Reinhard Pelte

Tiefflug

Der vierte Fall für Kommissar Jung

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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E-Book-Neuausgabe: 2015

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Christoph Neubert

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Moritz Pelte

ISBN 978-3-8392-3802-8

Widmung

Für Moritz und Cleo

Sympathy for the devil

Rolling Stones

Prolog

Juni 2008

Mehr als 13 Monate nach dem Verschwinden eines englischen Mädchens wird der Fall zu den Akten gelegt. Die portugiesische Polizei werde die Ermittlungen einstellen, teilte das Büro von Generalstaatsanwalt Fernando Pinto Monteiro in Lissabon mit. Es gebe keine Beweise, um die drei Verdächtigen – die Eltern sowie einen Ortsansässigen – eines Verbrechens zu beschuldigen. Sollte es neue glaubwürdige Indizien geben, könnten die Behörden die Ermittlungen jedoch wieder aufnehmen, erklärte die Staatsanwaltschaft.

Das britische Mädchen wird seit dem 3. Mai 2007 vermisst, und trotz monatelanger Ermittlungen fehlt von ihm jede Spur. Es verschwand wenige Tage vor seinem vierten Geburtstag während eines Urlaubs an der Algarve. Den Ermittlern zufolge hatten die Eltern ihre drei Kinder schlafend in einem Appartement in Praia da Luz zurückgelassen, während sie rund 50 Meter entfernt im Clube Atlantico zu Abend aßen.

Die Eltern haben wie der dritte Verdächtige alle Vorwürfe zurückgewiesen und Entschädigungsklagen gegen mehrere Zeitungen gewonnen. Im September kehrten die Eltern von Portugal nach Großbritannien zurück.

Juli 2008

Internationale Kampagne

Sie initiierten eine internationale Kampagne, um ihre Tochter wiederzufinden. Auch Prominente setzten sich für die Familie ein, darunter die Schriftstellerin J. K. Rowling und der Fußballer David Beckham. Papst Benedikt XVI. segnete die Callahans und ein Foto ihrer Tochter während der wöchentlichen Generalaudienz im Vatikan.

Die große öffentliche Aufmerksamkeit führte zu zahlreichen Hinweisen auf einen möglichen Verbleib des Mädchens. So wollten Augenzeugen sie in Spanien, Belgien und auf Malta gesehen haben. Alle diese Hinweise führten jedoch nicht zu einer konkreten Spur.

Außerdem behinderten Trittbrettfahrer die Arbeit der Polizei. So wurde in den Niederlanden ein Mann festgenommen, der die Eltern der kleinen Engländerin offenbar erpressen wollte. Er bot ihnen angeblich Informationen über den Aufenthaltsort ihrer Tochter und der Kidnapper an. Bereits zuvor war in Spanien ein Paar festgenommen worden, das die Familie erpressen wollte. Bei einer niederländischen Zeitung ging ein anonymer Hinweis auf den Ort ein, an dem angeblich die Leiche des Kindes vergraben worden sei. Die Polizei durchsuchte daraufhin ein Waldgebiet nahe der Algarve, fand jedoch nichts.

Juli 2009

Die Eltern der kleinen Engländerin haben zwei Jahre nach dem Verschwinden ihrer Tochter im US-Fernsehen an den Entführer appelliert: »Es ist nicht zu spät, das Richtige zu tun.«

Im Gespräch mit der Talkshow-Queen Oprah Winfrey forderte der Vater: »Lasst sie frei. Du kannst sie einem Priester oder einem Polizisten übergeben.«

Seine Frau fügte leise hinzu: »Unsere Tochter gehört doch in ihre Familie.«

Dass das Mädchen noch am Leben ist, stellen die Eltern nicht infrage.

»Ich habe nie das Gefühl, dass sie weit weg ist.«

*

Ein verurteilter britischer Pädophiler ist Medienberichten zufolge ein Verdächtiger im Fall der verschwundenen kleinen Engländerin. Der 64-Jährige habe vor zwei Jahren, als das englische Mädchen verschwunden ist, mit seiner Frau und seinen sechs Kindern in Südportugal gelebt, berichteten britische Zeitungen. Der Mann soll derzeit nach Angaben des Daily Mirror in einem deutschen Krankenhaus wegen Krebs behandelt werden. Die Zeitung The Sun berichtet, dass es sich um das Universitätsklinikum in Aachen handeln soll.

