
»Alles klar, Mr. Silverstein?«, fragte ich.
»Ich bin alt«, erwiderte Nathan.
Was sollte ich dazu sagen?
»Man ist immer so alt wie man sich fühlt«, behauptete ich.
Was Besseres fiel mir nicht ein. Lassen Sie mich in Ruhe.
»Ich fühl mich auch alt«, sagte Nathan. Er nahm ein Päckchen Winston vom Beistelltisch, steckte sich eine Zigarette in den Mund und führte das Feuerzeug an die Spitze.
»Das ist ein Nichtraucherzimmer«, bemerkte ich.
»Das Zimmer raucht ja auch nicht«, fuhr mich Nate an. »Ich rauche. Würde das Zimmer rauchen, würde ich rausgehen. Ich mag alt sein, aber ich bin kein Idiot.«
»Okay.«
Nate inhalierte, dann hustete er ungefähr zehn Sekunden lang. Inhalierte, hustete, inhalierte, hustete. Dann sagte er: »Kommen Sie, wir gehen was trinken. Ich hab Durst.«
»Unser Flug geht erst in drei Stunden«, sagte ich.
»Prima«, erwiderte Nate. »Geil bin ich nämlich auch.«
Ich sah fern, jedenfalls versuchte ich es, während Nate sich im Badezimmer anzog und ununterbrochen Monologe hielt.
»Der sechsundachtzigjährige Mr. Birnbaum geht zur Beichte«, erzählte Nate. »Sagt: ›Vater, gestern Nacht hatte ich Sex mit einer Zwanzigjährigen.‹ Der Priester antwortet: ›Mr. Birnbaum, Sie sind doch Jude, wieso erzählen Sie mir das?‹ Birnbaum erwidert: ›Na, weil ich’s allen erzähle.‹ … Birnbaum checkt mit dem Mädchen in ein Hotel ein. Der Mann am Empfang fragt: ›Birnbaum, haben Sie keine Angst vor einem Herzinfarkt?‹ Birnbaum antwortet: ›Wenn sie stirbt, dann hat sie Pech gehabt.‹ … Eines Tages kommt Mrs. Birnbaum nach Hause und erwischt ihn mit einem Mädchen im Bett. Sie stößt ihn aus dem Fenster. Ein Polizist kommt und fragt: ›Wieso haben Sie Ihren Ehemann aus dem Fenster gestoßen?‹ Da sagt sie: ›Weil ich dachte, wer schnackseln kann, der kann auch fliegen.‹ Auf der Straße bildet sich eine Menschentraube um Birnbaum. Ein anderer Polizist schiebt sich durch die Menge und fragt Birnbaum, was passiert ist. Birnbaum sagt: ›Ich weiß es nicht, bin auch gerade erst gekommen.‹«
Ich wusste genau, wie es Birnbaum ging. Allmählich sah ich mich ebenfalls nach einem Fenster um. Natürlich lassen sich die Fenster in den Hotels von Las Vegas nicht öffnen, was bei genauerer Betrachtung wohl ganz gut so ist. Die Buchmacher müssten dreistellige Teilnehmerzahlen für die Wetten im Hundertmeter-Betonspringen veranschlagen. Und trotzdem würde sich noch jemand finden, der auf die Eins-zu-einer-Million-Chance setzt, dass dieses eine Mal ein armes lebensmüdes Schwein aus dem Fenster steigt und nicht nach unten, sondern nach oben fällt.
Sind die Gewinnchancen groß genug, gibt es in dieser Stadt immer einen Spinner, der drauf einsteigt. Tausend zu eins, dass die Washington Post morgen ein Bild veröffentlicht, auf dem Elvis und Ronald Reagan heimlich in der Waschküche des Weißen Hauses einer Büste von Leo Trotzki huldigen? Abgemacht. Eins zu zwei Millionen, dass Mutter Teresa nach einer wilden Kneipentour durch Passaic, New Jersey, in der Ausnüchterungszelle übernachtet? Abgemacht. Eins zu fünf Milliarden, dass ein Beamter der Verkehrsbehörde von Rhode Island eine Baugenehmigung für eine Schnellstraße ausstellt, ohne Bestechungsgelder zu kassieren …
Okay, es gibt Dinge, auf die wirklich niemand wetten würde.
Als Nate wieder aus dem Badezimmer kam, trug er weiße Schuhe, eine karierte Hose, ein kanariengelbes Hemd und eine weiße Schirmmütze.
»Wollen wir auf eine Beerdigung?«, fragte ich.
»Man bezeichnet mich nicht umsonst als flotten Feger«, behauptete Nate. Er nahm seinen Gehstock und fragte: »Also, gehen wir jetzt, oder was?«
»Wir gehen«, sagte ich.