Gustav Perle ist ein zurückhaltender Mann. Er wuchs in den 1940er-Jahren allein bei seiner Mutter Emilie in ärmlichen Verhältnissen im schweizerischen Matzlingen auf – und schon damals hat er gelernt, nicht zu viel vom Leben zu wollen. Als Anton in seine Klasse kommt, ein Junge aus einer kultivierten jüdischen Familie, hält mit ihm auch das Schöne in Gustavs Leben Einzug. Anton spielt Klavier, und seine Familie nimmt Gustav sonntags mit zum Eislaufen. Emilie sieht das nicht gerne, lebt sie doch in der Überzeugung, dass die Bereitschaft ihres verstorbenen Mannes, jüdischen Flüchtlingen zu helfen, letztlich ihr gemeinsames Leben ruiniert hat. Doch Anton ist alles, was Gustav braucht, um glücklich zu sein …
Rose Tremain, 1943 geboren, wuchs in London auf. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten und Romane, für die sie u. a. mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet wurde, schrieb aber auch für Film, Funk und Fernsehen. Ihr Roman Zeit der Sinnlichkeit wurde 1995 mit Robert Downey Jr., Hugh Grant und Meg Ryan verfilmt (Restoration). Rose Tremain lebt in London und Norwich. Ihre Romane wurden in rund 30 Sprachen übersetzt. www.rosetremain.co.uk/
Christel Dormagen hat unter anderem Bücher von Anne Tyler, Carol Birch und Daphne du Maurier ins Deutsche übersetzt. Sie lebt in Berlin.
Rose Tremain
Und damit fing es an
Aus dem Englischen
von Christel Dormagen
Insel Verlag
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The Gustav Sonata bei Chatto & Windus, London, an imprint of Vintage, part of Penguin Random House.
eBook Insel Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016.
© Rose Tremain 2016
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eISBN 978-3-458-74913-4
www.suhrkamp.de
In Erinnerung an Richard Simon
1932-2013
»Wenn man in mich dringt, zu sagen, warum ich ihn liebte, so fühle ich, dass sich dies nicht aussprechen lässt, ich antworte denn: Weil er er war; weil ich ich war.«
Michel de Montaigne, Über die Freundschaft
Mit fünf Jahren wusste Gustav Perle nur eines sicher: Er liebte seine Mutter.
Ihr Name war Emilie, aber alle nannten sie Frau Perle. (In der Schweiz waren die Menschen damals nach dem Krieg recht formell. Man konnte sein Leben verbringen, ohne jemals den Vornamen seines nächsten Nachbarn zu erfahren.) Gustav nannte Emilie Perle »Mutti«. Sie sollte sein Leben lang »Mutti« bleiben, auch dann noch, als das Wort für ihn babyhaft zu klingen begann: seine Mutti, sein Ein und Alles, eine dünne Frau mit einer durchdringenden Stimme und strähnigen Haaren, die sich in der kleinen Wohnung irgendwie zögerlich von Zimmer zu Zimmer bewegte, als fürchte sie, zwischen einem Schritt und dem nächsten auf Dinge – oder sogar Menschen – zu stoßen, die sie nicht erwartet hatte.
Von der Wohnung im zweiten Stock, zu der eine für das Haus zu stattliche Steintreppe führte, konnte man den Fluss Emme und Matzlingen sehen, eine Stadt in der Region zwischen Jura und Alpen, die sich Schweizer Mittelland nennt. An der Wand von Gustavs winzigem Zimmer hing eine Karte von Mittelland, auf der sich der Landstrich grün und hügelig ausnahm und von Viehherden, Wasserrädern und kleinen Kirchen mit Schindeldächern belebt war. Manchmal nahm Emilie Gustavs Hand und führte sie an die Stelle, wo Matzlingen am Nordufer des Flusses eingezeichnet war. Das Symbol für Matzlingen war ein Käserad mit einem herausgeschnittenen Stück. Gustav konnte sich erinnern, dass er Emilie einmal gefragt hatte, wer denn das fehlende Stück Käse gegessen habe. Aber Emilie hatte geantwortet, er solle ihre Zeit nicht mit albernen Fragen vertun.
Auf der Eichenanrichte im Wohnzimmer stand eine Fotografie von Erich Perle, Gustavs Vater, der gestorben war, bevor Gustav alt genug war, um sich an ihn zu erinnern.
Jedes Jahr am ersten August, dem Schweizer Nationalfeiertag, stellte Emilie Enziansträußchen rund um das Foto und ließ Gustav davor knien und für die Seele seines Vaters beten. Gustav wusste nicht, was eine Seele ist. Er sah nur, dass Erich ein gutaussehender Mann mit einem selbstbewussten Lächeln war, der eine Polizeiuniform mit glänzenden Knöpfen trug. Also beschloss Gustav, für die Knöpfe zu beten – dafür, dass sie ihren Glanz behielten und dass das stolze Lächeln seines Vaters mit den Jahren nicht verblasste.
