Über François Lelord und Christophe André

François Lelord, geb. 1953. Studium der Medizin und Psychologie. Arbeitet seit seiner Promotion als Psychologe. Autor zahlreicher Bücher und wissenschaftlicher Veröffentlichungen, u.a. mit Christophe André »Die Kunst der Selbstachtung« (Gustav Kiepenheuer Verlag, 2000).

Christophe André, geboren 1956, studierte Medizin und Psychologie und arbeitete nach seiner Promotion als Psychologe. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu psychologischen Themen.

Ralf Pannowitsch, geboren 1965 in Greifswald, studierte Germanistik und Romanistik. Er lebt in Leipzig als Lehrer, Gärtner und Übersetzer aus dem Englischen und Französischen. Beinahe alle Bücher der Autoren Chrstophe André und François Lelord wurden von ihm ins Deutsche übertragen.

Informationen zum Buch

Sind Sie glücklich mit Ihren Mitmenschen?

»Wenn man dieses Buch gelesen hat – ich schwöre es Ihnen – ist man glücklich«, schwärmte Elke Heidenreich über François Lelords »Hectors Reise«. Wenn man »Der ganz normale Wahnsinn« gelesen hat, ist man auch glücklich mit seinen Mitmenschen, so nervtötend sie auch sein mögen. Wie man sich am besten mit schwierigen Menschen arrangiert und trotzdem die Fassung bewahrt, erklärt dieses überaus eloquente und amüsante Buch.

»Ein unterhaltsames Plädoyer, im Umgang mit schwierigen Menschen nicht gleich das Handtuch zu werfen.« Der Tagesspiegel

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François Lelord/Christophe André

Der ganz normale Wahnsinn

Vom Umgang mit schwierigen Menschen

Aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch

Inhaltsübersicht

Über François Lelord und Christophe André

Informationen zum Buch

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Einführung

Kapitel I. Die ängstlichen Persönlichkeiten

Kapitel II. Die paranoiden Persönlichkeiten

Kapitel III. Die histrionischen Persönlichkeiten

Kapitel IV. Die zwanghaften Persönlichkeiten

Kapitel V. Die narzißtischen Persönlichkeiten

Kapitel VI. Die schizoiden Persönlichkeiten

Kapitel VII. Die Verhaltensweisen vom Typus A

Kapitel VIII. Die depressiven Persönlichkeiten

Kapitel IX. Die dependenten Persönlichkeiten

Kapitel X. Die passiv-aggressiven Persönlichkeiten

Kapitel XI. Die selbstunsicheren Persönlichkeiten

Kapitel XII. Und all die anderen?

Kapitel XIII. Ursachen für die Entstehung einer schwierigen Persönlichkeit

Kapitel XIV. Schwierige Persönlichkeiten und Veränderung

Quellenverzeichnis

Kommentierte Bibliographie

Impressum

Einführung

Über die Definition des Begriffs »Persönlichkeit« sind ganze Bücher geschrieben worden. Wir können aber resümieren, daß es sich um ein Synonym für das handelt, was wir in der Umgangssprache »Charakter« nennen.

Wenn wir über den Charakter eines Menschen sprechen, indem wir zum Beispiel sagen: »Michael hat einen sehr pessimistischen Charakter«, meinen wir damit, daß Michael in unterschiedlichen Situationen und in verschiedenen Lebensabschnitten dazu neigte, alles in schwarzen Farben zu sehen und immer das Schlimmste zu befürchten.

Wir wollen damit ausdrücken, daß es eine für Michael typische Art und Weise gibt, Ereignisse wahrzunehmen und auf sie zu reagieren, nämlich pessimistisch. Diese Art und Weise ist für ihn in allen möglichen Situationen und quer durch die Jahre kennzeichnend.

Michael selbst nimmt seinen Pessimismus wahrscheinlich gar nicht als konstanten Zug seines Charakters wahr. Im Gegenteil, er wird denken, daß er in Anbetracht der Umstände jedesmal verschieden handelt. Aber er ist nicht der einzige, der sich für variabler hält, als er in Wahrheit ist: wir erkennen die Charakterzüge anderer Leute nämlich viel besser als unsere eigenen.

Jedem von uns ist es schon passiert, daß er einem langjährigen Freund von einer Situation berichtete, der er sich stellen mußte. Wir haben zum Beispiel von einem Arbeitskollegen, der Schlechtes über uns verbreitet hatte, eine Erklärung verlangt. Auf unsere Erzählung hat der Freund vielleicht entgegnet: »Das wundert mich gar nicht, daß du so reagiert hast!«

Wir sind über diese Antwort erstaunt und vielleicht sogar verärgert. Warum sollte er mit unserer Reaktion gerechnet haben? Im Grunde hätten wir uns sehr wohl anders verhalten können!

Nun, wahrscheinlich täuschen wir uns. Unser Freund, der uns seit langem kennt, hat sich eine bestimmte Vorstellung über die Art, wie wir in gewissen Konfliktsituationen reagieren, gebildet. In seinen Augen ist das ein Zug unseres Charakters oder, wenn man will, unserer Persönlichkeit.

Die Persönlichkeitsmerkmale sind also dadurch gekennzeichnet, wie man seine Umwelt und sich selbst gewöhnlich wahrnimmt, wie man sich normalerweise verhält und reagiert. Sie können oft mit Adjektiven benannt werden: autoritär, gesellig, uneigennützig, mißtrauisch, gewissenhaft …

Um zum Beispiel jemandem den Charakterzug »gesellig« zuzuschreiben, müßte man nachprüfen, ob er unter ganz verschiedenen Lebensumständen (bei der Arbeit, während der Freizeit, auf Reisen) die Gesellschaft anderer Leute liebt und bewußt sucht, es sich demnach um ein für ihn übliches Verhalten in unterschiedlichen Situationen handelt. Wir werden diese Eigenschaft noch eher als ein Merkmal seiner Persönlichkeit anerkennen, wenn wir erfahren, daß er nicht erst seit kurzem gesellig ist, sondern daß er schon als Jugendlicher viele Freunde hatte und Gruppenaktivitäten liebte.

Wenn wir hingegen in unserer Firma eine kürzlich eingestellte Person beobachten, die neue Bekanntschaften zu knüpfen versucht, genügt dies nicht, um ihr das Persönlichkeitsmerkmal »gesellig« zuzusprechen. Diese Person gibt sich vielleicht bloß gesellig, weil sie das für notwendig hält, um auf ihrer neuen Arbeitsstelle akzeptiert zu werden. Es ist nicht erwiesen, daß sie auch unter anderen Umständen gesellig war, daß es typisch für sie ist. Wir erleben sie lediglich in einem geselligen »Zustand« und wissen nicht, ob es sich um einen Zug ihrer Persönlichkeit handelt.

