Jonas Nesselhauf / Markus Schleich (Hrsg.)

Gegenwart in Serie

Abgründige Milieus im aktuellen Qualitätsfernsehen

Relationen – Essays zur Gegenwart 2

hrsg. von David Jünger, Jessica Nitsche und Sebastian Voigt

Jonas Nesselhauf / Markus Schleich
(Hrsg.)

Gegenwart in Serie

Abgründige Milieus im aktuellen Qualitätsfernsehen

Neofelis Verlag

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Umschlaggestaltung: Marija Skara

Druck: Pressel Digitaler Produktionsdruck, Remshalden

Gedruckt auf FSC-zertifiziertem Papier.

ISBN (Print): 978-3-95808-020-1

ISBN (Epub): 978-3-95808-053-9

Inhalt

Jonas Nesselhauf / Markus Schleich

Vorwort: Race, Milieu, Moment, Sérialité.
Serielles Erzählen als Spiegel der Gesellschaft

Solange Landau

„I’m feeling hungry today“
Die Machthungrigen in House of Cards und Borgen

Jonas Nesselhauf

„It hits Home“
Die Zurückgekehrten von Homeland bis Grey’s Anatomy

Markus Schleich

„No Place like Home“
Die Weggesperrten in Oz, Orange is the New Black und About: Kate

Julien Bobineau

„Family. Redefined“
Die Brotverdiener in Shameless, Breaking Bad und Hustle

Johannes Franzen

„Conscience is a Killer“
Die Falschspieler in The Shield und KDD

Stephanie Blum

„Down in the Hole“
Die Zurückgelassenen in The Wire, Im Angesicht des Verbrechens und Misfits

Sönke Hahn

„Sex. Lies. Storyboards“
Die Geschichtenerzähler in Mad Men, The Hour und The Newsroom

Vorwort

Nachdem das Fernsehen in den 1950er Jahren den Alltag erobert hatte und ihn in den folgenden Jahrzehnten zunehmend bestimmte, wuchtige TV-Apparate, sogenannte ‚Röhrenfriedhöfe‘, die Wohnzimmer verschönerten und TV-Produktionen zur Massenware wurden, schien das Fernsehen als visionärer Ort, als künstlerische Spielwiese oder gar revolutionäres Medium zunächst für immer verloren zu sein. Um die Jahrtausendwende war jedoch ein erstaunliches Comeback zu verzeichnen: Das Comeback des sogenannten Qualitätsfernsehens. Eine neue Generation von TV-Serien eroberte die Herzen der Zuschauer_innen und ließ damit auch eine neue Ära des Fernsehens anbrechen. Ausgangspunkt war ausgerechnet jenes Land, das für die Trivialisierung des Fernsehens, ja für die Trivialisierung der Kultur zur Massenkultur überhaupt in regelmäßiger Selbstverständlichkeit verantwortlich gemacht wird: Die Vereinigten Staaten von Amerika.

TV-Serien als Genre sind nicht per se etwas Besonderes, sondern die Themen, die nun verhandelt wurden. Ein neues Sub-Genre wurde geschaffen. In Serien wie The West Wing (1999–2006), The Wire (2002–2008) oder Breaking Bad (2008–2013) wurden scheinbar abgründige Milieus zu den Hauptschauplätzen. Keine Held_innen und Antiheld_innen sowie deren charakterliche Entwicklungen hielten die Geschichten zusammen, sondern die beinahe schon chirurgisch anmutende Sezierung des gesellschaftlichen Alltags von Städten, Szenen und Milieus. Waren die Buddenbrooks der Gesellschaftsroman des deutschen Bürgertums an der Wende zum 20. Jahrhundert, wurden The Sopranos, The Wire und viele folgende Serien zum US-amerikanischen Pendant im 21. Jahrhundert erklärt. Beispielhaft heißt es in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung explizit, dass The Wire ein „Balzac für unsere Zeit“ sei.1 Beiden gelinge eine realistische, panoramaartige Darstellung der jeweiligen zeitgenössischen Verhältnisse.