»Er war ein Held«, sagte Emilie jedes Jahr wieder zu ihrem Sohn. »Zuerst habe ich es nicht begriffen, aber das war er. Er war ein guter Mann in einer verkommenen Welt. Falls irgendjemand dir etwas anderes erzählt, dann irrt er sich.«
Manchmal murmelte sie, die Augen geschlossen und die Hände zusammengepresst, auch andere Dinge über Erich, an die sie sich noch erinnerte. Eines Tages sagte sie: »Es war so ungerecht. Ihm ist nie Gerechtigkeit widerfahren. Und das wird es auch nie.«
*
In einem Kittel, das kurze Haar sorgfältig gekämmt, wurde Gustav jeden Morgen in die an die Grundschule angeschlossene örtliche Vorschule gebracht. An der Tür des Schulhauses blieb er immer vollkommen regungslos stehen und sah Emilie hinterher, wenn sie sich wieder entfernte. Er weinte nie. Häufig fühlte er einen Schluchzer aus seinem Herzen aufsteigen, aber er zwang ihn stets wieder hinunter. Denn Emilie hatte ihm beigebracht, wie er sich in der Welt zu verhalten habe: Er hatte sich zu beherrschen. Die Welt sei voller schlechter Menschen, sagte sie, aber Gustav habe seinem Vater nachzueifern, der, als ihm Unrecht geschah, ein ehrenhafter Mann geblieben sei; er habe sich beherrscht. Wenn Gustav das beherzige, sei er auf alles, was da kommen mochte, vorbereitet. Denn selbst in der Schweiz, die vom Krieg verschont geblieben sei, wisse niemand, was die Zukunft bringen werde.
»Du siehst also«, sagte sie, »du musst wie die Schweiz sein. Verstehst du? Du musst dich zusammenreißen und mutig und stark sein und dich heraushalten. Dann wirst du die richtige Art Leben führen.«
Gustav hatte keine Ahnung, was »die richtige Art Leben« war. Alles, was er kannte, war sein eigenes Leben, das Leben mit Emilie in der Wohnung im zweiten Stock mit der Karte von Mittelland an seiner Zimmerwand und Emilies Strümpfen, die an einer Leine über der gusseisernen Badewanne trockneten. Er wünschte sich, sie würden immer dort hängen, diese Strümpfe. Er wünschte sich, Geschmack und Konsistenz der Rösti, die es zum Abendessen gab, würden sich nie ändern. Selbst der Käsegeruch in Emilies Haaren, den er nicht besonders mochte, gehörte, wie er genau wusste, einfach dorthin, weil Emilies Arbeitsstelle in der Matzlinger Käse-Kooperative sie beide am Leben hielt.
Die Spezialität der Matzlinger Kooperative war Emmentaler aus der Milch der Kühe in den Emme-Tälern. »Es gibt viele ausgezeichnete Erfindungen in der Schweiz«, erklärte Emilie Gustav und klang dabei wie eine Reiseführerin, »und der Emmentaler Käse ist eine von ihnen.« Doch trotz seiner ausgezeichneten Qualität schwankte der Umsatz des Emmentalers – sowohl innerhalb der Schweiz als auch in all den Ländern, die noch mit dem mühsamen Wiederaufbau nach dem Krieg beschäftigt waren. Und wenn der Umsatz nach unten ging, konnten die Prämien, die den Käsereiangestellten zu Weihnachten und am Nationalfeiertag ausgezahlt wurden, enttäuschend gering ausfallen.
Das Warten auf ihre Prämie machte Emilie Perle immer ganz benommen vor Sorge. Sie saß dann an dem Küchenregal (es war kein Tisch, sondern nur ein Regalbrett mit Scharnier, an dem Gustav und sie ihre Mahlzeiten einnahmen) und rechnete auf den grauen Rändern des Lokalblatts Matzlinger Zeitung Zahlenkolonnen zusammen. Die Druckerschwärze trübte stets ihre Rechenkünste. Außerdem blieben die Zahlen nicht in ihren Kolonnen, sondern wanderten in Reportagen über den Schwingfest-Wettbewerb und die Sichtung von Wölfen in den nahe gelegenen Wäldern. Manchmal wurde Emilies hektische Kritzelei noch zusätzlich durch ihre Tränen verschmiert. Sie hatte Gustav beigebracht, niemals zu weinen. Aber diese Regel schien für sie selbst nicht zu gelten, denn manchmal, wenn Gustav spät in der Nacht leise aus seinem Zimmer schlich, fand er Emilie weinend über den Seiten der Matzlinger Zeitung.
In solchen Momenten roch ihr Atem oft nach Anis, und sie hielt ein Glas mit einer wolkig gelben Flüssigkeit umklammert; Gustav fürchtete sich vor alledem – vor ihrem Anisatem, vor dem dreckigen Glas und vor den Tränen seiner Mutter. Er kletterte auf den Hocker neben ihr und beobachtete sie aus den Winkeln seiner grauen Augen, und schon bald putzte Emilie sich die Nase, streckte die Hand nach ihm aus und sagte, es tue ihr leid. Dann küsste er ihre feuchte, brennende Wange, sie hob ihn hoch und trug ihn, unter seinem Gewicht schwankend, zurück in sein Zimmer.
In dem Jahr, als Gustav fünf wurde, gab es überhaupt keine Weihnachtsprämien, und Emilie sah sich gezwungen, für den Samstagmorgen eine zweite Arbeit als Putzfrau in der protestantischen Kirche Sankt Johann anzunehmen.
*
Sie sagte zu Gustav: »Bei dieser Arbeit kannst du mir helfen.«
Und so brachen sie gemeinsam sehr früh auf, noch bevor die Stadt richtig erwachte, bevor sich irgendein Licht am Himmel zeigte. Sie liefen durch den Schnee, folgten dem schwachen Strahl der beiden Taschenlampen, und ihr Atem benetzte ihre wollenen Schals von innen. Wenn sie in der Kirche ankamen, war diese ebenfalls dunkel und kalt. Emilie knipste die zwei grünlichen Neonröhren rechts und links vom Kirchenschiff an, und sie begannen mit der Arbeit, ordneten die Gesangbücher, staubten die Kirchenbänke ab, wischten den Steinfußboden und polierten die Messingkerzenständer. Sie konnten die Eulen in der schwindenden Dunkelheit rufen hören.
