Martin Meißner
Blitzard
ISBN 978-3-86394-208-3 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1989 bei Der Kinderbuchverlag Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Foto Hille
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Alte Dorfstraße 2 b
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Es war ein düsterer Tag. Als Volker Laleike, ein zehnjähriger Junge, vom Abendbus nach Hause ging, leerten sich die Straßen in Tützbatz schneller als sonst. Wie vor einem drohenden Gewitter verschwanden die Leute schnell in ihren Häusern. An verschiedenen Stellen im Dorf wurden in rascher Folge die Rollläden heruntergelassen. Es war, als riefen die Häuser mit rasselnden Stimmen einander zu. Wie eine verirrte Herde, die bemüht war, sich vor der Nacht zusammenzuhalten.
Als der Junge an der Wiese vorüberging, die die letzten Gehöfte vom Dorf trennte, erblickte er etwas, das er bisher wohl übersehen hatte. Stand dort schon immer solch ein krummer Koppelpfahl? Aber dann raschelte es im trockenen Gras. Der schwarze Pfosten überquerte den Weg und bewegte sich auf Glupes Haus zu, wo er im Schatten der Bäume unsichtbar wurde. Fensterklappen wurden krachend vorgelegt. Das Hoftor bewegte sich ächzend und fiel dröhnend zu. Vom Taterberg her schlug das Echo wie heiseres Bellen eines Hundes zurück. Volker sah sich nach dem bewaldeten Hügel um, an dessen Fuß sich Schierhorns alte Feldscheune dunkel gegen den fahlen Himmel abhob.
Der Junge beeilte sich.
Als er die Haustür öffnete, vernahm er, wie etwas fegend die Dachrinne berührte und sich mit einem hohlen Rauschen entfernte.
„Was ist denn?“, fragte seine Mutter, als er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, den Schlüssel herumdrehte und einen Moment lauschend stehen blieb.
„Draußen ist einer gegangen“, sagte Volker. „Schwarz und krumm.“
Die Mutter nahm ihm die Schultasche ab und drückte ihn kurz. „Glupe!“, sagte sie. „Wer weiß, was der wieder draußen sucht.“
Laleikes lebten seit gut zwei Jahren im Dorf. In der ersten Zeit verließ Volkers Mutter morgens, wenn sie zur Arbeit ging, rennend das Haus. Sie klemmte sich die Tasche unter den Arm und spurtete um den Zaun. Erst wenn sich Glupes Ganter ihr zischend und flügelschlagend in den Weg stellte, erinnerte sie sich, wo sie lebte; dass es in Tützbatz keine Straßenbahn gab, die sie in der Stadt oftmals nur im allerletzten Moment erwischt hatte.
Die Frauen des Dorfes beobachteten neugierig ihre Wege. Wenn sie mit trippelnden Schritten den Pfützen auswich und beim Herannahen eines Hundes die Straßenseite wechselte, sagten die Leute: „Die Laleike wird nie eine vom Dorf. Computer ja, auf kleinen Tasten herumdrücken, davon versteht sie was. Aber eine Bäuerin wird so eine nie, selbst wenn sie hundert Meter gegen den Wind nach Schweinen riechen würde.“
Volkers Mutter verspürte allerdings gar kein Verlangen, nach Schweinen zu riechen. Sie hatte die neue Rechenstation der Genossenschaft übernommen, einen Arbeitsplatz, der sich nur wenig von ihrem vorherigen in der Stadt unterschied.
Herr Laleike fuhr einen LKW in der Pflanzenproduktion. Er hatte mehr Lust, ein Bauer zu werden. So richtete er sich nebenbei eine kleine Landwirtschaft ein und genoss es, wenn ihn die städtische Verwandtschaft etwas abfällig einen richtigen Bauern nannte.
„Aber meine frischen Erdbeeren mit Schlagsahne findet ihr nicht übel, oder?“, fragte er.
In dieser Nacht schlief Volker nicht gut. Er wälzte sich ruhelos herum, wachte immer wieder auf. Mehrmals schaltete er das Licht an, um das Bettlaken glatt zu ziehen, das sich unter seinem Rücken zu einer dicken Kordel zusammengedreht hatte. Er hörte das Klopfen der Pappelzweige, das Schnauben der Schafe in Glupes Stall, ein leises Fächeln aus dem Taubenschlag, den heiseren Ruf einer Kuh. Auch das Fegen an der Dachrinne glaubte er erneut zu vernehmen, und er horchte zum Taterberg, ob von dort noch dieses Bellen zu vernehmen war.