Noch in den 1990er Jahren galt Fernsehen in intellektuellen Kreisen als anrüchig. TV-Konsum wurde generell mit dem sinnfälligen, gleichwohl beliebten Begriff der ‚Verblödung‘ tituliert. Somit wurde dem Fernsehen nur noch als Arthouse-Kino-Zweitverwertung oder als Arte-Dokumentation eine intellektuelle Daseinsberechtigung zugebilligt. Heutzutage haben eher diejenigen ein Problem, die nicht mitreden können, wenn über McNulty, Kima oder Avon Barksdale (The Wire), über Walter White, Jesse Pinkman oder Saul Goodman (Breaking Bad ) gesprochen wird: sei es in der Mittagspause, beim Konferenz-Networking oder beim Feierabendbier.

Aber worüber sprechen die Serien eigentlich? Was zeigt die serielle Darstellung der Gegenwart, ihr Blick in abgründige Milieus? Markus Schleich, Jonas Nesselhauf, Stephanie Blum, Julien Bobineau, Johannes Franzen, Sönke Hahn und Solange Landau gehen diesen und weiteren Fragen auf den Grund, indem sie über jene Themen nachdenken, die in den Serien verhandelt werden: über Macht und Gier, über Familienkon­stellationen, über Gefängnis und Kriegstraumata etc. Sie untersuchen die gesellschaftspolitischen Dimensionen der Serien und fragen nicht vornehmlich nach Dramaturgie und Figurenkonstellationen, sondern nach dem Potential gesellschaftskritischen Denkens, das jene Serien implizit eröffnen können bzw. explizit eröffnen wollen.

Damit fügt sich der Band in das Konzept ein, das der Reihe Relationen. Essays zur Gegenwart zugrunde liegt. In der Reihe erscheinen Essays, die sich mit ganz unterschiedlichen Themen aus dem politischen, künstlerischen und kulturellen Spektrum beschäftigen sowie politische Auseinandersetzungen und Praktiken der Gegenwart in den Blick nehmen. Das verbindende Element der Reihe ist bei aller thematischen Breite immer der politische Gegenwartsbezug. Ende 2014 ist mit Miriam N. Reinhards Essay Von der Schwelle. Diana. Ihr eigener Tod in der Ordnung der Anderen ihr erster Band erschienen. Mit der vorliegenden Sammlung kurzer Essays, die von Markus Schleich und Jonas Nesselhauf zusammengestellt wurde, geht die Reihe nun in die zweite Runde. Die beiden Folgebände werden sich mit der Gegenwart des Judentums in der Diaspora (Micha Brumlik) und mit dem aktuell viel und kontrovers diskutierten Thema der Sterbebegleitung und Sterbehilfe (Daniel S. Ribeiro) beschäftigen.

David Jünger, Jessica Nitsche und Sebastian Voigt

Berlin / Paderborn / München, Mai 2015

Anmerkungen


1 Richard Kämmerlings: The Wire. Ein Balzac für unsere Zeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.05.2010. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/the-wire-ein-balzac-fuer-unsere-zeit-1581949.html (Zugriff am 29.04.2015).

Race, Milieu, Moment, Sérialité

Serielles Erzählen als Spiegel der Gesellschaft

Jonas Nesselhauf / Markus Schleich

Der Serienforscher Jonathan Mittell stellt in seinem Aufsatz „Narrative Complexity in Contemporary American Television“ die These auf, dass das Fernsehen der letzten 20 Jahre als eine Ära in Erinnerung bleiben wird, in der narrative Spielfreude und Innovation das volle Potential des Mediums Fernsehen erst zum Vorschein brachten.1 Diese These scheint nachvollziehbar, angesichts einer wahren Flut moderner Serien, die dem sogenannten ‚Quality-TV‘ zuzuordnen sind – Produktionen, die sich entweder der zeitgenössischen Gesellschaft in ihrer Gänze annehmen, diese kaleidoskopartig durchleuchten und minutiös analysieren, oder die den Blick auf ein vergangenes Jahrzehnt richten, durch eine solche temporäre Verlagerung aber wiederum eine ‚entzeitlichte‘ Aussagekraft haben.

Ist es nun also ausgerechnet das Medium Fernsehen, das den Finger in gesellschaftliche Wunden legt? Sind die generationenprägenden Geschichten à la Jack Kerouac, J. D. Salinger oder Chuck Palahniuk nun auf der Mattscheibe zu finden?

