LOTTOKÖNIG
Einmal Millonär und zurück
Rewriting: Markus Maeder
Markus Maeder, der Werner Brunis Texte und eine Reihe von Tonbandprotokollen zusammenfügte, hielt sich an Wortwahl und Duktus des Autors. Die berndeutschen Wendungen sprechen für den Boden, auf dem sich dieses Leben abspielt. Werner Bruni weiss, was er will. Da steht es. Schwarz auf weiss. Eine bunte Lebensgeschichte.
Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© 2010 Wörterseh Verlag, Gockhausen
Lektorat: Andrea Leuthold, Zürich
Korrektorat: Claudia Bislin, Zürich
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Foto Buchcover: Marcel Studer, Zürich
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung, Aarau
Druck und Bindung: CPI books, Ulm
Print ISBN 978-3-03763-015-0
E-Book ISBN 978-3-03763-508-7
www.woerterseh.ch
«Arbeite weiter und gediegen.
Wers nicht fertigbringt, bleibt liegen.»
Arbeiterweisheit
Vorwort
Ich, Bruni Werner
Lottologie
Herzliche Gratulation zum grossen Gewinn
Nachwort
Glossar
Ein Sommerabend in Spiez: Werner Bruni und ich sitzen hoch über dem See, auf seinem Balkon, und er erzählt von den schönsten Momenten seines Lebens: wie er in Haiti – für ihn so etwas wie ein Herzensland – drei Kindern das Schulgeld bezahlt hatte, weil er so berührt war von der Armut auf der Karibikinsel. Das war das grösste Glück, das Bruni mit seinem Lottogewinn verbindet. Das sinnliche Wechselgeld des grossen Millionensegens: Haiti!
Wir reden über unseren gemeinsamen Ausflug auf die Lauchernalp, wo ihn plötzlich diese grosse Melancholie überfiel. Dort oben, sagt er, habe er realisiert, dass keiner den Bruni mehr braucht. Zumindest nicht zum «Werchen». «Jetzt kannst du dafür in den Bergen wandern gehen», sage ich. Bruni: «Und was soll ich da?»
Wenn er an einer Brunette zieht, zittert seine Hand ein wenig. Sonst ist er immer noch im Schuss. Sicher könnte er keine gusseisernen Radiatoren mehr in den vierten Stock hochtragen wie früher. Aber er ist sich selber auf unvorstellbare Art treu geblieben. Seine Treue zu Menschen, die er mag, habe ich selber erfahren. Aus der journalistischen Arbeit ist eine Freundschaft entstanden, die uns beide immer wieder berührt, wenn wir uns am Geburtstag telefonieren, der zufälligerweise auf den gleichen Tag fällt.
Kennen gelernt habe ich Werner und seine Frau als Reporter beim Schweizer Fernsehen. Und war von Anfang an fasziniert von dieser Geschichte, die ich, ein aufrechter Achtundsechziger, damals als eine Geschichte von Oben und Unten, von Gewinnern und Verlierern, von Recht und Gerechtigkeit verstand. Mein erster Dokumentarfilm hiess denn auch «Der König und sein Chef» und handelte vom ohnmächtigen Arbeiter Werner Bruni und seinem allmächtigen Chef Walter Hauenstein. Hauenstein und Bruni, das war gewissermassen die Berner Oberländer Version von «Herrn Puntila und seinem Knecht Matti», jener Parabel, in der Bertolt Brecht das Lied von Ausbeuter und Ausgebeuteten schrieb. Erst mit den Jahren merkte ich, dass die Dinge wohl etwas komplizierter lagen, als ich mir das damals vorgestellt hatte.
Im Jahre 2000, lange nachdem Werner Konkurs gegangen war, besuchte ich mit ihm seinen ehemaligen Arbeitgeber. Wir trafen Walter Hauenstein, der zeitweise der grösste Steuerzahler des Berner Oberlandes gewesen sein soll, in der relativen Isoliertheit seiner mondänen Villa am Thunersee, dort wo einst das Generalkonsulat von Monaco seinen Sitz gehabt hatte. Und als dieser Mann, den Werner so bewunderte, in seiner Anwesenheit darüber philosophierte, dass Bruni halt vielleicht «doch etwas weniger im Hirn» gehabt habe als er, da zuckte Bruni mit keiner Wimper. Erst als wir später in einem Gartenrestaurant sassen, erlaubte er sich die aggressivste Bemerkung, die ich je von ihm gehört hatte: «Es ist so schön beim Hauenstein Walter. Aber ich sage dir, es kann auch zu schön sein! Und noch eins», meinte Werner, «der mag noch so reich sein. Aber ich glaube, der geht vor mir.» Und so war es denn auch.
