Juni
Hast du dich schon entschieden, ob du deinen Namen ändern wirst?«, fragt Ben. Er sitzt am anderen Ende des Sofas und massiert meine Füße. Er sieht so gut aus. Wie habe ich es nur geschafft, einen so verdammt gut aussehenden Mann abzubekommen?
»Mehr oder weniger«, necke ich ihn. Dabei bin ich mir schon sicher. Ich muss lächeln. »Ich glaube, ich mache es.«
»Wirklich?«, will er aufgeregt wissen.
»Würde dir das denn gefallen?«
»Machst du Witze? Ich meine, du musst nicht. Wenn es dir irgendwie unangenehm ist oder … Ich weiß nicht, wenn du das Gefühl hast, deinen eigenen Namen zu verleugnen. Ich möchte, dass du den Namen trägst, den du willst«, erklärt er. »Aber wenn es zufällig mein Name sein sollte«, er errötet ein bisschen, »wäre das echt cool.«
Ben wirkt so gar nicht wie ein typischer Ehemann. Bei einem Ehemann denkt man an einen dicken Glatzkopf, der den Müll hinausträgt. Aber mein Mann ist einfach perfekt. Er hat alles, was ich mir wünsche. Ich klinge wie eine Idiotin. Aber genau so soll es ja auch sein, stimmt’s? Ich bin frisch verheiratet, also sehe ich ihn durch die rosa Brille. »Ich werde also Elsie Porter Ross heißen«, sage ich.
Er hört einen Moment auf, meine Füße zu massieren. »Das ist wirklich sexy«, meint er.
Ich lache ihn an. »Warum?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist das jetzt furchtbar altmodisch, aber mir gefällt einfach die Vorstellung, dass wir die Rosses sind. Mr. und Mrs. Ross.«
»Das gefällt mir auch!«, stimme ich zu. »Mr. und Mrs. Ross. Damit ist es also beschlossen. Sobald die Heiratsurkunde hier ist, schicke ich sie zur Kraftfahrzeugbehörde – oder wohin auch immer man sie schicken muss.«
»Das ist fantastisch«, stellt er fest und lässt meine Füße los. »Okay, Elsie Porter Ross. Ich bin dran.«
Ich nehme seine Füße. Wir schweigen eine Weile, während ich gedankenverloren seine Füße massiere. Nach einiger Zeit merke ich, dass ich Hunger bekomme.
»Hast du auch Hunger?«, frage ich.
»Jetzt?«
»Aus irgendeinem Grund hab ich gerade richtig Lust auf Fruity Pebbles.«
»Sind keine Frühstücksflocken mehr da?«, fragt Ben.
»Doch. Ich will aber Fruity Pebbles.« Wir haben nur Erwachsenenfrühstücksflocken – ballaststoffreiche braune Dinger. Aber keinen quietschbunten, überzuckerten Knusperreis.
»Na gut, ich glaube, dass der Supermarkt noch geöffnet hat. Die haben ganz bestimmt Fruity Pebbles. Soll ich dir welche holen?«
»Nein! Das kann ich dir nicht zumuten. Das wäre zu bequem von mir.«
»Das stimmt, aber du bist auch meine Frau, und ich liebe dich, und ich will, dass du alles kriegst, was du willst.« Er steht auf.
»Nein, wirklich, das musst du nicht tun.«
»Ich gehe.« Ben verlässt kurz das Zimmer und kommt mit seinem Fahrrad und seinen Schuhen zurück.
»Danke!« Ich liege nun quer über dem Sofa auf dem Platz, den er gerade verlassen hat. Ben lächelt mir zu, öffnet die Eingangstür und trägt sein Fahrrad hinaus. Ich höre, wie er den Ständer ausklappt, und weiß, dass er gleich noch einmal zurückkommt, um sich von mir zu verabschieden.
»Ich liebe dich, Elsie Porter Ross.« Er beugt sich herunter und küsst mich. Er trägt einen Fahrradhelm und -handschuhe und lächelt mich an. »Das klingt wirklich gut.«
Ich grinse breit. »Ich liebe dich!«, sage ich. »Danke.«
»Gern geschehen. Bis gleich.« Er schließt die Tür hinter sich.
Ich lege den Kopf zurück und schlage ein Buch auf, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Ich vermisse ihn. Nach zwanzig Minuten habe ich ihn immer noch nicht die Treppe hinaufgehen hören und frage mich, wo er bleibt.
Nachdem dreißig Minuten vergangen sind, rufe ich auf seinem Mobiltelefon an. Keine Antwort. Mein Kopf spielt in Windeseile diverse Möglichkeiten durch. Sie alle sind weit hergeholt und absurd. Er hat eine andere kennengelernt oder ist in einen Stripclub gegangen. Ich rufe ihn noch einmal an, denn mein Gehirn fängt allmählich an, realistischere Möglichkeiten für seine Verspätung zu suchen; Gründe, die wahrscheinlicher und deshalb deutlich beunruhigender sind. Als er immer noch nicht abhebt, stehe ich vom Sofa auf und gehe nach draußen.
Ich weiß nicht, was ich mir davon verspreche. Auf der Suche nach ihm sehe ich mich auf der Straße um. Ist es verrückt zu denken, dass ihm etwas passiert sein könnte? Ich weiß es nicht. Ich versuche, ruhig zu bleiben, und sage mir, dass er sicher nur in einem Verkehrsstau steckt. Oder dass er vielleicht einem alten Freund begegnet ist. Die Minuten vergehen immer langsamer. Sie kommen mir wie Stunden vor. Jede Sekunde fühlt sich wie eine Ewigkeit an.