Die Angst, Fernsehserien würden der Literatur ‚den Rang ablaufen‘, ihr die Position intellektueller Gesellschaftskritik streitig machen,2 ist sicherlich ebenso übertrieben wie die gegenläufige Position, TV-Produktionen wären lediglich seichte Unterhaltung und eine ohnehin kurzfristige Modeerscheinung.3 Vielmehr hat sich das Fernsehen inzwischen zur „narrativen Spielwiese des 21. Jahrhunderts“4 entwickelt und erreicht in einer durchstrukturierten Zeit dank seinem rituellen und seriell gegliederten Format eine deutlich größere Zielgruppe als etwa der Buchmarkt. 30, 60 oder 90 Minuten pro Folge erinnern da sehr an die von Edgar Allan Poe proklamierte Länge einer Short Story – die eben in a single sitting zu rezipieren sein müsse.

Dass dies aber keineswegs pauschal eine schlechte Entwicklung ist, zeigt sich bei einem Blick auf das Themenspektrum hochwertiger Serien, die gemeinhin dem ominösen ‚Quality-TV‘ zugerechnet werden. Was dieses besondere ‚Qualitätsfernsehen‘ genau sei, ist in der Forschung noch sehr schwammig formuliert und ohnehin wissenschaftlich seriös nur sehr schwer zu messen und bewerten.5 Auffallend aber ist dennoch, wie sich aktuelle TV-Produktionen unangenehmen Problemen der Zeit (von der Drogenkriminalität über soziale Konflikte bis hin zu Korruption oder Naturkatastrophen) und dem gesamten gesellschaftlichen Spektrum (vom Serienmörder zum Mafia-Boss, vom Politiker zum Lehrer, von der Prostituierten zum Webetexter) annehmen. Interessant ist aber auch, dass diese Geschichten oft innovativ und experimentell erzählt werden.

Das wichtigste formale Instrument der Serie ist dabei die Zeit. Einerseits ein Spiel, die Episode punktgenau zu füllen und den Rezipienten möglichst mit einem Cliffhanger am Ende zurückzulassen, ihn durch geschickte Andeutungen, Recaps oder das paratextuelle ‚Previously On…‘-Segment aber auch immer wieder an vergangene Ereignisse im seriellen Universum zu erinnern. Die Zeit ist genauso – narratologisch betrachtet – eine Ressource, die es dem Fernsehen überhaupt ermöglicht, die komplexen Fragen der Gegenwart mit ebenso komplexen Antworten zu bedienen – The Wire etwa kommt in fünf Staffeln auf mehr als 60 Stunden Laufzeit.

Nur diese epische Spanne ermöglicht es im Umkehrschluss erst wieder, sich einem so breiten gesellschaftlichen Panorama überhaupt zu widmen, wie dies exemplarisch auch in Boardwalk Empire oder Mad Men, The Sopranos oder Treme passiert. Und nicht zufällig wird das Quality-TV dadurch wieder in die Nähe der Literatur gerückt, die in den ‚großen Romanen‘ des literarischen Realismus und durch Honoré de Balzac, Leo Tolstoi, Charles Dickens oder Theodor Fontane (und heute vielleicht Jonathan Franzen oder Karl Ove Knausgård) regelmäßig den Puls der aktuellen Gesellschaft kritisch, pointiert und vor allem überblickend gemessen hat – und dies durchaus auch mit dem idealistischen Ziel, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, um sie schlussendlich zu verändern. David Simon, der Schöpfer von The Wire, bekannte sich in einem Interview mit dem Vice Magazine ganz klar zu dem Anspruch, das Publikum zum Nachdenken anregen zu wollen:

I’ll tell you what, this would be enough for me: The next time the drug czar or Ashcroft or any of these guys stands up and declares, „With a little fine-tuning, with a few more prison cells, and a few more lawyers, a few more cops, a little better armament, and another omnibus crime bill that adds 15 more death-penalty statutes, we can win the war on drugs“ – if a slightly larger percentage of the American population looks at him and goes, „You are so full of shit“ … that would be gratifying.6

Sicherlich lässt sich nicht jeder Serie der vergangenen Jahre eine solches Potential nachweisen, was dann doch wieder zu einem erlauchten Kanon ausgewählter Produktionen – und man mag es auch gerne weiter ‚Quality-TV‘ nennen – führt, aber schließlich gilt das auch für die Literatur.