Wenn es nur erst hell würde, dachte er.
Genauso unruhig wie Volker schlief seine Oma. Omi Klipp. Ihr Bett stand achtzig Kilometer entfernt im siebenten Stock eines Hochhauses. Sie lebte in der großen Stadt Magdeburg.
Mitten in der Nacht war die Frau erwacht. Irgendetwas Ungewohntes hatte sie geweckt. Um zu erkunden, was es gewesen sein könnte, setzte sie sich auf, hob aber das Bettzeug mit beiden Händen bis zum Kinn. Sie horchte. Von draußen vernahm sie das Rollen und Quietschen einer Straßenbahn und das leise Wispern des Windes, der um die Ecke des Hochhauses strich.
Da war es wieder! Ein Kratzen, Schaben und hohles Klopfen. Aber noch unheimlicher war, irgendwo in der Wohnung sprach jemand. Er redete mit einer dunklen rollenden Stimme.
Einen Moment meinte die Frau, die Familie ihrer Tochter wäre noch nebenan. Aber gleich besann sie sich, dass sie am Abend, nach einem kurzen Besuch, mit dem Auto wieder abgefahren war.
Es wurde still. Omi Klipp spürte, wie es ihr kalt den Rücken hinaufstieg. Sie wartete auf das Geräusch. Sie fürchtete sich davor, aber als es verstummt war, hoffte sie, dass es sich noch einmal hören ließ. Diese Ungewissheit war das schlimmste.
Als die Stimme erneut erklang, versuchte die Frau, einzelne Worte zu unterscheiden. Aber sie verstand nichts. Der nächtliche Besucher redete in einer nie gehörten Sprache, die vor allem aus dem Selbstlaut U zu bestehen schien.
„Ist da jemand?“, rief Omi Klipp aus dem Bett. Ihre Stimme hallte unnatürlich laut durch den Raum. Keine Antwort! Kurze Stille. Aber bald fuhr der ungebetene Gast in seinem emsigen Tun fort. Er schabte und werkte herum und plauderte dabei, als wäre nicht er, sondern Omi Klipp in ihrer Wohnung zu Besuch.
Die Frau hielt es im Bett nicht mehr aus. Sie setzte die Füße auf den Boden, tastete nach den Pantoffeln und schlüpfte hinein. Die Bettdecke behielt sie in den Händen und trug sie als mannshohen weißen Schild vor sich her. Immer wieder blieb sie stehen, um zu horchen. Langsam erreichte sie den Korridor, die Tür zum Bad, hinter der die bedrohlichen Geräusche ihren Ursprung hatten. Sie drückte den Lichtschalter und stieß die Tür auf.
Im Luftzug rasselte Papier. Es kam von der Waschmaschine, an der mit Magneten ein Blatt befestigt war. Das flatterte.
Omi Klipp nahm es und las, was mit dickem Farbstift darauf geschrieben stand:
Liebe Omi!
Die Taube in dem Karton neben der Waschmaschine wird mal eine berühmte Sporttaube. Ich weiß das. Ich habe sie „Blitzard“ genannt. Lasse Blitzard bitte am Mittag, zwölf Uhr, fliegen. Genau um zwölf.
Liebe Omi! Ich habe es Dir nicht persönlich gesagt, weil Du keine Tiere in Deiner Wohnung haben willst. Du brauchst die Taube nicht anzufassen. Schneide nur den Bindfaden durch und hebe den Deckel hoch.
Dein Enkelsohn Volker
Erleichtert ließ Omi Klipp die schützende Bettdecke sinken. „Dieser Bengel!“, sagte sie und lächelte. „Tiere im Hochhaus! Landwirtschaft im siebenten Stock!“
Hinter der Waschmaschine raschelte und gurrte es. Die Frau sah den Karton, mit Löchern versehen für Luft und ein bisschen Licht. Ein transportabler Taubenstall.
Als Omi Klipp wieder eingeschlafen war, plagten sie bedrohliche Träume: Tauben flogen in der Wohnung umher. Eine ganze Schar machte sich breit. Die Tiere flatterten überall, rissen alles herunter, stießen die Gläser und Porzellanfiguren in der Schrankwand um und hakten sich mit den Krallen in den Gardinen fest. Dabei ließen sie ihre dunklen gurrenden Stimmen vernehmen.
