Inhalt
Meine Jugendjahre in München
Unbeschwerte, später furchtbare Kriegsjahre
9. Mai 1945
Zwischenstopp in Rumänien
Das erste Lager in Russland
Heiliger Abend 1945
Ostern 1946
Das Lager Georgijewsk
Rückkehr nach Georgijewsk
Weihnachten 1946
Pjatigorsk
1. Mai 1947
Die Hoffnung wächst
Verlegung in ein neues Lager
Waldlager in Maikop
Weihnachten 1947
Das Lager bei Mineralnyje Wody
Baldige Heimkehr
Das letzte Arbeitslager
Meine langersehnte Heimkehr
Ankunft in Frankfurt/Oder
Meine Jugendjahre in München
Die 1920er-Jahre waren in Südbayern so beschaulich wie vermutlich fast überall im deutschen Reich. Meine Eltern hatten sich eigentlich in einem kleinen oberbayerischen Dorf kennengelernt, aber geboren wurde ich dann doch im Jahre 1921 in München. Für uns Kinder war es eine schöne Zeit, auch wenn wir in einer kleinen Mietwohnung hausten und wenig Geld zur Verfügung hatten. Aber ich kannte ja nichts anderes und war glücklich und zufrieden. Die Vormittagsstunden verbrachte ich mehr oder weniger interessiert in der nahegelegenen Volksschule und am Nachmittag rannte ich mit meinen Schulfreunden in den Straßen herum oder haute mit den Füßen auf etwas Ballähnliches. Einen richtigen Fußball konnte sich keiner leisten. Durch Pferdefuhrwerke oder gar Autos wurden wir übrigens beim Spielen selten gestört.
Ich als Taferlbub
Zum Glück hatten wir in Giesing in der Nähe des Grünwalder Stadions einen Schrebergarten. Zu diesem wanderten meine Eltern zusammen mit mir, meinen drei Brüdern und meiner Schwester Elisabeth am Wochenende und an so manchem Sommerabend. Der Standort für den Schrebergarten war für meinen Vater, der übrigens Postler war, wichtig, denn er war glühender Fan des TSV 1860 und konnte somit die Fußballspiele des Vereins ansehen. Mutter pflegte einstweilen ihr Gemüse im kleinen Gärtchen.
Dann sollte mein älterer Bruder Ludwig Zither spielen lernen. Der Unterricht wurde im Vorhinein bezahlt. Aber Ludwig war ein derartiger Striezi und Umtreiber, dass an Zither spielen nicht zu denken war. Er wollte einfach nicht. Deshalb hat mein Vater bestimmt, dass eben ich Zither spielen lernen soll, damit das Geld für den Unterricht nicht verfällt. Also musste eine Zither gekauft werden. Aber es war wieder mal kein Geld da. Schließlich hat meine Mutter so viel Geld zusammengekratzt, dass es für die Anschaffung einer Zither gereicht hat. Der Unterricht machte mir überraschenderweise Freude, und ich spielte später gerne mit meinem Vater sowie auf der einen oder anderen Berghütte.
Mit Beendigung der Volksschule war das Münchner Lausbubenleben weitgehend aus, der berühmte »Ernst des Lebens« begann mit der Aufnahme einer Tapeziererlehre in einem kleinen Münchner Familienbetrieb. Nach dieser Lehre hatte ich das Gefühl, einen zweiten Beruf erlernen zu müssen, weil mir bewusst wurde, dass Tapezierer keine allzu guten Berufsaussichten hatten. Also lernte ich Polsterer und hatte Glück mit meinem Chef, der ein lieber Kerl war, sodass mir das Arbeiten Freude machte.
Josef Sedlmeier als Sechzehnjähriger
Mittlerweile war der furchtbare Krieg in vollem Gange, viele Soldaten kämpften an verschiedenen Schauplätzen in Europa, es gab unzählige Meldungen von Männern, die ihr Leben verloren hatten. Leid und tiefe Trauer waren plötzlich ganz nah, in unserem direkten Umfeld. Von meinen Brüdern gab es leider keine Nachrichten, nur den Funken Hoffnung, dass sie noch lebten. Eine große Belastung für meine Eltern. Herzliches und befreites Lachen wurden zur Seltenheit.
Josef Sedlmeier im Winter 1940/41 in Frankreich
Unbeschwerte, später furchtbare Kriegsjahre
Dann brachte der Briefträger ein Schreiben, das an mich gerichtet war. Ein Standardschreiben, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich mich zum Reichsarbeitsdienst einfinden musste. Der Spaten sollte mein ständiger Begleiter werden. Wir schaufelten, was das Zeug hielt. Schützengräben, immer wieder Schützengräben.
Der Reichsarbeitsdienst war ohne Spaten undenkbar.
Und natürlich hatten wir uns mit dem Karabiner zu beschäftigen, reinigen, zerlegen, zusammenbauen, Schießübungen. Der Karabiner war ja die angebliche »Braut« des Soldaten. Meine Braut habe ich mir allerdings ganz anders vorgestellt. Aber in meiner Jugendzeit dachte ich logischerweise sowieso nicht ans Heiraten, vielmehr beschäftigte mich die Unsicherheit der nahen Zukunft.