Verbindungen zu Deutschland habe er, weil seine Frau eine Deutsche sei. Der Sprecher der Eltern sagte, der Brite sei eine Spur unter mehreren, der die Privatermittler der Callahans nachgehen würden.

Reisefieber

»Svenja, komm schnell! Die Algarve!«

Jung saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und schaute sich die Tagesschau im Ersten an. Er war froh, endlich einen interessanten Beitrag zu sehen. Die Art von Journalismus, die er bis hierhin ertragen hatte, ärgerte ihn. Lächelnde Politikergesichter langweilten ihn. Warum wollte niemand in den Nachrichtenredaktionen einsehen, dass ihre Arbeit – Jung fiel es schwer, dieses Wort überhaupt für das, was sie da ablieferten, in den Mund zu nehmen – nur dazu diente, den ewig grinsenden Gesichtern zu ermöglichen, ihre Sprüche abzusetzen? Hatten sie kein Gefühl dafür, dass sie ihre Zuschauer ebenso verarschten wie die Politiker auch?

Die Fernsehnachrichten hatten Jung in Rage gebracht. Der Beitrag von der Algarve holte ihn zurück auf den Teppich. Seine Frau Svenja stand in der Küche und schnipselte an irgendwelchem Gemüse herum, das sie zu einem Salat verarbeiten wollte. Sie zogen es vor, abends leicht zu essen. Das trug zu einer ungestörten Nachtruhe bei, wie sie aus vielen Jahren gegenteiliger Erfahrung gelernt hatten.

Die Küche war gegen den Wohnbereich nur durch einen Esstresen abgeteilt.

»Ich komme!«, rief sie. »Kann man was von Carvoeiro sehen?«

»Nee, aber irgendein Dorf bei Lagos, Praia da Luz. Es gibt einen Riesenaufstand um ein entführtes Kind. Englische Urlauber.«

*

Morgen würden sie zu einem längeren Urlaub an die Algarve reisen. Jung hatte die Adresse eines deutschen Dauerresidenten in Carvoeiro bekommen. Über ihn war er preiswert an ein Ferienhaus in dessen Nachbarschaft gekommen. Der Deutsch-Portugiese hatte ihm am Telefon vorgeschwärmt, wie schön es gelegen sei, sehr geräumig und gepflegt und mit einem fantastischen Blick auf den Atlantik. Außerdem sei die Jahreszeit die schönste an der Algarve, noch nicht zu heiß, die Natur in voller Farbenpracht und ohne Touristenrummel. Und nicht zu vergessen, es sei im Frühling auch konkurrenzlos günstig.

Jung hatte gern eingewilligt. Er war mehr oder weniger schon vorher entschlossen gewesen. Er hatte Urlaub nötig. Die Arbeit an seinem letzten Fall hatte ihn mitgenommen und schwer belastet. Er hätte gar nicht überredet werden müssen. Eigentlich hätte das seinem Gesprächspartner während des Telefonats auch klar geworden sein müssen. Jung war irritiert, als jener nicht aufhören wollte, das Haus anzupreisen. Er erschien ihm redselig, so, als hätte er ein Glas Wein zu viel getrunken. Jung registrierte das nur beiläufig und hatte es schnell wieder vergessen. Es gab eben auch Menschen, die anders tickten als er selbst. Er bedauerte das.

*

Svenja kam aus der Küche und setzte sich neben ihn. Sie wischte sich die Hände an der Kochschürze ab.

»Nun lass mal sehen. Sieht hübsch aus. Ach nee, der blöde Polizist versperrt die Sicht.«

»Du beleidigst meinen Berufsstand, meine Liebe, ist dir das klar?«, unterbrach sie Jung künstlich entrüstet.