Die Frau war froh, als der Morgen kam, besonders aber der Mittag. Endlich konnte sie den Karton zum Fenster tragen. Sie schnitt die Schnur durch, hob den Deckel. Sie sah das Tier, das wohl nicht gleich begriff. Es drehte den Schnabel in ihre Richtung und schaute sie mit erstaunten Augen an.
„Huch!“, entfuhr es Omi Klipp in diesem Moment. Unverhofft war die Taube gestartet. Ein Rasseln und Kratzen, der Karton stürzte auf den Boden. Der Vogel schwang sich in die Luft. Hoch hinauf über die Dächer. Er wurde kleiner und kleiner und war bald nicht mehr zu sehen.
„Nach Tützbatz schönen Gruß!“, rief die Oma noch. Aber sie konnte nicht recht daran glauben, dass das Tier den weiten Weg über Wälder, Felder und Flüsse und Dörfer fand.
Mit der Taubenzucht hatte Volkers Vater begonnen.
Sporttauben waren die ersten Tiere, mit denen Rudolf Laleike seine kleine Landwirtschaft begann. Auf dem Hausboden schlug er mit Brettern ein Ställchen ab, stemmte ein Flugloch ins Mauerwerk und richtete alles nach Vorschrift ein. Nachdem er einige Zuchtpaare erworben hatte, meldete er sich im Taubenverein an, und seine Tiere nahmen bald an den Wettkämpfen teil. Doch es fehlten ihm die Erfahrung und das Glück.
Die Tützbatzer Zuchtfreunde lästerten, wenn Laleike nach seinen Schützlingen Ausschau hielt, während ihre Tauben längst in den heimatlichen Schlag zurückgekehrt waren.
„Was guckst du nach oben, Rudi?“, fragten sie. „Schau doch die Chaussee entlang. Deine kommen nicht durch die Luft. Die watscheln zu Fuß heran.“
Sie sagten, der Mann aus der Stadt verwechselte wohl Sporttauben mit Enten. Er pflegte sie so gut, dass sie zum Fliegen zu schwer wurden. Sicher mussten sie unterwegs öfter mal zwischenlanden, um auszuruhen.
Bald trennte sich Herr Laleike von den Tauben wieder. Er wandte sich mehr dem Garten zu. Auch hier gedieh nicht alles nach Wunsch. Aber seine Erdbeerplantage konnte sich sehen lassen. Später schaffte er ein Pony an.
Durch Zufall aber lebte die Taubenzucht bei Laleikes wieder auf.
Im tiefsten Winter begann es. Etwas Unheimliches hockte an einem sehr kalten Morgen draußen auf dem Kreuz des Küchenfensters. Die Scheiben waren zugefroren. Nur an der Stelle, wo sich etwas Dunkles gegen das Glas drückt, war die Sicht frei.
Ein Täuber hatte sich am Fenster einquartiert, wohl vom Licht und der Wärme angezogen. Niemand konnte sich erklären, warum er die Unbequemlichkeit auf sich nahm, sich auf dem schmalen Holz festzuklammern.
Tagelang ging das so. Während der Täuber am Tage nicht zu sehen war, kehrte er in der Dämmerung zurück.
Er landete auf dem Dach, flog im Bogen herab und richtete sich auf dem ungemütlichen Platz für die Nacht ein. Von der Küche aus war er dann zu sehen. Als kleine unförmige Gestalt, an nichts erinnernd; auch an einen Vogel nicht, weil das Gefieder an der Scheibe platt gedrückt und der Schnabel tief darin eingegraben war.
Laleikes gewöhnten sich schnell an diesen seltsamen Untermieter. Bevor Volker ins Bett ging, sprach er noch mit ihm. Gern hätte er etwas über seine Herkunft erfahren. Aber das Tier gab nichts preis. Es vergrub den Kopf in dem aufgeplusterten Federkleid. Außer einem leisen heimchenhaften Wispern der Fittiche an der Scheibe ließ es sich nichts entlocken.