Sirenen.
Sie kommen in meine Richtung. Am Ende meiner Straße sehe ich Blaulicht. Es klingt, als riefen die Sirenen nach mir. Sie jaulen immer wieder meinen Namen: El-sie, El-sie.
Ich renne los. Als ich das Ende der Straße erreiche, spüre ich, wie kühl das Pflaster unter meinen Füßen ist. Und meine leichte Jogginghose ist auch nicht für diesen Wind gemacht, aber ich laufe weiter, bis ich sehe, woher das Blaulicht kommt.
Ich erblicke zwei Krankenwagen und ein Feuerwehrauto. Mehrere Streifenwagen sperren die Gegend ab. Ich zwänge mich so weit wie möglich in die Menge vor, dann bleibe ich stehen. Jemand wird auf eine Trage gehoben. Am Straßenrand liegt ein umgekippter Lastwagen. Die Scheiben sind gesprungen, überall liegen Glassplitter. Ich betrachte den Lastwagen genauer und versuche herauszufinden, was geschehen ist. In dem Augenblick bemerke ich, dass nicht nur Glas auf dem Boden liegt – die Straße ist von unzähligen bunten Perlen übersät. Ich trete näher und sehe eine dieser Perlen neben meinem Fuß liegen. Ein Fruity Pebble. Auf der Suche nach einem bestimmten Gegenstand lasse ich den Blick über das Gelände schweifen. Zugleich bete ich, ich möge diesen Gegenstand nicht finden. Doch da ist er. Direkt vor mir. Wie konnte ich ihn übersehen? Halb unter dem Lastwagen liegt Bens Fahrrad. Es ist total verbogen.
Die Welt verstummt. Die Sirenen schweigen. Die Stadt hält inne. Mein Herz beginnt so schnell zu schlagen, dass es in meiner Brust schmerzt. In meinem Kopf rauscht das Blut. Es ist so heiß hier draußen. Wann ist es so heiß geworden? Ich kann nicht atmen. Ich glaube, ich kann nicht mehr atmen. Ich kriege keine Luft mehr.
Ich bemerke erst, dass ich renne, als ich die Türen des Krankenwagens erreiche. Ich schlage dagegen, springe nach oben und versuche, gegen das Fenster zu klopfen, doch es ist zu hoch für mich. Währenddessen höre ich, wie die Fruity Pebbles unter meinen Füßen knirschen. Mit jedem Sprung reibe ich sie in den Asphalt, zertrample sie zu tausend Krümeln.
Der Krankenwagen fährt los. Ist Ben dort drin? Kämpfen sie um sein Leben? Geht es ihm gut? Ist er verletzt? Vielleicht ist es Vorschrift, ihn in einen Krankenwagen zu verfrachten. Vielleicht muss er mitfahren, auch wenn es ihm gut geht. Vielleicht ist er auch hier irgendwo. Vielleicht befindet sich der Fahrer des Lasters in dem Krankenwagen. Der Kerl muss doch tot sein, oder? So einen Unfall überlebt niemand. Folglich muss es Ben gut gehen. Das ist das Karma eines Unfalls: Der Böse stirbt, der Gute überlebt.
Ich sehe mich um, aber Ben ist nirgends zu entdecken. Ich rufe seinen Namen. Ich weiß, dass es ihm gut geht. Ich bin mir sicher. Ich will nur, dass das hier vorbei ist. Ich möchte sehen, dass er nur einen kleinen Kratzer hat, und hören, dass er sich gut genug fühlt, um wieder nach Hause zu kommen. Lass uns nach Hause gehen, Ben. Ich habe meine Lektion gelernt. Ich werde nie wieder zulassen, dass du mir einen so albernen Gefallen tust. Ich hab’s kapiert. Gehen wir nach Hause.
»Ben!« Ich schreie in die Nacht. Es ist so kalt. Wann ist es so kalt geworden? »Ben!« Ich schreie wieder. Ich habe das Gefühl, im Kreis zu laufen, bis mich ein Polizeibeamter anhält.
»Bitte«, sagt er und hält mich an den Armen fest. Ich schreie weiter. Ben muss mich hören. Er soll wissen, dass ich hier bin. Er soll nach Hause kommen. »Bitte«, sagt der Beamte noch einmal.
»Was?«, schreie ich ihm ins Gesicht. Ich reiße meine Arme los und drehe mich um meine Achse. Ich versuche, in den abgesperrten Bereich vorzudringen. Sie müssen mich einfach durchlassen. Kapieren sie denn nicht, dass ich meinen Mann finden muss?
Der Beamte holt mich ein und hält mich erneut fest. »Bitte«, sagt er, diesmal strenger. »Sie können hier jetzt nicht durch.« Versteht er denn nicht, dass ich genau hier durchmuss?
»Ich suche meinen Mann!«, erkläre ich ihm. »Er könnte verletzt sein. Das ist sein Fahrrad. Ich muss ihn suchen.«
»Ihr Mann ist auf dem Weg ins Cedars-Sinai. Kann Sie jemand dorthin fahren?«
Ich starre ihn an, verstehe jedoch nicht, was er sagt.
»Wo ist er?«, frage ich. Er muss es mir noch einmal sagen.
»Ihr Mann ist auf dem Weg ins Cedars-Sinai-Krankenhaus. Er wird in die Notaufnahme gebracht. Möchten Sie, dass ich Sie hinfahre?«
Er ist nicht hier? Er war tatsächlich in dem Krankenwagen?
