Hanser E-Book
Der Blick aus
meinem Fenster
Betrachtungen
Aus dem Türkischen
von Ingrid Iren
Carl Hanser Verlag
Die Übersetzungen aus dem Türkischen
stammen von Cornelius Bischoff, Ingrid Iren, Gerhard Meier, Christoph K. Neumann und Wolfgang Riemann.
ISBN 978-3-446-25234-9
© Orhan Pamuk 2006
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 2006/2016
Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos © Sedat Mehder
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Das LEBEN ist eine gute Ausrede für Bücher
Lauter bunte Knöpfe in einer alten Nähschachtel
Heimische Kuchen in fremden Küchen
Warum ich kein Architekt geworden bin
Mein Vater
Die POLITIK lenkt zu sehr ab
Meine Flagge
Kein Eintritt
Der Zorn der Verdammten
Heimatliche Gefühle in den Straßen São Paulos
Verkehr und Religion
»Fall« oder »Eroberung«?
Eine private Lektüre von André Gides
öffentlichem Tagebuch
Der Prozeß
Die LITERATUR ist die Heimat
Über das Lesen
Wie ich mich von einigen Büchern befreite
Das Glück, Stendhal in Händen zu halten
Erst Dostojewski lehrt,
wie man die Erniedrigung genießt
Das Furchterregende an Dostojewskis Dämonen
Die Brüder Karamasow
Unbarmherzigkeit, Schönheit, Zeit
Für wen schreiben Sie eigentlich?
Die bedrohliche Welt der Patricia Highsmith
Problemlos über meine Probleme ...
In Frankfurt und in Kars
MALEREI, ARCHITEKTUR, FILME und andere Dinge werden betrachtet
Schwarzer Stift
Die Selimiye-Moschee
Entre-act oder: Ah! Cleopatra!
Friseure
Essen auf den Straßen von Istanbul
Fünfundvierzig Sekunden
Wer lacht, der hört das Beben nicht
Eine ERZÄHLUNG
Aus dem Fenster schauen
Editorische Notiz
Textnachweis
Register
Wo wir uns auch gerade befinden, morgens auf dem Weg zur Arbeit, bei Freunden oder Verwandten, auf dem Weg nach Hause oder andächtig auf einer Beerdigung: Großstadtmenschen haben immer ein festes Bild ihrer Stadt im Kopf. Es schimmert unentwegt in unserer Vorstellung, es zerstreut, unterhält und macht unseren Alltag abwechslungsreich. Unsere Vorstellungen von dem imaginären Mittelpunkt einer Stadt sind sehr unterschiedlich, je nach den Zielen, die wir uns stecken, nach dem Sinn, den wir in unserem Leben sehen, nach der Geschichte, die wir gelebt haben und die wir unsere Vergangenheit nennen, und nach den Hoffnungen, die wir hegen und die wir Zukunft nennen.
In meiner Vorstellung liegt der Mittelpunkt Istanbuls auf der anderen Seite des Bosporus, in Beyoğlu. Hier leben alle meine Freunde und Feinde, und in den geheimnisvollen Gassen leben viele Menschen völlig anders als ich. Hier sind die Spielzeugläden meiner Kindheit und die Buchhandlungen, in denen ich heute meine Bücher und Zeitungen kaufe, die Cafés und Bars, die die ganze Nacht geöffnet haben. Hie und da in den engen Straßen, zwischen hundertjährigen Gebäuden, von denen der Putz herunterbröckelt und in denen niemand mehr wohnt, zwischen Eingangsportalen, Kirchen und Moscheen schlüpft am frühen Morgen ein Liedfetzen, eine Duftwolke, ein oranges Licht aus einer halbgeöffneten Tür. Dann überkommt einen jenes Glücksgefühl, das die Großstadt von einem Dorf unterscheidet: das Gefühl, daß in diesen dunklen und häufig schmutzigen Straßen das Leben nie stillsteht.
Als ich ein Kind war, kamen die wohlhabenden Familien Istanbuls, die sich am Westen orientierten, oft nach Beyoğlu. »Du hast einen Knopf verloren, Liebling«, sagte meine Mutter zu mir, und nachdem sie keinen ähnlichen in ihrer Nähschachtel voll alter Knöpfe finden konnte, fuhr sie fort: »Das nächstemal, wenn wir nach Beyoğlu gehen, kaufen wir dir einen neuen.« Als Kinder mußten wir uns für den Gang nach Beyoğlu ordentlich anziehen. Es lag nicht weit von uns entfernt, und doch hätte man glauben können, wir führen in eine andere Stadt oder gar in ein anderes Land.
Waren wir in Beyoğlu angelangt, kaufte meine Mutter ihre Knöpfe in einem Kurzwarenladen, der einem Ehepaar aus Armenien gehörte; danach setzten wir uns in ein schickes Café, in dem griechische Kellner meinem Bruder und mir Limonade servierten; und auf dem Heimweg kaufte meine Mutter noch Hackfleisch bei Karabet, einem armenischen Metzger in einer Seitengasse. Diese sich wiederholenden Handlungen, die Gespräche und guten Wünsche waren uns so vertraut wie die bunten Knöpfe in der Nähschachtel meiner Mutter. Damals war Istanbul eine Stadt, in der Menschen unterschiedlicher Konfession und Sprache lebten, ohne über ihre Identität nachzugrübeln.
Jeder hatte natürlich seine eigene, so wie jeder seine Geburtsurkunde hatte, die er irgendwo in seiner Jacke, seiner Hand- oder Brieftasche oder in einer Schublade zu Hause aufbewahrte. Doch die neue türkische Demokratie war zu dieser Zeit noch schwächlich, man vermutete in ihr einen neuen Schachzug der Machthaber: Kulturelle und religiöse Unterschiede verbarg man also sorgfältig wie Sünden, mit einem leisen Schuldgefühl. Die Bewohner Beyoğlus lebten auf diese Weise seit Hunderten von Jahren freundlich und gleichgültig nebeneinander, ohne sich in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn einzumischen. Die Schulkinder gingen abends auf dem gleichen Gehsteig nach Hause wie die Prostituierten; Mütter mit ihren Einkaufskörben, schwere Jungs, Priester und Mörder sahen sich die gleichen Schaufenster und Filmplakate an. In Istanbul wohnten damals rund eine Million Menschen, heute sind es zehnmal mehr. An der Türkei jener Zeit zerrten der Westen und der Osten gleichermaßen, und die westlichen Zeitungen schütteten ihren Schimpf über ihr aus. In den Kinos liefen noch keine Pornos »Made in Turkey«, und man unterschied moslemische Gläubige noch nicht nach praktizierenden und fundamentalistischen Moslems.