Volker befürchtete bald, sein neuer Freund könnte eines Tages einen bequemeren Platz ausfindig machen und nicht wieder zurückkehren. So machte er dem Vater den Vorschlag, den Täuber einzufangen und den Schlag wieder herzurichten. Der Vater schwankte noch. Die Mutter gab den letzten Anstoß. „Schöne Tierfreunde!“, sagte sie. „Zählt eine Taube nur, wenn sie euch einen Siegerkranz beschert? Gelten Anhänglichkeit und Freundschaft denn nicht?“
Mit diesem Tag wurde Laleikes Taubenzucht wieder eröffnet. Volker kaufte ein Weibchen dazu und später weitere Paare. Er hing sehr an seinen Tauben. Aber den zugeflogenen Täuber liebte er am meisten. Er nannte in „Blitzard“. Weil er im kalten Winter erschienen war und durch die Luft brauste wie dieser eisige amerikanische Sturm. Dem Klang gehorchend, wandelte er den Blizzard in „Blitzard“ um.
Mittags schien die Sonne. Die Aprilluft war kühl und klar. Volker saß auf der obersten Sprosse der Leiter, die zum Taubenschlag hinaufführte, und ließ seinen Blick schweifen.
Von diesem Platz konnte er weit sehen. Nach Osten und Norden hin die Felder, in denen wie schwarze steilküstige Inseln Kiefernhölzungen aufragten. Von Süden her bedrängten Wiesen das Dorf, gelblich noch, Lagunen, durch den schmalen Strand der Gärten von den Gebäuden getrennt. Nach Westen erhob sich der Taterberg; daneben Schierhorns Feldscheune, die sich wie ein Junges in der Nähe der größeren Erhebungen hielt.
Volker war voller Ungeduld. Und er meinte, allen Tützbatzern ginge es ebenso. Lauter als sonst kamen ihm die Stimmen in den Straßen vor; die der Kinder, die aus der Schule kamen, und die der Frauen und Männer, die sich nach der Mittagspause wieder zur Arbeit sammelten. Der Lärm des Dorfes, so glaubte er, hätte nur den einzigen Grund: Blitzards bevorstehende Heimkehr aus der Stadt.
Als Volker zum Taterberg schaute, zeigte sich hoch über den Wipfeln ein winziger dunkler Punkt. Der wuchs schnell an. Blitzard! Der Täuber jagte heran. Über den Dächern legte er die Flügel zurück und glitt herab. Ein Pfeifen durchschnitt die Luft, dann ein Rauschen. Kurz vor dem Schlag entfaltete er die Schwanzfedern zu einem Fächer, breitete die Fittiche aus, rüttelte wie ein Bussard und setzte mit vorgestreckten Läufen auf dem Anflugbrett auf.
Volker öffnete den Schlag. Behutsam bewegte er sich hinein und fing den Täuber. Er hielt ihn auf der Hand und strich über das seidenweiche Gefieder. Dann ließ er den Schnabel, der raubvogelartig nach unten gebogen war, über seine Wange kratzen. Er spürte, wie heftig das Herz des Vogels schlug.
„Blitzard!“, sagte er leise.
Volkers Vater erledigte mit seinem kleinen LKW die unterschiedlichsten Transportarbeiten für die Genossenschaft. Für die „Pflanze“, wie die Leute sagten, um von dem Betrieb der Tierproduktion zu unterscheiden. Er brachte Ersatzteile auf die Felder hinaus, versorgte die Maurerbrigade mit Kalk und Zement, transportierte Pflanzenschutzmittel und fuhr zu Mittag die Essenkübel aus. Zwischendurch blieb ihm mal eine kurze Zeit für eine kleine private Fuhre: Hier einen Wäschekorb zur Heißmangel in die Stadt, dort einen Kühlschrank zur Reparatur, für einen anderen einen Sack Schrot von der Ausgabestelle nach Haus.
Rudolf Laleikes Fahrzeug war beständig auf Achse. In der Mittagszeit konnte man die Uhr nach dem Fahrzeug mit dem grauen Fahrerhaus stellen. Auf die Minute hielt es vor dem Kindergarten, an der Kartoffelsortieranlage, überquerte die Purnitzbrücke, wirbelte den Staub auf dem Feldweg zwischen Tützbatz und Hollig Grund auf, zeigte sich in Baumlücken, verschwand hinter Gebüsch.