»Geht es ihm gut?«
»Entschuldigen Sie, ich darf nicht …«
»Geht es ihm gut?«
Der Beamte sieht mich an. Er nimmt den Hut vom Kopf und hält ihn vor seine Brust. Ich weiß, was das bedeutet. Ich kenne diese Geste aus alten Filmen, in denen die Männer genau so auf der Türschwelle von Kriegswitwen stehen. Wie aufs Stichwort fange ich an zu schluchzen.
»Ich muss zu ihm!«, schreie ich unter Tränen. »Ich muss bei ihm sein!« Ich sinke mitten auf der Straße auf die Knie. Unter mir knirschen die bunten Fruity Pebbles. »Geht es ihm gut? Ich muss zu ihm! Sagen Sie mir nur, ob er noch lebt!«
Der Polizeibeamte sieht mich zugleich mitleidig und schuldbewusst an. Beide Emotionen sind leicht zu erkennen, obwohl ich sie noch nie gleichzeitig auf einem Gesicht gesehen habe. »Es tut mir leid. Ihr Mann ist …«
Der Beamte hat es nicht eilig, sein Adrenalinspiegel ist nicht so hoch wie meiner. Er weiß, dass wir uns nicht beeilen müssen, dass der Leichnam meines Mannes warten kann.
Ich lasse ihn den Satz nicht zu Ende führen. Ich weiß, was er sagen wird, und ich kann es nicht glauben. Ich schreie ihn an und schlage mit den Fäusten gegen seine Brust. Er ist ziemlich groß und überragt mich um ein ganzes Stück. Ich fühle mich wie ein Kind. Aber das hält mich nicht davon ab, auf ihn einzuhämmern. Ich will ihn schlagen und treten. Er soll so leiden wie ich.
»Er war sofort tot. Es tut mir leid.«
Ich sacke auf dem Boden zusammen. Alles beginnt sich zu drehen. Ich höre meinen Herzschlag und kann mich nicht mehr auf das konzentrieren, was der Polizeibeamte sagt. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Ich dachte, böse Dinge passieren nur überheblichen Menschen, nicht Menschen wie mir, die wissen, wie flüchtig das Leben ist. Die die Autorität einer höheren Macht anerkennen. Aber nun ist es mir doch passiert.
Mein Körper beruhigt sich. Meine Tränen versiegen. Mein Gesicht erstarrt, mein Blick bleibt an irgendeinem unwichtigen Detail der Szenerie hängen. Ich kann mich nicht konzentrieren. Meine Arme fühlen sich taub an. Ich weiß nicht, ob ich stehe oder sitze.
»Was ist mit dem Fahrer?«, frage ich den Polizeibeamten ruhig und beherrscht.
»Wie bitte?«
»Was ist mit dem Mann, der den Lastwagen gefahren hat?«
»Er ist tot.«
»Gut«, stelle ich fest. Ich klinge wie ein Soziopath. Der Polizeibeamte nickt mir zu. Vielleicht ist das eine Art stillschweigende Vereinbarung. Er tut so, als habe er nicht gehört, was ich gesagt habe. Dadurch kann ich so tun, als ob ich mir nicht den Tod eines anderen Menschen gewünscht hätte. Aber ich will das nicht zurücknehmen.
Er nimmt meine Hand und führt mich zu seinem Polizeiwagen. Mithilfe der Sirene drängt er sich durch den Verkehr. Die Straßen von Los Angeles ziehen im Schnelldurchlauf an mir vorbei. Sie waren noch nie so hässlich wie jetzt.
Im Krankenhaus setzt mich der Beamte in den Warteraum. Ich zittere so stark, dass der ganze Stuhl wackelt.
»Ich will ihn sehen«, sage ich. »Ich will ihn sehen!«, wiederhole ich lauter. Ich bemerke sein Namensschild: Officer Hernandez.
»Ich verstehe. Ich werde mich gleich mal erkundigen. Ein Sozialarbeiter wird sich sofort um Sie kümmern. Ich bin gleich zurück.«
Ich höre, was er sagt, kann aber nicht darauf reagieren. Ich sitze auf dem Stuhl und starre die Wand vor mir an. Mein Kopf wankt von einer Seite zur anderen. Ich stehe auf und gehe in Richtung Empfangstresen, werde jedoch von Officer Hernandez aufgehalten, der gerade wieder zurückkommt. Er befindet sich jetzt in Begleitung eines kleinen mittelalten Mannes, der ein blaues Hemd mit roter Krawatte trägt. Ich wette, dieser Idiot wählt seine Krawattenfarbe nach seiner Stimmung aus. Er denkt, er hätte einen guten Tag, wenn er diese Krawatte trägt.
»Elsie«, begrüßt er mich. Ich muss Officer Hernandez meinen Namen gesagt haben. Ich erinnere mich nicht mehr daran. Er streckt seine Hand aus, als würde ich sie schütteln wollen. Dabei gibt es inmitten dieser Tragödie keinen Grund für Formalitäten. Ich lasse seine Hand in der Luft hängen. Vor alledem hätte ich niemals jemandes Hand abgewiesen. Ich bin ein netter Mensch, manchmal sogar zu nett. Man kann mich weder als »schwierig« noch als »renitent« bezeichnen.
»Sind Sie die Frau von Ben Ross? Haben Sie einen Führerschein bei sich?«, fragt mich der Mann.
»Nein. Ich bin einfach aus dem Haus gelaufen. Ich habe keine …« Ich blicke hinunter auf meine Füße. Ich habe noch nicht einmal Schuhe an, und dieser Mann glaubt ernsthaft, ich hätte meinen Führerschein bei mir?