Das änderte sich mit dem Niedergang der Filmindustrie. Die Yeşilçamstraße in Beyoğlu, das türkische Hollywood, war der Traum vieler Kinder und junger Mädchen aus der Provinz. Ende der sechziger Jahre produzierten die Studios über dreihundert Filme jährlich – damit war Yeşilçam der drittgrößte Filmproduzent nach Hollywood und Indien. Doch mit Beginn der durch das Fernsehen ausgelösten Krise in den Siebzigern entstanden hier mehr und mehr Pornofilme. Das Besondere an ihnen war, daß in ihnen Schauspieler auftraten, die bis dahin in durchaus respektierlichen Familienfilmen mitgewirkt hatten. Die Frauen der Mittelschicht, die zum Einkaufen kamen, oder Männer mit Krawatte, die bis dahin ins Kino gegangen waren, blieben Beyoğlu fern, seit sie dort Plakate mit halbnackten Stars zu sehen bekamen, die sie noch bis vor kurzem in der Rolle der Braut des tapferen Helden oder des eifersüchtigen Nachbarn bewundert hatten. Danach verließen auch die Minderheiten Beyoğlu, die letzten Levantiner, die Restaurants, die Händler und Straßenköche, die hier dank einer Oberschicht, die sich für westlich hielt, hatten überleben können. Gleichzeitig erlebte Istanbul eine Bevölkerungsexplosion, und den verlassenen Stadtteil nahmen neue Bewohner ein, die aus ihren Dörfern in Anatolien gekommen waren und hier eine kleine, ehrgeizige und clevere Gemeinschaft bildeten. Und während die armen Familien aus der Provinz in diesen Gassen fern des Zentrums ein neues Zuhause fanden, eroberte die Jugend, die den Reiz der gespannten Großstadtatmosphäre und der Gegenwart von gewaltgeladener Sexualität entdeckte, die belebte, lärmende Hauptverkehrsader Beyoğlus.
Ich erinnere mich an einen Silvesterabend, an dem ich mit Tränen in den Augen diese Straße hinunterging: Autos fuhren und parkten sogar auf den Gehsteigen, verstopften hoffnungslos die Straße, einzelne verschleierte Frauen schlängelten sich hindurch, und die Mauern waren beklebt mit Plakaten von Karate-Filmen. Nein, ich weinte nicht aus Kummer, sondern wegen der verschmutzten Luft, die mir in den Augen brannte.
Die Intellektuellen Istanbuls, 1980 vom militärischen Staatsstreich der Rechten und dem Niedergang der Linken enttäuscht, entdeckten Beyoğlu jetzt neu und zogen wieder in dieses kosmopolitische Viertel, nachdem sie sich ihres aus Populismus und ländlicher Romantik bestehenden marxistischen Erbes entledigt hatten, um sich eine moderne, städtische Identität zu schmieden. Diejenigen, die hier seit zwei Generationen lebten und Eigentum besaßen, machten die plötzlich steigenden Immobilienpreise unerwartet reich, und sie sahen sich auf einmal als »alte Istanbuler«. Die Geschäfte bekamen einen neuen Anstrich, Filmfestivals lösten die Pornos ab, und aus der Hauptverkehrsstraße wurde eine Fußgängerzone.
All das hat die junge städtische Schicht, die in den alten griechischen Häusern der Gassen am Rande Beyoğlus lebt, nicht davon abgehalten, bei den letzten Stadtwahlen die Fundamentalisten zu wählen. So hat sich eine Welle der Angst, die laut einiger Stimmen auf die Furcht vor der fundamentalistischen oder separatistischen Bewegung zurückgeht, bis nach Beyoğlu ausgebreitet – immerhin das weltoffenste Viertel der verwestlichsten Stadt eines Landes, das von allen moslemischen Ländern dem Westen am offensten gegenübersteht.
Während ich diesen Text schrieb, bin ich in den Gassen am Rand des Viertels spazierengegangen. Kleine Jungen spielten in einer schmalen Straße zwischen den dichtgeparkten Autos und überquellenden Mülltonnen ausgelassen Fußball und rauften sich auf den Gehsteigen. Über der Straße hing feuchte und vom Rauch der Kamine geschwärzte Wäsche auf einer Leine, die jemand in Höhe des dritten Stocks zwischen zwei Häusern gespannt hatte. Die Straße war wegen der Lastwagen, die den ganzen Tag Joghurt und Coca-Cola anliefern, genauso verstopft wie immer. Überall war der für Istanbul so typische Lärm zu hören: Verkehr, Fabriken, Motoren und Kinder. Mitten in diesem Durcheinander saßen indes zwei alte Männer vor einem kleinen Kiosk und spielten in aller Ruhe Backgammon. Ein herrenloser Hund schlief friedlich und zufrieden im Rinnstein.
Als ich wieder auf die Hauptstraße zurückkam, stand ich zwischen Kinos, teuren Geschäften, Banken und Wechselstuben. Der kleine Laden, in dem ich vor zweiundzwanzig Jahren zum erstenmal jene westliche Erfindung »Hamburger« gekostet hatte, war den Auslagen einer bekannten westlichen Hemdenmarke gewichen. Zwischen den bunten Boutiquen, in denen reiche und westlich beeinflußte Istanbuler ihre Kultur-, Finanz- und Kleidungsbedürfnisse befriedigten, war ein verstaubter Laden, der Videospiele verkaufte und in dem sich junge Arbeitslose aus den armen Randvierteln Beyoğlus drängelten.