Der Unterschied zwischen Persönlichkeitszug und Zustand zählt zu den wichtigsten Untersuchungsgegenständen von Psychologen und Psychiatern, wenn sie eine Persönlichkeit zu definieren suchen. Aber auch wenn zwei Leute über die Persönlichkeit eines Bekannten sprechen, diskutieren sie, ohne es zu wissen, häufig den Unterschied zwischen Zug (konstantes Merkmal) und Zustand (vorübergehende, aus den Umständen erwachsene Verfassung):

»Michael ist der totale Pessimist« (Charakterzug).

»Ach wo, überhaupt nicht, das kommt bloß, weil er noch von seiner Scheidung mitgenommen ist« (vorübergehender Zustand).

»Nein, nein, ich habe ihn schon immer so gekannt« (Charakterzug).

»Gar nicht! Als Student war er ein Spaßvogel!« (Zustand)

Dieses Beispiel wirft eine Frage auf: sollte sich Michaels Persönlichkeit nicht im Laufe der Zeit gewandelt haben? Als junger Mann war er tatsächlich ein Spaßvogel (Persönlichkeitszug), heute ist er definitiv pessimistisch (Persönlichkeitszug). Wie wir sehen werden, können sich bestimmte Persönlichkeitszüge mit der Zeit verändern.

»Nun schön«, werden Sie sagen, »ich kann nachvollziehen, daß es ein Ding gibt, das man Persönlichkeit oder Charakter nennt, und daß es bei jedem im Laufe des Lebens ungefähr gleichbleibt. Aber wie kann man es für jedes Individuum definieren? Jeder hat so viele Facetten! Und wie kann man unterscheiden zwischen dem, was sich mit der Zeit wandelt, und dem, was sich an einer Persönlichkeit nicht ändert?« Freilich keine leichte Aufgabe; im übrigen aber befaßt sich der Mensch schon seit dem Altertum damit.

Wie kann man die Persönlichkeiten klassifizieren?

Als einer der ersten hat es Hippokrates unternommen, seine Mitmenschen zu klassifizieren. Seinerzeit meinte man, daß der Charakter eines Menschen vor allem von der Art der Körperflüssigkeit, die in seinem Organismus überwog, abhängig wäre. Nachdem sie beobachtet hatten, was bei Verwundungen und beim Erbrechen ans Tageslicht kam, unterschieden die alten Griechen Blut, Lymphe, schwarze und gelbe Galle. Hippokrates gelangte zu folgender Einteilung:

vorherrschender Körpersaft Persönlichkeitstyp Kennzeichen
Blut sanguinisch lebhaft, emotiv
Lymphe phlegmatisch langsam, kalt
gelbe Galle cholerisch zornig, bitter
schwarze Galle melancholisch düster, pessimistisch

Diese Einteilung ist aus mehreren Gründen interessant. Sie zeigt, daß der Wunsch, die Mitmenschen zu klassifizieren, sehr alt ist (4. Jahrhundert v.Chr.); sie hat in der Alltagssprache ihre Spuren hinterlassen, denn man kann noch heute hören, daß jemand als cholerisch bezeichnet wird oder daß jemand zuviel schwarze Galle habe. Schließlich handelt es sich um einen bemerkenswerten Versuch, ein biologisches Merkmal einem Persönlichkeitszug zuzuordnen. (Wir werden sehen, daß Hippokrates damit in dieselbe Richtung geht wie die neuesten Forschungen zur Persönlichkeit.)

Trotz alledem spüren wir, daß seine Einteilung irgendwie unvollkommen ist: wenn wir auch Personen begegnen könnten, die den »reinen« sanguinischen oder melancholischen Typus verkörpern, so passen doch die meisten Leute in keine der vier Schubladen. Es gibt also mehr Persönlichkeitstypen als die vier von Hippokrates beschriebenen.

Im Laufe der Geschichte haben andere Wissenschaftler versucht, das Schema von Hippokrates zu verbessern, indem sie die Anzahl der Kategorien erhöhten oder der Persönlichkeit physische Merkmale zuordneten. Im Jahre 1925 hat zum Beispiel der deutsche Neuropsychiater Ernst Kretschmer1 einen eher großen und schlanken Körperbau mit einer kühlen und verschlossenen Persönlichkeit in Beziehung gebracht, während die Kleinen und Rundlichen emotiv, instabil und gesellig sein sollten. Er fügte noch zwei andere Kategorien hinzu, den Athleten und den Dysplastiker, und gelangte so zu vier großen Persönlichkeitstypen:

Die vier großen Persönlichkeitstypen nach Kretschmer (1925)

Typus Gestalt Persönlichkeit Im Film verkörpert von:
pyknisch klein und dick mitteilsam, fröhlich, spontan, realistisch Gérard Jugnot, Danny de Vito
leptosom groß und schlank reserviert, kühl, träumerisch Jean Rochefort, Clint Eastwood
athletisch breitschultrig und muskulös impulsiv, jähzornig Lino Ventura, Harvey Keitel
dysplastisch schlecht entwickelt, mit Anomalien behaftet Erschöpft, fühlt sich minderwertig hatte im Kino keinen Erfolg

Auch hier könnte man einwenden, daß es im wirklichen Leben mehr als vier Persönlichkeitstypen gibt, sogar mehr als acht oder sechzehn, wenn man die Mischformen mitrechnet. Kretschmer hat solche Bemerkungen nicht in den Wind geschlagen; er räumte ein, daß es zwischen den einzelnen Typen Übergänge mit unendlich vielen Zwischenstufen gebe.

Darüber hinaus haben statistische Untersuchungen an einer großen Zahl von Individuen gezeigt, daß die Beziehungen zwischen dem physischen Typ und der Persönlichkeit viel komplizierter sind, als Kretschmer angenommen hatte.

Die Klassifizierungen von Hippokrates und Kretschmer stellen Persönlichkeitskategorien auf; es handelt sich um kategoriale Einteilungen. Ihr Vorteil ist offensichtlich: sie liefern recht anschauliche Beschreibungen von menschlichen Typen, die man leicht wiedererkennen kann, wenn man ihnen in der Wirklichkeit begegnet. Man merkt aber auch, wo die Nachteile liegen: die menschliche Gattung kennt mehr Varianten als die Handvoll Kategorien einer Klassifizierung. Jede solche Einteilung versucht, oft kontinuierlich abgestufte Objekte oder Phänomene in diskontinuierliche Klassen zu trennen.

Andere Wissenschaftler haben sich daher zum Ziel gesetzt, die Persönlichkeiten nicht mehr nach Kategorien, sondern nach Dimensionen zu unterscheiden.

Dimensionale Annäherungen an die Persönlichkeit

Wenn man etwa Autos klassifizieren wollte, könnte man sie nach Marken und Modellen ordnen. Dies ist eine kategoriale Einteilung, bei welcher ich alle Modelle eines Herstellers in derselben Gruppe wiederfinde. Ich kann sie aber auch klassifizieren, indem ich ihnen für bestimmte Eigenschaften Noten zwischen 0 und 10 gebe (für Zuverlässigkeit, Leistung, Komfort, Unterhaltskosten etc.). Hier haben wir ein dimensionales Herangehen, bei dem weder Marke noch Modell, sondern nur die Eigenschaften des Wagens berücksichtigt werden. Die Autozeitschriften nutzen beide Einteilungsweisen, denn es ist nicht sinnvoll, einen kleinen Stadtwagen und eine große Limousine allein nach ihrer Leistung gegenüberzustellen. Bei einem Vergleichstest wird man alle kleinen Stadtwagen in einer Kategorie zusammenfassen, bevor man eine dimensionale Einteilung unter ihnen vornimmt.

Wie sieht nun eine dimensionale Annäherung an die menschliche Persönlichkeit aus? Die Forscher sind natürlich vor zwei große Fragen gestellt: Welche Dimensionen soll man wählen? Wie kann man eine Persönlichkeit in zwei, vier oder sechzehn Dimensionen zergliedern, wo man doch weiß, daß schon bei einem Auto, einem einfacheren Ding als einem Menschen, mindestens zehn verschiedene Bewertungskriterien herangezogen werden? Wie soll man sie messen? Hat man sich einmal für eine Dimension entschieden, zum Beispiel für die Neigung zum Mißtrauen, welche Arten von Tests oder von Fragen gestatten es dann, das Mißtrauen und genau diese eine Dimension richtig zu beurteilen?

Die Versuche, auf beide Fragen zu antworten, bilden eine ganze Wissenschaft, die Psychometrie oder quantitative Annäherung an die Persönlichkeit. Es handelt sich um eine Domäne von Fachleuten, die sich aus Beobachtungen und Statistiken nährt und deren Resultate in eher unzugänglichen Artikeln erscheinen. Wir möchten Ihnen an dieser Stelle nicht die Methoden dieser Wissenschaft erklären, sondern lieber ein paar Beispiele für dimensionale Einteilungen liefern, um Ihnen die Mischung aus Einbildungskraft und wissenschaftlicher Strenge, von der diese Forscher beseelt sind, vor Augen zu führen.

Einer der Vorreiter der dimensionalen Klassifizierungen war der amerikanische Psychologe R. B. Catell, der die Statistik für psychologische Forschungen nutzbar machte. Catell begann damit, alle Wörter der englischen Sprache zu untersuchen, mit denen man einen Charakter beschreiben kann: er listete nicht weniger als 4500 auf! Indem er alle Synonyme zusammenfaßte, behielt er schließlich noch rund zweihundert Eigenschaftswörter zurück. Als er dann Tausende von Versuchspersonen mit Hilfe dieser Adjektive bewertete und die Ergebnisse statistisch erfaßte, bemerkte er, daß gewisse Adjektive in den Charaktereinschätzungen stets gemeinsam auftauchten, daß sie also dieselbe Dimension kennzeichneten. Damit konnte man die Zahl der Persönlichkeitsmerkmale noch einmal verringern. Nach mehrjährigen Forschungen gelang es Catell und seinem Team aus Psychologen und Statistikern, sechzehn Persönlichkeitszüge zu isolieren, die mit dem Test 16 PF für jedes Individuum gemessen werden können. Dieser in den fünfziger Jahren entwickelte Test findet heute noch Anwendung.2

Die Dimensionen des »16 PF«-Tests

zurückgezogen. . . gesellig

weniger intelligent. . . intelligenter

emotional instabil. . . emotional stabil

sich unterordnend. . . dominant

reserviert. . . enthusiastisch

opportunistisch. . . gewissenstreu

schüchtern. . . unverfroren

zäh. . . empfindlich

vertrauensvoll. . . mißtrauisch

praktisch veranlagt. . . phantasiebegabt

freimütig. . . hinterhältig

gelassen. . . ängstlich

konservativ. . . radikal

unselbständig. . . selbständig

Mangel an Selbstkontrolle. . . selbstbeherrscht

locker. . . verkrampft

Für jede Dimension erhält die Testperson eine Punktzahl, die zwischen den beiden Extremen liegt.

Übung: Ein Gesellschaftsspiel, um sich unter Freunden aufzuregen

Schreiben Sie die sechzehn Dimensionen des Tests auf ein Blatt und lassen Sie auf jeder Zeile fünf freie Kästchen zwischen den gegensätzlichen Adjektiven. Bitten Sie jemanden, der Sie gut kennt, Sie einzuschätzen, indem er jeweils ein Kästchen ankreuzt. Schätzen Sie Ihre Persönlichkeit nach dem gleichen Prinzip selbst ein. Vergleichen Sie danach beide Beurteilungen! Diskutieren Sie, weshalb es zu Unterschieden kam, und tauschen Sie dann die Rollen. Richten Sie es so ein, daß ein Schiedsrichter mit von der Partie ist!

Der auf der ganzen Welt im Gesundheitswesen am häufigsten genutzte Test ist jedoch der MMPI (Minnesota Multiphasic Personality Inventory), der in den dreißiger Jahren von Hattaway und Mackinley entwickelt und kürzlich überarbeitet wurde.3 Er untersucht zehn Persönlichkeitskomponenten mit Hilfe von über 500 Fragen zur eigenen Person, die mit »Richtig« oder »Falsch« beantwortet werden müssen. Komplexe statistische Analysen haben auch erlaubt, vier Kontrollskalen aufzustellen, mit denen man herausfinden kann, ob der geistige Zustand der Versuchsperson sie beim Ablegen des Tests nicht behindert hat oder ob sie etwa gar bewußt die Ergebnisse in einer bestimmten Richtung zu verfälschen versuchte.

Ein neueres und offenbar einfacheres Modell kommt von Eysenck, einem englischen Forscher.4 Nach vielen Studien und statistischen Analysen schlug er vor, die Persönlichkeiten nach zwei großen Achsen zu klassifizieren:

eine Achse Introversion–Extraversion: das extravertierte Individuum ist auf der Suche nach Anerkennung und Ermutigung, es ist schnell zu begeistern, von seiner Umgebung abhängig, eher spontan und gesellig. Der Introvertierte hingegen hat eine starke Selbstkontrolle, ist eher ruhig, zurückhaltend, verfolgt seine Ziele unabhängig von den äußeren Umständen und neigt dazu, seine Handlungen zu planen. Jeder kann auf einem Punkt der Achse Introversion–Extraversion seinen Platz finden.

eine Achse Neurotizismus–Stabilität: der »Neurotiker« wird schnell und dauerhaft von unangenehmen Emotionen beunruhigt: Angst, Traurigkeit, Gewissensbisse. Der »Stabile« ist dagegen kaum emotiv und findet, wenn er doch einmal aus dem Gleichgewicht gebracht wurde, leicht zur normalen Stimmung zurück.

Wenn man den Persönlichkeitstest von Eysenck ablegt, kann man sich, einer dimensionalen Sichtweise gemäß, irgendwo auf dem Schema S. 16 einordnen. Wir haben dort schon einige berühmte Persönlichkeiten plaziert.

Eysenck fügte noch eine dritte Dimension hinzu, den Psychotizismus, der solche Züge wie Kälte, Aggressivität, Impulsivität und Egozentrik vereint. Diese drei Dimensionen kann man für sich selbst anhand eines Fragebogens abschätzen, bei dem man 57 einfache Fragen mit »Richtig« oder »Falsch« beantworten muß.

Das Eysencksche Modell ist eine interessante Etappe in der Bewertung von Persönlichkeiten. Aber da Wissenschaft ein ständiger Wettkampf ist, haben andere Forscher es getestet und seine Grenzen entdeckt. Sie bemerkten vor allem, daß fast alle schwierigen Persönlichkeiten zwar eine hohe Punktzahl in Neurotizität erreichten, man mit diesem Test aber nicht zwischen ihnen differenzieren konnte. Es schien demnach, als würde die Neurotizität mehrere verschiedene Dimensionen beinhalten und keine feineren Unterscheidungen zwischen Personen, die auf ganz unterschiedliche Weise geplagt sind, ermöglichen. Außerdem verringern sich bei Versuchspersonen, die Beruhigungsmittel einnehmen, zugleich die Neurotizität und die Introversion, was darauf schließen läßt, daß beide Dimensionen voneinander nicht völlig unabhängig sind.

Persönlichkeitsklassifizierung nach Eysenck

Um diese Schwierigkeiten aus der Welt zu schaffen, sind von anderen Wissenschaftlern neue Modelle vorgeschlagen worden. Allergrößte Beachtung findet unter Spezialisten das Modell von Robert Cloninger von der Universität Saint Louis.5 Nach Studien an Labortieren und an Menschen, vor allem zu den Persönlichkeiten eineiiger und zweieiiger Zwillinge, stellte er sieben Komponenten der Persönlichkeit vor. Zunächst unterscheidet er vier Dimensionen, die seiner Ansicht nach Bestandteile eines Temperaments und damit wahrscheinlich angeboren sind, denn sie zeigen sich schon im zartesten Alter und werden vererbt. Diese vier Dimensionen bestimmen unser frühestes Lernen.

Die vier Dimensionen des Temperaments (nach Cloninger)

  1. Nach Neuem suchen. Die Person oder das Baby mit einer hohen Punktzahl in dieser Dimension wird dazu tendieren, die Umgebung aktiv zu erkunden, voll Interesse auf Neues zu reagieren und bewußt Frustration zu vermeiden.
  2. Der Bestrafung entgehen. Neigt dazu, sich Sorgen zu machen, sich zu ducken, um böse Überraschungen zu verhüten; hält sich im Zweifelsfalle aus Furcht vor ärgerlichen Konsequenzen zurück.
  3. Belohnung nötig haben. Braucht die Anerkennung der anderen, Unterstützung und häufige Belohnungen.
  4. Ausdauernd sein. Neigt dazu, eine Betätigung trotz Müdigkeit oder Frustration entschlossen fortzusetzen.

Hier ein amüsantes und vereinfachendes Beispiel: Im Restaurant wird der Herr, der Belohnung nötig hat, sogleich sein Lieblingsgericht bestellen und sich schon beim Gedanken daran ergötzen. Der Herr, der nach Neuem sucht, wird ein neues, ihm noch unbekanntes Gericht probieren wollen. Der Herr, der Bestrafungen entgehen will, wird auf der Karte vor allem nach schlechtverdaulichen Speisen fahnden, um einen Bogen um sie zu machen. Der ausdauernde Herr, ein bißchen verspätet, wird rund ums Restaurant lange nach einem Parkplatz suchen und sich dabei trotz seines knurrenden Magens weder aufregen noch entmutigen lassen.

Cloninger fügt seinem Modell drei weitere Dimensionen hinzu, von denen er annimmt, daß sie das definieren, was er den Charakter nennt. Im Gegensatz zum Temperament soll der Charakter stärker von Lernerfahrungen beeinflußt sein.

Die drei Dimensionen des Charakters (nach Cloninger)

  1. Selbstkontrolle. Dieser Komponente zugeordnet werden ein gutes Selbstwertgefühl, der Glaube, sein eigenes Leben in die Hand nehmen und auf seine Umgebung wirken zu können, die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen.
  2. Kooperativität. Akzeptanz und Verständnis der anderen, Mitgefühl und Uneigennützigkeit sind die mit dieser Dimension verbundenen charakteristischen Merkmale.
  3. Selbsttranszendenz. Personen mit einer hohen Punktzahl bei dieser Dimension fühlen, daß ihr Leben einen Sinn hat, daß sie der Welt zugehörig sind; ihre Sichtweise ist eher spiritualistisch als materialistisch.

Cloningers Modell besitzt die Merkmale wirklicher wissenschaftlicher Hypothesen: Man kann es testen, man kann Situationen oder Experimente ersinnen, um es auf den Prüfstand zu stellen, anders gesagt, man kann es bestätigen oder widerlegen.

Die vier Dimensionen des Temperaments können zum Beispiel an Tieren untersucht werden, um herauszufinden, ob sie durch Vererbung übertragen werden. Zur Abschätzung dieser Dimensionen beim Menschen kann man Fragebögen erarbeiten und die Resultate mit denen vergleichen, welche dieselben Personen in der Evaluation mit anderen Tests oder bei anderen Psychologen erreicht haben, oder man kann die Ergebnisse an dem messen, was Menschen, welche die Testperson seit langem kennen und sie in verschiedenen Situationen erlebt haben, über ihr Temperament aussagen.

Die Resultate können zum Gegenstand statistischer Analysen werden, um festzustellen, ob die sieben Komponenten wirklich alle voneinander unabhängig sind. Man kann auch Individuen, die ähnliche Ergebnisse erreichten, miteinander vergleichen, um herauszufinden, ob es zwischen ihnen nicht vielleicht Unterschiede gibt, die das Modell nicht »gesehen« hat usw.

Wie alle wissenschaftlichen Modelle wird auch das von Cloninger ein Verfallsdatum haben und durch ein neues Modell ersetzt werden, das unsere Beobachtungen besser deutet. So schreitet die Erkenntnis, ganz wie in der Astronomie oder der Medizin, durch die Konfrontierung der Theorien mit den beobachteten Tatsachen voran.

Das Studium der Persönlichkeit ist also ein Forschungsfeld in voller Entwicklung; es kann eine wertvolle Hilfe sein bei der Kindererziehung, der Verhütung psychischer Störungen und der Vervollkommnung von Psychotherapien.

Was ist eine schwierige Persönlichkeit?

Nehmen wir an, ich wäre eher mißtrauisch. Wenn sich dieses Mißtrauen in Grenzen hält und ich nach einer Phase der Beobachtung schließlich den Leuten vertraue, ist mein Mißtrauen einfach ein Persönlichkeitsmerkmal, das mir helfen kann, mich nicht »reinlegen« zu lassen. Das kann mir sehr zugute kommen, wenn ich etwa einen Gebrauchtwagen kaufen möchte.

Wenn ich hingegen dauernd sehr mißtrauisch bin und es mir nicht gelingt, selbst Menschen mit besten Absichten mein Vertrauen zu schenken, werden mich bald alle schwer erträglich finden. Ich selbst werde mich ständig auf dem Sprung fühlen, und ich werde wahrscheinlich die Chance verpassen, neue Freundschaften zu schließen oder gute Geschäfte zu machen. In diesem Fall macht mein Mißtrauen aus mir eine richtiggehende »schwierige Persönlichkeit«.

Man kann also sagen, daß eine Persönlichkeit schwierig wird, wenn bestimmte Züge ihres Charakters zu markant oder zu verfestigt sind, den Umständen schlecht angepaßt, so daß das Individuum selbst oder ein anderes darunter leidet (bzw. alle beide).

Dieses Leiden ist ein gutes Kriterium, um die Diagnose »schwierige Persönlichkeit« stellen zu können. Das erste Ziel unseres Buches ist natürlich, Ihnen zu helfen, mit einer schwierigen Persönlichkeit aus Ihrem familiären oder beruflichen Umfeld besser zurechtzukommen.

Aber wir haben noch ein weiteres Ziel: Ihnen zu helfen, sich selbst besser kennenzulernen und sich zu begreifen, falls Sie an sich Merkmale der schwierigen Persönlichkeiten, die wir beschreiben werden, erkennen sollten.

Am Ende eines jeden Kapitels werden Sie daher eine Reihe von Fragen finden, mit denen Sie über Ihre eigene Persönlichkeit nachdenken können. Diese Fragen sind kein diagnostischer Test, sondern eher Anlaß zu einer Reflexion über Ihr Selbst.

Wonach haben wir die schwierigen Persönlichkeiten eingeteilt?

Wir haben ein Dutzend wichtiger Persönlichkeitstypen ausgewählt, die man anscheinend in allen Ländern und allen Epochen wiederfinden kann. Sie werden, mit ein paar Varianten freilich, sowohl in den alten Lehrbüchern der Psychiatrie als auch in den aktuellsten Klassifizierungen der Weltgesundheitsorganisation oder in der neuesten Fassung der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie, der DSM-IV, beschrieben.6

Diese Persönlichkeiten repräsentieren natürlich nicht alle Typen von schwierigen Persönlichkeiten, auf die Sie stoßen könnten, aber die Wahrscheinlichkeit, gerade sie im Alltag wiederzufinden, ist groß, besonders wenn Sie an die Mischformen denken, die Merkmale von zwei oder drei verschiedenen Typen in sich vereinen!

Doch was nützt es, wenn man die Menschen klassifiziert? Diese Kritik hört man oft, wo es um Klassifizierungen in der Psychologie geht: sie würden nur dazu dienen, den Leuten ein Etikett aufzukleben und sie in ein Schubfach zu stecken, wo die menschlichen Wesen von unendlicher Vielfalt und im Grunde nicht in Rubriken unterzubringen seien.

Es ist völlig wahr, daß jeder Mensch einzigartig ist und daß kein Klassifizierungssystem so viele »Schubfächer« aufweist, wie es unterschiedliche Charaktere gibt. Aber macht das jeden Einteilungsversuch gleich überflüssig?

Wählen wir nur ein Beispiel aus einem anderen Bereich, aus der Meteorologie. Der Himmel sieht nie gleich aus; jeden Tag formen der Wind, die Wolken und die Sonne uns ein anderes Bild. Trotzdem haben die Meteorologen vier Hauptarten von Wolken definiert: Kumuluswolken, Nimbuswolken, Zirruswolken und Stratuswolken. Dazu kommen noch Mischformen wie der Kumulonimbus. Hier haben wir eine einfache Einteilung. Dennoch ist es möglich, mit diesen wenigen Wolkentypen, die man an den Fingern abzählen kann, egal welchen bewölkten Himmel präzis zu beschreiben. Selbstverständlich gleichen sich zwei Kumuluswolken nicht völlig, wie auch zwei Charaktere nie identisch sind; trotzdem kann man sie in einer Klasse zusammenfassen.

Treiben wir den Vergleich noch etwas weiter: Wenn Sie ein paar grundlegende Dinge über Wolkenformen wissen, wird Sie das nicht daran hindern, sich über einen herrlichen Himmel zu freuen. Kennen Sie ein paar Persönlichkeitstypen, wird Sie das ebensowenig daran hindern, Ihre Freunde und Verwandten gern zu haben, und Sie werden sie nicht gleich klassifizieren wollen. Aber im Bedarfsfall werden Ihnen ein paar Kenntnisse auf dem Gebiet der Wolkenformen helfen, das Wetter für die kommenden Stunden vorherzusagen, und ein wenig Wissen über schwierige Persönlichkeiten wird Ihnen von Nutzen sein, um gewisse Situationen besser zu meistern.

Psychiatern und Psychologen erlaubt die Identifikation bestimmter Persönlichkeitstypen, deren Reaktionen unter verschiedenen Umständen besser zu verstehen und die Psychotherapien oder Behandlungen, die man ihnen anbieten kann, unablässig zu vervollkommnen. Indem sie zum Beispiel die Merkmale der »Borderline-Persönlichkeit« (vgl. Kapitel XII) erkannten und definierten, fanden die Psychiater und Psychologen auch einige Grundregeln, die sie in einer Psychotherapie mit solchen Patienten, die sehr leiden, aber zugleich äußerst zwiespältig auf jede ihnen angebotene Hilfe reagieren, beachten müssen.

Klassifizierungen haben also ihre Berechtigung. Sie sind in jeder Naturwissenschaft notwendig, sei es beim Studium der Wolken, der Schmetterlinge, der Krankheiten oder der Charaktere.

Schwierige Persönlichkeiten verstehen, akzeptieren und richtig handhaben

Bei jedem schwierigen Persönlichkeitstyp haben wir versucht, Ihnen zu erläutern, wie er oder sie sich selbst und die anderen sieht. Wenn Sie den Standpunkt begriffen haben, den er oder sie gegenüber der eigenen Person und der Welt einnimmt, werden Sie sich einige Verhaltensweisen leichter erklären können.

Ein solches Vorgehen stimmt mit einer unlängst aufgekommenen Sichtweise überein, die in den kognitiven Psychotherapien ausgenutzt wird und sich stetig entwickelt. Danach sollen unsere Haltungen und Verhaltensweisen tatsächlich von ein paar Grundüberzeugungen bestimmt werden, die wir sehr früh in unserer Kindheit erworben haben. Bei einer paranoiden Persönlichkeit wäre die Grundüberzeugung etwa: »Die anderen wollen mir schaden, man darf ihnen nicht trauen.« Aus ihr geht ein ganzes Ensemble mißtrauischer Haltungen und feindseliger Verhaltensweisen hervor, die wie die logische Folge dieses Grundglaubens wirken. Für jeden Persönlichkeitstyp haben wir versucht, die Grundüberzeugung bzw. die Grundüberzeugungen, welche ihr Verhalten bedingen, aufzuführen. Im letzten Kapitel werden sie in einer Tabelle vereint.

Wenn wir dem Publikum in unseren Seminaren verkünden, daß man die schwierigen Persönlichkeiten akzeptieren muß, rufen wir damit oft Mißbilligung und Einspruch hervor. Wie kann man sie akzeptieren, wo sie doch ein kaum tolerierbares und im wahrsten Sinne des Wortes inakzeptables Verhalten an den Tag legen? In Wahrheit verlangen wir von Ihnen jedoch nicht, sich einer passiven Akzeptanz hinzugeben, die der schwierigen Persönlichkeit alle Freiheit ließe, Ihnen Schaden zuzufügen (und sich oftmals auch selbst zu schaden). Es geht vielmehr darum, ihre Existenz als menschliches Wesen zu akzeptieren. Das soll Sie nicht daran hindern, sich aktiv vor ihr zu schützen.

Noch einmal ein Vergleich: Sie sind im Urlaub am Meer und haben sich für morgen eine Bootspartie vorgenommen. Aber als Sie erwachen, ist der Himmel düster, und es stürmt. Wenn Sie das auch nicht erfreuen dürfte, so werden Sie deshalb doch nicht vor Wut platzen. In gewissem Sinne akzeptieren Sie es als naturgegeben, daß an der Meeresküste bisweilen schlechtes Wetter ist. Das hindert Sie nicht, sich der Situation anzupassen, indem Sie sich eine andere Beschäftigung für den Tag vornehmen. Nun, auch die schwierigen Persönlichkeiten sind wie Naturphänomene: es hat sie schon immer gegeben, und es wird sie immer geben. Sich darüber zu empören, wäre genauso vergeblich, als wollte man über das schlechte Wetter oder die Gesetze der Schwerkraft in Zorn geraten.

Ein weiterer Grund, sie besser zu akzeptieren: ganz gewiß haben sie es sich nicht ausgesucht, schwierige Persönlichkeiten zu sein. Im Zusammenwirken von Vererbtem und Anerzogenem haben sie Verhaltensweisen entwickelt, die ihnen selten Erfolg bringen und für die sie, so darf man annehmen, nicht völlig verantwortlich gemacht werden dürfen. Wer würde schon aus freien Stücken gern allzu ängstlich, zu impulsiv, zu mißtrauisch, zu sehr von anderen abhängig oder zu detailbesessen sein?

Nie ist jemand dadurch gebessert worden, daß man ihn zurückstieß; das gilt erst recht für problematische Leute. Sie zu akzeptieren ist oft die notwendige Voraussetzung, um sie dahin zu führen, manche ihrer Verhaltensweisen zu ändern.

Wenn Sie eine schwierige Persönlichkeit besser verstehen, wenn Sie sie (in unserem Sinne) akzeptieren, werden Sie ihr Verhalten besser voraussehen können und den Problemen, vor die er oder sie Sie stellt, erfolgreicher begegnen. Wir geben Ihnen in diesem Buch einige Ratschläge, die auf jeden Persönlichkeitstyp zugeschnitten sind. Sie sind erwachsen aus unserer Erfahrung als Psychiater und Therapeuten, aber auch als Menschen, die mit den üblichen Schwierigkeiten des Zusammenlebens mit unseresgleichen konfrontiert sind …

Kapitel I
Die ängstlichen Persönlichkeiten

»Ich fürchte mich nicht vor dem Tod, aber wenn es passiert, bin ich lieber nicht da.«

Woody Allen

Claire, 28 Jahre, erzählt uns: Soweit meine Erinnerungen zurückreichen, ist meine Mutter immer beunruhigt gewesen. Sie machte sich Sorgen über alles. Selbst heute noch, wenn ich sie besuche, möchte sie, daß ich ihr genau sage, wann ich eintreffen werde, und wenn ich zehn Minuten Verspätung habe, stellt sie sich gleich vor, ich hätte einen Autounfall gehabt.

Als ich vierzehn war, unterhielt ich mich einmal nach der Schule noch ein Weilchen mit meinen Freundinnen. Ich kam eine halbe Stunde später als geplant zu Hause an (natürlich kannte meine Mutter den Stundenplan für jeden Tag in- und auswendig): ich fand sie in Tränen aufgelöst, und sie wollte gerade das Polizeikommissariat anrufen, damit man eine Suchaktion startete!

Ein andermal, ich war zwanzig, bin ich in einem schweren Anfall von Unabhängigkeitsstreben mit einer Truppe gleichaltriger Freunde zu einer Rundreise durch Südamerika aufgebrochen. Von dort war es nicht gerade leicht, nach Frankreich zu telefonieren, und die Ansichtskarten, die ich meiner Mutter schickte, kamen erst nach meiner Rückkehr an. Nach ein paar Tagen ohne Nachricht hielt meine Mutter es nicht länger aus. Sie wußte nicht einmal, in welchem Land wir gerade waren. Was für eine Überraschung, als meine Freunde und ich an eine kleine Grenzstation zwischen Peru und Bolivien kamen und der Zöllner, nachdem er meinen Paß in Augenschein genommen hatte, mir sagte, ich solle meine Mutter anrufen! Ich stand da wie vom Donner gerührt. Und schließlich begriff ich. Mit frenetischen Telefonaten hatte sie die französischen Botschaften aller Länder, die wir durchqueren wollten, alarmiert und es geschafft, sie derart zu beunruhigen, daß eine Meldung an alle Grenzposten ergangen war!

Arme Mutter! Ich möchte mich oft über sie aufregen, aber dann spüre ich schnell, daß es stärker ist als sie und daß sie durch ihre Ängstlichkeit viel zu leiden hat. Wenn sie sich wenigstens nur um mich Sorgen machen würde! Aber es läßt sie Tag und Nacht nicht los. Sie hat zum Beispiel ständig Angst, zu spät zu kommen. Wenn sie mit dem Zug verreisen will, steht sie mindestens eine halbe Stunde vor Abfahrt auf dem Bahnsteig. Ich weiß, daß sie auf ihrer Arbeitsstelle im Ministerium sehr geschätzt ist, denn sie achtet stets genau darauf, ein Dossier rechtzeitig durchzuarbeiten, sie sieht immer voraus, wo etwas schiefgehen könnte, und trifft zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen. Ich kann mir das gut vorstellen, wenn ich sehe, wie sie ihre Telefon- und Stromrechnungen begleicht. Kaum sind sie ins Haus geflattert, füllt sie schon einen Scheck aus, weil sie fürchtet, der geringste Verzug könnte dazu führen, daß man ihr den Anschluß kappt. In den folgenden Tagen wartet sie angestrengt auf das Eintreffen der Kontoauszüge, um sicher zu sein, daß der Scheck auch wirklich eingelöst worden ist.

Die einzigen Augenblicke, in denen ich sie mal entspannt erlebe, sind die Tage, wo meine Schwestern und ich gemeinsam mit unseren Ehemännern bei ihr zum Mittagessen vorbeikommen. Den ganzen Vormittag wirbelt sie in einem Klima höchster Dringlichkeit umher, um das Essen zuzubereiten. Wenn sie dann aber den Kaffee bringt und wir ihr sagen, sie könne ruhig sitzenbleiben, wir würden uns schon um das Geschirr kümmern, spüre ich, wie sich ihre Anspannung endlich löst, und bis zu unserer Heimfahrt scheint sie ruhig zu sein. Wenn wir abends zu Hause angekommen sind, rufe ich sie trotzdem unter irgendeinem Vorwand noch einmal an, denn ich weiß, es wird sie beruhigen zu erfahren, daß wir wohlbehalten zurück sind.

Ich weiß nicht, woher diese Ängstlichkeit bei ihr rührt. Mein Vater ist bei einem Unfall ums Leben gekommen, als wir noch sehr klein waren, und sie stand allein da mit drei Kindern, die sie großziehen mußte. Vielleicht haben dieses Trauma und diese Verantwortung dazu geführt, daß sie ängstlich geworden ist? Aber wenn ich mir meine Großeltern mütterlicherseits ansehe, merke ich, daß auch sie sich über alles Sorgen machen. Deshalb sage ich mir, daß es in der Familie liegen muß. Übrigens schlägt meine ältere Schwester in dieselbe Richtung, und ich habe ihr schon empfohlen, schnellstens einen Therapeuten aufzusuchen!

Was soll man von Claires Mutter denken?

Claires Mutter neigt dazu, sich Sorgen zu machen, das heißt, in jeder Situation denkt sie zuerst an Risiken und potentielle Gefahren für sie selbst und ihre Nächsten. Überall, wo eine Ungewißheit auftaucht, befürchtet sie sogleich den schlimmstmöglichen Ausgang (»Meine Tochter ist immer noch nicht da: vielleicht hatte sie einen Unfall?«). Sie möchte alle Risiken voraussehen, um sie besser kontrollieren zu können. Aber ist es letztendlich nicht einfach ein Zeichen von Vorsicht, an die Unwägbarkeiten jedweder Situation zu denken, um ihnen so vielleicht besser begegnen zu können? Nein, denn Sie spüren schon, daß im Fall von Claires Mutter die Aufmerksamkeit für Risiken exzessiv und übertrieben ist, vor allem, wenn man die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß der möglichen unangenehmen Ereignisse berücksichtigt. Nehmen wir an, ein Brief erreicht seinen Adressaten nicht oder ein Scheck wird fehlgeleitet. Das ist ein recht seltenes und wenig wahrscheinliches Ereignis. Wenn es trotzdem eintritt, ist es noch unwahrscheinlicher, daß die Telekom ohne Vorankündigung sogleich den Anschluß kappt. Und wenn es durch einen Verfahrensfehler dennoch passieren sollte, wäre es dann wirklich eine unabänderliche Katastrophe? Nein, es handelt sich um einen nicht weiter tragischen Irrtum, den man durch einen Besuch beim zuständigen Telekombüro schnell aus der Welt schaffen kann.

Claires Mutter wird hingegen beim Gedanken an ein unbedeutendes und wenig wahrscheinliches Risiko von großer Unruhe ergriffen, und sie legt eine gewisse Anstrengung an den Tag, um es zu verhüten. Sie ist auch voller Anspannung, wenn sie das Mittagessen für die Familie rechtzeitig auf den Tisch bringen will, obwohl eine Verspätung nicht schlimm wäre und sie außerdem eine so erfahrene und vorausblickende Köchin ist, daß sie kaum in Verzug geraten dürfte. Angstvolles Vorausschauen, übertriebene Beachtung der Risiken, Anspannung: Claires Mutter vereinigt in sich die Merkmale einer ängstlichen Persönlichkeit.

Die ängstliche Persönlichkeit

Der Leser vermutet sicher schon, welche Vorteile und welche Nachteile es hat, wenn man zu den ängstlichen Persönlichkeiten zählt: auf der einen Seite Vorsicht und die Tendenz, alles zu kontrollieren, auf der anderen Qualen und eine unmäßige Anspannung.

Wie Claires Mutter die Welt sieht

Claires Mutter scheint wahrhaft wie ein Radargerät in ihrer Umgebung alles auszumachen, was einen Zwischenfall oder eine Katastrophe herbeizuführen vermag. Ihre Grundüberzeugung könnte so lauten: »Die Welt ist ein gefährlicher Schauplatz, auf dem sich jederzeit eine Katastrophe ereignen kann.« Depressive Menschen würden diesen Glauben teilen, sich aber damit begnügen, sich zu ducken, um den bevorstehenden Schicksalsschlägen weniger ausgesetzt zu sein. Claires Mutter wird dagegen alles tun, um ihnen vorzubeugen, indem sie versucht, ihre ganze Umgebung zu kontrollieren.

Ihre zweite Grundüberzeugung könnte sein: »Wenn man wirklich achtgibt, lassen sich die meisten Zwischenfälle und Unglücke vermeiden.« Hat sie da im Grunde nicht recht? Ist unsere Welt nicht ein Ort voller Gefahren, wo es stets zu einer Katastrophe kommen kann? Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur die Zeitung aufzuschlagen. Ein Bus stürzt in eine Schlucht. Kinder ertrinken beim Baden. Eine Familienmutter geht aus dem Haus, um ein Brot zu kaufen, und wird über den Haufen gefahren. Bei Unfällen in der Küche, im Garten oder an der Werkbank kommen Tag für Tag Menschen ums Leben oder verletzen sich gefährlich. Stimmt es also nicht, daß man etliche Unfälle und Katastrophen verhindern kann, wenn man sehr vorsichtig ist? Im Grunde hat Claires Mutter recht: die Welt steckt voller Gefahren, und man muß überall aufpassen!

Was die Befürchtungen der Mutter allerdings von denen einer nicht ängstlichen Person unterscheidet, ist ihre Häufigkeit und ihre Intensität. Gewiß ist ein Unglück nie ausgeschlossen, wir sind verwundbare und vergängliche Wesen, aber den meisten von uns gelingt es, nicht immerzu daran zu denken. Das hindert uns nicht, gegenüber Risiken, die wir tatsächlich kontrollieren können, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. So legen wir beim Autofahren zwar den Sicherheitsgurt an, sind deshalb jedoch nicht besonders ängstlich und befürchten nicht an jeder Kreuzung einen Crash. Schwere Risiken, die wir kaum kontrollieren können, etwa eine schlimme Krankheit oder den Autounfall eines Angehörigen, verbannen wir, solange wir davon verschont bleiben, aus unseren Gedanken.

Die kleinen Risiken des Alltags (einen Zug verpassen, zu spät kommen, die Lammkeule verbrennen lassen) werden zwar unsere Besorgnis erhöhen, aber doch nur in Maßen.

Man erkennt also, daß ängstliche Personen an einer zu sensiblen Einstellung ihres »Alarmsystems« leiden: die angsterfüllten Gedanken, die physische Anspannung und das Kontrollverhalten treten zu oft und zu intensiv auf.

Hören wir, was eine ängstliche Person von sich selbst berichtet. Gérard (34) ist Versicherungsangestellter. Er läßt sich von seinem Arzt häufig Beruhigungsmittel verschreiben.

Ja, sicher kann man sagen, daß ich ängstlich bin, aber ich mache etwas dagegen! Es ist vielleicht komisch, daß ich bei einer Versicherung arbeite. Ganz, als würde mir die Beschäftigung mit dem Unglück anderer Leute das Gefühl vermitteln, mich selbst zu schützen. Natürlich sage ich mir, daß meine Sorgen wohlbegründet und meine Verhaltensweisen völlig normal sind. Tatsächlich werde ich sowohl von den Kunden als auch in der Firma sehr geschätzt, denn die Angst, daß etwas schiefgehen könnte, läßt mich alle unvorhergesehenen Risiken, die dem Versicherten selbst bisweilen entgangen sind, und die Lücken in einem Vertrag aufspüren. Dadurch kassiere ich eine Menge Prämien, und meine Kunden sind sehr gut abgesichert.

Aber ich gestehe, daß mich diese Ängstlichkeit ständig unter Spannung hält. Einmal hat mich mein Arzt gebeten, alle ängstlichen Erwägungen, die mir im Laufe eines Tages durch den Kopf schießen, aufzulisten. Hier das Ergebnis: kurz vor dem Aufstehen das erste Mal Angst beim Gedanken an mein Tagesprogramm – werde ich alles bewältigen? Frühstück mit meiner Frau, die heute ein wenig mürrisch ist. Und sollten wir uns einmal nicht mehr lieben? Mit dem Auto zu einem Termin. Und wenn ich nicht rechtzeitig ankomme? (Übrigens bin ich am Lenkrad sehr aufmerksam, und ich habe mir einen Wagen gekauft, der für seine Sicherheit bei Zusammenstößen bekannt ist.) Ankunft im Büro des Kunden mit dem Vertrag. Und wenn ich etwas vergessen habe? Wenn ich an ein bestimmtes Risiko nicht gedacht habe? Wir gehen den Vertrag gemeinsam durch, der Kunde ist völlig zufrieden und unterschreibt. Beim Hinausgehen freue ich mich, denn es ist ein lukrativer Vertrag; ich halte unterwegs an, um mir einen Kaffee zu gönnen. Es gelingt mir, mich einen Moment zu entspannen, dann nahen die nächsten Sorgen: mir fällt wieder ein, daß mein Wagen heute früh seltsame Geräusche gemacht hatte. Und wenn ich ihn gleich in die Werkstatt bringen muß? Werde ich das zwischen zwei Terminen schaffen? Und so geht es weiter. Ich habe Ihnen einen ganz normalen Tag beschrieben; eine solche Angstdosis ist für mich die übliche.

Das Paradoxe ist, daß ich angesichts einer wirklichen Gefahr eher besonnen reagiere. Das überrascht alle, die wissen, wie sehr mich jede Kleinigkeit beunruhigt. Vergangenes Jahr sind wir mit Freunden, die uns ihr neues Schiff vorführen wollten, in See gestochen. Plötzlich ist das Wetter umgeschlagen, und im selben Moment begann auch noch der Motor zu stottern. Alle haben es mit der Angst zu tun bekommen, aber ich bin in den Kielraum gestiegen, um nachzuschauen. Am Ende haben wir wohlbehalten den Hafen erreicht. (Das Problem mit dem Motor konnte ich damals lösen, weil ich aus Furcht, eines Tages mit kaputtem Auto auf der Straße liegenzubleiben, einen Reparaturlehrgang besucht hatte.)

Wenn sich das Problem erst einmal gezeigt hat, kann ich ihm entgegentreten, aber was mich quält, ist die Vorstellung, daß etwas passieren könnte. Wenn ich einmal keine Sorgen habe, schaffe ich es stets, neue zu erfinden. Letzten Sommer zum Beispiel: alles lief glatt, ich hatte ein sehr gutes Arbeitsjahr hinter mir, meine Frau und ich kamen gut miteinander klar, wir verbrachten herrliche Ferien mit den Kindern, und ich hatte wirklich keinerlei Grund, mir Sorgen zu machen. Nun ja, und da zermarterte ich mich mit Gedanken wie: »Wenn nun vielleicht eines meiner Kinder eine schlimme Krankheit hat?« Sie sehen, es hört niemals auf.

Dieses Beispiel veranschaulicht die Vorzüge und Nachteile einer ängstlichen Persönlichkeit noch besser. Die Vorzüge: Gérard ist äußerst gewissenhaft, sieht alle Risiken voraus und ist in seinem Beruf exzellent. Die Nachteile: er ist stets voller Unruhe, und das quält und erschöpft ihn.

Wenn die Ängstlichkeit krankhaft wird