Fasching beim Reichsarbeitsdienst
In einem Sonderzug nach Frankreich
Unsere Kompanie im Gelände
Ich möchte an dieser Stelle aber nur wenig von der Zeit im Reichsarbeitsdienst, der relativ kurzen Zeit der Grundausbildung und dem anschließenden Kriegseinsatz sprechen, denn im Nachhinein betrachtet war dies überwiegend eine furchtbare Phase in meinem Leben, die ich immer wieder zu verdrängen versuche, weil wir eigentlich so vielen Menschen Leid zugefügt haben. Unschuldigen Menschen, in deren Land wir eingedrungen sind, ohne dass es einen wirklichen Grund dafür gegeben hat.
Nach der Grundausbildung wurde ich im Jahr 1940 dem gerade neu aufgestellten 306. Infanterie-Regiment zugeteilt. Das bedeutete, dass wir mit einem Sonderzug nach Frankreich in die Normandie gefahren wurden. Die Aufgabenstellung war im Wesentlichen Sicherung der Besatzungszone im Nordwesten des Landes und gleichzeitig Abwehr von eventuellen alliierten Angriffen.
Mit innerer Spannung fuhren wir Richtung Paris. Wir, der wir noch nie aus unserem direkten Umfeld herausgekommen sind. Endlich hinaus in die große, weite Welt. Mit Deutschland ging es offensichtlich steil bergauf. Natürlich waren wir von dieser Entwicklung zunächst begeistert, und von der Position, die wir plötzlich innehatten. Vom Polstererlehrling bin ich auf einmal »Herr über Frankreich« geworden. So fühlte ich mich wenigstens.
Unser Ziel war Caen, eine schöne Stadt im Département Calvados im Nordwesten von Frankreich. Stationiert waren wir in Verson, einem Dorf, das sieben Kilometer im Westen von Caen lag. Wir patrouillierten in der Stadt, die wir besetzt hatten wie den gesamten Norden Frankreichs.
Flakstellung bei Caen
Vor der Stadt hatten wir im Gelände einige Flakstellungen aufgebaut, um von England herannahende Bomber abzuwehren. Einmal gelang es uns, ein solches Vögelchen vom Himmel zu holen. Da und dort war Widerstand zu verspüren, wir verloren einige Kameraden, die von Partisanen aus dem Hinterhalt erschossen worden sind. Aber ansonsten hatten wir im Wesentlichen ein geruhsames Leben. Die Monate verstrichen wie im Flug, und vom Schicksal vieler Kameraden in Russland erfuhren wir zwar, aber wir verdrängten es. Russland war ja weit weg.
Von einer Flak abgeschossenes Flugzeug
Irgendwann einmal erwischte es mich: Ein Granatsplitter traf mich im Frühjahr 1943 in den Rücken. Keine allzu dramatische Sache. Aber ich musste ins Lazarett. Der Zug brachte mich nach Wiesbaden, wo mir der Splitter entfernt wurde. Die Wochen der Genesung in Wiesbaden waren eigentlich im Rückblick die schönsten für mich während der gesamten Zeit des Krieges. Ruhe, kein Krieg weit und breit, beste Betreuung von den sympathischen Krankenschwestern. Da hätte man sich schon verlieben können.
In unserem Lazarett in Wiesbaden
Beste Stimmung im Lazarett in Wiesbaden
Mittlerweile war die Situation in Stalingrad eskaliert, die Einheiten dort erheblich dezimiert, wenn nicht sogar vernichtet. Zur Verstärkung sind deshalb schon vor einigen Monaten Einheiten unserer 306. Infanterie-Division angefordert worden. Bedauerlicherweise wurde ich im Sommer 1943 wieder als einsatzfähig betrachtet und erhielt den Befehl, nach Osten zu meinen Kameraden zu fahren, nach Russland an die Front. Dass viele von ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben waren, konnte ich nicht ahnen.
Mit dem Zug ging es in Güterwaggons ostwärts. Obwohl unser deutsches Reich eigentlich schon durch die vielen Fliegerangriffe fast vollständig kaputt war. Auf dem Weg herrschte großes Tohuwabohu, immer wieder einmal Fliegerangriffe, raus aus dem Zug, in Deckung, dann wieder rein und weiter ging’s, Richtung Kaukasus. Dort kamen wir aber nie an, denn die Russen drängten uns mit Macht zurück. Im Kanonendonner und ihm Heulen der Granaten ging es fluchtartig zurück nach Westen. Immer wieder versuchten wir, die Stellung zu halten, aber die Kampfkraft der Russen war einfach zu groß. Lange, elende Monate vergingen in der grausamen Kälte des russischen Winters, aber auch in der gnadenlosen Hitze eines subtropischen Landes, ohne einigermaßen gute Versorgung, ständigen Angriffen ausgesetzt.