Nach seinem Besuch Istanbuls vor hundertfünfzig Jahren schrieb Flaubert, er sei davon überzeugt, diese Stadt werde einmal der Mittelpunkt des Universums. Seine Vorhersage hat sich noch immer nicht erfüllt, doch in den Gassen der Stadt, in denen er umherspazierte, wuselt noch immer die Menge wie eine Armee Ameisen, wie es der Romancier beschrieb.
Mein Vater verließ uns manchmal, als wir noch Kinder waren, und verschwand auf rätselhafte Weise. Einige Wochen später erfuhren wir dann, daß er in irgendeinem anderen Haus in Istanbul lebte oder sich gar in einer Stadt im Ausland aufhielt. Und einmal, 1958, als ich sechs Jahre alt war, erhielten wir die Nachricht, er sei in Paris.
Er wohnte in einem billigen Hotel am Montparnasse, füllte Heft um Heft mit Aufzeichnungen, die er mir Jahre später in einem Koffer übergeben sollte, und manchmal saß er im Café Dôme, wo er Jean-Paul Sartre von weitem beobachtete.
Meine Großmutter versorgte ihn aus Istanbul mit Geld. Großvater war im Eisenbahnbau tätig gewesen und hatte als erfolgreicher Unternehmer gutes Geld verdient. Der nächsten Generation, meinem Vater und seinen Brüdern, war es nicht ganz gelungen, das Vermögen unter den Tränen meiner Großmutter durchzubringen, noch waren nicht alle Mietshäuser verkauft. Als aber Großmutter fünfundzwanzig Jahre nach dem Tod ihres Ehemanns erkennen mußte, daß bald kein Geld mehr übrig sein würde, überwies sie nichts mehr an ihren Sohn in Paris.
So gehörte mein Vater eine Zeitlang zu jenen türkischen Intellektuellen, die seit hundert Jahren ohne Hoffnung und mit leeren Taschen die Straßen von Paris durchstreifen. Er war Bauingenieur von Beruf, wie sein Vater und mein Onkel, und sehr begabt in Mathematik. Als er kein Geld mehr hatte, fand er durch eine Zeitungsannonce eine Anstellung bei IBM und wurde nach Genf geschickt. Mein Vater, Bohemien und Schriftsteller in Paris, zog nach Genf und wurde einer der ersten türkischen Migranten, die in Europa eine Arbeit und ein Auskommen fanden.
Zunächst fuhr meine Mutter zu ihm. Sie ließ uns in der Großfamilie, in dem reichen Istanbuler Haus meiner Großmutter zurück und reiste zu meinem Vater nach Genf. Wir Kinder, mein Bruder und ich, mußten erst einmal den Beginn der Sommerferien abwarten und uns Reisepässe besorgen, damit wir nachkommen konnten.
Ich erinnere mich noch daran, wie ein Fotograf unter ein schwarzes Tuch kroch, an seiner hölzernen Balgkamera auf einem Stativ verschiedene Einstellungen machte und wir lange, lange in einer Pose aushalten mußten. Dieser alte Fotograf erschien uns ausgesprochen lächerlich, als er uns anschaute und »Jaa!« sagte, bevor er mit einer zärtlichen Handbewegung ganz kurz die Kappe von der Linse nahm, um die präparierte Glasplatte zu belichten. So entstand das Foto für meinen ersten Paß, während ich von innen an den Wangen kaute, um mir buchstäblich das Lachen zu verbeißen. Meine im Paß als dunkelblond beschriebenen Haare sind wahrscheinlich zum erstenmal in jenem Jahr für dieses Foto gekämmt worden. Als ich mir jetzt, dreißig Jahre später, den Paß noch einmal anschaute, stellte ich fest, daß auch meine Augenfarbe falsch angegeben ist, was mir damals nicht aufgefallen war, obwohl ich ständig in den Seiten herumgeblättert hatte. Ein Paß ist also nicht, wie ich bisher annahm, ein Papier, das unsere Identität dokumentiert, sondern ein Dokument, das zeigt, was andere von unserer Identität halten.
Als wir Kinder mit den Pässen in den Taschen unserer nagelneuen Jacketts aus dem Fenster des Flugzeugs blickten, das uns nach Genf brachte, waren wir entsetzt. Da sich die Maschine zur Seite neigte, schien alles, sogar die Seen, in diesem Schweiz genannten Land ein unendlich steiler Hang zu sein. Wir beide lachen noch heute über unsere Erleichterung, als das Flugzeug nach dem Ende seiner Schleifen vor der Landung wieder in die Waagerechte kam und uns klarwurde, daß dieses »neue Land« fast so flach wie Istanbul war.
Die Straßen hier waren allerdings sauberer und leerer. In den Schaufenstern gab es eine größere Auswahl, und auf den Hauptstraßen fuhren mehr Autos. Die Bettler bettelten nicht einfach, wie in Istanbul, sondern stellten sich unter die Fenster und spielten Akkordeon. Meine Mutter achtete darauf, daß wir die Münzen, die wir ihnen zuwerfen wollten, in ein Stück Papier eingewickelt hatten. Unsere Wohnung lag fünf Minuten zu Fuß von den Brücken am Ende des Genfer Sees entfernt, wo er wieder ein Fluß wird, und war möbliert.
Ein anderes Land – das bedeutete nun für mich, an vorher von anderen benutzten Tischen, auf vorher von anderen benutzten Stühlen zu sitzen, in von anderen jahrelang durchgelegenen Betten zu schlafen, von Tellern zu essen, aus Gläsern zu trinken, die andere schon jahrelang benutzt hatten. Das andere Land war das Land der anderen. Und wie wir den Umgang mit diesen alten Gegenständen lernten, obwohl wir nie deren wahre Besitzer sein würden, so mußten wir uns auch an dieses alte Land, an das Territorium der anderen gewöhnen. Meine Mutter, die in Istanbul eine französische Schule besucht hatte, ließ uns den ganzen Sommer über morgens am leeren Eßtisch sitzen und versuchte, uns die französische Sprache beizubringen.