Wenn es dann heller wurde, nahm Gustav seine Lieblingsaufgabe in Angriff. Er kniete sich auf eines der Betkissen, schob es immer ein Stückchen weiter, während er das Gitter auf dem Mittelgang putzte. Vor Emilie tat er so, als müsse er dabei sehr gründlich vorgehen, weil das schmiedeeiserne Gitter so kunstvoll verschnörkelt war und sein Staubtuch jeder Windung der Ornamente von innen und außen nachzugehen hatte, worauf sie bemerkte: »In Ordnung, Gustav, das ist gut. Dass du gründlich arbeitest, ist gut.«
Was sie jedoch nicht wusste, war, dass Gustav immer nach Dingen für seine skurrile Sammlung von Gegenständen suchte, die durch das Gitter gefallen waren und dort im Staub lagen. Er nannte sie seinen »Schatz«. Nur Hände so klein wie seine konnten sie herausfingern. Hin und wieder fand er auch Geld, aber immer nur Münzen von niedrigem Wert, mit denen sich nichts kaufen ließ. Häufiger waren es Haarnadeln, verwelkte Blütenblätter, Zigarettenstummel, Bonbonpapiere, Büroklammern und Eisennägel. Er wusste, dass auch sie wertlos waren, aber das störte ihn nicht. Eines Tages fand er einen nagelneuen Lippenstift in einer goldenen Hülle. Den bezeichnete er als seinen »Hauptschatz«.
All das trug er in seinen Manteltaschen nach Hause und versteckte es in einer Holzkiste, in der einst die Zigarren lagen, die sein Vater immer geraucht hatte. Er strich die Bonbonpapiere glatt, deren lebhafte Farben ihm gefielen, und schüttelte den Tabak aus den Zigarettenstummeln in eine kleine Blechbüchse.
Wenn er allein in seinem Zimmer war, betrachtete er seinen Schatz. Manchmal berührte er ihn und roch daran. Dass er ihn vor Emilie verbarg – als wäre es womöglich ein Geschenk, mit dem er sie eines Tages überraschen würde –, war das Aufregende daran. Der Lippenstift war dunkelviolett, fast schwarz, wie eine gekochte Zwetschge, und er fand ihn wunderschön.
In der Kirche brauchten Emilie und er zwei Stunden, bis alles tadellos für die Gottesdienste am Wochenende hergerichtet war. Während dieser Zeit kamen immer ein paar Leute herein, fest eingemummt gegen die Kälte setzten sie sich in eine Bank und beteten oder traten an das Geländer vor dem Altar und starrten auf die bernsteinfarbene Pietà im Westfenster.
Gustav sah, dass Emilie um diese Menschen herumkroch, als versuche sie, sich unsichtbar zu machen. Selten sagten sie »Grüezi« oder sprachen Frau Perle mit ihrem Namen an. Gustav beobachtete sie von seinem Kissen aus und stellte fest, dass fast alle alt waren. Sie erschienen ihm wie unglückliche Wesen, die keinen heimlichen Schatz besaßen. Er dachte, dass sie vielleicht nicht »die richtige Art Leben« führten, und überlegte, ob das »richtige Leben« möglicherweise in den Dingen lag, die nur er allein sehen konnte – Dingen, die unter irgendeinem Gitter verborgen waren, über das die meisten Menschen achtlos hinwegschritten.
Wenn Emilie und Gustav mit dem Putzen fertig waren, liefen sie Hand in Hand nach Hause. Um die Zeit fuhren schon die ersten Straßenbahnen, irgendwo läutete eine Glocke, ein Taubenschwarm flog von Dach zu Dach, und die Besitzerin des Blumenstands an der Ecke Unter der Egg stellte ihre Vasen und Eimer nach draußen. Die Blumenverkäuferin hieß Frau Teller und grüßte sie jedes Mal mit einem Lächeln, selbst wenn es schneite.
Unter der Egg war der Name der Straße, in der ihr Mietshaus lag. Bevor diese Häuser gebaut wurden, war Unter der Egg ein Streifen Brachland gewesen, auf dem die Matzlinger Bürger Schrebergärten pachten konnten, um Gemüse anzupflanzen, doch diese Gärten waren längst verschwunden. Jetzt gab es nur einen breiten Bürgersteig, einen metallenen Trinkbrunnen und Frau Tellers Blumenstand als letzte Erinnerung an all das Grün, das einst hier wuchs. Emilie sagte manchmal, sie hätte gern Gemüse angebaut – Rotkohl, sagte sie, und Zuckererbsen und Kürbisse. »Aber immerhin«, seufzte sie dann, »wurde die Gegend nicht im Krieg zerstört.«
Sie hatte Gustav in Illustrierten Fotos von zerstörten Städten gezeigt. Sie sagte, die lägen alle nicht in der Schweiz. Dresden. Berlin. Caen. Auf keinem von ihnen waren Menschen zu sehen, aber auf einem dieser Bilder gab es einen weißen Hund, der einsam auf einem Trümmerberg saß. Gustav hatte gefragt, was mit dem Hund passiert sei, und Emilie hatte geantwortet: »Es ist sinnlos, zu fragen, was passiert ist, Gustav. Vielleicht hat der Hund ein gutes Herrchen gefunden, oder vielleicht ist er verhungert. Woher soll ich das wissen? Alles im Krieg hing davon ab, wer man war und wo man war. Den Rest übernahm das Schicksal.«
Gustav starrte seine Mutter an. »Wo waren wir?«, fragte er.