Jedem von uns war nach dem Winter 1944/45 klar, dass das Ende des Krieges gekommen war, dass wir einfach keine Chance mehr hatten. Es ging einfach nur noch ums Überleben und um die Frage, wann wir in Gefangenschaft geraten und vor allem von wem wir gefangen genommen würden. Von den Russen oder den Amerikanern, wobei die Russen gefürchteter waren. Also mussten wir so weit es ging nach Westen gelangen, in ein von den Amerikanern besetztes Gebiet. Denn bei den Russen schwangen noch die grausamen Erlebnisse mit, die sie mit den deutschen Soldaten verbanden. Schließlich sind wir ja in ihr Land eingedrungen, haben viele Menschen erschossen, von Vergewaltigungen war die Rede, von unsäglichem Leid, das wir über ihr Land gebracht haben.
Brennender Panzer
Also versuchten wir, in der Nacht zu marschieren, suchten am Tag Zuflucht in irgendeinem Wald und ernährten uns von irgendetwas, das wir bekommen konnten. Weiter, immer weiter nach Westen, der untergehenden Sonne nach. Wir schafften es tatsächlich, bis in die Tschechoslowakei zu gelangen, in unserer abgerissenen Kleidung, mit Stoppelbärten, dreckig, verschwitzt, verlaust, einfach kaputt, nicht nur körperlich, auch seelisch. Keiner wusste, wie es weiterging. Wir wollten nur noch nach Hause. Der Weg war unendlich lang und führte durch Länder, deren Bewohner uns hassten.
9. Mai 1945
Irgendwann ist es dann so weit. Es musste ja so kommen. Und leider haben wir in diesem Moment Deutschland noch nicht erreicht. Wir stehen, eine lange Kolonne von Fahrzeugen mit Flüchtlingen, Kindern und Soldaten, inmitten der Tschechei und können nicht weiter, weil uns zwei russische Panzer den Weg nicht freigeben. Ab und zu schießen sie über unsere Köpfe hinweg, um uns Angst einzujagen. Ein deutscher Major geht die Wagenkolonne entlang und fordert uns auf, mit Panzerfäusten einen Angriff zu machen, um die Panzer zu beseitigen. Keiner hat Lust, keiner folgt dem Befehl. Die Leute fluchen und schreien. Sie empfehlen dem Major, mal bei den jungen Leutnants zu fragen, die sich den halben Krieg lang auf der Waffenschule herumgedrückt haben.
Eine Frau auf meinem Fahrzeug weint und sagt: »Das sind unsere Soldaten, auf die wir einmal so stolz gewesen sind.« Ich werde rot vor Scham, aber ich bin ja auch nicht besser als die anderen und will nichts mehr riskieren.
Tatsächlich haben sich ein paar Leutnants zusammengefunden, die den Angriff mit Panzerfäusten wagen wollen. Sie gehen nach vorne, aber der Panzer muss etwas gemerkt haben. Er schießt nun mit Kanone und MG, was das Zeug hält. Es dauert auch nicht lange, bis die Offiziere wieder ohne Waffen angelaufen kommen und schon von weitem rufen: »Der Panzer greift an!«
Die vorderen Wagen, auf die der russische Panzer zuerst stoßen muss, versuchen umzukehren, was aber bei der schmalen Straße nicht geht. Rücksichtslos wird vor- und rückwärts gefahren. Es gibt eingestoßene Kühler, verbeulte Kotflügel und Knochenbrüche. Andere versuchen auf der abfallenden Wiese links der Straße umzukehren, aber auch da geht es nicht. Die Wiese ist zu steil, die Fahrzeuge kippen und fangen zum Teil zu brennen an. Es gibt die ersten Toten und Verletzten nach dem Krieg. Alles schreit durcheinander, einer sucht den anderen. Zu guter Letzt bekommen wir aus der Ortschaft von den Tschechen Gewehrfeuer. Jetzt ist alles aus. Jeder sucht noch schnell sein sogenanntes »Fluchtgepäck«, seine Freunde, und ab geht der ganze Haufen zu Fuß nach Westen.
Ich bin mit einem Freund und mit einer Mutter und ihrer Tochter beisammen. Sie haben zwei große und einen kleinen Koffer sowie noch das Bett auf dem Rücken. Wir rennen, was die Beine und vor allem die Lunge hergeben wollen. Die Tschechen hinter uns veranstalten das reinste Hasentreiben. Mit Gejohle wird jeder unserer Toten und Verwundeten von ihnen quittiert. Wir können schon bald nicht mehr und drängen immer mehr nach rechts, vom großen Haufen weg, machen einen weiten Bogen und laufen zum Schluss sogar wieder in östliche Richtung. Ich bin am Ende meiner Kraft, meine Lunge sticht furchtbar.
Die Frauen wollen schon lange aufgeben, aber wir ziehen sie an den Händen mit. In einem Gebüsch legen wir uns nieder und wollen warten, bis die Dunkelheit hereinbricht, um dann die Wanderung wieder aufzunehmen. Ich habe auf dem Weg ein gutes Fernglas gefunden und suche nun mit ihm die Gegend ab. Fast sind wir wieder am Ausgangspunkt unserer Flucht. Ich sehe die Straße, die in den Ort führt. Ein Omnibus kommt noch daher, das rote Kreuz an den Seiten ist deutlich zu sehen. Er wird von Halbwüchsigen zum Halten gebracht. Rund dreißig Rotkreuzschwestern steigen aus. Ich kann die Gedanken der Burschen genau erraten. Aber auch die Gedanken der Schwestern.