Doch wie sich am Ende des Sommers ergab, als man uns in die staatliche Genfer Grundschule schickte, hatten wir nicht das geringste gelernt. Meine Eltern nahmen gutgläubig an, wir würden, wenn wir dem Lehrer im Unterricht ständig zuhören müßten, nach und nach Französisch lernen. Doch sobald alle Kinder in den Pausen auf den Hof hinausliefen und spielten, suchten wir, mein Bruder und ich, uns im Gedränge, um uns an der Hand zu halten. Ein endloser, riesiger Garten war das fremde Land, und glückliche Kinder rannten darin spielend herum. Wir beide aber betrachteten diesen Garten des Glücks nur vorsichtig von weitem.
Obwohl mein Bruder kein Französisch sprach, war er beim Rückwärtsrechnen der Beste in seiner Klasse, weil er die Zahlen kannte und mathematisch begabt war. Was mich betraf, so hatte ich in der Schule, deren Sprache ich nicht verstand, außer meiner Schweigsamkeit nichts Besonderes vorzuweisen. Und wie man sich im Traum sträubt, wenn man nicht sprechen kann, so sträubte ich mich eines Morgens, in die Schule zu gehen. Mein innerliches Aufbegehren, äußerlich unbemerkt geblieben – was sich während der folgenden Jahre in anderen Städten, in anderen Schulen wiederholen sollte –, schützte mich vor den härteren Seiten des Lebens, hielt mich aber auch von dessen Reichtum fern. Eine Woche danach nahm man auch meinen Bruder von der Schule, drückte uns beiden die Pässe in die Hand und schickte uns zurück nach Istanbul zu unserer Großmutter.
Ich habe jenen Reisepaß, der mich stets an den Mißerfolg meines ersten Europa-Abenteuers erinnert und die Aufschrift »Mitglied des Europarates« trägt, nie wieder benutzt, mich instinktiv verschlossen und die Türkei vierundzwanzig Jahre lang nicht verlassen. Alle, die sich Pässe besorgten und nach Europa reisten, habe ich in meiner Jugend sehnsüchtig bewundert, doch ich hielt mich trotz aller Möglichkeiten, die sich mir boten, ängstlich zurück und glaubte stets, richtig zu handeln, wenn ich meine Zeit in einem Winkel von Istanbul mit Bücherschreiben verbrachte. Europa, so dachte ich damals, lernt man doch am besten durch seine Bücher kennen.
Meinen zweiten Paß verdanke ich meinen Büchern. Die verschlossenen Räume, in die ich mich in den dazwischenliegenden Jahren zurückgezogen hatte, konnte ich schließlich als Schriftsteller verlassen. Man lud mich nach Deutschland ein, wo ich verschiedene Städte besuchen und vor Türken, von denen so mancher als politischer Emigrant dort lebte, aus meinen noch nicht ins Deutsche übersetzten Büchern lesen sollte. In meinen Gedanken verknüpfte mein zweiter Paß diese hoffnungsvollen Reisen zu meinem türkischen Leserpublikum in Deutschland mit den schmerzlichen, in den Folgejahren weithin als »Identitätsproblem« bezeichneten menschlichen Erfahrungen.
Den Kopf voll schöner Ideen, fuhr ich mit einem der pünktlichen deutschen Züge von einer Stadt zur anderen. Es gefiel mir, aus dem Fenster auf die dunklen Wälder, auf die Kirchtürme der entfernten Ortschaften zu schauen und auf den Bahnsteigen die in Gedanken versunkenen Fahrgäste zu beobachten. Der Türke, der mich am Bahnhof empfing und sich für viele Mängel entschuldigte, die mir nicht aufgefallen waren, brachte mich zuerst in einem Hotel unter, führte mich dann über den Marktplatz der Stadt und sprach über die Teilnehmer der abendlichen Veranstaltung.
Diese Leseabende Mitte der achtziger Jahre, an die ich heute fast sehnsüchtig zurückdenke, wurden von politischen Emigranten und ihren Familien, von türkischen Lehrern und Studenten, von Jugendlichen der zweiten Generation, halb Türken, halb Deutsche, besucht. Dazu kamen andere, die etwas über das intellektuelle Leben in der Türkei hören wollten, außerdem einige türkische Arbeiter, die an jeder Versammlung teilnahmen, und einige Deutsche, die sich für alles und jedes, was die Türken betraf, interessierten und entschlossen waren, ihre Sympathie zu demonstrieren.
In jeder Stadt wiederholten sich bei den Lesungen mehr oder weniger die gleichen Szenen: Nachdem ich aus meinem Buch gelesen habe, hebt ein zorniger junger Mann die Hand, bittet ums Wort und tadelt mich dafür, daß ich in meinen Büchern mit abstrakten Schönheiten angebe, während in der Türkei Unterdrückung herrscht und gefoltert wird – was stets Schuldgefühle bei mir auslöst, obwohl ich ihm keineswegs recht gebe. Eine Leserin, die mich offensichtlich in Schutz nehmen möchte, fragt mich nach Details in meinen Büchern. Und dann kommen die großen Fragen, die der Türkei, der Politik, den Hoffnungen für die Zukunft, ja sogar dem Sinn des Lebens gelten und die ich jedesmal mit dem Enthusiasmus eines strebsamen jungen Schriftstellers voll bester Vorsätze beantworte. Manchmal hält jemand eine lange, mit politischen Begriffen gespickte Ansprache, die mich nicht so sehr beschuldigen soll, sondern vielmehr an die Versammelten gerichtet ist, und später klären mich meine Gastgeber, die Leiter der zuständigen Vereinigung, darüber auf, welcher linken Fraktion der Redner angehört und was er den anderen politischen Richtungen mit seiner langen Rede sagen wollte. An dem lebhaften Interesse, mit dem mich die Jüngeren nach dem Geheimnis eines erfolgreichen Schriftstellers fragen, erkenne ich, daß die jungen Türken in Deutschland viel weniger Skrupel haben, etwas vom Leben zu verlangen, als die Gleichaltrigen in der Türkei. Dann wieder stellt jemand eine Frage, die sein Lebensgefühl berührt (»Was denken Sie über die Türken in Deutschland?«), oder auch eine, die meine Sensibilität berührt (»Warum sprechen Sie nicht häufiger von der Liebe?«), und wenn daraufhin die achtzig, neunzig Menschen im Saal kichern und lachen, dann wird mir klar, daß ich eine Art Gemeinde vor mir habe, in der sich alle mehr oder weniger kennen. Nachdem mich ein älterer Herr – ein Lehrer vielleicht, der bald in Pension gehen wird – gegen Ende der Veranstaltung in dieser nunmehr gelockerten Atmosphäre auf übertriebene Weise gelobt hat, wendet er sich den halb türkischen, halb deutschen Jugendlichen zu, die sich kichernd in den hinteren Sitzreihen amüsieren, und belehrt sie in einer ebenso nationalistischen wie traurigen Rede darüber, daß auch die Türkei, ihr Vaterland, Schriftsteller aufzuweisen habe, auf die sie stolz sein könnten, daß sie diese lesen und ihre eigene Kultur kennenlernen müßten – was den jungen Leuten wieder nur ein Lächeln entlockt.