Festzustellen bleibt, dass sich die (vorwiegend amerikanische) Fernsehlandschaft stark verändert hat: Entstanden ist eine regelrechte Kultur-Industrie7 der großen Sender, welche durch die beiden gerade ausgeführten (und sich gewissermaßen auch bedingenden) Pole von narrativer Innovation und sozialgeschichtlicher Obduktion, ergänzt um den mit der Serialität einhergehenden epischen Umfang, nicht nur finanzielle Gewinne verzeichnen können, sondern vor allem Prestige erlangen. „It’s not TV – it’s HBO“, so der Slogan des vielleicht führenden Programms. Und längst zieht das kulturelle Kapital der Sender regelmäßig Schauspieler und Regisseure aus Hollywood an, die neue Herausforderungen nun gerade nicht im Blockbuster, sondern auf der Mattscheibe suchen – exemplarisch zu sehen an der gefeierten Serie House of Cards, die vor der Kamera Kevin Spacey und Robin Wright und dahinter prämierte Regisseure wie David Fincher, James Foley, Jodie Foster oder Joel Schumacher vereinen kann.

Und so lassen sich die großen Kabelsender wie Showtime (etwa Dexter, Californication oder Homeland ), AMC (mit Breaking Bad, Mad Men oder The Walking Dead ), FX (u. a. The Shield, Damages und The Americans) und eben HBO (etwa The Wire, Oz, The Sopranos, Six Feet Under, Game of Thrones, True Blood oder True Detective) ihre Produktionen auch etwas kosten: Die HBO-Serie Boardwalk Empire verschlingt pro Folge (jeweils 60 Minuten) im Schnitt gut fünf Millionen US-Dollar, wobei der von Martin Scorsese persönlich gedrehte Pilot sogar mehr als das Dreifache kostete. Wirft man einen Blick auf die Einschaltquoten – diese vier hauptsächlichen Programme sind jeweils Abo-Sender – mag dies überraschen, da jeder Tatort bei einem deutlich kleineren Fernsehmarkt ein Vielfaches an Zuschauern anlockt. Doch geht es hier durchaus auch um das Prestige, den Namen des Senders, der auf den weltweit (sehr viel erfolgreicher) vertriebenen DVD-Hüllen erscheint, vor allem aber einmal im Jahr dann bei der Verleihung des amerikanischen Fernsehpreises genannt wird. Der Stellenwert dieser Auszeichnung zeigte sich in den vergangenen Jahren am (erneut weltweiten) medialen Echo, so dass der Oscar, scheinbar, dem Emmy nur noch die Lage im Kalenderjahr voraus hat.

Und noch eine Entwicklung zeichnet sich ab: Fernsehserien verlieren zunehmend ihre Anbindung an das Fernsehen. Online-Videotheken ermöglichen die Rezeption unabhängig von Gerät und Uhrzeit und – das zeigte sich bei der Preisentwicklung nach der Einführung von Netflix in Deutschland im Herbst 2014 – kosten inzwischen deutlich weniger als Abo-Sender und bieten gleichzeitig eine größtmögliche Flexibilität. Die Serie startet nicht mehr um 20:15 Uhr, sondern auf Knopfdruck. Doch: Seit Video-on-Demand-Anbieter wie Netflix (u. a. House of Cards und Orange is the New Black) und Amazon (mit Betas und Alpha House) selbst eigene Produktio­nen herstellen, verliert die Serie auch ihre Serialität. Denn meist werden hier alle Episoden einer Staffel gleichzeitig online gestellt – die ZuschauerInnen stellen sich ihren (rituellen) Serienrhythmus nun selbst zusammen.