Der Fahrer war mit seinem Fahrzeug eng verbunden. Er bezeichnete es als Karpatenesel, womit er seine guten und schlechten Eigenschaften gleichermaßen beschrieb: Die Ausdauer, Kraft und gute Geländegängigkeit des Grautieres genauso wie seinen Starrsinn und die holprige Fortbewegungsart, die einen Reiter schwer durchschüttelte.
„Wenn du ihm nichts tust, tut er dir auch nichts“, sagte Laleike gern.
An diesem Nachmittag holte er Säcke mit Rübensaat aus der Stadt. Als er auf die Dorfstraße einbog, sah er einen Jungen stehen, der ein kleines Fahrrad bei sich hatte. Laleike wusste, dass es Alexander war, der fünfjährige Steppke des Lehrers Börne. Er kannte dessen Vorliebe für alles was fuhr, besonders für die Fahrzeuge der Genossenschaft.
Wenn die Traktoren von den Feldern zurückkamen, stand er an der Straße und wartete. Meistens hatte er dann, wie jetzt, sein Fahrrad bei sich, die Maschine, wie er es nannte. Die Stullentasche vom Kindergarten hing ihm noch um den Hals, da er sie abzulegen vergaß, als er die Maschine aus dem Schuppen holte.
Näherte sich ein Traktor, hob Alexander grüßend den Arm. Und der Fahrer hinter der Scheibe tat es ebenso. Es war ein ganz besonderer Gruß, ein bestimmtes Emporstrecken der Hand, die lässig im Gelenk nach hinten kippte.
„Gerd!“, rief er gegen den Motorenlärm. „Bernhard! Martin! Ralf!“
So ging das, solange die Fahrzeuge den Weg zur Technikstation einbogen. Erst wenn das Blinklicht der letzten Maschine in der Toreinfahrt des Fahrzeugparkes erlosch, setzte sich Alexander auf sein Rad und fuhr nach Haus.
Fehlte aber noch einer, oder es dauerte zu lange, dann packte ihn die Unruhe. Er jagte die Dorfstraße entlang, um nach dem ausgebliebenen Fahrzeug zu suchen.
„Martin Lühmann! Lühmann ist noch nicht da!“, rief er aufgeregt, wenn er einem begegnete oder auch nur gegen den Wind.
Es war wie der bange Ruf der Fischerkinder am Meer, wenn noch ein Boot im Hafen fehlte.
Mal sehen, wie er mich grüßt, dachte Laleike, als er sich auf seinem Karpatenesel näherte.
Der Mann mochte den kleinen Jungen des Lehrers gern: Seine laute begeisterte Stimme, das Herumwirbeln der kurzen Beine auf dem Rad, seine Fähigkeit, scheinbar an mehreren Stellen im Dorf zur gleichen Zeit zu sein, aber auch sein nachdenkliches, ernstes Gesicht.
Als der Karpatenesel heran war, drehte Alexander seinen Kopf und lachte. Es sah lustig aus, wie die etwas abstehenden Ohren von der Mütze noch weiter nach unten gedrückt wurden und so an die ausgebreiteten Flügel eines Käfers erinnerten. Er nickte dem Fahrer zu. Er rief auch irgendwas. Aber vergebens wartete Laleike auf den bestimmten Gruß.
Was musste er tun, um nicht mehr ausgeschlossen zu sein von dem Einverständnis, das die Tützbatzer Fahrer in den großen Maschinen mit dem kleinen Jungen am Straßenrand verband?
Volker war noch zu Haus. Ihn hatte die Heimkehr seines Lieblingstäubers sehr aufgewühlt. Gern hätte er davon erzählt. Er bedauerte es, dass sein Vater und die Mutter den Flug nicht beobachtet hatten. Oder die anderen Tützbatzer, die über Laleikes Taubenzucht lachten. Keiner da, mit dem er sprechen konnte.
Der einzige, der sich in der Nähe befand, war Nachbar Glupe. Er brummelte zwischen den Büschen. Aber Glupe ließ man am besten zufrieden. Der sprach lieber mit sich selbst. Mit seinen Schafen, mit den Hühnern und der Leiter, auf die er stieg. Oder wie jetzt mit seinem Handwagen, den er schimpfend durch den Garten zog, weil die Räder in der Pforte und an den Büschen hängen blieben.