»Ist doch wahr! Sieh mal, jetzt kommen die Eltern dazu. Mein Gott, ziemlich daneben.«

»Wieso daneben?«

»Würdest du dich vor diese Aasgeier stellen, wenn gerade dein Kind entführt worden ist? Ich nicht.«

Jung schwieg. Svenja konnte warmherzig sein, und Jung war immer wieder überrascht, wie mühelos sie sich in die Gefühle anderer hineinzuversetzen schien – auch in deren verdrängte Varianten.

In diesem Fall vermochte er ihr nicht gleich zu folgen. Hatten die Eltern nicht gute Gründe, die Angst um ihre Tochter öffentlich zu machen und um Hilfe zu bitten? Auf der anderen Seite konnte – von der Gefühlslage der Eltern einmal abgesehen – der Gang an die Öffentlichkeit bei dem Versuch, das Kind unversehrt zurückzubekommen, äußerst hinderlich sein. Das wusste er aus eigener Erfahrung. Er war Leiter des Dezernats für unaufgeklärte Kapitalverbrechen bei der Polizei-Inspektion Nord in Flensburg. Wahrscheinlich war Svenjas Intuition richtig. Sie hatte schon oft recht behalten.

»Schade, vorbei. War nur ein kurzer Eindruck, aber schön dort. Ich freue mich auf Portugal. Wenn noch etwas zu sehen ist, rufst du mich?«

Sie erhob sich und verschwand wieder hinter den Tresen in die Küche.

»Ich versuch’s noch mal später auf dem Zweiten, beim Heute-Journal!«, rief Jung ihr hinterher.

Seine Verblüffung war groß, als der Sprecher einen Brennpunkt im Anschluss an die Tagesschau ankündigte. Die Sondersendung war ins Programm genommen worden, um über die Kindesentführung an der Algarve ausführlicher zu berichten. Das war ungewöhnlich. Für einen öffentlich-rechtlichen Kanal ziemlich einmalig. Das Thema war sehr privat. Gut, die Entführung eines kleinen Mädchens weckte das Mitgefühl des Publikums und konnte sich des besonderen Interesses der breiten Öffentlichkeit sicher sein. Insofern war eine Meldung in den Nachrichten nachvollziehbar. Aber es zum Mittelpunkt einer Sondersendung zu machen, dafür mussten außergewöhnliche Umstände vorliegen. Er rief seine Frau:

»Svenja, mach Pause. Es geht weiter.«

»Was? Womit denn?«

»Die Entführung. Sie machen eine Sondersendung. Vielleicht gibt es noch was Interessantes zu sehen.«

»Was passiert denn da eigentlich? Das ist doch völlig verrückt.« Sie kam hinter dem Küchentresen hervor, nahm die Schürze ab und setzte sich wieder zu ihm aufs Sofa.

»Wie kommen die dazu, ein solches Aufheben zu machen? Was sind das für Eltern? Wie müssen die denn drauf sein, dass sie das zulassen?«

»Ich glaube eher, dass sie die Antreiber sind. Sieh doch mal die Frau. Die legt da einen Profi-Auftritt hin, als machte sie das jeden Tag.«

»Was ist die von Beruf?«

»Das ist noch nicht gesagt worden.«

»Und ihr Mann? Sieht etwas blass und weggetreten aus. Die Frau hat die Hosen an.«

»Dein Scharfblick in allen Ehren. Aber du könntest dich täuschen. Sie haben Angst um ihre Tochter, sind erschrocken. Vielleicht steht der Mann unter Schock?«

»Gerade deswegen. Da kommen ihre wahren Macken erst richtig zum Vorschein. Das ist ’ne Zicke mit großer Klappe, glaub mir.«

Jung war geneigt, seiner Frau zuzustimmen. Welche Qualitäten mussten vorliegen, um die Medien auf diese Weise für sich einzuspannen? Der Mann machte nicht den Eindruck, als sei er ein überzeugter Verfechter der eigenen Sache. Die Frau stand unerschrocken vor einem Wald von Mikrofonen. Die Bühne war zugestellt von Medienleuten. Die Szene wirkte hektisch und aufgeregt, wie auf dem Empfang eines Mitgliedes der Royal Family im Ausland.