Langsam wird es dunkel, deshalb wollen wir aufbrechen und weiter nach Westen wandern. Vielleicht kommen wir durch. Wir sind wieder ganz gut aufgelegt, machen uns gegenseitig Mut und marschieren, uns nach den Sternen richtend, los. Unterwegs stoßen wir noch auf eine Gruppe Soldaten, denen die Flucht zu beschwerlich ist und die sich den Tschechen stellen wollen. Sie fragen uns, ob wir mitmachen wollen. Wir wollen natürlich nicht. Freiwillig nie! Wenn sie uns schnappen, dann haben wir Pech gehabt. Also gehen wir weiter und kommen an einen Bach, suchen eine Brücke, um hinüberzukommen. Die Brücke ist bald gefunden. Aber mit dem Hinüberkommen wird es nichts, weil sie von einem Posten bewacht wird. Zum Glück hat er uns nicht bemerkt. Wir schleichen wieder zurück, bis wir sicher sind, nicht mehr bemerkt zu werden, ziehen unsere Schuhe aus und waten, die Frauen auf dem Rücken, auf die andere Seite. Das Gepäck wird nachgeholt. Es geht immer weiter nach Westen. Wir rechnen uns schon aus, wann wir an der Grenze sind und freuen uns, dass alles so glatt geht.
Bald kommen wir an eine schöne, breite Straße, wie eine Autobahn, die, so glaube ich, Prag mit Brünn verbindet. Ein Auto nach dem anderen fährt an uns, die wir an der Böschung liegen, vorbei. Jetzt warten wir, bis sich eine Lücke zwischen den Fahrzeugen auftut, um schnell über die Straße zu kommen. Aber das dauert lange. Endlich ist es so weit. Ein kleiner Abstand zwischen zwei Fahrzeugen, die mit offenem Licht fahren, wird ausgenutzt, und wir rennen los. Aber das nachfolgende Auto hat uns schon im Scheinwerfer. Es ist schneller da, als wir glauben. Wir hören noch die Bremsen, die »Stoz«-Rufe der abspringenden Soldaten. Wieder rennen wir, als ob es um unser Leben ginge. Als sie uns noch mit ihren Maschinenpistolen nachschießen, werfen die Frauen das ganze Gepäck weg, um besser laufen zu können. Nur der kleine Koffer mit den Papieren ist ihnen geblieben. Später wird es einmal heißen: Ihr habt nichts gehabt, als ihr zu uns gekommen seid. Unsere Hände und vor allem die Füße zittern vor Aufregung. Eine kleine Pause wird eingelegt, eine Zigarette geraucht, dann geht es wieder besser. Es wird schon langsam hell, und wir wollen noch bis zu einem Wald kommen, wo wir den Tag über bleiben können. Gerade haben wir die Wache eingeteilt und wollen schlafen, als uns erneut ein Motorengeräusch in Aufregung versetzt. Wir schleichen uns näher heran, um auch sehen zu können, wer es sei. Es ist nicht zu glauben, es ist eine deutsche Einheit der Luftwaffe. Wie die Trauben hängen die Soldaten an den Fahrzeugen.
Aber wo so viele Platz finden, machen wir vier auch keinen Unterschied mehr. Wir schreien wie verrückt vor Freude. Jeder springt schnell auf ein Fahrzeug, wird von den Kameraden hochgezogen und schon geht es weiter. Mein Kamerad Ludwig und ich liegen auf dem Dach eines »Sanka«, wo schon drei sind, also zu fünft nebeneinander.
Wir halten uns gegenseitig fest, damit keiner hinunterfällt, besonders ich, weil ich der Äußerste bin. Die beiden Frauen kommen anderweitig unter, und wir haben sie seit dieser Stunde nicht mehr gesehen.
In der nächsten Ortschaft hören wir, dass wir noch fünfundzwanzig Kilometer zu fahren haben, bis wir an der russischen Linie ankommen. Wir sind schon neugierig, wie sich die Russen verhalten werden. Schließlich haben wir ja schon so vieles gehört, dass wir nicht wissen, was wir glauben sollen. Waffen oder Munition habe ich schon lange keine mehr. Es kann also nicht so schlimm werden.
Als wir an die russische Linie kommen, ist weit und breit kein Russe zu sehen, nur Tschechen. Ich springe vom Fahrzeug, dabei rutscht mir der Ärmel meiner Feldbluse zurück. Meine Armbanduhr kommt zum Vorschein, und schon ist so ein hinterhältiger Kriegsgewinnler der Tschechen da, schreit mir sein »Urre Urre« in die Ohren, dabei hat er schon so sechs, acht Stück am Arm.