Sie schlug die Illustrierte zu und legte sie so sorgfältig weg wie ein schmiegsames Kleidungsstück, das sie bald wieder zu tragen gedachte. Sie nahm Gustavs Gesicht zwischen ihre Hände. »Wir waren hier«, sagte sie, »in Matzlingen und sicher. Als dein Vater stellvertretender Polizeichef war, hatten wir eine Zeitlang sogar eine sehr schöne Wohnung in der Fribourgstraße. Es gab da einen Balkon, auf dem ich Geranien zog. Ich kann keine Geranien mehr sehen, ohne an die zu denken, die ich damals gepflanzt habe.«
»Und dann sind wir nach Unter der Egg gekommen?«, fragte Gustav.
»Ja. Dann sind wir hierhergekommen.«
»Nur du und ich?«
»Nein. Am Anfang waren wir zu dritt. Aber nicht lange.«
Nach der Putzaktion in der Kirche setzten Gustav und Emilie sich immer an das Klappregal in der winzigen Küche, tranken heiße Schokolade und aßen Schwarzbrot mit Butter. Vor ihnen lag ein langer Wintertag, kalt und leer. Manchmal ging Emilie dann wieder ins Bett und las ihre Illustrierten. Sie entschuldigte sich nicht dafür. Sie sagte, Kinder müssten lernen, allein zu spielen. Sie sagte, wenn sie das nicht lernten, würden sie niemals Fantasie entwickeln.
Gustav starrte dann aus dem Fenster seines Zimmers in den weißen Himmel. Das einzige Spielzeug, das er besaß, war eine kleine Blecheisenbahn, also stellte er die Eisenbahn auf das Fensterbrett und ließ sie hin und her rangieren. Häufig war es am Fenster so kalt, dass Gustav mit seinem Atem sehr echt wirkenden Dampf über der Lokomotive ausstieß. Auf die Waggonfenster waren Gesichter von Menschen gemalt, alle mit dem Ausdruck blanken Erstaunens. Diesen verblüfften Menschen flüsterte Gustav gelegentlich zu: »Ihr müsst euch beherrschen.«
*
Der merkwürdigste Ort des Mietshauses war der Bunker unten im Keller. Er war als Atombunker gebaut worden, wurde allerdings gewöhnlich als »Luftschutzkeller« bezeichnet. Demnächst würden alle Gebäude der Schweiz mit solch einem Keller ausgestattet sein müssen.
Einmal jährlich rief der Hausmeister sämtliche Bewohner des Gebäudes zusammen, auch die Kinder, und sie stiegen alle gemeinsam hinunter in den Bunker. Hinter ihnen schlossen sich schwere Eisentüren.
Gustav umklammerte Emilies Hand. Lampen wurden angeknipst, aber alles, was man daraufhin sah, waren weitere Treppen, die noch tiefer hinunterführten. Der Hausmeister erinnerte sie jedes Mal daran, »normal zu atmen«, das Luftfiltersystem werde regelmäßig auf sein absolut perfektes Funktionieren geprüft. Der Raum heiße nicht umsonst »Luftschutzkeller«. Doch es hing ein seltsamer Geruch in der Luft, ein tierischer Geruch, als hausten Füchse oder Ratten dort, die vom Staub oder von der grauen Farbe lebten, die sie von den Wänden leckten.
Am Ende der zahllosen Treppen erweiterte sich der Bunker zu einem großen Lagerraum, in dem sich vom Boden bis zur Decke versiegelte Pappkartons stapelten. »Merken Sie sich gut, was wir in diesen Kartons aufbewahren«, sagte der Hausmeister, »genügend Lebensmittel für uns alle für ungefähr zwei Monate. Und der Wasservorrat wird in den Tanks da drüben sein. Sauberes Trinkwasser. Natürlich rationiert, weil die Netzstromversorgung – selbst wenn sie funktioniert – im Falle radioaktiver Verseuchung unterbrochen würde. Aber ausreichend für alle.«
Er führte sie weiter. Er war ein schwerer Mann. Er sprach laut und betonte jedes Wort genau, als glaube er, er habe es mit einer Gruppe Schwerhöriger zu tun. Der Klang seiner Stimme hallte von den Betonwänden zurück. Gustav fiel auf, dass die Bewohner im Laufe dieser Führungen durch den Atombunker stets verstummten. Ihre Gesichter erinnerten ihn an die gemalten Menschen auf seiner Eisenbahn. Vielleicht war es die Stimme des Hausmeisters mit ihrem Echo, die sie stumm machte? Ehepaare drängten sich zusammen. Alte Menschen klammerten sich Halt suchend aneinander. Gustav fürchtete immer, seine Mutter könne seine Hand loslassen.
Als sie in den »Schlafsaal« des Bunkers kamen, sah Gustav, dass die Betten zu Fünfertürmen übereinandergestapelt waren. Um ins oberste Bett zu gelangen, musste man eine Leiter hochklettern, und Gustav dachte, es würde ihm nicht gefallen, so hoch über dem Fußboden zu liegen. Angenommen, er wachte nachts im Dunkeln auf und fand Emilie nicht? Angenommen, Emilie schlief im untersten Bett oder in einer anderen Reihe? Angenommen, er stürzte aus seinem Bett und fiel auf den Kopf, und der Kopf platzte? Er flüsterte seiner Mutter zu, dass er nicht hier wohnen wolle, in einem Eisenbett und mit Essen aus Pappkartons, und sie sagte: »Das wird wahrscheinlich nie passieren.«
»Was wird nie passieren?«, fragte er.