Sie hörten gespannt dem Bericht zu und vergaßen für den Augenblick das Interesse an ihrem Urlaubsziel. Das verschwundene Mädchen war drei Jahre alt und abends von ihrer Mutter zu Bett gebracht worden. Die Eltern gingen anschließend in ein nahe gelegenes Restaurant zum Dinner. Als sie später in ihre Ferienwohnung zurückkamen und nach dem Kind sehen wollten, lag es nicht mehr in seinem Bett. Die Wohnung sah genauso aus, wie sie sie verlassen hatten. Die Eltern dachten an nichts Schlimmes, als sie die Terrassentür offen fanden. Sie vermuteten ihre Tochter irgendwo draußen, in der Ferienanlage. Sie schilderten sie als lebhaftes und eigenwilliges Kind. Zu diesem Zeitpunkt sahen sie keine Notwendigkeit, fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Deshalb machten sie sich allein auf die Suche nach ihr. Ihre Suche blieb erfolglos. Je länger sie dauerte, desto unruhiger wurden sie. Nach Mitternacht schalteten sie schließlich die örtliche Polizei ein.

Die Polizei stellte einen Suchtrupp zusammen und durchkämmte das Gelände. Es war inzwischen hell geworden. Auch die Bemühungen der Polizei blieben erfolglos.

Bald begannen die Eltern, die Polizisten zu drängen, Maßnahmen einzuleiten, die bei einer Kindesentführung zu ergreifen sind. Die Polizei hielt entsprechende Schritte zurück, weil sie keine Hinweise auf eine Entführung gefunden hatte. Ein Entführer hatte sich auch nicht gemeldet.

Daraufhin informierten die Eltern die Presse. Sie baten die Journalisten zu einer improvisierten Pressekonferenz. Die Medienvertreter waren ihrer Einladung gern und zahlreich gefolgt. Vor laufenden Kameras bezichtigte die Mutter die Polizei, unqualifiziert und untätig zu sein.

Jung empfand das Auftreten des Paares, besonders das Auftreten der Frau, überheblich und unklug. Anstatt sich zu bemühen, die Polizeiarbeit zu unterstützen, kritisierte sie die Portugiesen hochnäsig und immer arroganter, je länger sie vor den Medien stand.

»Was macht die wohl beruflich?«, fragte Svenja noch einmal.

»Das kriegen wir sicher gleich zu hören. Was glaubst du, wenn du sie so reden hörst?«

»Ich finde, sie verhält sich abartig, jedenfalls nicht wie eine besorgte Mutter. Sie ist irgendetwas Intellektuelles, vermute ich mal. Könnte selbst eine von diesen Medienmonstern sein.«

In Jungs Lachen war der Sarkasmus nicht zu überhören.

»Hör mal, jetzt kommt’s!«, rief er und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Sie sind beide Ärzte. Das macht sie nicht sympathischer.«

»Nee, weiß Gott nicht. Auch noch Knete in der Tasche.«

»Die Ferienanlage sieht allerdings lange nicht so teuer aus wie unser Haus in Carvoeiro.«

»Schon wahr, unser Haus ist viel schöner. Zum Glück. Gut möglich, dass die nicht deine Kontakte haben. Wo liegt Praia da Luz eigentlich? Hoffentlich weit weg von Carvoeiro.«

»Es liegt weit genug weg. Der Rummel wird uns nicht belästigen. Ich habe genug gesehen«, seufzte Jung.

»Ich auch. Mach aus, es reicht. Hoffentlich bricht nicht der Kriminalist in dir durch, wenn wir da unten sind.«

»Wir sagen nichts, zu wem auch immer. Versprochen?«

»Versprochen.« Svenja drückte ihrem Mann einen Kuss auf die Wange und stand auf. »Der Salat ist fertig. Kommst du?«

Der Entschluss

Er hatte gut geschlafen. Erstaunlich gut, dachte er, als ihn die Erinnerung an den Leichnam in seinem Gästezimmer überfiel.