Ich mache meine Uhr los und werfe sie ihm vor die Füße. Er schimpft mich ein deutsches Schwein, beeilt sich aber doch, die Uhr an sich zu nehmen. Es geht weiter nach vorne. Noch ein Tscheche kommt mit einer Maschinenpistole und fordert mein Fernglas. Na, das kann er haben. Ich hab es ja auch billig bekommen. Endlich bin ich beim russischen Posten angelangt. Jeder Einzelne wird genau untersucht und abgetastet. Später ist dafür der Name »filzen« aufgekommen. Er schaut in meine Rucksacktaschen und lacht, als er die fünfundzwanzig Pfund Speck sieht, die als Marschverpflegung drin sind. Der Speck wechselt tatsächlich nicht den Besitzer, dann werde ich weitergelassen. Ich sehe auch viele, die nur Handtuch und Seife behalten dürfen.
Wir werden zu Haufen von eintausend Mann aufgestellt. Von einigen Posten begleitet geht es zu Fuß weiter. Ich bin wieder mit Ludwig beisammen, aber das Marschieren geht uns auf die Nerven. Die Gerüchte, die sich verbreiten, sind beunruhigend. Man spricht von Lagern und dass wir erst in einem halben Jahr heim dürfen. So lange wollen wir keinesfalls warten. Also machen wir uns auf den Weg und verschwinden bei der nächsten Gelegenheit im Wald. Es fällt keinem auf, die Posten geben nicht Acht. Sie haben nur Augen für schöne lederne Schaftstiefel. Mancher muss seine Stiefel ausziehen, wenn es sein muss mit Gewalt, und bekommt ein paar alte dafür, ob sie passen oder nicht. Aber auch mancher Russe läuft herum, als ob ihn ein Ochse getreten hätte, weil ihm die schönen »Beuteschuhe« zu klein sind.
Wir schleichen quer durch den Wald, kommen auf eine befestigte Straße und stoßen auf einen Flüchtlingstreck. Unsere Freude darüber ist groß, und wir hoffen, dass sie uns mitnehmen wollen, noch dazu, weil der Treck nach Bayern unterwegs ist. Jeder wird in Zivil eingekleidet. Ich bekomme eine Seemannshose und gebe mich als Kutscher aus. Ein Zivilist muss einen Beruf haben. Die Leute hier haben Geld, aber die Tschechen verkaufen nichts. Finster und drohend werden wir in den Dörfern gemustert. Bis zum Abend gibt es keinen Zwischenfall, dann richten wir uns neben der Hauptstraße für die Nacht ein. Um sicher zu gehen, legen wir uns zwanzig Meter von der Straße entfernt in ein Gebüsch. Es ist schon dunkel, als noch eine Kompanie Kosaken vorbeizieht. Keiner kümmert sich um den Treck, bis auf den Letzten. Er schaut auf einen Wagen, zieht die Plane weg, wo eine vierzigjährige Frau ruht. Sie wird aufgeweckt und muss mitkommen. Wir sehen sie im Vorbeigehen. Die Frau weint und sträubt sich, aber es hilft nichts. Und wir? Wir sind froh, dass er uns nicht sieht.
Keine Minute danach schreit ein dreizehnjähriges Mädchen nach ihrer Tante. Sie läuft in die Richtung, wohin die beiden gegangen sind. Mit einem Mal hören wir erschütterndes Schreien, wie nur ein Mensch in höchster Not es kann, bis das Schreien dann langsam in ein verkrampftes Wimmern übergeht. Wir sind aus unseren Decken gefahren und aufgestanden, können aber nichts sehen. Erst nach einer Weile kommt die Frau mit dem Mädchen engumschlungen zurück. Beide weinen, und wir ahnen, was ihnen widerfahren ist.
Am nächsten Tag geht es weiter. In einer Ortschaft werden wir kontrolliert. Der Treckführer erstattet Meldung, dass wir zwei Soldaten sind und nicht zum Treck gehören. Ehe wir überhaupt zum Denken kommen, haben uns zwei Mann in die Mitte genommen, und wir müssen wohl oder übel mitgehen. Nach einigen Minuten sehen wir schon, wo wir hinkommen. Es ist ein großer freier Platz am Rande der kleinen Ortschaft Pacov, das erste Kriegsgefangenenlager, das ich zu sehen bekomme.
Statt eines Stacheldrahtes stehen junge Tschechen mit deutschen Karabinern Wache. Alle zwanzig bis fünfundzwanzig Meter einer. Sie kommen sich sehr wichtig vor, und alle Augenblicke brüllt einer wegen irgendeiner Kleinigkeit, reißt den Karabiner von der Schulter, bloß damit wir Angst vor ihnen haben. Die Kameraden, die schon ein oder zwei Tage hier sind, kennen das schon und lachen nur mehr, was die Posten dann wiederum maßlos ärgert. Jetzt gehören wir also auch zu dem Haufen. Bis jetzt werden es ungefähr 10 000 Mann sein, die hier im Freien ohne Lager, Strohsack, Decke oder Zelt die Tage und Nächte verbringen. Ja, nicht einmal Schatten ist da, um am Tage vor der schon starken Maisonne Schutz zu suchen. Mit der Verpflegung geht es einigermaßen. Schon ab dem zweiten Tag bekommen wir täglich sechshundert Gramm Brot und zweimal Suppe. Suppe ist eigentlich zu viel gesagt, es ist warmes Wasser mit ein bisschen Mehl oder Brennnesseln darin gekocht. Aber immerhin ist der gute Wille seitens der Russen zu sehen, und es ist keine Kleinigkeit, für so viele Menschen plötzlich Verpflegung zu beschaffen. Man erzählt sogar, dass die ansässigen Bäcker für uns Brot backen müssen und dass für die Zivilisten deshalb keines mehr da ist. Wenn man die Gesichter der Posten bei der Brotverteilung anschaut, dann kann man das beinahe glauben. Sie glotzen wie verbrannte Wanzen.