Volker ging nach draußen und schlenderte die verlassene Dorfstraße hinunter. Wenigstens Alexander war noch unterwegs, der wieder auf seinem kleinen Fahrrad herumraste.
Als er in Volkers Nähe kam, bremste er, dass sein Hinterrad eine tiefe Furche in den Sand pflügte. „Vollbremsung!“, rief er.
„Meine Taube ist nach Haus gekommen“, sagte Volker nun, froh, es endlich erzählen zu können.
„Von Afrika?“, fragte Alexander.
Afrika stand ihm für Ferne, für nie gesehene Stadt, unerreichbares Land.
Volker wusste das und nickte unbestimmt.
„Wie die Störche“, stellte Alexander fest.
„Nur schneller“, sagte Volker. „Ich habe Blitzard auf die Reise geschickt. Ich habe auf ihn gewartet. Eben sah ich ihn noch als kleinen Punkt über dem Taterberg, schnell wie ein Blitz war er heran und gurrte schon im Taubenschlag.“
Alexander schaute nach oben und suchte den Himmel ab, als könnte er den Flug der Taube noch verfolgen. Dann bestieg er sein Rad und raste die Dorfstraße hinab.
„Ich bin Blitzard!“, lärmte er. „Ich komme weit her aus Afrika!“
Am späten Nachmittag wartete Volker auf seinen Vater. Der kam aus dem Tor der Technikstation, wo er seinen kleinen LKW abgestellt hatte. Sie gingen die Dorfstraße entlang auf das Verwaltungsgebäude zu, um die Mutter abzuholen.
Volker dachte noch immer an Blitzards Heimkehr. Aber er behielt das Ereignis für sich. Er wusste nicht, wie die Eltern es aufnehmen würden, dass er seinen Täuber heimlich in Omi Klipps Großstadtwohnung einquartiert hatte.
„Was macht der Karpatenesel?“, fragte er unverbindlich.
„Ach der!“, sagte der Vater, halb anerkennend, halb tadelnd.
Vor dem Bürogebäude wartete die Mutter.
„Na, ihr beiden!“
Sie trat zwischen sie und wollte sich bei ihnen einhängen. Aber der Vater machte einen Schritt zur Seite.
„Nicht, du machst deine guten Sachen schmutzig“, sagte er.
Aber das gab er nur vor. In Tützbatz sah man Mann und Frau selten untergehakt. Wenn sie überhaupt gemeinsam die Straße entlanggingen, dann berührten sie sich aber nicht. Sollte Laleike neue Moden einführen?
„Genierst du dich etwa?“, fragte die Mutter lächelnd. „In der Stadt hattest du dich nicht so.“
„Nein, nein“, sagte der Mann. „Meine Jacke, du weißt, der Karpatenesel hat es gern, wenn man unterwegs ein bisschen an ihm repariert!“
Die Mutter ging prüfend um ihn herum.
Der Vater brummte. Den restlichen Weg schritt er ein Stückchen voraus, wie es hier bei den älteren Ehemännern üblich war.
Als Laleikes zum Abendbrot am Tisch saßen, den die dreizehnjährige Susanne bereits gedeckt hatte, sahen sie, wie der Polizist Friederich mit seinem Fahrrad auf der Dorfstraße vorüberfuhr.
„Guckt mal, wie müde Friederich die Pedalen drückt“, sagte die Mutter. „Sicherlich muss er wieder zu Zagrais hinaus.“
Friederich war ein weißhaariger Mann, der sich im Dorf selten sehen ließ und in Uniform fast nie. Er lebte schon über zwanzig Jahre hier. Er war der Abschnittsbevollmächtigte von Tützbatz und Hollig Grund und drei weiteren Gemeinden. Die Leute meinten, sein Leben wäre nicht besonders schwer.
Friederich tat nichts, um gegen diesen Ruf als Müßiggänger anzugehen. Wenn ihm das jemand auf den Kopf zusagte, dann hob er seine Mütze, strich sich über das Haar und setzte die Mütze wieder auf.
„Wenn ich Friederich so sehe“, sagte die Mutter, „dann glaube ich, er ist nicht gern Polizist.“
„Vielleicht, weil so wenig passiert“, meinte der Vater. „Wenn es überall auf der Welt wie in diesen Dörfern wäre, durch die ich auf meinem Karpatenesel reite, dann hätten sie die Polizei längst abgeschafft.“