Der Themenwechsel zu den Identitätsängsten, zu den unablässigen Fragen nach Identität und Nationalität, spielte sich stets in dieser familiären Atmosphäre ab. Zum Abendessen, an dem außer meinen Gastgebern und mir noch zehn bis fünfzehn Personen teilnahmen, wurde man meistens in ein türkisches Restaurant geführt. Aber auch in einem nichttürkischen Lokal vermittelte mir die Atmosphäre, in der sich die Runde am Tisch niederließ, sich unterhielt, sich gegenseitig aufzog oder mir Fragen stellte, den Eindruck, in der Türkei zu sein, und da ich viel lieber über die Literatur als über mein Land sprechen wollte, stimmte sie mich traurig. Daß aber mein Land das eigentliche Thema war, während ich so tat, als sei es die Literatur, begriff ich erst später. Die Literatur, die Bücher waren nur ein Weg, um über das Ungewisse der Identität, die wahre Quelle der Bitternis, zu reden oder zu schweigen.
Auf all diesen Lesereisen, auch den späteren, die ich unternahm, als meine Bücher in Deutschland publiziert wurden, wurde mir klar, daß sich ein Teil der Gedanken meiner Zuhörer ständig um ihr Türkisch- oder Deutschsein drehte. Für einen Autor wie mich, der immer irgendwo in seinen Büchern den Konflikten zwischen dem Osten und dem Westen, der Unentscheidbarkeit und der Unbestimmbarkeit der Dinge einen Platz offenhält und auf spielerische Weise Allegorien für beide erfindet, sollten diese Spannungen und Identitätsängste eigentlich interessant, ja sogar höchst anregend sein. Doch ich habe es nie so empfunden. Wenn ich merkte, daß mir die Türken in Deutschland in der ersten Stunde ihre Aufmerksamkeit schenkten, sich dann aber in ihre eigene Welt zurückzogen, wenn ich zuhörte, wie sie sich in endlosen Diskussionen über ihre jeweiligen Anteile an türkischem oder deutschem Leben verstrickten, dann fühlte ich mich, der ich kein Deutsch-Türke, sondern lediglich ein Türke bin, sehr einsam und empfand die im Raum herrschende Mutlosigkeit und Bitternis.
Waren es nur Mutlosigkeit und Bitternis oder war es der Ausdruck einer reichen Identität? Nicht einmal das konnte ich entscheiden. Wie sehr auch das menschliche Herz an diesem hitzigen Für und Wider um Identität und Nationalität beteiligt war, wie eng auch diese Debatten mit den menschlichen Ängsten, Sorgen und Wünschen verknüpft waren – es bedrückte mich, und ich begann, am Sinn des Lebens zu zweifeln.
Während der Diskussionen um die Identität, die, je später die Stunde, um so heftiger wurden, fand ich heraus, daß jeder Teilnehmer der Runde anders darüber dachte, bis zu welchem Grad man sich das türkische oder deutsche Leben aneignen solle. Wer der Meinung ist, man müsse (falls das überhaupt möglich ist!) ganz und gar Deutscher sein, erhält auf unserer Skala eine Zehn. (So ein Mensch mag nicht einmal mehr an die Türkei zurückdenken und sieht sich manchmal selbst als Deutschen.) Wer aber von seiner türkischen Identität »nicht einmal das kleinste Quentchen hergeben will«, wird auf unserer Skala mit Eins bewertet. (Eine solche Person ist stolz darauf, in Deutschland weiterhin wie ein Türke zu leben.) Die übrigen Personen am Tisch liegen mit einer unterschiedlichen Mischung aus deutschen und türkischen Lebenseinstellungen zwischen diesen beiden Extremen. Einer träumt davon, eines Tages für immer in die Türkei zurückzukehren, verbringt aber seine Sommerferien in Italien, ein anderer, der im Ramazan niemals fastet, schaut sich trotzdem nächtelang nur türkische Fernsehprogramme an, und wieder andere entfernen sich mehr und mehr von ihren türkischen Freunden, hegen jedoch einen tiefsitzenden Groll gegen alle Deutschen. Ich sah, daß sich durch all diese frei oder notgedrungen getroffenen Entscheidungen in der Persönlichkeit der Anwesenden Schmerz, Einsamkeit und Erniedrigung, Ängste und Sehnsüchte vereinigt hatten.
Was mich aber eigentlich verwirrte und als rätselhafter Vorgang in jeder Stadt zum Nachdenken brachte, war die absolute Unnachgiebigkeit und der sich jeder Kritik verschließende Fanatismus, mit dem alle den eigenen Standpunkt verteidigten, ganz gleich, welchen Grad unsere Skala für ihre türkische und deutsche Identität anzeigte. Stand zum Beispiel jemand auf unserer Skala bei Grad fünf, dann blieb er nicht dabei, seine Verbindung von türkischer und deutscher Lebenseinstellung für die einzig richtige zu halten, sondern bezichtigte den, der durch leichtes Überwiegen der türkischen Identität bei Grad vier lag, der Rückständigkeit und der Absonderung, einem anderen aber, der mit Grad sechs oder sieben der deutschen Lebenseinstellung näherstand, warf er vor, sich von seiner wahren Identität zu entfernen. Und sehr spät in der Nacht behauptete nicht nur jeder in der Runde den anderen gegenüber, sein Maß an Türkisch- und Deutschsein sei das einzig richtige, sondern versuchte auch noch erregt und voller Zorn das Unangreifbare, Persönliche und Heilige daran zu beweisen.