Aber das wollte Emilie nicht sagen. »Darüber musst du dir noch keine Gedanken machen«, erklärte sie ihm. »Der Bunker ist nur als Schutz gedacht, für den Fall, dass die Russen – oder überhaupt irgendjemand – es sich in den Kopf setzen sollten, der Schweiz etwas anzutun.«
Gustav lag nachts in seinem Bett und dachte darüber nach, was passieren könnte, wenn der Schweiz etwas angetan wurde. Er fragte sich, ob Matzlingen in einen Trümmerberg verwandelt würde und er plötzlich ganz allein wäre, so wie der weiße Hund auf dem Foto.
Anton kam im kalten Frühling jenes Jahres in die Vorschule.
Er betrat das Schulzimmer und blieb weinend an der Tür stehen. Keines der Kinder hatte diesen Jungen zuvor schon gesehen. Eine der Lehrerinnen, Fräulein Frick, ging zu ihm, nahm ihn bei der Hand, kniete sich vor ihn hin und begann mit ihm zu reden, doch er schien sie nicht zu hören. Er weinte einfach weiter.
Fräulein Frick gab Gustav ein Zeichen. Eigentlich wollte Gustav nicht gern der Junge sein, der dieses weinende Kind zu trösten hatte, aber Fräulein Frick forderte ihn auf, nach vorn zu kommen, und erklärte Anton: »Das ist Gustav. Gustav wird dein Freund sein. Er wird mit dir zur Sandkiste gehen, und ihr könnt zusammen eine Burg bauen, bevor wir mit unserem Unterricht beginnen.«
Anton schaute Gustav an, der ein wenig kleiner war als er.
Gustav verkündete: »Meine Mutter sagt, man soll lieber nicht weinen. Sie sagt, man muss sich beherrschen.«
Das verblüffte Anton offenbar so sehr, dass er abrupt mit Schluchzen aufhörte.
»Na siehst du«, sagte Fräulein Frick. »Das ist brav. Geh schön mit Gustav.« Sie zog ein Taschentuch hervor und wischte Antons Gesicht ab. Die Wangen des Jungen waren hektisch rosa, seine Augen große, dunkle Teiche. Er zitterte am ganzen Leib.
Gustav brachte ihn zum Sandkasten. Antons kleine Hand fühlte sich glühend heiß an. Gustav fragte: »Was für eine Burg möchtest du bauen?« Aber der Junge konnte nicht antworten. Also reichte Gustav ihm eine Schaufel und sagte: »Ich finde Burgen mit einem Graben schön. Sollen wir mit dem Burggraben beginnen?«
Gustav zog einen Kreis, und sie begannen, Sand auszuheben. Einige andere Kinder stellten sich zu ihnen und starrten den neuen Jungen an.
*
Vor Antons Ankunft hatte Gustav keine engen Freunde in der Vorschule gehabt. Es gab ein Mädchen namens Isabel, das er lustig fand. Isabel kletterte gern auf die Arbeitstische, sprang hinunter und landete wie ein Turner mit geschlossenen Füßen und ausgebreiteten Armen auf dem Boden. Und sie brachte immer ihre kleine Maus in einem Holzkäfig mit in die Schule; Gustav war eines der wenigen Kinder, die die Maus streicheln durften. Aber es war zu anstrengend, lange mit Isabel zu spielen. Sie musste bei jedem Spiel die Königin sein.
Sein ganzes Leben lang würde Gustav sich lebhaft an jenen ersten Morgen mit Anton erinnern. Sie redeten nicht sehr viel. Es war, als hätte Anton das Weinen so erschöpft, dass er nicht reden konnte. Er folgte Gustav einfach überallhin, setzte sich am Arbeitstisch sehr dicht neben ihn, beobachtete, was er tat, und versuchte, es nachzumachen. Als Gustav ihn fragte, woher er komme, sagte er: »Aus Bern. Wir hatten ein Haus in Bern, aber jetzt haben wir nur eine Wohnung in Matzlingen.«
Gustav sagte: »Wo ich wohne, ist es sehr eng. Wir haben nicht einmal einen Küchentisch. Hast du einen Küchentisch?«
»Ja«, antwortete Anton, »wir haben einen Küchentisch. Ich habe ihn beim Frühstück vollgekotzt, weil ich nicht hierher wollte.«
Später fragte Anton Gustav: »Habt ihr ein Klavier?«
»Nein«, antwortete Gustav.
»Wir haben ein Klavier, und ich kann darauf spielen. Ich kann Für Elise spielen. Nicht den schnellen Teil, aber den Anfang.«
»Was ist Für Elise?«, fragte Gustav.
»Beethoven«, sagte Anton.
Vielleicht war es die Vorstellung, dass Anton mit seinen kleinen Händen Klavier spielte, oder die Tatsache, dass er ihm erklärte, sein Nachname sei Zwiebel, weshalb er Gustav leidtat – was immer der Grund sein mochte, jedenfalls hatte Anton etwas an sich, das Gustav das Gefühl gab, er müsse ihn beschützen.
Am nächsten Tag weinte Anton wieder bei seiner Ankunft. Gustav sah, wie Fräulein Frick zu ihm wollte, aber er stellte sich ihr in den Weg und sagte, er werde sich um Anton kümmern. Er nahm ihn mit zum »Naturtisch« und zeigte ihm die Seidenraupen, die in einem Lebensmittelkarton mit durchlöchertem Deckel gezüchtet wurden. Er sagte: »Die Löcher in dem Karton, den wir vorher hatten, waren zu groß, und die Seidenraupen sind rausgekrochen.«
»Wohin denn?«, fragte Anton, er weinte immer noch.
»Überallhin«, antwortete Gustav. »Wir haben sie wieder eingesammelt, aber auf ein paar sind wir draufgetreten. Es ist eklig, auf eine Seidenraupe zu treten.«
Gustav sah, dass Anton lächelte, aber dann füllten seine Augen sich wieder mit Tränen, und er versteckte das Gesicht in den Händen.
Gustav fragte: »Weswegen weinst du?«
Anton stammelte, er weine, weil er seine Freunde aus der alten Vorschule in Bern vermisse.
»Sind sie tot?«, fragte Gustav.
»Nein. Aber ich werde sie nie wiedersehen. Ich wohne jetzt hier.«
Gustav sagte: »Dann finde ich es aber blöd, deswegen zu weinen. Ist deine Mutter nicht böse mit dir, wenn du immer weinst?«
Anton nahm die Hände vom Gesicht und starrte Gustav an. »Nein«, sagte er, »sie versteht, dass ich unglücklich bin.«
»Na ja«, sagte Gustav. »Ich finde es jedenfalls ein bisschen blöd. Jetzt bist du hier, also musst du damit zurechtkommen.«
Dann läutete die Glocke zum Morgenunterricht. Anton folgte Gustav zu einem der Arbeitstische; sie bekamen graue Bastelbögen und Schachteln mit Buntstiften ausgeteilt und dazu die Aufgabe, den Tag mit einem Bild von etwas Schönem zu beginnen, etwas, das ihnen gefiel.
Antons einzeln tröpfelnde Tränen sprenkelten das Papier wie dicke Regentropfen, doch nach fünf oder sechs Minuten hörte er mit Weinen auf.
»Was willst du malen?«, fragte er Gustav.
»Ich werde meine Mutter malen«, erwiderte der.
»Ist deine Mutter schön?«
»Das weiß ich nicht. Sie ist eben meine Mutter. Sie arbeitet in der Käse-Kooperative und macht Emmentaler.«
Fräulein Frick klopfe mit einem Lineal auf ihr Pult. »Ihr kennt die Regeln«, sagte sie. »Wenn wir Bilder malen, sind wir leise. Ihr redet leise mit euren Bildern, nicht miteinander.«
Gustav wollte, dass Emilie auf seinem Bild am Küchenregal saß, deshalb zeichnete er zuerst das Regal, eine Art Rechteck, das in der Luft hing. Er malte es braun an. Dann begann er mit Emilies Gesicht, das keine runde Form hatte, sondern eine irgendwie längliche, aber er wusste nicht, wie er sie hinbekommen sollte. Er sah sofort, dass das, was er gezeichnet hatte, zu schmal war. Er hob die Hand. Fräulein Frick kam zu ihm, und Gustav sagte: »Das sollte ein Gesicht sein, aber es sieht aus wie ein Eishörnchen.«
»Das ist nicht schlimm«, sagte Fräulein Frick. »Dann mach doch einfach ein Hörnchen daraus. Und obendrauf malst du einen Klacks leckeres Erdbeereis.«
Es war irgendwie lustig, dass Emilie Perle plötzlich ein Eishörnchen werden konnte. Gustav sagte leise zu Anton: »Ich wollte meine Mutti malen, aber das ging nicht. Jetzt ist sie ein Eis.«
Und das war das erste Mal, dass er Anton lachen hörte. Es war ein unwiderstehliches Lachen; man musste einfach mitlachen, und plötzlich konnten die beiden Jungen gar nicht mehr aufhören zu kichern. Gustav ahnte, dass Fräulein Frick sie streng musterte, aber sie sagte nichts, und als er zu ihr hinschaute – nachdem er endlich sein Kichern unterdrückt hatte –, sah sie überhaupt nicht streng aus, sondern einfach ziemlich belustigt.
Gustav nahm einen rosa Buntstift und kritzelte eine Eiskugel auf das Hörnchen. Dann wollte er wissen, was Anton malte. Anton benutzte nur einen schwarzen Stift. Er hatte ein kleines Lineal auf den Bastelbogen gelegt und rundherum eine Linie gezogen. Und in diesen perfekt gezeichneten Rahmen hatte er eine Reihe verschieden langer schwarzer Linien gezogen. Gustav wusste, was dieses Ding sein sollte: Es war ein Klavier.
*
Gustav erzählte Emilie von Antons Lachen. Er sagte: »Ich höre es so gern.«
In der Nacht begann er, sich lustige Geschichten für Anton auszudenken, weil er den ganzen nächsten Tag sein Lachen hören wollte. Und dann hatte er eine Idee, die ihn überraschte – er beschloss, Anton den Schatz in der Zigarrenkiste zu zeigen. Er würde ihn zeigen, weil Anton bestimmt verstand, dass es sich lohnte, diese Gegenstände aufzubewahren. Aber die Sammlung mit in die Vorschule zu nehmen, wagte Gustav nicht. Er sagte zu Emilie: »Können wir Anton Zwiebel zum Tee einladen?«
»Zwiebel?«, sagte Emilie, »das ist ein sehr merkwürdiger Name.«
»Für seinen Namen kann er nichts«, erwiderte Gustav.
»Nein. Aber Namen sind wichtig. Als ich deinen Vater kennenlernte und er mir sagte, er heiße Perle, fand ich den Namen wunderschön und dachte mir, ich würde gern Frau Perle werden.«
Gustav blickte seine Mutter an. Sie löste gerade ihr strähniges Haar aus dem roten Schnupftuch, mit dem sie es während der Arbeit zusammenband, es fiel ihr jetzt frei ums Gesicht. Sie strich es glatt und zupfte daran herum, als wolle sie sich tatsächlich hier und jetzt erneut für jene erste Begegnung mit einem Mann namens Erich Perle schönmachen.