Ich bin das ganze Lager abgegangen, von Posten zu Posten, aber ich habe kein Loch gefunden, wo man durchkommen könnte. Sogar ganze Trecks sind hier im Lager mit Frauen und Kindern. Gleich am ersten Tag, als ich mich zum Schlafen hinlege, so wie ich eben bin, ohne Mantel oder Decke und auf dem blanken Boden, kommt eine junge Frau auf mich zu und fragt, ob ich keine Decke habe. Ich verneine.
»Ich habe Angst vor den Russen. Möchtest du mit zu mir kommen? Ich fühle mich dann sicherer.«
Ich gehe mit, gebe ihr aber zu verstehen, dass ich ihr auch nicht helfen könne, wenn die Russen kommen und sie holen. Es ist aber nichts passiert.
Am Tage geht man spazieren, horcht, ob es etwas Neues gibt und wartet von einer Suppe auf die andere. Bei mir und Ludwig ist der Hunger noch nicht groß, weil wir ja noch den Speck im Rucksack haben. Einer von uns muss immer dabei Wache stehen, damit uns der Speck nicht geklaut wird. Die Suppe essen wir gemeinsam aus Ludwigs Kochgeschirr, das er sich organisiert hat. Ich wollte mir auch eines aneignen, aber ich traute mich nicht mehr, weil schon einige wegen Diebstahls verprügelt worden sind. Ich muss mich halt mit einer Konservendose behelfen. Vielen bleibt nichts anderes übrig, als aus einer rostigen Dose ihr Essen zu schlürfen. Sogar ein Major kocht für sich allein an einem kleinen Feuer in einer Konservendose Brennnesselsuppe. Ganz andächtig rührt er um, wahrscheinlich, damit sie nicht anbrennt, gibt Salz dazu und probiert. Ja, mein Lieber, vor vier Wochen hättest du dir das nicht träumen lassen, dass du heute dein eigener Koch bist. Er geniert sich ein bisschen vor mir, und ich gehe wieder.
Decke habe ich noch keine, aber dafür einen Fallschirm gefunden bei einem meiner Rundgänge. Ich kann ihn gut brauchen, weil ich jetzt allein bin. Die Flüchtlinge haben das Lager verlassen müssen. Ich danke dir, Mädchen, es waren doch noch ein paar schöne Tage mit dir. Ein Zivilist, der bei einem Treck dabei war, streitet mit einem russischen Offizier und verlangt seine sofortige Freilassung. Der Offizier geht gar nicht darauf ein, sondern betont immer wieder, dass wir in kurzer Zeit sowieso alle nach Hause dürfen. Man kann uns nur nicht gleich laufen lassen, weil wir sonst wie eine Horde wilder Tiere losrennen und das Land verwüsten würden.
Einmal bekommen wir eine auffallend gute Suppe. Die verdanken wir einem Pferd, das am Rand des Lagers umgefallen ist. So schnell haben die Posten gar nicht schauen können, da haben schon zehn bis fünfzehn Mann den Gaul ins Lager gezerrt, gehäutet und ausgenommen. Die Tschechen wollten uns das Frischfleisch nicht gönnen, aber die Russen haben dazwischengefunkt. Sie haben uns sogar noch weitere Pferde versprochen.
Gleich neben dem Lager ist ein Sägewerk, in dem es jede Menge Bretter gibt. Ich weiß nicht warum, aber wir dürfen uns dort Bretter holen, damit wir Bunker bauen können. Immer einen für drei bis vier Mann. Wir sind in Hundertschaften eingeteilt worden, und jeder kommt dran. Ich stehe zusammen mit einem weiteren Kameraden, der sich zu uns gesellt hat, während Ludwig Erde aushebt. Wir laden uns so viele Bretter auf, wie wir nur tragen können.
Es ist immer das Gleiche. Der Russe gibt mit vollen Händen, und der Tscheche flucht und würde uns am liebsten die Sachen an den Kopf werfen. Wenigstens sind wir jetzt im Trockenen und vor der Sonne geschützt.
Seit einiger Zeit gehen Gerüchte um, dass wir in ein anderes Lager kommen, weil die Zahl der Kriegsgefangenen nun schon bald auf 30 000 Mann angestiegen ist. Eine Gruppe von dreißig Mann wird abgestellt, um den wichtigsten »Komfort« für ein Gefangenenlager aufzustellen: den Stacheldraht!