Tolstoi erinnert uns in dem wohlbekannten ersten Satz seiner Anna Karenina daran, daß alle glücklichen Familien einander ähnlich, aber die Wege zum Unglück in jeder Familie verschieden sind. Das gleiche gilt für Nationalisten und Identitätsfanatiker: Flatternde Fahnen, nationale Feierlichkeiten und Freudenfeste nach Fußballsiegen zeigen, daß sich die glücklichen Nationalisten überall auf der Welt gleichen. Wenn Nationalismus bedeutet, daß man sich des Unterschieds zwischen der eigenen Identität und der anderer Menschen rühmen kann, dann ist das ein glatter Widerspruch in sich. Was wir aber um unserer Pässe willen, die uns manchmal Freude, manchmal Kummer bereiten, unbedingt erkennen sollten: Es gibt Unterschiede, die Anlaß zum Unglücklichsein sind – und sie bestehen sowohl zwischen den Menschen selbst als auch zwischen ihren Ängsten um die eigene Identität.
Weil wir, mein Bruder und ich, 1959 sehnsüchtig und unglücklich der lustig herumtollenden Kinderschar auf dem Hof der staatlichen Genfer Grundschule händehaltend von weitem zuschauten, wurden wir mit unseren Pässen in die Türkei zurückgeschickt. In den Jahren danach blieben Hunderttausende von Kindern, noch tiefer in dieses Unglücklichsein verstrickt, mit oder ohne Paß in Deutschland. Diese Menschen werden heute, fünfzehn Jahre nachdem ich sie kennenlernte, höchstwahrscheinlich versuchen, ihre Verbitterung durch den Erwerb eines deutschen Passes zu mildern. Es ist gut zu wissen, daß der Paß, dieses Dokument, mit dem uns andere ganz allgemein und schablonenhaft beurteilen, unseren Kummer ein wenig lindern kann. Doch unsere einander so ähnlichen Pässe dürfen uns nicht vergessen lassen, daß jeder mit seinen eigenen Identitätsproblemen, seinen eigenen Wünschen und seiner eigenen Verbitterung lebt.
Jedesmal blieb ich vor dem alten, schon recht baufälligen Mietshaus stehen und betrachtete es mit Ehrfurcht: Seine Fassade mit dem hie und da abgebröckelten Putz war ohne Anstrich, von dunklem Schmutz bedeckt und erinnerte, wie die Fassaden ähnlicher Gebäude, an einen furchterregenden Hautausschlag. Diese untrüglichen Zeichen von Verfall, Vernachlässigung und Verwahrlosung machten stets tiefen Eindruck auf mich. Doch die kleinen Reliefs an der Fassade, verspieltes Blattwerk und asymmetrische Linien im Jugendstil, erinnerten mich daran, daß dieses kleine Bauwerk für ein besseres und schöneres Leben errichtet worden war, als sein vom Siechtum gezeichneter Zustand zu sagen schien. Ich sah die Schäden und Bruchstellen an den Regenrinnen, Fensterbänken, Reliefs und Dachgesimsen. Wenn ich die Stockwerke zusammenrechnete und den Laden im Erdgeschoß dazuzählte, konnte ich in den meisten Fällen die ersten, vor rund hundert Jahren errichteten vier Geschosse erkennen, die im Lauf der letzten zwanzig Jahre um zwei weitere ergänzt worden waren. Feines Handwerk, breite Borde unter den wuchtigen Fenstern oder Reliefarbeiten an der Straßenfront waren bei den neuen Etagen natürlich ausgeschlossen. Die meisten dieser eilig durchgeführten Erweiterungen, die profitiert hatten von Amnestien nach der Verletzung von Bauvorschriften, von Gesetzeslücken oder der Nachsicht bestechlicher Beamter in der Stadtverwaltung, schienen auf den ersten Blick im Vergleich zu dem ursprünglichen, hundertjährigen Baukörper sauberer und »modern« zu sein, doch ihr Inneres war bereits alt und unansehnlich.
Bei fast allen solcher Bauten war in den schmalen Fenstern der kleinen, einen Meter über die Straße vorspringenden Erker – dem auffälligsten Merkmal der traditionellen Istanbuler Architektur – entweder ein Blumentopf oder ein Kind zu sehen, das zu mir herunterschaute. Dann kalkulierte ich automatisch, daß dieses oder jenes Gebäude bei achtzig Quadratmeter Grundfläche eine Nutzfläche von soundsoviel besaß, und ich überlegte mir, ob es für mich brauchbar sein könnte. Ich hatte begonnen, in den ältesten, zweitausend Jahre alten Stadtvierteln von Istanbul, in den Gassen Galatas, Beyoğlus und Cihangirs, die ehemals von Griechen und Armeniern und noch früher von Genuesen bewohnt waren, nach einem alten Gebäude zu suchen, und zwar nicht, um es wieder bewohnbar zu machen und darin zu leben, sondern aus einem anderen, abwegigen Grund: um über diese Gegend zu schreiben.
Während ich das Haus vom gegenüberliegenden Gehsteig aus betrachtete, trat der Krämer aus seinem Geschäft, das hinter mir lag, und gab mir über den Zustand, die Besitzverhältnisse und die Geschichte des Gebäudes Auskunft. Mir wurde klar, daß ihn der Besitzer mit der Überwachung des Hauses beauftragt haben mußte. »Kann ich hineingehen?« fragte ich nun, etwas beunruhigt darüber, ein fremdes Haus ohne die Erlaubnis der Bewohner zu betreten. »Geh nur rein, Bruder, keine Sorge, schau dich um!« meinte der Krämer unbekümmert.
Die großzügige, außerordentlich kühle Eingangshalle des Mietshauses an diesem heißen Sommertag – selbst in den reichsten Vierteln von Istanbul findet man heute in keinem der Wohnblöcke einen so eindrucksvollen Eingang –, die Kinderstimmen des zum Teil recht armen Viertels draußen und die Tatsache, daß der Lärm aus den Kunststoff- oder Drehbankwerkstätten wenige Schritte gegenüber nicht mehr zu hören war, erinnerten mich einmal mehr daran, welche ganz andere Art von Leben hier einstmals beabsichtigt war. Ich stieg über die Treppen zwei, drei Etagen hoch und betrat, von dem neugierigen Krämer hinter mir bestärkt, irgendeine der Wohnungen durch die offene Tür. Auch wenn hier nicht alle miteinander verwandt sind, so stammen sie doch aus demselben Dorf in Anatolien, und ihre Wohnungstüren stehen immer offen.
Eine Art Scham überkam mich, als ich in der Wohnung war, doch meine Augen öffneten sich weit, um jede Einzelheit, die sich ihnen bot, aufzunehmen wie eine Kamera eines ehrgeizigen Stummfilmprojekts.
Auf einem alten Bett, an der Seite des Vestibüls hinter der offenen Wohnungstür aufgestellt, sah ich eine Frau liegen, die in der Mittagshitze eingenickt war. Ich ging an ihr vorbei, bevor sie ihre Schläfrigkeit abschütteln und mich richtig wahrnehmen konnte, und betrat ein Nebenzimmer – ein Flur war nicht vorhanden –, wo sich vor einem laufenden Farbfernseher vier Kinder im Alter von fünf bis acht Jahren auf einem kleinen Diwan zusammendrängten. Keins von ihnen hob den Kopf, um mich anzusehen, und die Zehen ihrer nackten Füßchen, die von der Diwankante herabhingen, regten sich so munter und lebhaft wie der Abenteuerfilm, dem sie zusahen.
Im nächsten Zimmer dieses vollen Hauses, das so still wie die Mittagshitze war, traf ich eine Frau an, die mir sofort klarmachte, wer hier das Sagen hatte. »Wer bist du?« fragte sie mit gefurchten Augenbrauen und einem riesigen Teekessel in der Hand. Während der Krämer hinter mir die Lage erklärte, erkannte ich, daß dies keine richtige Küche und das Zimmer des alten Mannes in Hemd und Unterhosen, der von nebenan den Kopf hereinstreckte, nur dann erreichbar war, wenn man sich durch die enge Küche hindurchquetschte. Ich begriff aber auch, daß dies natürlich nicht dem ursprünglichen Plan des Gebäudes entsprach, und erwog die Möglichkeit, kurz in das Zimmer des Alten hineinzublicken, um mich dort umzusehen und so auf den Zuschnitt der ganzen Etage schließen zu können, doch am Ende war ich beschämt wie alle anderen – außer dem Krämer –, schaute nur kurz in das Zimmer mit der abgeblätterten Farbe und dem bröckeligen Putz hinein und kam mir dabei töricht vor.
Durch die Bemühungen der hinter mir tätigen »Flüstermaschine«, des Krämers, der sich vom Aufseher zum Vermittler entwickelte, und mit der Hilfe echter Makler habe ich in jener Umgebung noch viel, viel mehr, wahrscheinlich Hunderte von alten Wohnungen begutachtet, zum Beispiel in einer von Kurden aus Tunceli bewohnten Straße, in dem von rumänischen Zigeunern bewohnten Viertel in Galata, wo die Frauen und Kinder auf den Eingangsstufen der Gebäude sitzen und alles Kommen und Gehen beobachten, oder auch an einer abschüssigen Straße, wo die älteren Frauen gelangweilt aus dem Fenster hingen und herunterriefen: »Soll er doch kommen und sich auch unser Haus einmal ansehen!«
Was ich zu sehen bekam, waren halbzerstörte Küchen, mittendurch geteilte Salons, gänzlich abgetretene Treppenstufen, Zimmer mit Holzböden, deren Bruchstellen von Teppichen verdeckt waren, alte Wohnräume mit reichem Decken- und Wandschmuck, die man als Depot, Werkstatt, Lokal oder Lampenschirmgeschäft benutzte, herrenlose Gebäude, die wegen Eigentumsstreitigkeiten oder weil die Besitzer ausgewandert waren, verlassen worden waren und nun langsam verrotteten, Zimmer, wo aus allen Winkeln kleine Kinder hervorquollen wie aus vollgestopften Schränken, kühle Erdgeschoßwohnungen voller Modergeruch, Kellerräume mit sorgfältig aufgestapelten Holzstücken, Eisenteilen und anderem Kram, ein Sammelsurium, das in den Gassen, aus Mülltonnen oder unter irgendwelchen Bäumen aufgelesen worden war, Treppen, deren Stufen alle unterschiedlich hoch waren, tropfende Zimmerdecken, nach Schimmel riechende feuchte Wände, dunkle Treppenhäuser, in denen weder der Fahrstuhl noch die Beleuchtung funktionierte, und Frauen mit Kopftüchern, die mich in den Aufgängen durch den Türspalt musterten, Leute, die im Bett lagen, Balkone voll trocknender Wäsche, Mauern mit der Aufschrift: »Hier keinen Müll abladen!«, spielende Kinder in den Höfen und in den Schlafzimmern riesige, platzraubende Schränke, die sich alle mehr oder weniger glichen.
Hätte ich nicht so viele Häuser hintereinander aufgesucht, wäre es mir wohl kaum möglich gewesen, so klar zu erkennen, womit sich die Menschen in ihren Behausungen am meisten befassen: Sie strecken sich auf einem Diwan, einem Sessel, einer Polsterbank, einem Sofa oder einem Bett aus und dösen; und sie schauen zu jeder Tageszeit fern. Diese beiden Tätigkeiten werden meistens – ergänzt durch den Konsum von Tee und Zigaretten – gleichzeitig ausgeführt. Und auf keine andere Art und Weise hätte ich erkennen können, welch unnötig großer Anteil dieser relativ wertvollen Stadtgrundstücke den Treppen vorbehalten blieb. Nachdem ich gesehen hatte, wieviel Raum die Treppen in diesen Gebäuden mit einer Breite von nur fünf oder sechs Metern und einer kaum nennenswerten Tiefe einnahmen, schloß ich meine Augen, vergaß sämtliche Fronten, Gebäude und Straßen der Stadt, versuchte nur, mir Hunderttausende von Treppen und sogenannten Treppenschächten vorzustellen, und begriff, daß in Istanbul der zerstückelten Immobilien wegen ein heimlicher Wald von Treppen entstanden war.