Dennoch, er fühlte sich erfrischt. Seine Lebensgeister waren nach dem Aufstehen sehr lebendig. Schon lange hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt. Der Zustand versetzte ihn in seine besten Zeiten, in denen ihm unentwegt schnelle und richtige Entscheidungen abverlangt worden waren. Er war den Anforderungen immer gerecht geworden, wie er meinte. Darauf war er heute noch stolz.

Umso mehr schmerzte ihn die Erinnerung an den gestrigen Abend. Er hatte sich von diesem blassgesichtigen Brillenträger überrumpeln lassen. Der Typ wird sich noch sein Leben lang an mich erinnern, schwor er sich, aber ganz sicher nicht so, wie sich dieses Kerlchen das gedacht hat. Dafür werde ich sorgen.

Er verließ rasiert und geduscht das Badezimmer und ging die geschwungene Diele entlang in die Küche. Er bereitete sich ein Müsli zu und setzte Kaffee auf. Aus dem Küchenfenster blickte er über den Pool und den mit sattgrünem Elefantengras bewachsenen Hang hinunter auf den Atlantik. Das in der Morgensonne glitzernde Meer erfüllte ihn mit Kraft und Mut. Ein blauer, wolkenloser Himmel wölbte sich über die Zitrushaine und Mandelgärten zur Rechten. Er atmete tief ein. Er hatte es verdammt gut hier, dachte er, und daran sollte sich auch nichts ändern, so wahr er Tiny the Top Gun war.

Während er sein Müsli löffelte, schaltete er den Fernseher auf dem Küchentresen ein. Morgens sah er gern die neuesten Nachrichten auf RTP1 oder RTPN. Der Sender aus Porto war auf Nachrichten spezialisiert. Heute waren beide Kanäle randvoll mit aufgeregten Berichten über eine Kindesentführung an der Algarve. Seine Neugierde wurde geweckt, als Praia da Luz erwähnt wurde. Vor den Kameras und Mikrofonen sah er die Eltern ein Interview geben. Der Löffel blieb ihm auf halbem Weg zum Mund stehen. Er legte ihn zurück und beugte sich gespannt vor. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Er griff zu seinem Becher, trank einen Schluck Kaffee und verbrannte sich fast die Zunge. Ärgerlich setzte er den Pott zurück.

Er hatte Mühe, sich einzugestehen, dass die beiden auf dem Bildschirm dieselben waren, mit denen er gestern Abend im Clube Carvoeiro aneinandergeraten war. Er hatte sie kennengelernt – und wie er sie kennengelernt hatte. Erst nach ein paar weiteren Schlucken Kaffee fing er an zu begreifen, welche Show die beiden da abzogen. Oder etwa nicht?

Er hastete ins Gästezimmer und schlug die Decke über dem Leichnam zurück. Es gab keinen Zweifel. Sie war tot und lag in seinem Haus.

Er schlug die Decke ganz zurück. Das Mädchen war in eine Art Jogginganzug gekleidet, ohne Schuhe und Strümpfe. Er drehte sie auf den Bauch. Sie war unversehrt: Keine Wunden, kein Blut, keine Gewalt. Man hätte meinen können, sie schliefe. Nur ihre unnatürliche Blässe, die Starre und ihre leblosen Augen erinnerten ihn daran, dass etwas mit ihr nicht stimmen konnte. Sie musste erstickt, vielleicht vergiftet oder an inneren Verletzungen gestorben sein.

Er war kein Arzt. Er konnte keine Rückschlüsse auf die Todesursache ziehen. Er schloss die Lider über ihren Augen, deckte sie wieder zu und ging zurück in die Küche.

Die Mutter gab noch immer Interviews. Er schaute genauer hin. Von den Tränen und den Schreien der vergangenen Nacht war auf ihrem Gesicht nichts mehr zu entdecken. Sie hätte auch die Pressesprecherin von Daimler-Benz sein können. Ihre hochnäsige Unberührtheit und sogar ihr Outfit passten zu dieser Rolle.

Wartet nur, ihr beide, dachte er grimmig. Er steckte sich eine Camel Light ins Gesicht, seine erste heute Morgen, und entzündete sie. Er sog den Rauch tief in die Lungen und wälzte das Zippo, mit dem er den Glimmstängel entzündet hatte, spielerisch in der Hand hin und her. Er merkte, wie ihn der Gedanke zu berauschen begann, der angeblichen Entführung ein sensationelles Ende zu bereiten.

Maria würde am Vormittag kommen, den Einkauf mitbringen und sich um das Haus kümmern. Spätestens dann musste die Kleine aus dem Haus sein. Seine Idee von gestern Abend war immer noch gut, aber nicht mehr so einfach durchzuführen. Er überlegte nicht lange. Als er wenig später das Bündel aus dem Gästezimmer über die Auffahrt zu seinem Auto trug, pfiff er leise vor sich hin. Er legte seine Fracht in den Kofferraum. Selbst seine allernächsten Nachbarn konnten sein Pfeifen nicht hören. Sie waren nicht da.

*

Die Fahrt verlief ereignislos. Die Saison war noch nicht eröffnet und der Verkehr hielt sich in Grenzen. Ab Lagos fiel ihm das erhöhte Aufkommen an Polizeifahrzeugen auf. Er erreichte Praia da Luz, ohne aufgehalten zu werden. Die Präsenz der Medien machte sich im Umkreis des Clube Atlantico unangenehm bemerkbar. Wild geparkte Autos, zugestellte Auffahrten, aufgeregt umhereilende Frauen und Männer mit Mikrofonen, Kameras und Laptops und dazwischen eine Unzahl uniformierter Polizisten, alles zusammen erweckte den Eindruck eines Ausnahmezustandes. Aggressive Wachsamkeit und nervöse Aktivität lagen in der Luft.

Er lächelte süffisant, als er daran dachte, was sie suchten und wo sie es finden könnten. Seine innere Anspannung wuchs. Er zwang sich zu cooler Gelassenheit, er konnte das, er war schließlich Tiny the Top Gun. Mit höchster Aufmerksamkeit suchte er sich seinen Weg zum Parkareal des Clube. Er hatte Glück. Die öffentliche Zudringlichkeit hatte sich auf das Empfangsgebäude der Ferien-Siedlung konzentriert. Auf dem Parkplatz war es ruhig und er fand einen Stellplatz weit weg von allem hektischen Betrieb.

Er rief sich das Kennzeichen ins Gedächtnis, das er den Papieren entnommen hatte und nach dem er suchte. Er hätte nie daran gezweifelt, das Auto auf dem Parkplatz zu finden. Und er zweifelte auch jetzt nicht daran, nachdem er den Massenauftrieb der Polizei gesehen hatte.

Seine Intuition ließ ihn nicht im Stich. Er entdeckte das Fahrzeug ein paar Reihen weiter zwischen zwei Kleinwagen. Es war ein Peugeot. Er erinnerte sich dunkel und wunderte sich, wie er überhaupt seine langen Beine hatte darin unterbringen können. Er schaute sich um. Er war allein, nur die Geräusche der lauten Gesellschaft wehten gedämpft von weit her über den Platz. Er schlenderte ein paar Mal auf und ab und sah unauffällig in das Fahrzeug. Es war genauso leer, wie er es im Gedächtnis behalten hatte. Er versuchte, die Türen zu öffnen. Vergeblich. Er drückte die Entriegelung der Heckklappe. Sie gab nach. Er triumphierte. Nach einem kurzen Rundumblick zog er die Klappe weiter auf und sah in den Kofferraum. Zwei Holzkisten füllten den ohnehin kleinen Stauraum vollständig aus. Sie machten ihn unbrauchbar für das, was er vorhatte. Das Brandzeichen irgendeines Châteaus zierte die Kisten. Er grinste breit. Dann packte er eine der Kisten, klemmte sie sich unter den Arm und schloss die Heckklappe.

Fast bedauerte er, dass ihm auf dem Weg zu seinem Auto niemand begegnete, den er hätte freundlich grüßen und fragen können, welchen Grund es für die laute Hektik da drüben eigentlich gäbe. Er öffnete die Tür zu seinem Auto und legte die Kiste auf den Rücksitz. Unbehelligt schaffte er die zweite Kiste heran. Dann machte er eine Pause und sah sich um. Auf seinem Gesicht spiegelte sich tiefe Genugtuung.