»Wir könnten ihn doch an einem Mittwoch einladen?«, meinte Gustav. »Wenn du den halben Tag frei hast?«
»Anton Zwiebel. Also, so einen Namen habe ich noch nie gehört. Doch ja, wir können ihn einladen – wenn seine Eltern einverstanden sind. Ich könnte eine Nusstorte backen, vorausgesetzt, ich bekomme um diese Jahreszeit Walnüsse …«
»Vielleicht mag er keine Walnüsse.«
»Pech für ihn. Wenn er sie nicht mag, muss er die Nusstorte ja nicht essen.«
*
Es war schon Frühling, als es endlich zu der Teeeinladung kam. Abgesprochen war, dass Anton mit Gustav zu Fuß von der Schule bis zu Emilies Wohnung in Unter der Egg laufen und um sechs Uhr von seinem Vater dort wieder abgeholt würde. Der Vater, so hieß es, sei ein Bankier, der für eine große nationale Bank in Bern tätig gewesen war und jetzt für eine kleinere Filiale dieser Bank in Matzlingen arbeite. Die Gründe für diesen Wechsel kamen damals nicht zur Sprache. Alles, was Anton dazu sagte, war, dass die ganze Familie das Leben in Bern vermisse. Herr Zwiebel, der Bankier, vermisste offenbar seine große Bank; Frau Zwiebel, die Hausfrau war, vermisste die wunderbaren Geschäfte, und Anton vermisste seine alten Freunde.
Jeden Mai blühte im Hinterhof des Mietshauses ein weißer Kirschbaum. In diesem Frühling 1948 trug der Baum – vielleicht, weil es gegen Winterende ständig geregnet hatte – so viele Kirschblüten, dass die Äste sich zu dem gepflasterten Boden des Hofs hinunterbogen.
Von seinem Fenster, an dem er mit seiner Blecheisenbahn spielte, blickte Gustav auf den Kirschbaum und beobachtete, dass die ein und aus gehenden Hausbewohner beim Überqueren des Hofs fast ausnahmslos stehen blieben und den Baum mit seiner herrlichen Last betrachteten. Manchmal streckten sie einen Arm aus, so wie man ihn sehnsuchtsvoll nach einem verlorenen Menschen ausstrecken würde. Emilie sagte, einst hätten in der ganzen Straße Unter der Egg Kirschbäume vor den Häusern gestanden, doch sie seien gefällt worden und nun gebe es nur noch diesen einen Baum hier im Hof. Sie sagte: »Der Baum ist für die Leute etwas Besonderes, weil er in all den Turbulenzen durchgehalten hat – so wie bestimmte Dinge es offenbar manchmal tun.«
»Was für Dinge?«, fragte Gustav.
»Na, der weiße Hund, zum Beispiel«, antwortete Emilie, »der dir in den Trümmern von Berlin aufgefallen ist. Er hat überlebt.«
»Du hast gesagt, er könnte ein gutes Herrchen gefunden haben, könnte aber auch verhungert sein.«
»Ich weiß. Das Entscheidende ist aber, dass es ihn noch eine Weile gab, während alles um ihn herum schon zerstört war. Er hat durchgehalten.«
*
Dann kam der Mittwochnachmittag mit dem Tee. Gustav fand es schön, mit Anton in der Sonne zu Fuß nach Hause zu laufen. Er war auf eine Weise stolz, die er nicht erklären konnte.
Als er Anton Emilie vorstellte, fiel ihm auf, dass seine Mutter den Jungen länger anschaute als sonst, wenn sie neue Menschen kennenlernte, und Gustav fragte sich, was ihr wohl durch den Kopf ging. Sie sagte: »Du kannst eine Weile mit Gustav in seinem Zimmer spielen, und dann trinken wir Tee und essen Nusstorte. Ich hoffe, du magst Nusstorte.«
»Ich weiß nicht, was das ist«, sagte Anton.
»Ach«, sagte Emilie, »dann wird Gustav es dir erklären.«
Die Jungen gingen in Gustavs Zimmer, in das zu dieser Tageszeit ein Sonnenstrahl schräg durchs Fenster fiel, und Gustav sagte: »Nusstorte ist so eine Art Kuchen mit Karamell und mit Walnüssen drin.«
Aber Anton hörte nicht zu. Sie traten an die Fensterbank mit der Blecheisenbahn, und Anton starrte auf den weißen Kirschbaum. Er sagte: »Können wir da runtergehen?«
»Und im Hof spielen?«
»Ich möchte diesen Baum ansehen.«
»Das ist nur ein Kirschbaum«, sagte Gustav.
»Können wir nicht nach unten gehen?«
»Wir müssen Mutti fragen.«
Emilie sagte: »Einverstanden, aber ich komme mit. Ich möchte nicht, dass ihr auf der Treppe Lärm macht. Du weißt doch, dass Herr Nieder sehr krank ist, Gustav?«
»Herr Nieder ist unser Nachbar«, erklärte Gustav Anton. »Er stirbt bald.«
»Oh«, sagte Anton. »Hat er ein Klavier?«
»Das wissen wir nicht. Hat er eins, Mutti?«
»Ein Klavier?«, sagte Emilie. »Wieso fragst du?«
»Na ja«, sagte Anton, »ich könnte ihm dann Für Elise vorspielen.«
»Vielleicht würde er gar nicht wollen, dass du Für Elise spielst«, sagte Gustav.