Was aber am Ende dieser Expeditionen meine Phantasie am meisten erregte, war die auf erstaunliche Weise andersartige Nutzung dieser bei aller Stattlichkeit eigentlich bescheidenen und kleinen Gebäude, die vor hundert Jahren unter ganz anderen Vorstellungen und Erwartungen von armenischen Architekten und ihren Gehilfen für die griechische und levantinische Bevölkerung Istanbuls entworfen worden waren. Während meiner Ausbildung zum Architekten habe ich gelernt, daß ein Gebäude den Ideen von Architekt und Auftraggeber entsprechend gestaltet wird. Als die griechische, armenische und levantinische Bevölkerung, die sich zuerst in den Häusern niedergelassen hatte, im 20. Jahrhundert gezwungen war, jene Bezirke Istanbuls zu verlassen und abzuwandern, wurde das Vorstellungsvermögen derer, die nach ihnen kamen, bestimmend für das restliche Dasein der Gebäude. Ich spreche hier nicht von einem aktiven Vorstellungsvermögen, das die Bauten, die Straßen gestaltet und der Stadt ihr Aussehen gibt. Es geht vielmehr um ein passives Vorstellungsvermögen, das jene Menschen, die aus ganz anderen Orten, aus unglaublich weit entfernten Winkeln hergekommen waren und hier Unterschlupf fanden, zur Anpassung an die hiesigen Räumlichkeiten entwickelt haben.
Ich kann dieses Vorstellungsvermögen mit der Phantasie eines Kindes vergleichen, das in einem nächtlich-dunklen Zimmer vor dem Einschlafen die Schatten an der Wand beobachtet und Traumgebilde schafft. Wenn das Kind in einem ihm unbekannten, angsterregenden Zimmer schläft, vergleicht es die Schatten mit vertrauten Dingen und verwandelt damit den Raum in einen wohnlichen Ort. Befindet es sich in seinem wohlbekannten, sauberen Zimmer, wo es sich geborgen fühlt, nehmen jene Schatten gruselige, märchenhafte Züge an, und das Kind ist bereit für die eigene Traumwelt. Die Vorstellungskraft gibt ihm in beiden Fällen die Möglichkeit, mit dem zusammenhanglosen Zufallsmaterial Phantasien zu entwickeln, die zu einer Anpassung an seine Umgebung führen. Hier dient die Imagination nicht irgendwem, der vor einem leeren Stück Papier steht und neue Welten schaffen will, sondern einem Menschen, der versucht, sich in einer fertig vorgefundenen, abgenutzten Welt zurechtzufinden. Die Migration, die Verlagerung der Industrieviertel, die Bildung einer Bourgeoisie türkischer Herkunft in Istanbul und die Zimmer, die Wohnungen derer, die sich in jenen dem Verfall preisgegebenen Gebäuden niederließen, die man im Zuge der Verwestlichungsideen aufgegeben hatte – sie alle sind von den Spuren dieser Imagination und den folgenden Entscheidungen gezeichnet. Die Absichten der Architekten vor hundert Jahren, die diese Bauten auf einem leeren Bogen Papier entwarfen, waren all denen, die später in diesen Gebäuden Unterschlupf fanden, vollkommen fremd. Sie teilten Räume durch Mauern, kreierten Küchen unter Treppen und auf Fensterbänken, verwandelten Eingangshallen in Depots oder Wartezimmer, schufen mit Betten und Schränken in den unmöglichsten Ecken neue kleine Räume, verschlossen Türen und Fenster mit Ziegelsteinen, ließen irgendwo neue Fenster oder Türen ein und schlugen dazu einfach Löcher in die Wände, heizten Gebäude, die Zentralheizung hatten, mit Öfen, deren Rohre sich nach allen Seiten verzweigten. Nur durch Eingriffe dieser Art konnten die Menschen die vorgefundenen Bauten in das eigene Zuhause verwandeln.
Meine Situation läßt sich anhand der erwähnten leeren Bogen besser erklären. Ich war etwas mehr als drei Jahre Student der Architektur an der Technischen Universität Istanbul. Doch ich habe das Studium nicht abgeschlossen und bin kein Architekt geworden. Heute glaube ich zu wissen, daß der Grund dafür bei den grandiosen modernistischen Ideen zu suchen ist, die mir, vor den leeren Bogen sitzend, einfielen. Mir wurde klar, daß ich keine Architektur schaffen wollte. So bin ich aufgestanden, habe die großen, leeren Bogen für Architekturzeichnungen, die mir Schwindel, Angst und Aufregung verursachten, liegenlassen und mich vor die leeren Blätter des Schreibpapiers hingesetzt, die mir Schwindel, Angst und Aufregung verursachten. Nun sitze ich seit fünfundzwanzig Jahren davor. Als ich innerlich Worte zu formen begann, wirkte die Leere des Papiers, das Gefühl eines ersten Anfangs von allem und die Wunschvorstellung, daß die Welt zu meinem Entwurf ja sagen würde, genauso auf mich wie in den Phasen meiner Architekturvisionen. Doch ich konnte mit denselben Vorstellungen seit fünfundzwanzig Jahren als Schriftsteller arbeiten – und tue es immer noch.
Dann sollten wir eine Frage stellen, eine Frage, die mir – in den Anfängen besonders oft – seit fünfundzwanzig Jahren gestellt wird: Warum bin ich nicht Architekt geworden? Die Antwort: Weil ich vor dem Papier, das meine Visionen reflektieren sollte, gesessen und geglaubt habe, es sei leer. Doch nach einem Schriftstellerdasein von fünfundzwanzig Jahren habe ich endlich begriffen, daß die Bogen niemals leer gewesen sind. Wenn ich am Schreibtisch sitze, weiß ich sehr gut, daß ich mit der Tradition, mit Menschen, die sich weder den Vorschriften noch der Geschichte beugen, mit dem Zufall und der Unordnung, dem Dunkel, dem Schrecken und dem Schmutz, mit der Vergangenheit und den Gespenstern, mit den Dingen, die der Staat und die offizielle Sprache vergessen möchten, mit der Furcht und mit den von der Furcht gespeisten Illusionen zusammensitze.