Officer Hernandez geht. Ich beobachte, wie er langsam und ungelenk davontrabt. Er glaubt jetzt bestimmt, seine Arbeit hier sei getan. Ich wünschte, ich wäre er. Dann könnte ich einfach von hier fort und nach Hause zu meinem Mann und einem warmen Bett gehen. Zu meinem Mann, einem warmen Bett und einer gottverdammten Schale mit Fruity Pebbles.
»Ich fürchte, Sie dürfen ihn noch nicht sehen, Elsie«, sagt er.
»Warum nicht?«
»Die Ärzte sind noch bei der Arbeit.«
»Er lebt?«, schreie ich. Wie schnell die Hoffnung zurückkehrt.
»Nein, es tut mir leid.« Er schüttelt den Kopf. »Ihr Mann ist heute Abend gestorben. Er war als Organspender registriert.«
Ich habe das Gefühl, in einem Aufzug ungebremst in den Keller zu rauschen. Sie nehmen ihm die Organe heraus und geben sie anderen Menschen. Sie nehmen ihn auseinander.
Ich setze mich zurück auf den Stuhl. Ich bin innerlich tot. Einerseits möchte ich diesen Mann anschreien, dass er mich zu Ben bringen soll. Dass ich ihn sehen will. Ich will durch die Doppeltür rennen und ihn suchen, ihn in den Armen halten. Was machen sie mit ihm? Aber ich bin wie erstarrt. Ich bin ebenfalls gestorben.
Der Mann mit der roten Krawatte geht kurz weg und kommt mit einer heißen Schokolade und Pantoffeln zurück. Meine Augen sind trocken und müde. Ich kann kaum etwas sehen. All meine Sinne sind taub. Ich fühle mich in meinem eigenen Körper gefangen, abgeschnitten von meinen Mitmenschen.
»Sollen wir jemanden anrufen? Ihre Eltern?«
Ich schüttele den Kopf »Ana«, sage ich. »Ich muss Ana anrufen.«
Er legt mir eine Hand auf die Schulter. »Können Sie Anas Nummer aufschreiben? Dann rufe ich sie für Sie an.«
Ich nicke, und er reicht mir ein Stück Papier und einen Stift. Ich brauche einen Moment, um mich an ihre Nummer zu erinnern. Erst schreibe ich sie ein paarmal falsch auf. Als ich ihm das Papier reiche, bin ich mir ziemlich sicher, dass es die richtige Nummer ist.
»Was ist mit Ben?«, frage ich. Ich weiß nicht genau, was ich damit meine. Ich kann ihn einfach noch nicht aufgeben. Ich bin noch nicht in der »Ich rufe jemanden an, der Sie nach Hause bringt und sich um Sie kümmert«-Phase. Ich muss doch kämpfen, stimmt’s? Ich muss ihn suchen und ihn retten. Doch wie mache ich das?
»Die Krankenschwestern haben die nächsten Angehörigen benachrichtigt.«
»Was? Ich bin seine nächste Angehörige.«
»In seinem Führerschein war offenbar eine Adresse in Orange County angegeben. Wir mussten von Gesetzes wegen seine Familie kontaktieren.«
»Wen haben Sie angerufen? Wer kommt?« Aber ich weiß bereits, wer kommt.
»Ich sehe mal nach, ob ich es herausfinden kann. Außerdem rufe ich Ana an. Ich bin gleich zurück, okay?«
Ich nicke.
In der Halle sehe und höre ich andere wartende Angehörige. Einige sehen bedrückt aus, aber den meisten scheint es gut zu gehen. Da ist eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter. Die beiden lesen ein Buch. Ein kleiner Junge hält sich ein Kühlkissen vors Gesicht. Daneben sitzt der genervte Vater. Ein jugendliches Paar hält sich an den Händen. Ich weiß nicht, weshalb sie hier sind, aber dem Lächeln auf ihren Gesichtern nach zu urteilen, scheint es nichts Schlimmes zu sein. Am liebsten würde ich sie anschreien und ihnen klarmachen, dass Notaufnahmen für Notfälle gedacht sind. Dass sie hier nichts zu suchen haben, wenn sie so glücklich und unbeschwert sind. Sie sollen nach Hause gehen und woanders glücklich sein. Ich möchte das nicht sehen. Ich weiß nicht mehr, wie es sich anfühlt, wie sie zu sein. Ich kann mich noch nicht einmal mehr daran erinnern, wie ich mich gefühlt habe, bevor das hier passiert ist. Ich spüre nur diese unglaubliche Angst. Und ich hasse jeden in diesem ganzen Krankenhaus, der nicht unglücklich ist.
Der Mann mit der roten Krawatte kommt zurück und sagt, dass Ana auf dem Weg sei. Er bietet mir an, sich zu mir zu setzen und mit mir zu warten. Ich zucke mit den Schultern. Er kann tun und lassen, was er will. Seine Gegenwart tröstet mich zwar nicht, aber sie hält mich immerhin davon ab, jemanden anzuschreien, weil er in dieser Situation einen Schokoriegel isst. Ich denke an die bunten Fruity Pebbles, die überall auf der Straße verteilt sind. Sie werden noch da sein, wenn ich nach Hause komme. Niemand wird sie beseitigen, weil niemand wissen kann, wie schrecklich es für mich ist, sie zu sehen. Für etwas derart Albernes musste Ben sterben. Für Fruity Pebbles. Es wäre komisch, wenn es nicht so … Es ist nicht komisch. Überhaupt nicht. Auch nicht die Tatsache, dass ich meinen Mann verloren habe, weil ich Lust auf Frühstücksflocken mit einem Bild von Fred Feuerstein auf dem Karton hatte. Dafür hasse ich mich. Mich selbst hasse ich am allermeisten.