Noch liegt das Zentrum der televisionären Serialität in den USA, was den strukturellen Bedingungen des Fernsehmarktes dort, vor allem aber auch dem stark amerikanistischen Rezeptionsschwerpunkt geschuldet ist. Doch auch in Europa gibt es TV-Produktionen, die sich ähnlich intensiv mit gesellschaftlichen Problemen der aktuellen Zeit beschäftigen und diese durch innovative Formen der Narration nachzeichnen. So ist es ein Anliegen dieses Sammelbandes, jedem der thematischen Bereiche mindestens auch ein europäisches Format zuzuweisen, schließlich ähneln sich die gesellschaftlichen Probleme und sozialen Missstände, von denen die Serien erzählen, nicht erst seit der Globalisierung auf beiden Seiten des Atlantiks.

Insgesamt sieben essayistische Aufsätze wenden sich aus der Sicht der Fernsehserie – jeweils strukturiert überschrieben durch die Tagline einer der besprochenen Serien – exemplarisch den Themen und Konflikten unserer Zeit zu.

Solange Landau eröffnet das Buch mit ihrer vergleichenden Analyse der Repräsentation von VertreterInnen des politischen Machtapparats. Die US-Serie House of Cards (die selbst mit einer BBC-Trilogie wiederum einen britischen Vorläufer hat) und die dänischen Produktion Borgen fokussieren das Phänomen der Macht wie auch die Rolle der Frau. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie Macht jene Figuren verändert, die als VolksvertreterInnen berufen wurden, der Gesellschaft zu dienen. Denn Macht, so scheint es, besitzt ein Eigenleben, das sich nur schwer kontrollieren lässt und man so wird das Publikum oftmals mit dem Unbehagen konfrontiert, kaum noch einschätzen zu können, wer hier eigentlich wem dient.

Die Sozialfigur des (Kriegs-)Heimkehrers steht im Zentrum der Untersuchung von Jonas Nesselhauf; dabei zeigt sich exemplarisch an den Veteranen Jimmy Darmody (Boardwalk Empire) und Nicholas Brody (Homeland ), dass für den nach Hause zurückkehrenden Soldaten der Kampf noch lange nicht vorbei ist und er auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen ist. Die Brisanz und Aktualität des Themas zeigt sich aber auch an dessen Verarbeitung in Kriminalserien (etwa Tatort oder Luther ) oder als medizinisch-psychologischer Fall (beispielsweise in Sherlock, Grey’s Anatomy oder The Night Shift ). So sind Heimkehrer oftmals nicht mehr die, die einst in den Krieg zogen, und wirken nicht selten wie Fremdkörper innerhalb eines Systems, das große Probleme damit hat, sie wieder aufzunehmen.

Im Gegensatz zum Heimkehrer sind andere Figuren (und Personengruppen) von der Gesellschaft ausgeschlossen und werden weggesperrt bzw. lassen sich wegsperren, entweder im Gefängnis oder der Psychiatrie. Markus Schleich zeigt anhand der Serien Oz, About: Kate und Orange is the New Black auf, wie der (jeweils gesellschaftlich normierte) Ausschluss seriell dargestellt wird und welche sozialen Probleme und Konflikte (etwa die Selbsteinweisung oder die Überbelegung von Haftanstalten) damit thematisiert werden. Dabei steht die Überlegung im Vordergrund, wer eigentlich Schutz benötigt: Die Gesellschaft vor Individuen oder doch eher das Individuum vor der Gesellschaft. Kann Freiheitsentzug als Strafe wirksam sein, wenn es auch außerhalb geschlossener Systeme gar keine wirkliche Freiheit gibt, die entzogen werden kann.

Julien Bobineau führt in seinem Beitrag TV-Produktionen zusammen, die sich angesichts der Weltwirtschaftskrise von 2008 und deren nachhaltigen Folgen mit dem ‚Brotverdienen‘ beschäftigen. Zwar mag die Familie in Zeiten der Krise und Unsicherheit als ein Ort der Geborgenheit fungieren, jedoch wird es auch deutlich schwieriger, die Familie zu ernähren – ein regelrechter ‚Amerikanischer Albtraum‘, der in Breaking Bad und Shameless, aber auch der britischen Produktion Hustle konstruiert wird. Denn was ist von Figuren zu erwarten, die mit traditionellen und normierten Familienkonzepten konfrontiert werden, aber denen aus verschiedenen Gründen die Möglichkeit fehlt, die an sie herangetragene Erwartungshaltung zu erfüllen? Welche Aussagen lassen sich über eine Gesellschaft treffen, die Kriminalität an sich verdammt, aber deren kapitalistische Grundausrichtung Kriminalität doch oftmals zu befördern scheint.