Nun blieb nur noch eines zu tun. Er öffnete den Kofferraum seines Autos und überprüfte noch einmal witternd seine Umgebung. Auf dem Zugang von der Anlage zum Parkplatz näherte sich ein Pulk Männer. Er ließ die Klappe fallen wie ein Stück heißes Blech. Einige der Männer trugen Zivil, der Rest Polizeiuniformen. Sie gestikulierten und diskutierten aufgeregt. Sie sahen sich auf dem Parkplatz suchend um. Er glaubte, besser daran zu tun, aus ihrem Gesichtsfeld zu verschwinden, und setzte sich zurück hinter das Steuer. Er breitete seine Windjacke über die Kisten auf der Rückbank.

Von seinem Platz konnte er nicht verfolgen, was die Männer taten. Er hörte sie, verstand aber nicht, worum sich ihre Konversation drehte. Schließlich vernahm er eine irritierende Mischung aus Ausrufen der Verwunderung, Wut und Erleichterung.

Wenig später sah er die Männer zur Ferienhaus-Siedlung zurückeilen. Er öffnete die Wagentür, setzte einen Fuß auf den Asphalt und äugte vorsichtig über das Wagendach. Zwei Polizisten standen rechts und links neben dem Peugeot und spähten, die Hände über die Augen gelegt, durch die Scheiben. Er ließ sich in den Sitz zurückfallen und schloss die Wagentür.

Er wartete. Er verspürte keinen Grund, sich unnütze Gedanken machen zu müssen. Er wartete geduldig, bis einer der Männer zurückkam. Wenig später fuhr der Peugeot vom Parkplatz und verschwand aus seinem Gesichtskreis. Die beiden Polizisten entfernten sich in Richtung Empfangsgebäude.

Er atmete erleichtert aus. Das war noch einmal gut gegangen. Oder war es danebengegangen? Es hätte auch klappen können, knapp, aber um so wünschenswerter. Ihn überfiel eine leise Wut.

Er verharrte nicht lange, startete den Motor und fuhr zurück auf die N 125. Die Straße führte ihn über Lagos und Portimao nach Lagoa, wo er, aus dem Kreisel kommend, nach Carvoeiro abbog. In der engen Bucht des Fischerdorfes setzte er sich in ein Café oberhalb des schmalen Strandes. Die bunten Fischerboote auf dem glatten Sand kamen ihm vor wie gestrandete Träume von einer fernen, fröhlichen Welt.

»Desculpe, minha menina bonita. Uma bica de Maceira, faça favor!«, bestellte er bei der hübschen Bedienung.

»Nao faz mal, Senhor, a seu servico.«

Sie kannte ihn entfernt von einsamen Wintervormittagen. Als sie die dickwandige kleine Tasse und das bauchige Glas vor ihn auf den Tisch gestellt hatte, bedankte er sich artig.

»Obrigadinha.«

»De nada, senhor.« Sie lächelte ihn an und zog sich zurück. Der stark gebrannte Kaffee tat ihm gut und der Weinbrand wärmte seinen Magen.

Er musste sich etwas einfallen lassen. Maria war noch im Haus. Morgen würden nebenan die deutschen Urlauber einziehen. Je länger er die Kleine bei sich behielt, desto schwieriger würde es werden. Dennoch, die Eltern des toten Mädchens hatten Schwachpunkte. Sie machten sich auf eine Art angreifbar, die ihm ein stilles Grinsen aufs Gesicht zauberte. Die Minuten verrannen. Er genoss den Kaffee. Der Alkohol beruhigte ihn. Dann fasste er einen Entschluss.

»A conta, faca favor.«

Als er die Rechnung bezahlte, lächelte er die hübsche Bedienung an. Sein Lächeln brachte sie aus dem Konzept. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. War das Lächeln nun jungenhaft oder fies?

»Até logo«, verabschiedete sie sich schüchtern.

»Boa tarde, minha menina.«

Tiny erhob sich aus seinem Stuhl und verließ das Café.