Ana erscheint aufgelöst und leicht panisch. Ich weiß nicht, was der Mann mit der roten Krawatte ihr erzählt hat. Als sie auf mich zukommt, steht er auf, um sie zu begrüßen. Ich sehe, dass sie miteinander sprechen, kann sie aber nicht hören. Sie reden nur kurz, dann stürzt Ana zu mir und nimmt mich in den Arm. Ich lasse es geschehen, habe aber keine Kraft, sie ebenfalls zu umarmen. »Es tut mir leid«, flüstert sie mir ins Ohr, und ich sinke in ihre Arme.
Ich habe keine Kraft mehr, mich aufrecht zu halten, kein Bedürfnis mehr, meinen Schmerz zu verbergen. Ich weine, schluchze und schniefe an Anas Brust. In jedem anderen Augenblick meines Lebens wäre es mir unangenehm, meine Augen und Lippen so nahe an ihren Brüsten zu wissen.
Anas Arme trösten mich nicht. Die Tränen strömen aus meinen Augen, als würde ich sie aus mir herausdrücken, aber das tue ich nicht. Sie kommen von ganz allein. Ich bin noch nicht einmal traurig. Dieses Unglück ist so unfassbar, dass mir selbst meine Tränen unpassend, armselig und lächerlich erscheinen.
»Hast du ihn gesehen, Elsie? Es tut mir so leid.«
Ich antworte nicht. Gefühlt sitzen wir stundenlang auf dem Boden des Wartezimmers. Manchmal weine ich, manchmal fühle ich gar nichts. Die meiste Zeit liege ich in Anas Armen, nicht weil mir das guttut, sondern weil ich sie nicht ansehen möchte. Schließlich steht Ana auf und lehnt mich gegen die Wand, dann geht sie zum Aufnahmetresen, um sich lautstark zu beschweren.
»Wie lange sollen wir noch warten, bis wir Ben Ross sehen dürfen?«, herrscht sie die junge Latino-Krankenschwester hinter ihrem Computer an.
»Hören Sie«, sagt die Schwester und steht auf, aber Ana entfernt sich schon wieder vom Tresen.
»Nein, ich höre nicht. Sagen Sie mir, wo er ist. Lassen Sie uns zu ihm.«
Der Mann mit der roten Krawatte geht zu Ana und versucht sie zu beruhigen.
Er und Ana sprechen ein paar Minuten. Er will Ana berühren, sie trösten, doch sie entzieht ihm ihre Schulter. Er macht nur seine Arbeit. Alle hier machen nur ihre Arbeit. Was für ein Haufen Arschlöcher.
Eine ältere Frau stürmt durch die Eingangstür. Sie ist schätzungsweise um die sechzig. Lange rötlich braune Locken umrahmen ihr Gesicht. Ihre Wimperntusche ist die Wangen hinuntergelaufen, über ihrer Schulter hängt eine braune Tasche, und sie trägt einen schwarzbraunen Schal um den Hals. Sie hält mehrere Papiertaschentücher in der Hand. Ich wünschte, ich hätte meinen Kummer so weit im Griff, dass ich Taschentücher benutzen könnte. Ich wische mir den Rotz an meinen Ärmeln und meinem Kragen ab. Meine Tränen bilden kleine Pfützen auf dem Boden.
Die Frau läuft zum Empfangstresen, dann lässt sie sich auf einem Stuhl nieder. Als sie mir kurz das Gesicht zuwendet, erkenne ich sie. Ich starre sie an. Ich kann den Blick nicht von ihr abwenden. Das ist meine Schwiegermutter. Eine Fremde. Ich habe ihr Bild ein paar Mal in einem Fotoalbum gesehen, doch sie kennt mich nicht.
Ich ziehe mich auf die Toilette zurück. Ich weiß nicht, wie ich mich ihr vorstellen soll, wie ich ihr erklären soll, dass wir beide wegen desselben Mannes hier sind. Dass wir beide um denselben Mann trauern. Ich betrachte mich im Spiegel. Mein Gesicht ist rot und fleckig. Meine Augen sind blutunterlaufen. Ich mustere mein Gesicht und denke, dass es mal jemanden gab, der dieses Gesicht geliebt hat. Jetzt ist niemand mehr da, der dieses Gesicht liebt.
Als ich zurück ins Wartezimmer komme, ist sie weg. Ich drehe mich um, und Ana ergreift meinen Arm. »Du kannst jetzt hineingehen«, sagt sie und bringt mich zu dem Mann mit der roten Krawatte, der mich durch die Doppeltür führt.
Der Mann bleibt vor einem Zimmer stehen und fragt mich, ob ich möchte, dass er mich begleitet. Warum sollte ich diesen Mann bei mir haben wollen? Schließlich habe ich ihn gerade erst kennengelernt. Er bedeutet mir nichts. Der Mann dort drinnen in dem Raum bedeutet alles für mich. Wenn man alles verloren hat, hilft nichts. Ich öffne die Tür. Es sind noch andere Menschen im Raum, aber ich sehe nur Bens Leiche.
»Entschuldigen Sie!«, sagt meine Schwiegermutter unter Tränen. Ihr Ton ist sanft, klingt aber fürchterlich. Ich ignoriere sie.
Ich nehme Bens Gesicht in meine Hände, es ist kalt. Seine Lider sind geschlossen. Nie wieder werde ich seine Augen sehen. Es kommt mir in den Sinn, dass sie nicht mehr da sein könnten. Ich werde nicht nachsehen. Ich möchte es nicht herausfinden. Sein Gesicht ist voller Blutergüsse, und ich weiß nicht, was das bedeutet. Hatte er Schmerzen, bevor er gestorben ist? Ist er einsam und allein auf der Straße gestorben? O mein Gott, hat er gelitten? Ich bin kurz davor, ohnmächtig zu werden. Seine Brust und seine Beine sind von einem Laken bedeckt. Ich habe Angst, es wegzunehmen. Dass dann zu viel von Ben zu sehen ist. Oder dass nicht mehr viel von ihm da ist.
»Sicherheitsdienst!«, ruft meine Schwiegermutter.
Ich sehe sie an und halte weiter Bens Hand, während ein Sicherheitsbeamter in der Tür erscheint. Sie weiß nicht, wer ich bin. Sie versteht nicht, was ich hier mache, aber sie müsste eigentlich inzwischen begriffen haben, dass ich ihren Sohn liebe.
»Bitte«, flehe ich. »Bitte, Susan, tun Sie das nicht.«
Susan sieht mich überrascht an. Sie ist verwirrt, weil ich ihren Namen kenne. Sie blickt zu dem Sicherheitsbeamten und nickt ihm fast unmerklich zu. »Tut mir leid. Würden Sie uns bitte einen Augenblick allein lassen?« Er verlässt das Zimmer. Susan sieht die Krankenschwester an: »Sie auch, bitte. Danke.« Die Schwester geht und schließt die Tür hinter sich.
Susan wirkt gequält, verängstigt und so, als könnte sie sich gerade noch die nächsten fünf Sekunden lang beherrschen.
»Er trägt einen Ehering«, stellt sie fest. Ich starre sie an und versuche weiterzuatmen. Ich hebe schwach meine linke Hand und zeige ihr das Pendant dazu.
»Wir haben vor eineinhalb Wochen geheiratet«, sage ich unter Tränen. Meine Mundwinkel ziehen sich nach unten, sie fühlen sich so schwer an.
»Wie heißen Sie?«, fragt sie und zittert jetzt.
»Elsie.« Ich habe Angst vor ihr. Sie sieht wütend und verletzt aus, wie ein unbeherrschter Teenager.
»Elsie und weiter?«, stößt sie hervor.
»Elsie Ross.«
Dann bricht Susan zusammen. Genau wie ich zuvor. Sie sinkt auf den Boden, und jetzt hat sie keine Taschentücher mehr, die den Linoleumboden vor ihren Tränen schützen könnten.
Ana sitzt neben mir und hält meine Hand. Ich sitze schluchzend neben Ben. Susan hat sich vor einer Weile entschuldigt und ist hinausgegangen. Der Mann mit der roten Krawatte kommt herein und sagt, dass wir ein paar Dinge klären müssten und dass Bens Leiche verlegt werden würde. Ich starre vor mich hin, bis der Mann mit der roten Krawatte mir eine Tasche mit Bens Sachen reicht. Sein Mobiltelefon, seine Brieftasche, seine Schlüssel.
»Was ist das?«, frage ich, obwohl ich weiß, was es ist.
Bevor der Mann mit der roten Krawatte antworten kann, erscheint Susan im Türrahmen. Ihr Gesicht wirkt angespannt, ihre Augen sind blutunterlaufen. Sie sieht jetzt älter aus. Erschöpft. Sehe ich auch so aus? Bestimmt.
»Was machen Sie da?«, erkundigt sich Susan bei dem Mann.
»Ich … Wir müssen den Raum freimachen. Die Leiche Ihres Sohnes wird verlegt.«
»Warum geben Sie ihr das?«, fragt Susan unverblümt. Sie tut so, als sei ich gar nicht da.
»Wie bitte?«
Susan tritt in den Raum und nimmt vor meiner Nase Bens Tasche an sich. »Ich entscheide, was mit Ben geschieht. Und seine Sachen nehme ich ebenfalls an mich«, erklärt sie.
»Hören Sie …«, sagt der Mann mit der roten Krawatte.
»Und zwar alle!«, bekräftigt sie.
Ana steht auf, fasst meinen Arm und zieht mich mit sich. Sie will mir diese Situation ersparen. Ich will zwar nicht hier sein, kann aber auch nicht gehen. Ich entziehe Ana meinen Arm und blicke Susan an.
»Wollen wir die nächsten Schritte besprechen?«, frage ich sie.
»Was gibt es da zu besprechen?«, fragt Susan kühl und beherrscht zurück.
»Ich meine nur …« Ich weiß eigentlich nicht, was ich meine.
»Mrs. Ross«, sagt der Mann mit der roten Krawatte.
»Ja?«, antworten Susan und ich gleichzeitig.
»Verzeihung«, bemerke ich. »Welche meinten Sie?«
»Die Ältere«, erwidert er und sieht Susan an. Sicher hat er es respektvoll gemeint, aber es trifft Susan schwer. Sie will nicht eine von zwei Mrs. Ross sein. So viel ist klar. Aber ich wette, es stört sie noch mehr, die Ältere genannt zu werden.
»Ich glaube das alles nicht«, verkündet sie vor den Anwesenden. »Es gibt absolut keinen Beweis, dass mein Sohn sie überhaupt gekannt, geschweige denn geheiratet hat. Ich habe noch nie von ihr gehört! Dabei habe ich meinen Sohn letzten Monat gesehen. Er hat nicht ein verdammtes Wort darüber verloren. Also nein, ich überlasse nicht irgendeiner Fremden die Habseligkeiten meines Sohnes. Auf keinen Fall.«
Ana streckt die Hand nach Susan aus. »Vielleicht sollten wir uns alle erst mal beruhigen«, schlägt sie vor.
Susan dreht sich zu ihr um, als bemerke sie Ana zum ersten Mal.
»Wer sind Sie?«, fragt sie, als seien wir Clowns, die aus einem Volkswagen steigen. Als hätte sie all die Menschen satt, die hier ständig auftauchen.
»Ich bin eine Freundin«, erklärt Ana. »Und ich glaube, wir sind alle nicht in der Verfassung, um vernünftig zu reagieren. Also sollten wir vielleicht einmal tief durch atmen …«
Als Susan sich von ihr ab- und dem Mann mit der roten Krawatte zuwendet, verstummt Ana. »Wir sollten das unter vier Augen besprechen«, bellt Susan den Mann an.
»Bitte beruhigen Sie sich.«
»Mich beruhigen? Soll das ein Scherz sein?«
»Susan«, fange ich an. Ich weiß nicht, wie ich den Satz beenden wollte, aber das interessiert Susan auch gar nicht.
»Schluss!« Sie hebt abwehrend die Hand. Es ist eine aggressive, reflexartige Bewegung, als müsse sie sich vor meinen Worten schützen.
»Mrs. Ross, Elsie wurde von der Polizei hierhergebracht. Sie war am Unfallort. Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sie und Ihr Sohn, wie sie sagt …«
»Verheiratet waren?« Susan kann es nicht fassen.
»Ja«, erwidert der Mann mit der roten Krawatte.
»Rufen Sie die Bezirksverwaltung an. Ich will einen Beweis dafür!«
»Elsie, haben Sie eine Kopie Ihrer Heiratsurkunde für Mrs. Ross?«
Gegen meinen Willen werde ich ganz klein. Ich will aufrecht vor ihnen stehen, stolz und selbstbewusst! Aber irgendwie wird mir alles zu viel.
»Nein. Aber, Susan …« Tränen laufen über mein Gesicht. Ich komme mir so hässlich, so klein und dumm vor.
»Hören Sie auf, mich so zu nennen!«, schreit sie. »Sie kennen mich überhaupt nicht. Hören Sie auf, mich mit meinem Vornamen anzusprechen!«
»Gut.« Ich starre auf die Leiche meines Ehemanns vor mir. »Behalten Sie die Sachen«, sage ich. »Es ist mir egal. Wir können hier sitzen und uns den ganzen Tag anschreien, aber das ändert nichts. Es ist mir also echt scheißegal, was mit seiner Brieftasche passiert.«
Ich setze einen Fuß vor den anderen und verlasse das Zimmer. Ich lasse die Leiche meines Mannes dort bei ihr. Und in der Minute, in der meine Füße den Korridor betreten, in der Minute, in der Ana die Tür hinter uns schließt, bedauere ich, dass ich gegangen bin. Ich hätte bei ihm bleiben sollen, bis die Schwester mich hinauswirft.
Ana schiebt mich vorwärts.
Sie setzt mich ins Auto und schließt meinen Sicherheitsgurt. Sie fährt langsam durch die Stadt, dann parkt sie in meiner Auffahrt. Nichts von alledem nehme ich wirklich wahr. Irgendwie stehe ich plötzlich vor meiner Haustür.
Als ich meine Wohnung betrete, habe ich keine Ahnung, wie spät es ist. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, seit ich wie eine eingebildete Zicke im Pyjama auf dem Sofa gesessen habe und Fruity Pebbles wollte. Die Wohnung, die ich vom ersten Augenblick an mochte, die zu »unserer« wurde, als Ben eingezogen ist – jetzt lässt sie mich im Stich. Hier hat sich nichts verändert, seit Ben gestorben ist. Als wäre es der Wohnung egal.
Die Wohnung hat weder seine Schuhe weggeräumt, die mitten im Zimmer stehen, noch seine Decke zusammengefaltet. Sie hatte noch nicht einmal den Anstand, seine Zahnbürste außer Sichtweite zu stellen. Die Wohnung tut so, als sei alles beim Alten. Dabei ist alles anders. Ich erzähle den Wänden, dass Ben nicht mehr da ist. »Er ist tot. Er kommt nicht mehr nach Hause.« Ana streicht mir über den Rücken und sagt: »Ich weiß, Liebes. Ich weiß.«
Sie weiß gar nichts. Sie kann es nicht wissen. Ich gehe ins Schlafzimmer, stoße mir dabei die Schulter am Türrahmen und spüre nichts. Ich lege mich auf meine Seite des Bettes und rieche ihn. Sein Geruch hängt noch in den Laken. Ich nehme das Kopfkissen von seiner Seite, schnuppere daran und ersticke an meinen eigenen Tränen. Ich taumle in die Küche, wo Ana mir ein Glas Wasser einschenkt. Mit dem Kopfkissen in der Hand gehe ich an ihr vorbei, hole einen Müllbeutel hervor und stopfe das Kissen hinein. Ich binde ihn fest zu und drehe den Plastikverschluss immer weiter, bis er zerreißt und der Beutel auf den Küchenboden fällt.
»Was machst du da?«, fragt Ana.
»Es riecht nach Ben«, antworte ich. »Ich will nicht, dass der Geruch verfliegt. Ich will ihn konservieren.«
»Ich weiß nicht, ob das funktioniert«, entgegnet sie leise.
»Leck mich«, sage ich und gehe zurück ins Bett.
Kaum liege ich auf meinem Kopfkissen, beginne ich zu weinen. Ich finde es schrecklich, was mit mir passiert. Ich habe noch nie »Leck mich« zu jemandem gesagt, schon gar nicht zu Ana.
Seit meinem siebzehnten Lebensjahr ist Ana meine beste Freundin. Wir haben uns an unserem ersten Tag am College in der Schlange vor der Mensa kennengelernt. Ich hatte niemanden, zu dem ich mich setzen konnte, während sie bereits dabei war, einen Jungen abzuwimmeln. Diese Rollenverteilung ist geblieben. Als Ana sich entschloss, nach Los Angeles zu ziehen, um Schauspielerin zu werden, bin ich mitgekommen. Nicht weil mich Los Angeles reizte, ich war noch nie hier gewesen. Nein, ich bin wegen Ana hergezogen. »Bibliothekarin kannst du überall werden«, hatte sie gesagt. Und da hatte sie vollkommen recht.
Hier stehen wir nun, neun Jahre nach unserer ersten Begegnung, und Ana sieht mich an, als müsste sie aufpassen, damit ich mir nicht die Pulsadern aufschneide. Wenn ich klarer im Kopf wäre, würde ich sagen, dazu sind Freunde ja da, aber mir ist gerade alles egal.
Ana kommt mit zwei Tabletten und einem Glas Wasser ins Schlafzimmer. »Die habe ich in deinem Medizinschrank gefunden«, sagt sie. Ich blicke in ihre Hand und erkenne die Pillen wieder. Es ist das Vicodin, das der Arzt Ben letzten Monat gegen seinen Hexenschuss verschrieben hat. Ben hat kaum welche genommen. Ich glaube, er hielt es für ein Zeichen von Schwäche.
Ohne zu fragen, nehme ich Ana die Tabletten aus der Hand und schlucke sie hinunter. »Danke«, sage ich. Sie deckt mich zu und legt sich zum Schlafen auf das Sofa. Ich bin froh, dass sie sich nicht neben mich ins Bett legt. Ich will nicht, dass sie Bens Geruch überdeckt. Vom Weinen sind meine Augen ausgetrocknet, meine Glieder sind schlapp, aber mein Gehirn braucht das Vicodin trotzdem zum Abschalten. Ich krabbele auf Bens Seite des Bettes, werde müde und schlafe ein. »Ich liebe dich«, sage ich, und zum ersten Mal ist niemand da, der es hört.
Ich wache auf und fühle mich verkatert. Wie jeden Morgen will ich Bens Hand fassen, doch seine Seite des Betts ist leer. Im ersten Augenblick denke ich, er ist im Bad oder macht Frühstück, dann fällt es mir wieder ein. Meine Verzweiflung kehrt zurück, dumpfer und schwerer diesmal. Sie legt sich wie eine Decke auf meinen Körper und zieht mein Herz wie ein Stein nach unten.
Ich lege die Hände auf mein Gesicht und versuche, die Tränen fortzuwischen, aber sie fließen so schnell, dass ich sie nicht aufhalten kann.
Ana kommt mit einem Geschirrhandtuch herein, an dem sie sich die Hände abtrocknet.
»Du bist wach«, stellt sie überrascht fest.
»Scharf beobachtet.« Warum bin ich so gemein? Ich bin eigentlich kein gemeiner Mensch.
»Susan hat angerufen.« Sie ignoriert meine Ausfälle, wofür ich ihr dankbar bin.
»Was hat sie gesagt?« Ich setze mich auf und greife nach dem Glas Wasser, das noch von gestern Abend auf meinem Nachttisch steht. »Was will sie von mir?«
»Das hat sie nicht gesagt. Nur, dass du sie anrufen sollst.«
»Na großartig.«
»Ich habe die Nummer an den Kühlschrank geklemmt, falls du sie zurückrufen willst.«
»Danke.« Ich trinke das Wasser aus und stehe auf.
»Ich muss eben mit Bugsy rausgehen. Bin gleich wieder da«, sagt Ana. Bugsy ist ihre englische Bulldogge. Er sabbert alles voll. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie mit Bugsy nicht Gassi gehen muss, weil Bugsy ein fauler Sack ist, aber ich sage nichts, weil ich wirklich, wirklich nicht mehr so eklig sein will.
»Okay.«
»Brauchst du etwas?«, fragt sie und erinnert mich so daran, dass ich Ben gebeten habe, mir Fruity Pebbles zu besorgen. Ich gehe sofort wieder ins Bett.
»Nein, nichts. Danke.«
»Okay, ich bin bald zurück.« Sie denkt kurz nach. »Oder soll ich in der Nähe bleiben, wenn du sie jetzt anrufen willst?«
»Nein, danke, das kriege ich hin.«
»Okay, wenn du es dir anders überlegst …«
»Danke.«
Ana geht, und als ich höre, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, wird mir schlagartig klar, wie allein ich bin. Ich bin allein in diesem Zimmer, in dieser Wohnung, aber vor allem bin ich allein in diesem Leben. Ich kann es noch gar nicht richtig fassen. Ich stehe auf, nehme das Telefon, hole die Nummer vom Kühlschrank und sehe einen Magneten von Georgie’s Pizza. Ich sinke auf den Boden, fühle die kühlen Fliesen an meiner Wange und habe das Gefühl, nie wieder aufstehen zu können.