Johannes Franzen schließt daran mit einer Studie über GesetzeshüterInnen an, die in Kriminalserien idealer Weise für Recht und Ordnungen sorgen. Dieses Format beruht zumeist auf dem ambivalenten Konflikt zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘, und das durchaus auch in Produktionen wie The Shield oder dem deutschen Kriminaldauerdienst (KDD) – auf den ersten Blick klassischen Kriminalserien. Aber, wie dieser Beitrag aufzeigt, verschwimmen diese Kategorien im zeitgenössischen Fernsehen, auch zugunsten einer größeren Authentizität. Aus den einst so unantastbaren Lichtgestalten werden zunehmend komplexe und dunkle Figuren, die sich immer mehr als Anti-Helden betrachten lassen, die kaum noch dazu fähig scheinen, die Sicherheit der Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Spannend ist dabei auch die Frage, warum das Publikum dennoch bereit ist, diesen Figuren weiterhin Sympathie entgegen zu bringen.

Stephanie Blum wendet sich den ‚Zurückgelassenen‘ zu, vom Sozialrealismus in The Wire zu daran angelehnten Produktionen wie Im Angesicht des Verbrechens oder Misfits. Dabei sagt exemplarisch gerade das unbequeme Thema der ‚sozialen Außenseiter‘ (seit dem literarischen Realismus) viel über die Gesellschaft an sich und ihr moralisches Wertesystem aus. Denn diese Figuren sind Indikatoren für die Fragilität eines als stabil wahrgenommenen Sozialgefüges und ihre bloße Existenz ist eine Warnung dafür, wie schnell Individuen den Halt verlieren können oder wie leicht eine Gesellschaft auseinanderbrechen kann.

Wenn TV-Serien über die Medienlandschaft und das Erzählen von Geschichten in Funk und Fernsehen nachdenken, dann lässt sich von Metafiktionalität sprechen. Sönke Hahn untersucht abschließend am Beispiel von Mad Men, The Hour und Newsroom, wie mit Authentizität gespielt und Reflexivität erzeugt wird. Denn Medienmacher präsentieren keine objektive Weltwirklichkeit – auch wenn sie das teils gerne täten –, sondern gestalten die Welt und formen die Wahrnehmung ihres Publikums. Dabei lassen die besprochenen Serien nie außer Acht, dass die Repräsentation unserer Lebenswelt in den Medien oftmals durch marktwirtschaftliche Interessen gelenkt wird und es auch hier am Ende doch wieder um die Einschaltquote geht.

Anmerkungen


1 Vgl. Jonathan Mittell: Narrative Complexity in Contemporary American Television. In: The Velvet Light Trap 58 (2006), S. 29–40.

2 Richard Kämmerlings: The Wire. Ein Balzac für unsere Zeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.05.2010. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/the-wire-ein-balzac-fuer-unsere-zeit-1581949.html (Zugriff am 17.04.2015).

3 Alvin B. Kernan: The Death of Literature. New Haven / Connecticut: Yale UP 1992, S. 150.

4 Vgl. Jonas Nesselhauf / Markus Schleich: „Watching Too Much Television“ – 21 Überlegungen zum Quality-TV im 21. Jahrhundert. In: Dies. (Hrsg.): Quality-TV. Die narrative Spielwiese des 21. Jahrhunderts?! Münster / Berlin: Lit 2014, S. 9–24.

5 Robert J. Thompson stellte in seiner Untersuchung Television’s Second Golden Age (1996) zwar einen Merkmalkatalog auf, wohl aber anhand von Produktionen wie Hill Street Blues oder St. Elsewhere – drei Jahre vor den Sopranos und sogar sechs Jahre vor The Wire.

6 Jesse Pearson: David Simon: An Interview. http://www.vice.com/read/david-simon-280-v16n12 (Zugriff am 24.09.2014).

7 Unserem Verständnis nach durchaus nicht mehr so negativ besetzt wie bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer.