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Inhaltsverzeichnis

Der Rand von Ostermundigen
Der Rand von Ostermundigen
Der Mann, der ein Kauz sein möchte
Bedingungen für die Nahrungsaufnahme
Das Dach
Erzählung
Das Haustier
Der Stich
Die beiden Männer
Das Strafporto
Die innere Stimme
Die Fotografie
Die Rückeroberung
Die Rückeroberung
Walther von der Vogelweide
Billiges Notizpapier
Der Kuss - 3 Möglichkeiten
I
II
III
Der Geisterfahrer
Das Halstuch
Der Langläufer
Der Flug
Der türkische Traum
Das verspeiste Buch
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes und letztes Kapitel
Die Karawane am Boden des Milchkrugs
Der Abstecher
Ein ganz schwerer Transport
Die Torte
Die Torte
Der Schimmel
Die Mönchsgrasmücke
Das Denkmal
Die Rechnung
Der Betrug
Die Schenkung
Das Kleid
Der Brief
Die Überraschung
Der Stein
Der Präsident
Die Raucherecke
Der vierte König
Ein Nachmittag bei Monsieur Rousseau
Der Bleistiftstummel - 7 Folgen
1
2
3
4
5
6
7
Juckreiz
Der Sender
Die Grenze
Bianca Carnevale
Der Stein
Nachwort
Erstveröffentlichungen
Copyright

Roger Willemsen

Nachwort

Es gibt, vereinfacht gesprochen, Autoren, die einen guten Stoff unter den Händen, aber kaum die Sprache haben, ihn zu fassen. Es gibt ferner jene, denen sprachliche Werkzeuge von Feinfühligkeit und Raffinesse zu Gebote stehen, aber eine Geschichte haben sie nicht zu erzählen. Franz Hohler gehört der raren dritten Gattung an. Er bewirtschaftet einen ganzen Tagebau an guten Geschichten, grotesken Einfällen und Ideen. Deshalb sind seine Erzählungen prall und freigebig. Zugleich aber ist sein sprachliches Vermögen groß und eigen, bestimmt von einer Sicherheit im Duktus, die sich als Sog vermittelt.

Kaum tritt man in seine Erzählungen ein, wird man erfasst von einer Suggestion, die sich dauernd verdichtet, und sollte man selbst den Grundeinfall durchschaut haben, wird man durch die Hakenschläge des Autors doch immer wieder der Banalität der eigenen Vorwegnahmen überführt. Hohler hat den Atem eines Mannes, der der Qualität seiner Geschichten traut. Er weiß so sicher, was er will, er bewegt sich mit so schauriger Grazie auf sein Ziel zu, dass er immer spannend ist und immer persönlich.

Kennt man Hohlers Sprechstimme, hört man sie durch in seinen Texten, so höflich dem Theatralischen gegen über, so distinguiert in der Katastrophe. Ein Unheimlicher ist er, entsetzlich freundlich, nie schroff, kaum je drastisch, und doch mutet er seinen Lesern Geschichten zu, die man unglaublich nennen müsste, wären sie nicht mitten in einer Alltagsbeobachtung geboren, oft entwickelt aus einer Petitesse. Kaum aber entfaltet sie sich, trägt sie einen Schrecken im Bauch oder eine Erschütterung. Hohler schreibt nicht ohne Idee. Seine Art, phantastisch zu sein, das ist seine Art zu denken.

Und weil sich all dies um eine bleibende Autorinstanz konzentriert, gehört Franz Hohler heute zu den seltenen Schriftstellern, die über Jahrzehnte erkennbar sind an ihrem »Ton«, an einer Haltung des Erzählers, der oft sanftmütig, wohlwollend, abwägend schaut, der ein distinguierter Konservativer sein könnte, manchmal aber ebenso gut ein neugieriger, erfahrungshungriger Halbwüchsiger zu sein scheint, der uns durch die Liberalität seiner Standpunkte beflügelt. Dieser stille Mann! Ohne drastisch zu reden, kann er jemanden der Nichtigkeit im Gelächter aussetzen, kann er durch die Präzision eines Details erschrecken. Er sagt nicht: Dieser kleine Nestflüchter wurde von der Katze gefressen, er sagt »aufgefressen«, und wir wissen, dass die Bestie reinen Tisch gemacht hat.

(Und wenn ich noch etwas ganz Unsachliches anfügen darf, eine Vermutung bloß, dann muss Franz Hohler ein glücklich verheirateter Mann sein. Seine Paare sind so freundlich und duldsam miteinander, sie sind gemeinsam in die Jahre gekommen und auf milde Weise zugewandt. Es geht etwas Humanes aus von diesen Paaren, etwas Rührendes. Man lese nur die wunderschöne Erzählung »Die Mönchsgrasmücke«. Oder? Doch das nur nebenbei.)

An Hohler, auch das ist eines Klassikers würdig, lässt sich die Größe des Einfachen lernen. Wie schlicht und doch wie eigen: Er besitzt Phantasie, samt einer präzisen Vorstellungsgabe und Kraft der Visualisierung. Außerdem ist er auf selbstverständliche Weise sachverständig in allem, worüber er schreibt. Sind es Vögel, ist er Ornithologe genug, ihre Rufe, ihre Formen der Brut und der Werbung zu kennen, sind es die Berglandschaft, das Militär, die Malerei von Henri Rousseau, so wird er sie nicht bloß so kennen, sondern auch in ihrer Tiefe, wo die Geschichten entspringen. Er folgt einfach der Überzeugung, dass sich das Phantastische im Wirklichen selbst entwickelt. Dazu muss man dies Wirkliche aber gut kennen, denn nichts Irrationales setzt sich gegen das Rationale durch. Es beginnt vielmehr, wo dieses endet.

Man denke allein an das, was man »Zufall« nennt. Einmal verändert ein mutmaßlicher Attentäter die Weltgeschichte nicht, weil ihm ein Glas Weißwein hinfällt. Einmal möchte jemand einen kleinen gelben Bleistiftstummel von der Straße auflesen. Doch was könnte passieren? Einmal hebt jemand tatsächlich ein in Metall gestanztes Velonümmerchen auf, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Manchmal ist dies das Unheil der Polizeigewalt, manchmal das der Bürokratie, des Bankenwesens. Immer aber werden der Bittsteller, der Geschädigte, der Antragsteller kujoniert, drangsaliert, zerrieben und gekränkt und müssen am Ende bereuen, der Nachtglocke, dem Impuls gefolgt zu sein, nachgegeben oder eine lässliche Sünde begangen zu haben.

Aus dem Unscheinbaren baut sich ein Schrecken auf, der uns alle bedroht. Oder, wie der Autor selbst sagt: »Geschichten haben die verschiedensten Ausgangspunkte. Eine zufällige Begegnung, ein falsches Wort, eine unüberlegte Tat, eine Verspätung können den Eintritt in ein Labyrinth bedeuten, aus dem fast nicht mehr herauszufinden ist, sie können ebenso gut ins Glück führen wie ins Unglück, sie können Menschen zusammenbringen und andere trennen, und wer in ihre wie immer gearteten Folgen hineingerät, wird oft über die Ursachen rätseln, ohne eine Antwort zu finden.«

Ja, eine junge Ärztin wird von einem Wallach zu einer Entbindung getragen und landet im Mittelalter. Ein Mann hört auf dem Bahnhof eine Lautsprecheransage für einen Zug nach Singapur, besteigt ihn. Ein anderer hat eine Geschwulst, aus der heraus es lärmt. Ein dritter findet auf dem Hochzeitsfoto seiner Eltern einen Mann, den niemand kennt. Wir erleben die Geschichte der Verselbständigung dieses Mannes, und immer ist da ein Poetisch-Werden der Welt, dort, wo sie unscharf, alogisch, phantastisch wird, wo sie im Medium der Angst, des Zweifels, des Verlangens erscheint und die Grenzen des Rationalen übersteigt, um wo anzukommen? In einem Zuwachs der Bilder, in einer Verdichtung der Stimmung, in einer Konzentration der Atmosphäre. Dies ist es, was in der antiken Kunstlehre als »aemulatio« bezeichnet wurde, eine Selbstüberbietung, die bei Hohler zu einem dauernden Anschwellen des Grotesken führt, bis jener Zustand erreicht ist, der Chaos heißt oder Apokalypse oder Welt am ersten Schöpfungstag, morgens.

Man erlebe nur in der Titelgeschichte den Einbruch des Phantastischen in das technische Zeitalter. Man sieht es nicht ohne Behagen, wie dies Phantastische triumphiert. Wer aber jetzt glaubt, Franz Hohler habe mit der Wirklichkeit weniger im Sinn als mit den Phantasmagorien, lese dagegen den Einstieg zu »Das Halstuch«, und er befindet sich mitten im Realismus. Diese Erzählung ist überhaupt besonders eindrücklich. Der nicht allwissende Erzähler gibt Zug um Zug preis, was er weiß, der Leser folgt ihm mit geweiteten Augen, denkt, er müsse erwachen, doch träumt er die Wirklichkeit.

Die Prosa der jüngeren Zeit, wie etwa »Bianca Carnevale«, entfaltet sich nicht weniger klassisch als ein Maupassant. Texte dieser Art hätte man ehemals »Novellen« genannt, ihrer klar konturierten Einzigartigkeit wegen. Erstaunlich, denkt man, angesichts der Wucht des Einfalls. Steigt man dann zurück in die Erzählung, stellt man fest, wie fein, wie zart, wie nuanciert sie geschrieben ist. Das Ungeheuerliche wird also angebahnt in lauter kleinen gewöhnlichen Schritten und Dialogeinheiten, im unmerklichen Entfalten des Normalen, das schließlich ungeheuerlich wirkt. Das ist dämonisch.

Ist die Freundlichkeit des Erzählers dämonisch? Vielleicht. Jedenfalls verändert er die Qualität des Staunens. Und Vorsicht, die Welt des Franz Hohler wirkt weiter. Sie entlässt uns nicht, wir gehen auf die Straße, und da ist sie schon und will weitererzählt werden: Ein Fundstück auf der Straße, ein vorbeifliegender Satz, ein verirrtes Signal – schon sind wir mittendrin in diesem Jenseits.

Erstveröffentlichungen

Der Rand von Ostermundigen

(Luchterhand, Neuwied, 1973)

Der Rand von Ostermundigen

(Westermanns Monatshefte, Dezember 1972, Georg Westermann Verlag, Braunschweig, 1972)

Der Mann, der ein Kauz sein möchte

(Der Rand von Ostermundigen, Luchterhand, Neuwied, 1973)

Bedingungen für die Nahrungsaufnahme

(Tages-Anzeiger magazin, Nr. 4, 27. Januar 1973)

Das Dach

(Der Rand von Ostermundigen, Luchterhand, Neuwied, 1973)

Erzählung

(Der Rand von Ostermundigen, Luchterhand, Neuwied, 1973)

Das Haustier

(NZZ, Nr. 565, 3.12.1972)

Der Stich

(Der Rand von Ostermundigen, Luchterhand, Neuwied, 1973)

Die beiden Männer

(drehpunkt – Schweizerische Literaturzeitschrift, Nr. 17, 1972)

Das Strafporto

(Der Rand von Ostermundigen, Luchterhand, Neuwied, 1973)

Die innere Stimme

(Der Rand von Ostermundigen, Luchterhand, Neuwied, 1973)

Die Fotografie

(Der Rand von Ostermundigen, Luchterhand, Neuwied, 1973)

Die Rückeroberung

(Luchterhand, Darmstadt und Neuwied, 1982)

Die Rückeroberung

(ZEITmagazin, Nr. 38, 12. September 1980)

Walther von der Vogelweide

(SALZ – salzburger literaturzeitung, Jg 7, Nr. 28, April 1982)

Billiges Notizpapier

(Nebelspalter, Nr. 33, 17. August 1982)

Der Kuss

(Der Kuss. Neue Geschichten und Gedichte, SUMUS Verlag, Feldmeilen, 1980)

Der Geisterfahrer

(NZZ, Nr. 205, 4./5.9.1982)

Das Halstuch

(Weltwoche magazin, Nr. 22, 2. Juni 1982)

Der Langläufer

(schmali Poscht – Vereinsinformationsschrift der Langlauf-Wandergruppe Schaffhausen, Nr. 30, Dez. 1980)

Der Flug

(pardon, Frankfurt a.M., Nr. 8, 1976)

Der türkische Traum

(Tages-Anzeiger magazin, Nr. 20, 22. Mai 1982)

 

Das verspeiste Buch

(Schöffling & Co., Frankfurt am Main, 1996)

Erstes Kapitel

(Von Büchern & Menschen, Frankfurter Verlagsanstalt,

Frankfurt am Main, 1987)

Zweites Kapitel

(Von Büchern & Menschen, Frankfurter Verlagsanstalt,

Frankfurt am Main, 1988)

Drittes Kapitel

(Von Büchern & Menschen, Frankfurter Verlagsanstalt,

Frankfurt am Main, 1989)

Viertes Kapitel

(Von Büchern & Menschen, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 1990)

Fünftes Kapitel

(Von Büchern & Menschen, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 1991)

Sechstes Kapitel

(Von Büchern & Menschen, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 1992)

Siebtes Kapitel

(Von Büchern & Menschen, Schöffling & Co., Frankfurt am Main, 1994)

 

Die Karawane am Boden des Milchkrugs

(Luchterhand, München, 2003)

Ein ganz schwerer Transport

(Tages-Anzeiger magazin, Nr.5, 6. Febr. 1971)

Der Abstecher

(VOLG-aktuell, Mai 1977)

 

Die Torte (Luchterhand, München, 2004)

Die Torte

(Grappa, Geist(er)geschichten aus dem Tessin, HF SWR 2, 2.12.2002)

Der Schimmel

(Die Torte, Luchterhand, München, 2004)

Die Mönchsgrasmücke

(Die Torte, Luchterhand, München, 2004)

Das Denkmal

(Die Torte, Luchterhand, München, 2004)

Die Rechnung

(Die Torte, Luchterhand, München, 2004)

Der Betrug

(Die Torte, Luchterhand, München, 2004)

Die Schenkung

(Die Torte, Luchterhand, München, 2004)

Das Kleid

(Die Torte, Luchterhand, München, 2004)

Der Brief

(Die Torte, Luchterhand, München, 2004)

Die Überraschung

(Die Torte, Luchterhand, München, 2004)

 

Der Stein

(Luchterhand, München, 2011)

Der Präsident

(Sommerkätzchen, Piper Verlag, München, 2010)

Die Raucherecke

(Strassenmagazin Surprise, Basel, Nr. 205, 17. Juli bis 6. August 2009)

Der vierte König

(Profile, HF SWR 2, 6.1.2009 und: Schön zu hören. Satzschippen aus dem Radio, Weissbooks GmbH, München, 2009)

Ein Nachmittag bei Monsieur Rousseau

(Henri Rousseau, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2010)

Der Bleistiftstummel

(Akzente - Zeitschrift für Literatur, Heft 4/2010)

Juckreiz

(Der Stein, Luchterhand, München, 2011)

Der Sender

(Der Stein, Luchterhand, München, 2011)

Die Grenze

(WoZ, Nr. 25, 23.6.2011)

Bianca Carnevale

(Der Stein, Luchterhand, München, 2011)

Der Stein

(Der Stein, Luchterhand, München, 2011)

Der Rand von Ostermundigen

Am Rand von Ostermundigen steht ein Telefon. Daneben sitzt ein Mann, der jedes Mal, wenn es läutet, abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Wenn die Leute fragen, ist dort nicht Rieser oder Maibach, dann sagt er: »Nein, das ist der Rand von Ostermundigen!«, und hängt wieder auf.

Das ist der Anfang der Geschichte ›Der Rand von Ostermundigen‹.

 

Diesen Mann, das muss ich gleich zu Beginn sagen, diesen Mann kennt niemand. Es gab eine Zeit, da hätte ich ihn gerne kennengelernt, und zwar vor allem, damit ich bei Gelegenheit in ein Gespräch hätte einflechten können, ich kenne einen Mann, der jedes Mal, wenn das Telefon läute, abnehme und sage: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Bis vor kurzem hätte das auch die Wirkung gehabt, an der mir gelegen wäre, die Leute hätten gedacht, das ist aber interessant, der kennt einen Mann, der jedes Mal, wenn das Telefon läutet, abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Inzwischen ist aber mit diesem Mann soviel geschehen, dass ich nicht mehr sagen könnte, ich kenne einen Mann, der, sondern ich müsste sagen, ich kenne den Mann, der, und die Leute würden sich auf mich stürzen und fragen, was, den kennen Sie?

Das ist die Fortsetzung der Geschichte ›Der Rand von Ostermundigen‹.

 

Nehmen wir an, Sie telefonieren einem Bekannten in Bern, der Hofmann heißt. Sie stellen seine Nummer ein, 22 10 46, dann kann es sein, dass ein Mann abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Wenn Sie nun fragen, ist dort nicht Hofmann, dann sagt er: »Nein, das ist der Rand von Ostermundigen!«, und hängt wieder auf. Sie hängen auch auf und stellen die Nummer nochmals ein, und dann meldet sich Ihr Bekannter namens Hofmann, und wenn Sie ihn fragen, ob er einen Witz gemacht habe, dann sagt er nein und weiß von nichts.

Ostermundigen liegt bei Bern, es hat dieselbe Vorkennzahl, 031, es ist also möglich, dass Sie falsch gewählt haben und zufällig die Nummer des Mannes eingestellt haben, der jedes Mal, wenn das Telefon läutet, abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen.«

Jetzt kann es aber auch sein, dass Sie einen Bekannten in Chur anrufen wollen, der unter der Nummer 22 28 26 erreichbar ist, und dass dann, wenn Sie diese Nummer eingestellt haben, wieder der Mann abnimmt und sagt: »Das ist der Rand von Ostermundigen« und dass er, wenn Sie fragen, ob Sie mit Herrn Caprez sprechen können, sagt: »Nein, das ist der Rand von Ostermundigen!« und wieder aufhängt. Chur hat die Vorkennzahl 081, Sie müssten sich also von 081 nach 031 verwählt haben, was Sie sich kaum vorstellen können.

Sie haben sich auch nicht verwählt, denn das, was Ihnen passiert, passiert andern auch, und zwar jeden Tag. Irgendwo sitzt ein Mann, der sich in Telefongespräche einschalten kann und hat kein anderes Interesse, als auf den Rand von Ostermundigen hinzuweisen. Ich muss sagen irgendwo, weil man inzwischen in Ostermundigen selbst sämtliche Anschlüsse überprüft hat, von Abbühl bis Zysset, und keine Unregelmäßigkeit feststellte. Hätte man allerdings so etwas wie eine Fehlschaltung gefunden, wäre man damit nicht viel weiter gekommen.

Es ist noch nicht lange her, da war er zum ersten Mal am Radio zu hören; als der König in einer Kinderstunde zum Schweinehirt sagen wollte, ich gebe dir also meine Tochter zur Frau, sagte er statt dessen: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Der Schauspieler, der die Rolle des Königs sprach, hatte diesen Satz nicht selbst gesagt, sondern es war die Stimme des Mannes, der diesen Satz auch am Telefon sagt, es war der Mann am Rand von Ostermundigen.

Die Hoffnung, dies würde ein Einzelfall bleiben, erfüllte sich nicht. Am nächsten Tag wurde eine Aktualitätensendung mit den Worten angesagt: »Sie hören nun unsere aktuelle Sendung: Das ist der Rand von Ostermundigen.« Die Sprecherin erklärte nachher, sie habe gesagt: »Sie hören nun unsere aktuelle Sendung: Die laufende Woche«, aber für den Hörer hatte sich nach dem Wort »Sendung« ein leichter Pfeifton bemerkbar gemacht, auf dem dann die Stimme des Mannes am Rand von Ostermundigen ertönte.

Seither ist kein Tag vergangen, an dem sich der Mann nicht in irgendeine Sendung eingeschaltet hat, öfters gibt er seinen Hinweis während der Nachrichten ab, und der Satz hat dann auch die Eigenheit, dass er sich nicht mehr wegbringen lässt, also wenn sich der Sprecher am Schluss der Nachrichten korrigieren will, kann es sein, dass er sagt: »Wir bitten Sie um Entschuldigung für die kleine Störung, der Präsidentschaftskandidat hat in seiner heutigen Pressekonferenz nicht gesagt, das ist der Rand von Ostermundigen, sondern das ist der Rand von Ostermundigen.«

Natürlich tun die Behörden das möglichste, um diesem Mann auf die Spur zu kommen. So hat man die Bevölkerung gebeten, jedes Auftauchen des Satzes »Das ist der Rand von Ostermundigen« in einem Telefongespräch zu melden, und es hat sich herausgestellt, dass dieser Satz häufiger gesprochen wird, als es einem einzelnen möglich wäre. Gegenwärtig findet die größte Suche statt, an die man sich in diesem Land erinnern kann, Peilgeräte, mit denen man sonst Schwarzhörer ermittelt, werden zusammen mit Polizei und Militär zur Auffindung und Vernichtung dieses Satzes eingesetzt, der sich indessen immer mehr verbreitet.

Neuerdings hat er sich auch des Fernsehens bemächtigt. In einer Diskussion über Wohnbauprobleme wollte gerade ein Vertreter der Bauunternehmer auf die gestiegenen Produktionskosten hinweisen, als es auf dem Bildschirm dunkel wurde und man den Satz hörte: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Seither ist auch keine Fernsehsendung mehr gegen diesen Satz gesichert, nur sind die Aussagen darüber, was man während des Satzes sehe, sehr verschieden.

Einige Leute behaupten, sie sähen, wenn es dunkel werde, ganz schwach das Gesicht eines alten Mannes mit einem Bart, andere glauben während dieser Zeit einen Raubvogel wahrzunehmen, der seinen Kopf ruckartig auf sie zudreht, die Mehrzahl der Leute aber, die den Einbruch des Satzes erleben, machen die Aussage, sie sähen während des Satzes auf dem Bildschirm sich selber.

Noch etwas muss gesagt werden, und zwar zu der angestrengten Suche nach dem Urheber des Satzes. Auch wenn diese Suche, woran ich übrigens zweifle, den Erfolg haben sollte, dass man eines Tages in einer Felshöhle oder einem Keller eine Sendeanlage entdeckt, dann wäre damit der Satz »Das ist der Rand von Ostermundigen« nicht mehr rückgängig zu machen.

Schlagen Sie eine beliebige Tageszeitung auf und lesen Sie sie von vorn bis hinten durch – irgendwo werden Sie den Satz lesen »Das ist der Rand von Ostermundigen«, kleingedruckt neben dem Kremationsdatum in einer Todesanzeige, oder als Legende zum Bild eines Rennfahrers, der eine Etappe gewonnen hat.

Jeder fürchtet sich heute davor, einen Brief zu schreiben, aus Angst, es könnte darin stehen »Das ist der Rand von Ostermundigen«, jeder fürchtet sich heute davor, eine Ansprache zu halten, aus Angst, er könnte sagen »Das ist der Rand von Ostermundigen«, anfangs haben viele diesen Satz zum Spaß gesagt, heute macht niemand mehr einen Witz damit, die Leute haben Angst bekommen zu sprechen, und zwar in jeder Situation, stellen Sie sich vor, ein Metzger zeigt einer Kundin ein Stück Rindfleisch und sagt dazu: »Das ist der Rand von Ostermundigen.«

Wohin das noch führen wird, ist schwer abzusehen. Im Moment scheint sich eine Möglichkeit zu zeigen, wie man diesen Satz zwar nicht ausrotten, aber unter Kontrolle bringen könnte.

Ein Mann aus der Politik, welcher eine Rede halten musste und befürchtete, er könnte vom Satz überrascht werden, versuchte ihn dadurch zu überlisten, dass er die Rede mit den Worten anfing: »Meine Damen und Herren, das ist der Rand von Ostermundigen!« Man hätte nun denken können, dass auch dies nichts nützte, ja dass er dadurch erst recht den Satz nochmals heraufbeschworen hätte, aber dies war nicht der Fall, er konnte ungestört weiterfahren.

Das ist bekannt geworden, und wer sich jetzt gegen den Satz schützen will, kann ihn einfach freiwillig aussprechen und wird dann nicht mehr von ihm betroffen. In diesen Tagen gehen viele zu dieser Methode über, das Radio beginnt seit gestern seine Sendungen mit der Ansage, guten Tag, liebe Hörerinnen und Hörer, das ist der Rand von Ostermundigen, die Zeitungen haben beschlossen, den Satz als Untertitel zu drucken, Lehrer fangen ihre Schulstunden so an, Bekannte, die sich antreffen, begrüßen sich mit diesen Worten, und ich, der ich Geschichten schreibe, habe mir jetzt dadurch geholfen, dass ich eine Geschichte über diesen Satz geschrieben habe.

 

Ich finde aber, das ist auf die Dauer keine Lösung. Es geht doch nicht, dass wir uns mit diesem Satz abfinden, es geht doch nicht, dass wir diesem Satz nicht Meister werden, dass wir uns diesem Satz einfach unterziehen, diesem Satz, der sinnlos ist, diesem Satz, der nur dann angebracht ist, wenn man den Rand von Ostermundigen vor sich sieht, in Wirklichkeit oder auf einem Bild, und selbst wenn man in einer Situation ist, wo dieser Satz hinpasst, dann geht von diesem Rand von Ostermundigen, den ich nicht kenne, nichts aus, es werden ein paar Wohnblöcke sein, eine Wiese, ein Waldrand vielleicht, aber es ist nicht einzusehen, warum ausgerechnet das von Bedeutung sein soll, und jetzt, gerade jetzt, vernehme ich, dass heute zum ersten Mal die Stimme des Mannes nicht mehr gehört wurde, er braucht sich nicht mehr zu melden, er hat erreicht, was er wollte, jeder kennt den Satz, jeder spricht ihn aus, keiner kann mehr etwas sagen, ohne zugleich an den Rand von Ostermundigen zu denken, und keiner weiß, was damit gemeint ist.

 

Dieser Satz muss zum Schweigen gebracht werden. Das ist das Ende der Geschichte ›Der Rand von Ostermundigen‹.

Der Mann, der ein Kauz sein möchte

Es gibt einen Mann, und ich verbürge mich für seine Existenz, dessen größter Wunsch ist es, ein Kauz zu sein. Seine Erscheinung, seine Sprache, sein Benehmen sind einzig darauf ausgerichtet, den Eindruck von Kauzigkeit zu erwecken. Wenn Sie ihm begegnen, und das wäre, da es ihn wirklich gibt, nicht ausgeschlossen, könnte das auf die folgende Art verlaufen.

An einem Samstagnachmittag würden Sie, während Sie durch die Stadt gehen, plötzlich bemerken, wie einem Mann, der vor Ihnen geht, ein Frankenstück aus der Hand auf den Boden fällt, ohne dass er davon Notiz nimmt. Wenn Sie, was ich eigentlich voraussetze, nicht selbstsüchtig veranlagt sind, nehmen Sie das Geldstück auf, beschleunigen Ihren Gang, holen den Mann ein und halten es ihm hin, indem Sie ihm sagen, er hätte das vorhin verloren. Der Mann wird sich dann hocherfreut zeigen, und da Sie gerade an einem Café vorbeigehen, wird er sagen, wissen Sie was, mit diesem Franken lade ich Sie zu einem Umtrunk ein. Das Wort Umtrunk könnte Sie schon stutzig machen, aber da Sie gerade Zeit haben und nicht ungern einen Kaffee trinken würden, nehmen Sie die Einladung an.

Auf dem Weg zu seiner Wohnung – er führt Sie nämlich in seine Wohnung und nicht in das Café, weil er Cafés wegen ihres guten Kaffees hasse, wie er sagt, und Sie gehen mit, weil Sie den Moment verpasst haben, nein zu sagen – auf dem Weg zu seiner Wohnung fällt Ihnen auf, dass er das Frankenstück, mit dem er bisher gespielt hat, verschwinden lässt und aus der Busentasche seines Kittels einen schwarzen Handschuh zieht, den er sich über die rechte Hand streift. Vor seiner Tür angekommen – er wohnt im vierten Stock eines Altstadthauses – zertrümmert er mit einem Faustschlag ein Milchglasscheibenabteil, langt dann mit der Hand durchs Loch und öffnet die Tür von innen. Schon wieder den Schlüssel vergessen, sagt er, wissen Sie, ich bin sehr zerstreut, absolut zerstreut, hach. Er sagt nicht ach, sondern hach. Da ist er ja! ruft er und greift in seine andere Busentasche, je nun, quod scripsi scripsi. Sie sagen, das ist aber schade, dass Sie jetzt die Scheibe kaputtgemacht haben, und er sagt, halb so schlimm, und öffnet einen Kasten, in dessen Fuß sich zwei Reihen Ersatzscheiben befinden, er nimmt eine, hängt die zerstörte aus und setzt die neue ein, dazu sagt er, ich bin eben ein seltsamer Kauz.

Gerade jetzt würde Ihnen aber aufgehen, dass dieser Mann kein echter Kauz ist von der Art eines Gärtners oder Totengräbers oder Zeitungsverkäufers, sondern dass es sich um eine gewollte, gekünstelte Kauzhaftigkeit handelt, mit der er sich nur interessant machen will.

Seine Wohnung ist durch und durch originell eingerichtet, was für ihn zweifellos eine große Anstrengung bedeutete, aber wenn man ihn auf etwas hin anspricht, sagt er scheinbar zerstreut, das da? Ja, recht lustig, nicht. In der Küche zum Beispiel ist das große Ablaufrohr mit einem leichten Farbriss, von oben nach unten verlaufend, versehen, und er hat kleine Heftpflaster darübergeklebt, sodass der scherzhafte Eindruck entstehen soll, diese Pflaster halten die Röhre zusammen.

In der Toilette ist ein Bild von einer Toilettenschüssel aufgemacht, aus welcher zwei Hände greifen und sich an der Sitzbrille festhalten. Hinter der Schüssel ist eine Parkverbotstafel befestigt, und darunter ein Schild »Nur Ein- und Aussteigenlassen erlaubt«. Wenn Sie die Toilette verlassen, wird der Mann schon hinter dem Garderobenständer auf der Lauer stehen, um zu beobachten, ob Sie schmunzelnd herauskommen, und wenn Sie sagen, das finde ich aber sehr gut, wird er zuerst fragen, was denn, und wenn Sie sagen, dieses Schild auf der Toilette, dann wird er sagen, hach das?

Bestimmt wird er Ihnen außer einem Kaffee eine Kleinigkeit zum Essen auftischen, denn dann kommen Sie nicht darum herum festzustellen, dass er alle seine Teller mit »Teller« angeschrieben hat. Passen Sie auf, wenn er Ihnen nachher eine Zigarette anbietet, er tut es nur, damit Sie nach einem Aschenbecher fragen müssen. Sicherlich, wird er sagen, nehmen Sie ihn doch selbst, er befindet sich direkt hinter Ihnen, wenn Sie den Kasten öffnen. Sie drehen sich um, öffnen den Kasten, und darin steht ein Skelett. Wenn Sie erschrecken und wieder zumachen wollen, sagt der Mann, nein, nein, das ist er, nehmen Sie ihn heraus, oder warten Sie, ich helfe ihnen, komm Kuno, er heißt nämlich Kuno, wird er sagen, und nimmt ihn heraus, stellt ihn neben Sie, legt ihm die rechte Hand auf den Tisch und setzt ihm seine eigene Schädeldecke hinein, in die Sie nun Ihre Asche abklopfen können.

Das Gespräch mit ihm wird sehr stockend sein, weil er auf nichts eigentlich eingeht, was Sie sagen, er wartet nur auf Gelegenheiten, sein Kauztum unter Beweis stellen zu können, und dafür opfert er jeden realen Inhalt. Sie werden nicht herausfinden können, wovon er lebt, denn wenn Sie ihn fragen, was er von Beruf sei, dann überlegt er einen Augenblick, natürlich sichtbar, indem er die Stirn runzelt, seine Hand ins Kinn stützt, die Lippen leicht öffnet und intensiv nach oben blickt, und dann sagt er, ich habs vergessen, tatsächlich, ich habs vergessen, ich bin ja absolut zerstreut.

Versuchen Sie ihm die Frage zu stellen, ob er Junggeselle sei, dann wird er so lange drumherum reden, in der Art von wie meinen Sie das, oder was heißt das, Junggeselle, bis Sie das Wort Frau brauchen, und dann wird er etwas zerfahren fragen, Frauen, warten Sie, Frauen, was ist jetzt das schon wieder … Hach! Das sind diese Wesen mit den langen Haaren, die beim Tanzen rückwärts gehen! Dann sagt er nichts mehr und lässt diesen Satz wirken, den er sich einmal in einer Anekdotensammlung gemerkt hat.

Wenn es Ihnen gelingt, den Besuch zu beenden, dann leuchtet, kurz bevor Sie die Wohnung verlassen, über dem Türrahmen eine rosa Schrift auf mit den Worten AUF WIEDERSEHN. Sie können ja, wie das alle tun, fragen, wieso das N am Schluss schräg über der Zeile stehe, und ihm damit noch Gelegenheit geben zu sagen, das ist scheinbar hinunter-, eh hinaufgefallen.

Verabschieden Sie sich, verabschieden Sie sich, mit solchen Menschen kann man nicht lang zusammenbleiben, und schauen Sie, wenn Sie unten zur Tür hinausgehen, nicht nach oben, nein, wieso schauen Sie jetzt nach oben, wo ich gerade gesagt habe, Sie sollen es nicht tun – muss es denn sein, dass Sie auch noch sehen, wie er Ihnen in der Maske eines Hühnerkopfes zum Fenster hinaus nachblickt?

Bedingungen für die Nahrungsaufnahme

Mir ist der Fall eines Kindes bekannt, das, knapp nachdem es ein Jahr alt geworden war, nichts mehr essen wollte. Wenn man ihm seine Nahrung, die meistens aus einem Brei bestand, eingeben wollte, verwarf es die Hände vor dem Gesicht, schüttelte den Kopf und wand sich, sodass es unmöglich war, ihm auch nur einen Löffel davon in den Mund zu bringen. War man doch einmal so weit vorgedrungen, spuckte es sofort alles wieder aus und begann zu schreien. Das einzige, was es zu sich nahm, war etwas Wasser, aber schon wenn man ihm statt dessen Milch hinhielt, wollte es nichts mehr davon wissen.

Die Eltern waren beunruhigt und konnten sich diese plötzliche Änderung nicht erklären. Sie versuchten das Kind zuerst mit Zureden, dann mit Drohungen und Schlägen zur Annahme des Breis zu bewegen, aber es war vergebens; sie legten ihm eine Banane hin, die es sonst unter allen Umständen gegessen hätte, doch das Kind nahm sie nicht. Erst ein Zufall führte zu einer Lösung. Das Zimmer des Kindes war mit einem Gatter, das man in den Türrahmen einklemmte, abgesperrt, sodass das Kind bei offener Türe im Zimmer gelassen werden konnte und man hörte, was drinnen vorging, ohne dass es die Möglichkeit hatte hinauszurennen. Am dritten Tag der Nahrungsverweigerung wollte der Vater der Mutter, die sich schon im Zimmer befand, um das Kind zu Bett zu bringen, den Brei hineinreichen, da kam das Kind an das Gatter gelaufen und schaute begierig zum Teller hinauf. Sogleich beugte sich der Vater hinunter und begann, ihm über das Gatter hinweg den Brei einzulöffeln, und das Kind, das sich mit den Händen an den Stäben hielt und mit dem Kopf gerade über den Gatterrand hinausreichte, schien sehr zufrieden und aß den ganzen Brei auf. Am nächsten Morgen fütterte der Vater, bevor er zur Arbeit ging, das Kind auf dieselbe Weise, und es zeigte nicht die geringsten Widerstände. Als aber die Mutter am Mittag dem Kind den Brei über das Gatter geben wollte, lief es weg und schlug den Deckel seiner Spieltruhe solange auf und zu, bis sich die Mutter aus dem Türrahmen entfernte. Vom Vater nahm es am Abend wieder ohne Umstände den Brei über das Gatter.

Nun aß das Kind zwar wieder, aber die Tatsache, dass es nur von seinem Vater gespeist werden wollte, machte den Eltern zu schaffen. Abgesehen davon, dass es so nur zwei Mahlzeiten am Tag bekam, war es für den Vater nicht einfach, jeden Abend pünktlich dazusein, um dem Kind sein Essen zu verabreichen, er musste sich von Berufs wegen öfters von seinem Wohnort wegbegeben. Einmal erschien er leicht verspätet und hörte das Kind schon schreien, warf den Mantel rasch über einen Stuhl, ging zum Kinderzimmer und gab dem Kind sein Essen. Erst nachher merkte er, dass er vergessen hatte, seinen Hut dazu abzunehmen. Als er am andern Morgen wieder zum Kind ging, wollte es nicht essen, zeigte ihm jedoch unablässig auf den Kopf. Da erinnerte sich der Vater an den vorigen Abend, holte seinen Hut und setzte ihn auf, und befriedigt ließ sich das Kind nun seinen Brei geben. Von nun an musste der Vater immer einen Hut anhaben, wenn er wollte, dass das Kind aß.

Bisher war die Mutter stets zugegen gewesen, wenn das Kind sein Essen erhielt, nun blieb sie einmal am Morgen, als sie schlecht geschlafen hatte, im Bett, da sich der Vater anerboten hatte, das Kind allein zu besorgen. Das Kind weigerte sich aber, den Brei ohne die Gegenwart der Mutter zu essen, und so blieb dem Vater nichts anderes übrig, als die Mutter herzuholen, welche sich im Nachthemd auf ein Kinderstühlchen setzte.

Am selben Abend wehrte sich das Kind schreiend gegen die Zumutung, seinen Brei zu essen, dabei war alles in Ordnung. Der Vater stand außerhalb des Gatters und hatte seinen Hut an, und die Mutter war auch dabei. Allerdings trug sie jetzt ihre Tageskleidung, und da das Kind immer wieder auf die Mutter zeigte, zog sie schließlich ihr Nachthemd an und kam wieder ins Zimmer. Das Kind war aber erst zufrieden, als sie sich wieder auf das Kinderstühlchen setzte und von dort aus zuschaute, wie es aß.

Von jetzt an musste sich die Mutter immer zur Essenszeit des Kindes das Nachthemd anziehen, sonst war an eine Nahrungsaufnahme gar nicht zu denken.

Bald ließ sich das Kind nicht mehr von zufällig eingetretenen Ereignissen leiten, die es wiederholt haben wollte, sondern begann, sich selbst neue Forderungen auszudenken. So deutete es als nächstes auf den Schrank, der im Zimmer stand, und schaute dazu seine Mutter an. Die Mutter ging auf den Schrank zu und wollte ihn öffnen, doch da heulte das Kind auf und zeigte auf die Decke des Schranks. Die Mutter sagte, nein, das mache sie nicht, da legte sich das Kind auf den Boden und strampelte mit Händen und Füßen in der Luft, indem es gellende Schreie von besonderer Widerlichkeit dazu ausstieß. Trotzdem beschlossen die Eltern, auf diesen Wunsch des Kindes nicht einzugehen, und so musste es ohne Essen ins Bett. Bis zum Morgen, so hofften sie, hätte es den Gedanken bestimmt wieder vergessen.

Als die Mutter am andern Morgen im Nachthemd auf dem Kinderstühlchen saß und der Vater im Hut vor dem Gatter stand und dem Kind das Essen eingeben wollte, lehnte es wieder ab und zeigte auf die Decke des Schranks. Die Eltern erfüllten ihm den Wunsch nicht, aber das Kind aß nichts.

Nach zwei Tagen, als es bereits Schwächeerscheinungen zeigte, weil es außer Wasser nichts zu sich genommen hatte, gaben die Eltern nach, die Mutter kletterte im Nachthemd auf den Schrank und legte sich flach hin, worauf das Kind sofort und mit großer Begeisterung seinen Brei aß, sich aber immer wieder mit Blicken versicherte, ob die Mutter ihm auch wirklich beim Essen zuschaue. Die Eltern waren nach dieser Niederlage sehr geschlagen und schauten geängstigt dem entgegen, was noch kommen würde. Man kann sich fragen, ob ihr Verhalten richtig war, aber sie sahen keinen andern Weg, um das Kind nicht verhungern zu lassen. Die Kinderärztin, die immer für die Kinder und gegen die Eltern entschied, empfahl dringend, den Wünschen des Kindes nachzugeben, da es wichtiger sei, dass das Kind esse, als dass die Eltern möglichst sorglos lebten, und ein Kinderpsychologe, mit dem der Vater bekannt war, konnte auch nicht helfen, sprach von einer etwas verfrühten Trotzphase und machte vage Hoffnungen, dass sie vorübergehend sei.

Dafür gab es aber noch keine Anzeichen, denn als das Kind das nächste Mal essen sollte, rannte es zum Fenster und war nicht mehr davon wegzubringen. Der Vater wies das Kind auf die Mutter hin, die ordnungsgemäß im Nachthemd auf dem Schrank lag, deutete auf seinen Hut und wollte ihm das Essen über das Gatter geben, aber das Kind schüttelte sich am ganzen Körper und griff mit beiden Händen nach dem Fenstersims. Der Vater wollte es zwar nicht wahrhaben, aber er wusste, was das bedeutete. Das Zimmer lag im ersten Stock, er holte also eine Leiter im Keller, stellte sie außen an das Haus, stieg darauf zum Kinderzimmer hoch und reichte dem Kind den Brei durch das offene Fenster. Das Kind strahlte und aß alles auf.

Am folgenden Tag regnete es, und der Vater erstieg die Leiter zum Kinderzimmer mit einem Regenschirm. Von nun an musste er immer mit dem Regenschirm ans Fenster kommen, unabhängig vom Wetter, sonst wurde der Brei nicht gegessen.

Inzwischen hatten die Eltern, um sich etwas zu entlasten, ein Dienstmädchen genommen. Das Kind jedoch lehnte dieses gänzlich ab und wollte sich nur von der Mutter betreuen lassen. Auch die Hoffnung, das Dienstmädchen könne sich im Nachthemd der Mutter auf den Schrank legen, erwies sich als falsch, das Kind verfiel fast in Tobsucht ob des plumpen Täuschungsversuches. Als aber das Dienstmädchen das Zimmer verlassen wollte, war es auch wieder nicht recht. Es musste am Gatter stehenbleiben und ebenfalls zusehen, wie das Kind aß, und auch das reichte noch nicht. Es aß erst, wenn das Dienstmädchen bei jedem Löffel, den es schluckte, einmal eine Rasselbüchse schüttelte.

Das, hätte man annehmen können, war nun fast das Äußerste, aber jetzt fing das Kind an, den Vater wegzustoßen, wenn er sich über den Sims lehnte, und auch den Teller mit dem Brei hinunterzuwerfen, den der Vater jeweils aufs Fensterbrett stellte. Dem Vater fiel nichts anderes mehr ein als sich eine sehr hohe Bockleiter zu kaufen. Die stellte er in einiger Entfernung von der Hausmauer auf, stieg dann hoch und verabreichte dem Kind den Brei mit einem Löffel, den er an einem Bambusrohr befestigt hatte. Um mit diesem Löffel in den Brei eintauchen zu können, musste er den linken Arm mit dem Teller ganz ausstrecken, konnte also den Brei nicht auf der Leiter abstellen. Da er aber nicht ohne Schirm auftreten durfte und ihn nicht wie bisher in der Hand halten konnte, hatte er sich ein Drahtgestell angefertigt, das er auf die Schultern nehmen konnte und in welches der Schirm eingesteckt wurde, sodass er ihn etwa in derselben Höhe über sich trug, wie wenn er ihn in der Hand gehabt hätte.

Ein Nachbar, der zu diesem Zeitpunkt seinen Feldstecher auf das Haus gerichtet hat, sieht also folgendes:

Der Vater reicht dem Kind den Brei in einem an einer Bambusstange befestigten Löffel von einer Bockleiter außerhalb des ersten Stockes durchs Fenster. Dazu trägt er einen Hut und einen Regenschirm, den er an einem Drahtgestell über den Schultern festgemacht hat. Die Mutter liegt im Nachthemd auf dem Schrank, und das Dienstmädchen steht vor dem Gatter, das im Türrahmen eingeklemmt ist. Beide schauen zu, wie das Kind isst, und das Dienstmädchen schüttelt zusätzlich bei jedem Löffel, den das Kind schluckt, eine Rasselbüchse.

 

Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, und nur dann, dann isst das Kind.

Das Dach

Schon seit längerer Zeit beschäftigt mich die Vorstellung eines Daches.

Dieses Dach würde eine Villa bedecken, die gegen Ende des letzten Jahrhunderts erbaut worden wäre, im Stil eines schottischen Schlosses, mit granitenen Mauersteinen und gotischen Fenstern. Da das Dach ebenso alt wäre wie die Villa selbst, müsste es gelegentlich ausgebessert werden, und man müsste zu diesem Zweck einen Dachdecker hinaufschicken.

Dieser Dachdecker aber, und hier nähme die Geschichte eine Wendung ins Unheimliche, dieser Dachdecker käme nicht mehr zurück. Man würde ihn suchen, noch am selben Abend wahrscheinlich, aber ohne Erfolg. Es wäre sogar so, dass der zweite Dachdecker, der das Dach bestiege, ebenfalls nicht mehr zurückkäme, und wenn am Schluss der Meister selber hinaufstiege, bliebe auch er verschollen. Es würde sich nun niemand mehr hinaufwagen, man würde das Dach überfliegen, aber von oben wäre alles normal. Niemand könnte sich das Wegbleiben der drei Dachdecker erklären, bis in den Estrich würden sich die Mutigsten vorwagen und auch dort nichts finden, kein Versteck, keinen Unterschlupf, und auch rund um die Villa fände sich kein einziger Hinweis, dass etwa jemand hinuntergefallen wäre. Ein Teil des Materials, das der erste Dachdecker mit sich genommen hätte, läge noch im Estrich unter der Luke, aus der er ausgestiegen wäre, aber schon das Seil, mit dem er sich angebunden hätte, wäre auf dem Dach nirgends mehr zu sehen.

Würde ich von einem solchen Vorkommnis hören, dann könnte ich es sofort erklären, ich sehe ganz genau, was da vor sich gegangen ist.

 

Der Dachdecker, der durch die Luke aufs Dach gestiegen ist, sichert sich zuerst, indem er an der Innenseite der Luke ein Seil befestigt, welches er sich selbst um den Bauch bindet, da es ein sehr steiler Teil des Daches ist, den er ausbessern soll. Dann begibt er sich zu der schadhaften Stelle, die schräg unter ihm liegt, um sie genau anzuschauen, ehe er mit der Arbeit beginnt. Bevor er aber dort angelangt ist, spürt er einen Ruck und merkt, dass das Seil schon ganz angespannt ist. Das wundert ihn, weil er geglaubt hat, es sei lang genug, und er schaut sich um. Da bemerkt er, dass sich das Seil bloß eingehakt hat, und zwar an einem kleinen Türmchen, das aus dem Dach ragt. Er geht zwei Schritte zurück und macht das Seil vom Türmchen los. Dabei fällt ihm auf, dass er das Türmchen vorhin übersehen hat, es sieht aus wie ein Kamin, ist aber zu klein dafür, wahrscheinlich ist es also ein Zierkamin, wie er manchmal auf Dächern dieser Art anzutreffen ist. Seltsamerweise ist aber ein ovales, leicht nach außen gewölbtes Bild an der Dachseite des Türmchens angebracht, es zeigt auf bräunlichem Hintergrund einen bräunlichen Mann mit einem Schnauz und einem Stehkragen, und darunter in zusammenhängenden Buchstaben die Inschrift »Il Dottore«. Das hat der Dachdecker noch nie gesehen, und es ist nicht verwunderlich, dass er eine Weile stehenbleibt und dieses Bild betrachtet. Dann ist zu sehen, wie er den Kopf schüttelt, und man hört deutlich, wie er sich räuspert, bevor er wieder zur schadhaften Stelle absteigt. Jetzt ist er dort angelangt und überblickt sie, insgesamt fehlen acht Ziegel, wahrscheinlich sind sie herausgerutscht und über das Dach hinunter in den Garten gefallen, das kann es geben bei stürmischem Wetter. Aber da sieht er, dass von der oberen Reihe – es sind zwei Reihen zu vier Ziegeln – noch Stücke unter den nächstoberen Ziegeln stecken, dass also die oberen Ziegel abgebrochen sind, dass also offenbar ein Gegenstand auf diese Stelle des Daches gefallen sein muss. Er schaut nun in das Loch hinein, in der Erwartung, auf dem Estrich einen großen Stein oder sonst ein Geschoss zu sehen, das diesen Bruch verursacht hätte. Es geht eine Weile, bis sich seine Augen an das Dunkel im Estrich gewöhnt haben, dann sieht er einen Apfel am Boden liegen und darum herum einige Teile von Ziegeln. Er späht in alle Ecken des Dachbodens, aber er sieht nichts außer diesem Apfel. Dass ein Apfel eine derartige Wirkung haben sollte, kann er sich nicht vorstellen, auch dass jemand diesen Apfel so hoch werfen konnte, dünkt ihn unwahrscheinlich, zudem scheint der Apfel überhaupt nicht beschädigt zu sein. Wie er den Kopf wieder aus der Luke zieht, hört er über sich ein Rauschen, blickt hinauf und sieht, was ihm vorher nicht aufgefallen ist, auf dem Dachfirst einen Apfelbaum. Nun wird er stutzig. Dass er das übersehen haben soll? Er beschließt, zum Dachfirst hinaufzusteigen, sieht aber, dass das Seil nicht reichen wird, und bindet sich deshalb los. Dies ist allerdings schwieriger, als er erwartet hat, weil sich das Seil inzwischen mit einer schlüpfrigen schwarzen Schicht überzogen hat, von der ihm nicht klar ist, woher sie kommt und woraus sie besteht. Der Geruch zwar erinnert ihn an gekochte Schnecken. Nun hat er sich losgebunden und steigt vorsichtig zum Dachfirst hinauf, wo er, kaum angekommen, sogleich den Stamm des Apfelbaums betastet und feststellt, dass es ein richtiger Baum ist, er sieht auch, dass seine Wurzeln in den Ziegeln verschwinden, wie wenn es Erde wäre, und kein Ziegel ist zersplittert oder zeigt auch nur einen Spalt, wie man das etwa von Mauern kennt, in die sich ein Baum eingewurzelt hat. Der Dachdecker sieht auch, dass der Baum noch mehr Äpfel trägt, er greift nach einem, der etwas tiefer hängt, verfehlt ihn und rutscht aus, kann sich gerade noch am Stamm festhalten, der dadurch erschüttert wird, sodass von allen Zweigen die Äpfel fallen, und jeder Apfel, der auf das Dach schlägt, bricht ein Loch in die Ziegel und verschwindet im Estrich. Der Dachdecker ist erschrocken, er hat mit einem Arm den Baumstamm umschlungen, kauert auf dem Dachfirst und schaut um sich – das ganze Dach ist nun durchlöchert, und er ist schuld daran. Er überlegt sich, was zu tun sei, und kommt zur Ansicht, dass er den Vorfall dem Besitzer des Hauses melden müsse, dass er sich aber zuerst einen der Äpfel beschaffen wolle, um zu sehen, weshalb sie die Kraft hatten, Ziegel zu durchschlagen. Wie er aber zur Luke hinuntersteigen will, kommt ihm das Dach so steil vor, wie ihm noch nie ein Dach vorgekommen ist, er sieht sein Seil von der Luke an abwärts hängen und merkt, wie er am ganzen Leibe zittert. Er schlingt beide Arme um den Baum, schläft in dieser Stellung ein und träumt, er sei Dachdecker.

 

Am Abend streckt der zweite Dachdecker seinen Kopf durch dieselbe Luke, aus der der erste am Morgen ausgestiegen ist. Er findet das Seil des ersten Dachdeckers an der Innenseite der Luke befestigt, schaut dem Seil nach und sieht, dass das Ende davon lose in der Nähe der Dachrinne liegt. Er vergewissert sich, dass das Seil gut festgemacht ist, steigt dann aufs Dach und geht, sich am Seil haltend, bis zur Dachrinne hinunter, lehnt sich etwas darüber hinaus und schaut nach unten, aber er sieht nirgends einen zerschlagenen Körper am Boden liegen. Er entdeckt die schadhafte Stelle, zieht sich vorsichtig am Seil bis zu ihr hoch und schaut durch das Loch in den Estrich. Was er jetzt sieht, hat er noch nie gesehen. Sein Herz beginnt schneller zu schlagen, er verspürt einen Druck im Kopf, seine Wangen röten sich, und er merkt, wie sein Glied anschwillt. Er kann nicht wegschauen, ja er will sich selbst auch hinunterbegeben, aber wie er durch das Loch steigen will, merkt er, dass es gar kein Loch ist, sondern dass es genauso mit Ziegeln bedeckt ist wie das übrige Dach, mit dem Unterschied, dass in der Mitte eines Ziegels jeweils ein kleines Stück aus Glas ist, und in diesem Glas ist ein Auge eingelassen, das zu ihm hinaufschaut. Jetzt merkt er auch, dass er seine Hose verloren hat und nur im Hemd dasteht, nicht einmal Unterkleider hat er an. Er will sein Hemd zwischen den Beinen durchziehen, aber es ist zu kurz dazu, er bedeckt sein Glied, das sofort wieder schlaff wird, mit der linken Hand. So rasch wie möglich