Nach acht Tagen geht es los. Wir bauen unsere Bunkervillen ab, nehmen die Bretter auf den Rücken und werden dann in Hundertschaften und in Begleitung russischer Posten in das neue, fünf Kilometer weit entfernte Lager geführt. Es ist wieder eine große Wiese, mittendurch führt eine Straße in einen schönen Nadelwald. Die »Brettervillen« werden wieder aufgestellt, und der »alte Käse« geht wieder weiter. Warten, warten, warten, auf Suppe, auf Brot, auf irgendein Anzeichen im Gespräch mit den Russen auf eine baldige Heimkehr. Die meisten meiner Kameraden haben keine eigenen Vorräte mehr. Sie gehen den ganzen Tag von einem Bunker zum anderen, fragen nach irgendetwas oder schnorren Tabak, der mittlerweile auch zu Ende geht, denn Rauchzeug bekommen nur die Offiziere im Lager.
So ist das. Zuerst haben die Russen gesagt: »Erschlagt eure Offiziere«, und nun werden sie in jeder Weise bevorzugt. Als ich einmal von einem Rundgang zurückkomme, ist mein Rucksack leer. Ich denke schon, der letzte Ranken Speck ist geklaut, als mir Ludwig erklärt, er könne mich nicht mehr mitfüttern, jeder sei sich selbst der Nächste und überhaupt sei das sein Speck, weil er ihn organisiert habe. Ich bin platt, erkläre ihm, dass ich auch geholfen habe und dass nur ich ihn geschleppt habe. Er sagt nur noch, mein Teil sei schon lange gefressen. So ist das also. Freunde in der Not sind wie Edelsteine: selten.
Nun packt auch mich der Hunger so richtig. Wenn man sitzt und aufsteht, wird einem ganz schwindlig und man muss sich festhalten. Zu rauchen habe ich auch nichts mehr. Wir bekommen täglich siebzehn Gramm Zucker, den ich häufig in Tabak umtausche. Aber auf die Dauer geht das nicht. Ich muss mich also aufs Tauschen oder Vermitteln verlegen. Und so werden mit der Zeit ein Pullover, eine Drillichhose und einige Paar Socken verraucht.
Ein Offizier sucht eine Butterdose und will zehn Zigaretten dafür geben. Ich höre mich um und mache tatsächlich eine ausfindig, die für drei Zigaretten zu haben ist. Wieder sieben Stück verdient. Damit komme ich leicht drei Tage aus. Die Zigaretten sind aber so stark, dass man bei jedem Zug glaubt, es wird einem ein Messer in die Lunge gestoßen. Nach zwei bis drei Zügen wird einem schwindlig und man muss sich setzen. Ein Mann allein soll sie gar nicht rauchen. Es sind ausgesprochene »Gruppenzigaretten« der Marke »Handgranate«. Anzünden und wegwerfen.
Rauchen ist überhaupt ein Kapitel für sich. Ich sehe, wie ein Landser mit einem Posten verhandelt. Dieser will den Ehering des Soldaten. Der Soldat will Zigaretten. Der Russe bietet drei, der Landser will mehr, aber der Posten bleibt bei seinem Angebot. Nach langem hin und her wirft der Landser den Ehering für drei Zigaretten über den Zaun. Ich glaube, Frauen wären in dieser Hinsicht standhafter. Ein anderer verkauft für eine einzige Zigarette eine lederne Diplomatenaktentasche. Wieder einer reißt die dürren Birkenblätter ab, zerdrückt sie in der Hand und stopft sich dann damit die Pfeife. Es schmeckt nicht, aber es ist billig.
Ich habe noch eine Schusterahle und eine große Rolle Zwirn. Damit fange ich an, Schuhe zu flicken. Sogar neue Sohlen werden von mir draufgemacht. Das Leder dafür müssen die Kunden selbst mitbringen. Meistens sind es Lederkoppel. Ich arbeite natürlich nicht umsonst. Die Bezahlung erfolgt in Form von Brot oder Tabak. Nun habe ich doch eine Genugtuung gegenüber Ludwig, dem inzwischen der Speck ausgegangen ist. Außerdem wollte Ludwig außer der Reihe entlassen werden, weil er früher einmal bei der SPD war, aber sein Kommandant hat ihm was gehustet.
Seit einigen Tagen müssen wir arbeiten. Es wird für jede Hundertschaft eine Baracke gebaut. Dazu wird ein Gang einen Meter breit und eineinhalb Meter tief in die Erde gegraben. Links und rechts bleibt ein Raum von zwei Metern. Das ist die Schlaffläche. Das Dach geht von der Erde aus, sodass die ganze Baracke nur aus Dach besteht. Dazu werden dünne Stämme nebeneinander gelegt und die Fugen mit Lehm verschmiert. Ich habe selten erlebt, dass es durchgeregnet hat. Zweimal am Tage müssen wir in den Wald gehen und Stämme holen. Es ist nicht weit, aber trotzdem brauchen wir immer einen halben Tag dazu. Die neuesten Geschichten werden erzählt, es wird gehandelt und geschachert. Man legt sich irgendwo hin und fühlt sich wie ein freier Mensch.
Die Posten sind ruhig, mit nur einer Ausnahme. Es ist an einem Morgen, an dem wir zur Arbeit gehen. Einer der Kameraden hat noch eine Uhr, und der Posten sieht das. Wie der Teufel geht er auf den Gefangenen los und will ihm die Uhr nehmen, aber der hat den Braten gerochen und verpasst ihm gleich einen Schlag, dass er sich wie vom D-Zug gestreift vorkommt. Der Posten nimmt in der ersten Wut gleich seinen Karabiner, aber überlegt es sich dann wieder anders. Auf jeden Fall hat er in Zukunft keine Waren mehr gesucht.
Ein anderer Fall wurde mir folgendermaßen erzählt: Ein »Iwan«, so nennen wir die Russen, hat einen Wecker eingehandelt, und als dieser geklingelt hat, soll er mit der Maschinenpistole darauf geschossen haben, weil er eine Höllenmaschine darin vermutete. Überhaupt waren die Russen am Anfang gerne das Ziel unserer Witze, weil sie abends immer exerzieren und singen mussten, wobei wir ihnen zusahen. Sie sangen dabei immer das Gleiche.
Seit einigen Tagen haben wir Stroh. Endlich einmal nicht mehr am blanken Boden schlafen! Ich fühle mich wie auf einer »Dunlopillo«-Matratze. Es ist warm in der Baracke, und das tut uns gut. Uns und den Läusen, die wir seit einigen Tagen haben. Gott sei Dank ist der Russe für derartige Fälle gerüstet. Es kommt eine fahrbare Entlausung, und das ganze Lager wird einer nach dem anderen langsam entlaust. Aber es hilft nicht viel, weil die nichtentlausten Kameraden die entlausten doch wieder anstecken. Ich habe noch ein paar Strümpfe, die ich dem russischen Heizer für eine Dose Zucker verkaufe. Wir haben jetzt auch eine eigene Bäckerei, in der ungefähr fünfzig Bäcker arbeiten.
Jeder, der einen davon kennt, ist glücklich, weil er doch zumindest die Hoffnung hat, einmal ein paar Brocken zu ergattern. Das Brot wird jetzt nach russischer Art gebacken. Mit über fünfzig Prozent Wasser wird der Teig in eine Form gegeben, weil er sonst davonläuft, und dann gebacken. Die Form wird mit Fett eingerieben, damit das Brot wieder leichter herausgeht. Wenn kein anderes Fett zur Hand ist, wird Getriebefett oder Petroleum hergenommen. Der Geschmack ist dann dementsprechend grauenvoll. Das fertige Brot ist schwer und feucht. Sechshundert Gramm sind immer noch gut die Hälfte von dem tschechischen. Doch wird uns noch ein Teil abgezogen für die Verwundeten und Kranken außerhalb des Lagers, für die die Tschechen keine Verpflegung herausgeben wollen. Wir werden immer zänkischer, neidischer und misstrauischer.
Jeder, der sich der Küche einer Hundertschaft nähert, wird mit Argusaugen beobachtet, ob er nicht etwas mitnimmt. Den Köchen wird sogar vorgeschrieben, wie oft sie die Suppe probieren dürfen. Kameradendiebstähle kommen vor, die dann wahrlich mittelalterlich bestraft werden. Es wird ein Stacheldrahtgeviert von einem Quadratmeter gebaut, das einen Meter hoch ist. Da hinein kommt der Dieb. Er kann sich nicht hinlegen und nicht anlehnen, sondern muss sich frei sitzend oder stehend von früh bis abends, bei Sonne oder Regen, darin aufhalten mit einem Schild um den Hals, auf dem steht: »Ich bin ein Dieb!« Die Landser fangen an, sich selber zu beschäftigen, soweit sie dazu Geschick haben. Manche verschönern ihre Baracke, die dann aussieht wie eine Almhütte. Sie schnitzen dazu Reh- oder Hirschgeweihe aus Holz. Andere machen Mosaikbilder aus Steinen, wieder andere schnitzen Schachfiguren. Es sind wahre Künstler dabei. All die Sachen werden in einer Ausstellung gezeigt und manches Stück von den Russen gekauft.
Einige von uns haben noch tschechische Kronen, aber die wenigsten wissen, dass sie noch einen Wert haben. Abertausende von Kronen sind als Klopapier in die Latrine gewandert, bis einmal Zivilisten vorbeikamen, die uns Käse verkaufen wollten. Dabei stellte sich heraus, dass unser Geld noch gültig war. Schon ein paar Tage danach war kein Kronenschein mehr in der Latrine zu sehen.
Heute ist Filzung. Unser Lagerteil mit 15 000 Mann wird auf die andere Seite getrieben, und die Russen suchen unseren Teil nach Waffen, Munition oder was weiß ich ab. Dann muss sich jeder Mann einer Leibesvisitation unterziehen. Das Ganze dauert einen gesamten Tag. Wir hocken herum, schimpfen und murren, aber es wird davon nicht besser.