Werner hatte alles gewonnen und alles verloren. Doch wer nun denkt, es wäre dem Bruni Werner besser gegangen ohne diesen Lottogewinn, der hat sich vermutlich getäuscht. Zwar beklagt er sich gerne darüber, dass alle ihn kennen und dass er, der gescheiterte Lottomillionär, sozusagen zur lokalen Folklore gehört. Doch genauso ist es ihm wichtig, dass ein richtiges, ein «wahres» Bild von ihm bleibt.
Und so begann er sein Leben aufzuschreiben. «Meine Lebensabschnitte» stand über dem Bündel handgeschriebener Seiten, das er mir vor einiger Zeit anvertraute. Unter diesem schlichten Titel fand sich in ebenso einfacher wie vieldeutiger Prosa die Geschichte seines Lebens, das von Anfang an wenig Hoffnung gelassen hatte und in dem der Millionengewinn im Lotto auftauchte wie ein Betriebsunfall.
Werner Bruni hatte zwar die Herrschaft über seine Finanzen verloren, doch mit diesem Buch hat er die Kontrolle über die Erinnerung gewonnen. Und erzählt uns eine Sage über Aufstieg und Niedergang, Glück und Unglück, Unten und Oben.
Christoph Müller,
Redaktionsleiter DOK und Reporter, Schweizer Fernsehen
Was wohl meine Mutter gesagt hätte, wenn sie hätte erleben dürfen, dass ihr Jüngster einmal Lottokönig und Millionär wird? Einen Herzinfarkt hätte sie gekriegt. Die Arme. Hat ja selber nie nichts gehabt. Gar nichts hat sie gehabt und alles getan für mich, was sie konnte.
Am 28. März 1936 um 10 Uhr 45 Min. kam ich in Heimberg bei Thun als siebtes und jüngstes Kind meiner Eltern zur Welt. So stehts im Geburtsschein. So wirds wohl sein. Wie meine jüngsten Jahre vergingen, weiss ich nicht mehr genau. Mein Vater war ein sehr guter Maurer-Vorarbeiter, aber das reichte trotzdem nicht, um eine neunköpfige Familie zu ernähren. Deshalb arbeitete meine Mutter in der Milchsiederei (in Stalden bei Konolfingen). Als die Firma drei Jahre später Personal abbaute, ging Mutter waschen und putzen bis nach Thun.
Von Kind auf wurde ich zum Krampfen erzogen. Herumhängen neben der Schule, das gab es nicht. Entweder arbeitete man bei einem Bauern oder als Ausläufer bei einem Bäcker oder Metzger. In die Sekundarschule? Das war ein grossgeschriebenes Wort. Das kam nicht in Frage für Arbeiterkinder. Das war für die Gemeindepräsidententochter und für den Polizistensohn im Nachbarhaus. Solche Leute waren etwas ganz Spezielles im Dorf. Hätten es wenigstens sein sollen.
Klar träumte man hie und da, man könne mal etwas Mehrbesseres werden, aber das waren verwerfliche Gedanken. Die Träume waren bald wieder fort. In einer reichen Familie wäre ich vielleicht Playboy geworden oder sonst irgendetwas. Aber so setzte man sich das Ziel, dass man etwa gleich wie die andern wurde. Dass man nicht auffällt.
Seit ich mich erinnern kann, hatten wir Schwierigkeiten mit der Gemeinde und den Behörden. Oder besser: Die Gemeinde machte uns Schwierigkeiten. Die Vaganten wollten die Familie auseinanderreissen. Die älteren sechs Kinder waren schon gross und fort, so lange ich mich zurückerinnere. Die konnten sie nicht mehr belangen.
Meine älteste Schwester Alice (Jg. 23) war in Wimmis bei Notar Bichsel im Haushalt-Lehrjahr. Vreni (Jg. 24) lernte Weissnäherin in Yverdon. Sie heiratete und lebt mit der Familie heute noch dort. Hilda (Jg. 33) war bei einer Familie in einem Nachbardorf. Wo, weiss ich nicht, der Kontakt ging verloren, ich weiss nichts mehr von ihr, seit sie versuchten, die Familie auseinanderzureissen. Alice ruft ab und zu an. Sonst vernehme ich nicht viel.
Ernst (Jg. 25) lernte Maurer. Fritz (Jg. 31) wurde in die Heimenschwand verdingt. Auch Alfred (Jg. 28) wurde verdingt: hinauf auf die Lueg im Emmental. Wie er von dort davonlaufen konnte und den Weg ganz allein zurück nach Heimberg fand, ist uns allen ein Rätsel. Fragen kann ich ihn nicht mehr. Er ist gestorben. Genau wie Ernst und Fritz.
Mich wollten sie auch forträumen. Ich war noch so ein kleiner Knirps, ich konnte noch nicht laufen und mich nicht wehren, als sie kamen. Aber sie hatten nicht mit Frau Kissling gerechnet. Während dieser Zeit hütete mich Frau Kissling in der Au. Ihre Kinder Hans, Ernst, Rosi, Frida und Liseli waren schon grösser. Sie mochte Kinder gerne und schützte mich wie ein Adler. Sie sagte diesen Gemeindebrüdern: «Über diese Türschwelle kommt keiner von euch! Den Wernerli gebe ich euch nicht heraus.» Mehr als einmal schickte Frau Kissling sie mit Schimpf und Schande davon. Sonst hätten sie mich wer weiss wohin verfrachtet, wohl zu einem Bauern, zum Krampfen. Gut, später habe ich das dann sowieso gemacht.
Zu Hause war nicht alles goldig. Vater begann zu trinken, (nicht während der Arbeit, aber nachher), kam erst spät nach Hause, oder seine Kollegen vom Stammtisch brachten ihn heim. Wenn Mutter das Essen nicht sofort aufwärmte und auftischte, kam es zum handfesten Krach. Da flogen Gusspfannen, Geschirr wurde zerschlagen, und öfters konnte Mutter nicht zur Arbeit. Wegen den blauen Augen und wegen den Veilchen konnte sie nicht unter die Leute.
Als kleiner Knirps konnte ich ja nicht eingreifen. Auch vor mir hat Vater nicht haltgemacht, und so ein «Chlapf a Gring» war äusserst schmerzhaft. Schlussendlich wurde er bevormundet. Aber es wurde nur noch schlimmer.
Dann begann meine Schulzeit in Heimberg. Mutter kam mit am ersten Schultag zu Frau Üeltschi, 1. Kl. Später hatte ich Frau Bienz, Herrn Reuscht Walter und Herrn Zobrist Ernst. Er wurde später der Vormund meines Vaters, bei ihm hatte ich es gut. Zur Lehrerschaft zählten noch Steiner Ferdinand, ein böser Brutalo: Er zog einem einen Haselstecken zwei-, dreimal übers Füdli, dass man kaum mehr hocken konnte. Sie teilten sich so auf, dass jeder anderthalb Klassen hatte. Und dann kam noch Oberlehrer Buchs. Das war auch ein Senkrechter. Bei dem konnte ich mich dann in der Achten und Neunten entfalten. Im Singen und Turnen hatte ich immer Sechser. Genau wie im technischen Zeichnen. Da war ich auch immer gut.
Das Geld, das mein Vater damals verdiente, wollte hinten und vorne nicht reichen. Und weil Krieg war rundum, kam noch die Rationierung dazu. Brotmärggeli, Fleischmärggeli. Für alles Mögliche brauchte es Märggeli. Die machten das Leben auch nicht einfacher. So musste ich dann abends und an Samstagen arbeiten gehen, zuerst in der Bäckerei Mosimann (Ausläufer), dann in der Bäckerei Christen (Ausläufer).
Vor dem Abendessen schickte mich meine Mutter in die Metzgerei Däppen. Da hiess es dann: «Ach, der Werner will auch noch etwas. Hesch Märggeli?» Ich hatte nie welche. Metzger Däppen drückte beide Augen zu und packte mir etwas ein, das ich nach Hause bringen konnte. Bald war ich bei Däppen Ausläufer. Das war im vierten, fünften Schuljahr. Sobald ich Velo fahren konnte. Aber selber ein Velo hatte ich ja nicht, sodass er mir seines gab. Aber bald einmal hatte ich es mit dem Metzger verdorben. Ich stahl ihm einen Cervelat. Ich hatte Hunger gehabt.
Danach als Ausläufer bei Bäcker Christen war es nicht anders. Es gab die Fünfzehner-Weggli, die kleinen, und die Dreissiger-Weggli, die grossen. Ich dachte, die hat er nicht gezählt. Es waren zahllos viele für mich. Aber als ich zurückkam, knallte es. Er hatte sie sehr wohl gezählt. Ich sagte, wie schon beim Metzger: «Ich hatte Hunger.» Ingottesnamen. Er traf mich so hart am Grind! Dann ging ich nicht mehr zu ihm. Weder zu Christen noch zu Däppen, auch wenn beide nach mir riefen, der Bäcker und der Metzger.
Bei den Tschanzens blieb ich dann umso länger und lieber. Tschanz Bärtel hatte mit seinem Bruder Fritz einen Bauernhof gerade am Schulweg. Oft konnte ich von der Schule eine Stunde früher nach Hause. Oder wir hatten frei, etwa wenn der Lehrer krank war, was selten genug vorkam. Wann immer möglich ging ich auf den Hof. Alles Mögliche musste ich machen – durfte ich machen. Bei Tschanz und seinem Bruder verweilte ich gern. Da war es gut.
Sie bastelten mir ein Velo aus der Schuttgrube zusammen, damit ich rascher in die Schule – und rascher zum Werken zurückfahren konnte. Dann hiess es: Es gibt nur fünf Veloständer. Nur für die Lehrerschaft. Du darfst das Velo nicht mehr nehmen. Ich nahm es trotzdem, versteckte es, etwas weg vom Schulhaus, um nach der Schule schneller ans Ziel zu kommen.
Fast jeden Abend war ich auf dem Hof. Hier hatte ich fast so etwas wie mein Zuhause. Zu tun gab es genug. Pflügen, Eggen, Säen, Rüben verdünnern und nach dem Pflügen Steine auflesen. Abends gings in den Stall, ausmisten, Heu rüsten, grasen etc. Nachtessen bekam ich auf dem Hof. So wurde es 8 Uhr, bis ich nach Hause kam, und jeden Abend konnte ich etwas mit nach Hause nehmen: Kartoffeln, Rüben oder Kabis. Die Mutter war gottenfroh. So hatte sie immer etwas zum Kochen aus Tschanz’ riesigem Garten. Kohlrabi, Kabisköpfe und Bohnen. Was gerade geerntet wurde, gab er mir mit. Und ich musste dann noch die Hausaufgaben machen. Es war eine strenge Zeit, aber ich lernte, was arbeiten heisst. Und was Armut bedeutet.
Mit umso mehr Vergnügen machte ich Seich. Hauptsächlich auf dem Schulweg mit dem Mühlemann Urs, dem Polizistensohn von nebenan. Der musste ingottesnamen nichts werken. War nur einfach Sohn und hatte reichlich Zeit, einen Streich auszuhecken. Das Verbotene reizte uns beide.
Zum Beispiel hatte er zwei Schleudergabeln. Eines Tages kam er: «Für 2 Fränkli kannst du eine haben.» Ich hatte keine 2 Fränkli. Ich hatte nicht einmal 1 Fränkli. Er liess sie mich abstottern. Für viermal einen Fünfziger. Am liebsten zielten wir auf Vögel. Wahrscheinlich sahen oder hörten sie den Stein kommen. Wir trafen immer daneben. Aber die Isolatoren unten bei der EBT (Emmental-Burgdorf-Thun-Bahn), die waren etwas grösser und flogen nicht weg. Sie trafen wir prima. Bei einem Treffer genau in die Mitte zersplitterten sie. Aber die Freude währte nicht lange. Bald kam man uns auf den Sprung. Polizei, Bahnhofvorstand, Bahnarbeiter machten Anzeige. Resultat: Urs und ich wurden gebüsst. 40 Franken musste jeder bezahlen. Vater durfte nichts wissen, sonst hätte es ein Heilandsdonnerwetter gegeben. Tschanz Bärtel war anders. Er freute sich heimlich über unsere Treffsicherheit und schoss mir das Geld für die Busse vor. Schliesslich macht jeder Bub, der ein rechter Mann werden will, einmal Seich. Dass ich die nächsten sechs Wochen ohne Lohn krampfen musste, war mir lieber als ein handschriftlicher Eintrag meines Vaters auf meinen Backen.
Aber ich musste etwas unternehmen, damit es wieder Geld gab. So fing ich an, Weinbergschnecken zu sammeln. Ich steckte sie mit etwas Gras in einen Jutesack. Jeden Freitag kam einer von Belp und holte sie ab. Er nahm fast alles. Lumpen, Knochen, Eisen und eben Schnecken. Er leerte alle auf ein Sieb und wartete eine Weile. Die, welche sich auf dem Sieb halten konnten, bezahlte er, die, welche herunterfielen, nahm er gleichwohl mit. War ein richtiger Hudilumper, ein Halsabschneider.
Ach, wir haben noch mehr Unfug getrieben. Viel Zeit dafür hatte ich nicht. Eine halbe Stunde, Stunde vielleicht, jeden Tag oder auch nur jede Woche einmal. Das musste reichen. Danach musste ich ansaugen. Sonst hiess es dann: «Wo bist du rumgebummelt?!»
Damals gab es noch Maikäfer. Nach einem für uns undurchschaubaren Zyklus wurden sie jedes vierte Jahr im Mai zu einer Plage, und gegen die Plage gab es Kampagnen zu ihrer Bewältigung. Jede Familie musste ein paar Kessel beim Gemeindeweibel abliefern. Vor allem wir Kinder wurden auf Beutezüge in die Wälder geschickt. Am Morgen um fünf, bei der ersten Dämmerung, als die Tierchen noch in Klumpen an den Ästen schliefen, zogen wir mit alten Leintüchern und Milchkesseli den Bäumen entlang. Hasel waren besonders ergiebig. Wir breiteten die Leintücher aus, schüttelten herunter, was wir konnten, und schütteten die zappelige Masse in die Kessel, so schnell wie möglich, bevor die Käfer ganz wach waren und davonkrabbeln konnten. Für jeden Kessel gab es 10 Rappen.
Das brachte Urs auf die Idee, am Abend dem Weibel zwei Kessel zu klauen, um sie am Morgen wieder zu bringen. Aber das ging nur eine Woche lang gut – bis wir uns an falschen Kesseln vergriffen. Wir waren nicht schlau genug, zu merken, dass die Käfer schon im kochenden Wasser ausgebrüht waren. Am nächsten Morgen brachten wir die Kessel mitsamt den Käfern zurück, um unseren Lohn abzuholen. Da kamen sie uns auf die Schliche. Wir mussten das Geld zurückzahlen. Verdienen ist gut, aber zurückzahlen bringt nur Ärger. So weit, so gut, ein Engelein war ich nicht. Musste doch für jeden Blödsinn büssen. Den Gestank aus den kochenden Kesseln habe ich heute noch in der Nase, wenn ich daran denke.
Ähnlich wie das Maikäferlen lief auch das Tannzäpfeln, zu dem uns die Schule verknurrte. Mit den Tannzapfen heizten die Lehrer die Kanonenöfen in den Schulzimmern. Wir hatten zu sammeln, bis sich beim besten Willen keine mehr finden liessen. So begannen wir, Tannenzweiglein zu sammeln. Wir stopften unsere Säcke voll Chries und tarnten es mit ein paar wenigen Zapfen. Beim Schulhausabwart holten wir den Schlüssel, um den Sack auf den Estrich zu schleppen, wo man über ein Rölleli an einem Seil einen Korb runterlassen konnte und danach wieder hoch. Ein einfacher Flaschenzug war das. Ein Sack Tannzapfen brachte 1 Fränkli. Ein Sack Chries die ersten paar Mal genauso. Manchmal sogar zweimal und dreimal. Denn wenn niemand schaute, gingen wir runter, holten den Sack nochmals auf den Estrich und kassierten nochmals 1 Fränkli. Aber langfristig machten wir die Rechnung ohne den Schulhausabwart. Es fiel ihm bald auf, dass in der Vogeldieli zwischen Estrich und Dachabschluss mehr Chries als Tannzapfen waren.
In der Schule und in der Gemeinde kamen unsere Streiche nicht besonders gut an. Vor allem mit den Leisten hatten wir immer wieder mal Stunk, der Mühlemann Urs und ich. Beide bekamen wir Briefe nach Hause, wir sollten zum Pfarrer.
Die Pfarrersfrau machte die Türe auf: «Aha, ihr zwei seids.» Wir gaben die Briefe ab. «Mein Mann kommt gleich», sagte sie. Er meinte: «Es ist wohl wieder die gleiche Stürmerei wie schon oft. Aber schaut da, Buben. Ich habe gerade ein Fuder Mist bekommen. Und hier sind zwei Garettli und Schaufeln. Damit könnt ihr den Mist in den Garten bringen.»
Wir waren Feuer und Flamme, brachten den Mist in den Garten, räumten alles zusammen, putzten sauber, was dreckig war, und bekamen einen tüchtigen Zvieri. Was in den Briefen stand, haben wir nie erfahren. Der Pfarrer hat sie wahrscheinlich ungeöffnet zerrissen. Benz Egger. Das war ein guter Pfarrer.
Die Lehrerschaft war manchmal ein Hohn. Im siebten Schuljahr hatten wir ein besonderes Ekel. Er hasste mich. Ich ihn auch. Wenn irgendetwas kaputtging, mussten der Mühlemann Ürsel oder der Bruni Werner, oder gleich beide, dafür gradstehen. Man musste zum Sandkasten gehen und bekam die üblichen zwei, drei mit dem Haselstecken über den Hintern gezogen, dass man kaum mehr hocken konnte am Pültli. Aber man musste sowieso stehen die nächste Stunde, draussen vor der Türe, im Gang. Auf der Treppe durfte man sitzen, wenn man noch konnte. Ich dachte, das macht keinen Sinn, weder da zu stehen noch zu hocken. Besser, ich mache mich dünn, bevor in der Pause eine Moralpredigt folgt. Also ging ich, zu Tschanz Bärtel, und erzählte es ihm: «Der Lehrer hat mir den Hintern versohlt und mich vor die Türe gesetzt.» «Hast recht gehabt, dass du gekommen bist», sagte Tschanz. Er war in der Schulkommission und musste es wissen: «Im Gang draussen lernst du nichts.»
Noch häufiger als eine Kur mit dem Haselstecken waren Strafaufgaben. Der Lehrer schrieb einen Satz ins Heft, den man hundertmal abschreiben musste. Diesmal hatte er mich zu einem besonders langen verknurrt. Ich sagte zu Tschanz: «Heute Abend kann ich nicht in den Stall. Ich habe eine grosse Strafaufgabe.» Er fragte: «Was für eine?» – «Ich muss hundertmal einen ganzen langen Satz schreiben.»
Tschanz runzelte die Brauen, zog seine Hosenträger lang und brummte: «Gib mir das Heft.» Er zog die Holzböden aus, ging in die gute Stube, zum Sekretär, las den Satz. Dann setzte er sein Nasenvelo auf, schrieb den Satz einmal und ergänzte: «Mal 100. Tschanz Albert.» Er gab mir das Heft zurück und meinte bloss: «Das gibst du morgen am Pültli ab.» Ich habe nie mehr einen Ton vernommen seither. Nie mehr eine Strafaufgabe bekommen.
Die Tschanzens hatten das Privileg, Leichen zu führen. Wenn jemand gestorben war, streifte der Gemeindeweibel mit einem Glöcklein durchs Dorf, um zur Leich zu bitten. Wo ihm jemand begegnete, hielt er an und nannte den Namen des Toten. Damit man zur Beerdigung kommt. Für das letzte Geleit hatte Tschanz einen schwarzen Rosswagen, offen nach allen Seiten. Er war mit Messing beschlagen und mit Sammet verhängt. Trauertage waren heitere Tage für mich. Jedes Mal durfte ich den Wagen für die Fahrt bereit machen. Im Spritzenhaus, wo die Feuerspritzen waren, war auch der Leichenwagen. Die Räder putzen, das schwarze Holz waschen und glänzend polieren, den Bock und das Geschirr bereit machen. Fritz Tschanz kam dann mit dem Ross, um die Leiche zu führen. Danach musste ich wieder ansaugen, um den Wagen wieder zu waschen und ins Spritzenhäuschen zu schieben. Die Erwachsenen gingen dann alle ins «Rössli», um noch einen zu heben. Ich brachte das Ross zurück in den Stall. Das waren Beschäftigungen, auf die ich saumässig stolz war damals.
Einmal wollte der Gemeindeweibel dem Tschanz meinetwegen frech vorbeikommen. Tschanz meinte nur: «Soll einmal einer so viel machen wie dieser Werner.» Der Weibel hasste mich. Er hasste mich einfach. Wehe, wenn er mich nachts ohne Licht mit dem Velo erwischte, das Tschanz für mich zusammengeschraubt hatte.
Ich hatte allen Grund, diesen Weibel zu fürchten. Zu gerne hätte er wie meinen Bruder nach wie vor auch mich verdingt. Dass es ihm nicht gelang, brannte ihn noch immer im Füdli. Er mochte auch meinen Vater nicht. Mein Vater war leidenschaftlicher Schütze. Ein guter Schütze. Wenn er nach einem Sonntagsschiessen nicht nur mit einem Kranz am Hut heimkam, sondern auch noch mit einer Schnudernase, wenn er gesoffen hatte – das mochte ihm der Weibel gar nicht gönnen. Die Gemeindebrüder kamen einfach mit den Brunis nicht aus. Und die Brunis mit den Gemeindebrüdern grad auch nicht.
Tschanz Bärtel tat dann, was er konnte, damit ich nicht mehr so geplagt wurde von der Gemeinde. Heute bekämen die Brunis Fürsorge. Aber damals … Wenn das Geld vorwärts und rückwärts nicht reichte, war das manchmal so viel zu viel für meinen Vater, dass er sich in den Suff davonmachte.
Vater hatte sich als Maurer auf Treppen spezialisiert. Er verschalte sie, betonierte sie und brachte jede Stufe genau waagrecht auf die richtige Höhe. Das konnte er wie kein Zweiter. Die Baugeschäfte rissen sich um ihn. Das gab hier einen Zehner mehr Lohn und dort noch eine Überstunde und woanders gleich nochmals ein paar. Aber das Krüppeln und Krampfen brachte ihn in die Krise.
Ich verstehe ihn gut. Du krampfst und krüppelst den ganzen Tag, mauerst Treppe um Treppe, Stufe für Stufe mit der Kraft deiner Muskeln – man konnte Treppen damals ja noch nicht wie heute mit dem Kran von oben herunterlassen. Im Mämmeln suchte er Rettung. Er ging nicht mehr jeden Tag auf die Büez. Die Baumeister kamen: «Komm doch wieder, Fritz.»
Je älter ich wurde, umso öfter kam er mit Öl am Hut heim. An solchen Tagen nahm ich mich vor ihm in Acht. Da konnte es knallen, dass ich wieder geheilt war von Unfug – und von Zärtlichkeit für meinen Vater. An seinen Maurerpfoten wusste man, was man hatte.
Wenn er seine Phasen hatte, war nichts mit ihm anzufangen. Das konnte ein Vierteljahr gut gehen, bis es auf seiner Treppe schliesslich Stufe für Stufe nur noch nach unten ging. So weit nach unten, dass er nicht mehr werken konnte. Aber mit dem Velo fort, das konnte er immer. Er hatte haufenweise Kollegen. Scheisskollegen hatte er. Die zahlten ihm, was er soff, bis er gebacken war. Meist kam dann ein Telefon, wir sollten den Bruni Fritz holen, er könne nicht mehr fahren. Das muss man erlebt haben. Es war ihm einfach verleidet.
Am Samstagmorgen ging er meistens noch werken bis Mittag. Aber dann, am Nachmittag, je nachdem, wie viel die Bauern zu tun hatten, sei es Heuen, sei es Ernten, ging er gerne aushelfen. Da sprang ein Sackgeldlein heraus. Ein Fünfliber war damals schon ein gewaltiges Geld. Genügend zum Saufen. Dafür hatte er immer genug. So war ich immer wieder froh, bei Tschanz eine Zuflucht zu haben.
Bei Tschanz und seinen Rössern konnte ich den Alltag zu Hause und in der Schule vergessen. Am Samstag gings in die Rauchküche. Da wurden zwei Schweine geschlachtet und auf den Heimberghubel in die Räuchi gebracht. Frau Tschanz schrieb mir ein Zettelchen, damit ich Fleisch holen konnte. Ich spannte das Ross ins Bockswägeli und kutschierte mein Gespann quer durch den ganzen Heimberg zum Ziel. Ich glaubte weiss der Teufel, wer ich sei, so hoch auf dem Bock. Wenn ich mit dem Ross unterwegs war, habe ich mich kaum je beeilt. Ich präsentierte mich ein bisschen.
Auch auf dem Feld draussen gefiel es mir beim Fahren am besten. Mit dem Knollenbrett musste ich über die Erde. Das zerdrückte die Schollen. Nach einem Durchgang mit der Egge war dann das Feld schon ziemlich bereit. Zum Schluss ging ich mit der grossen Kippbänne Steine auflesen. Das Feld lag auf einer Moräne des Thunersees. Alles, was der Gletscher einst mitgebracht hatte, lag immer noch da. Vor allem Steine. So steinreich war kaum ein Feld eines anderen Bauern.
Ich durfte alles machen, was mit Rössern machbar war – bloss ans Säen liessen mich die beiden Tschanzen nicht heran. Der eine hatte den Säbalken, der andere führte die Rösser, ziemlich präzis. Nichts schlimmer, als wenn man die Furche für die Sämlein in einer Schlangenlinie zog. Noch während Fritz und Bärtel am Säen waren, begann ich mit der Trole die Samen einzudrücken. Wir hatten nur eine hölzerne Trole. Wenn der Boden feucht war, blieb er kleben und wurde aufgerollt wie ein Teppich. Bärtel sagte dann: «Geh zum Reusser Hans hinauf und frag, ob du seine Trole bekommst.» Er hatte eine eiserne. Das Ross nahm ich immer gleich mit. Ich wusste wohl, dass er nicht Nein sagen würde. Je nachdem trolte ich zwei, drei Bitze und brachte die Trole mit dem Ross zurück.
Einmal kam ich nur bis zum Bahnübergang. Es war ein unbewachter Übergang. Das Ross bockte. Machte keinen Wank mehr. Ich stieg vom Bock. «Komm jetzt, Fleur, komm.» Ich habe nie ein Ross geschlagen. Auch diesmal nicht. Aber auch Schlagen hätte jetzt nichts genützt. Es dauerte eine Weile, bis ich herausfand, warum: Vom Hof her roch es nach Rauch. Er war auch zu sehen. Bald schlugen die Flammen hoch. Das war mehr als ein Kartoffelfeuer. So konnten nur Holzhäuser brennen. Reussers Hof brannte. Fleur hatte es gerochen. Ich zog die Trole neben dem Bahnübergang aufs Feld hinaus, schirrte das Ross ab. Nun folgte es brav.
Reussers Hof war der erste – nein, der zweite grosse Brand, an den ich mich erinnere. Der erste war der Hof hinter uns, von Pfäffli Fritz, mitten im Winter, im tiefen Schnee. Pfäffli hatte einen Knecht, der im Tenn ein Feuerchen angezündet hatte. Er habe kalt gehabt. Alles brannte nieder. Der ganze Hof. Nach Reusser Housis verbrannte Aeschbacher Housis Hof. Alles grosse Höfe. Von Reusser Housis Hof sagte man nachher im Dorf, er habe zwischen seine beiden Rosse einen Bräme-Chessel an die Deichsel gehängt, voll Altöl und alten Jutesäcken, damit es so richtig mottete und rauchte in dem Kessel. Gegen die Kreuzbrämen. Wenn die zustachen, bluteten die Rösser, dass sie einem leidtun konnten. Von diesem Kessel aus sei das Feuer weitergesprungen. Ich dachte, sag nie mehr: du dummes Ross. Das war schlauer als ich. Hatte das Feuer vor mir bemerkt.