»Und ob! Jeder möchte, dass ich das spiele.«
»Gut, aber nicht jetzt«, sagte Emilie. »Jetzt gehen wir sehr leise nach unten.«
Und so betraten sie den Hof, und Anton starrte den Kirschbaum an, und seine dunklen Augen wurden ganz groß. Er rannte zu dem Baum, hopste von einem Fuß auf den anderen, und dann hüpfte er auf und nieder und stieß dabei kleine Freudenschreie aus.
Regungslos beobachtete Gustav Anton. Er beschloss, dass Antons Freude beim Anblick der Kirschblüten irgendwie mit seinen Tränen morgens in der Vorschule zusammenhängen musste, aber er wusste nicht wie. Er ging zu seinem Freund, nahm seine Hand, und gemeinsam begannen sie, im Kreis um den Baum zu springen, und lachten dabei, bis sie außer Atem waren. Gustav hatte keine Ahnung, weswegen genau er so herumsprang, aber er wusste, dass Anton es wusste, und das schien zu reichen.
Ein oder zwei Hausbewohner betraten den Hof, blieben stehen und lächelten den beiden Jungen zu, die um den alten Kirschbaum tanzten. Später, als Anton gegangen war, sagte Emilie: »Ich kann mir vorstellen, dass es gar keine Kirschbäume in Bern gibt. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber sicher kann man es nicht sagen. Vielleicht hat er noch nie einen gesehen?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Gustav.
»Ich finde, er ist ein netter Junge«, sagte Emilie, »aber natürlich ist er ein Jude.«
»Was ist ein Jude?«, fragte Gustav.
»Ach«, sagte Emilie. »Die Juden sind die Leute, wegen denen dein Vater gestorben ist, als er sie retten wollte.«
Ende des Jahres verließen Gustav und Anton die Vorschule. Sie waren beide sechs Jahre alt.
Sie kamen in dieselbe Schule in Matzlingen, die fast direkt neben der Kirche lag, in der Gustav und Emilie samstags saubermachten. Sie nannte sich protestantische Akademie Sankt Johann und war ein altes, hallendes Gebäude – Putz über Feldstein – mit dunkelrot gestrichenen Fensterläden und einem schweren Portal mit gusseisernen schwarzen Verzierungen. In dem steilen Dach schliefen manchmal Tauben.
Gustav vermisste die Vorschule; den Naturtisch, den Sandkasten, die Bilder der Kinder an den Wänden. Über dem Ort hatte eine gewisse Leichtigkeit gelegen, ein Gefühl von Freiheit in den Klassenräumen, als hätte es draußen vor den Fenstern Wiesen und Wälder und breite Flüsse gegeben und nicht eine ganz gewöhnliche Straße. Dagegen war die protestantische Schule Sankt Johann düster, und die Klassenzimmer waren kahl. Gustav fror in ihnen. Die umstehenden Gebäude rückten viel zu nah heran.
Die Schule war voller seltsamer, nachhallender Geräusche.
»Mit der Zeit wirst du dich daran gewöhnen«, sagte Emilie. »Du hast gar keine andere Möglichkeit.«
Er freute sich auf die Samstage, wenn sie die Kirche putzen gingen und er den ganzen Tag mit Emilie zusammen sein konnte. Emilie half Gustav auch bei den Hausaufgaben, anstatt ihre Illustrierten zu lesen. Doch das ging nur selten wirklich gut. Sie erklärte ihm, seine Leistungen seien beklagenswert – »das ist alles, was ich sagen kann, Gustav. Beklagenswert.«
In Mathematik war er gar nicht so schlecht. Zahlen hatten etwas Beruhigendes für ihn. Aber er wusste, dass er nicht gut lesen konnte und seine Schrift holperig war. Manchmal klopfte sie ihm mit einem Lineal auf die Knöchel. Sie sagte: »Wenn dein Vater noch wäre, hätte er viel Schlimmeres mit dir gemacht.«
Gustav arbeitete, so hart er konnte – um Emilies willen, um des »hohen Standards« willen, der von Schweizer Kindern erwartet wurde, aber er sah wohl, dass er mit seinen Bemühungen hinter dem zurückblieb, was von ihm verlangt wurde. Fast hätte man denken können, er trauere schon seinen ersten Kinderjahren nach, als er nichts weiter zu tun hatte, als sich um Dinge zu kümmern: Seidenraupen mit Maulbeerblättern füttern und mit den gemalten Menschen in seiner Eisenbahn sprechen.
*
Gustav hatte Emilie mehrmals gefragt, ob Anton wieder zum Tee kommen dürfe, und Emilie hatte zugestimmt, aber immer wenn er einen bestimmten Tag vorgeschlagen hatte, befand sie sofort, der passe nicht. Schließlich sagte sie: »Im Grunde ist die Wohnung einfach zu klein für zwei Kinder.«
»Ist sie nicht«, sagte Gustav. »Sie war doch damals nicht zu klein.«
»Ja, na gut. Wie wäre es, wenn wir einen anderen Jungen einladen? Du hast doch noch mehr Freunde als nur diesen Zwiebel, oder?«
Gustav starrte seine Mutter an. Sie hatte abgewaschen und legte gerade ihre Schürze zusammen, faltete sie immer kleiner, bis die Baumwollschürze nur noch ein harter Ballen in ihren Händen war.
»Anton ist der einzige Freund, den ich wirklich mag«, sagte Gustav.
Emilie faltete die Schürze wieder auseinander und hängte sie an einen Haken hinter der Tür. Sie seufzte und sagte: »Wie du meinst. Hat ihm denn die Nusstorte geschmeckt?«
»Ich glaube schon.«
»Na schön. Lad ihn für nächsten Mittwoch ein. Ich backe wieder eine.«
*
Anton schien sich über die Einladung zu freuen. Dann, am Tag, als er zum Tee kam, gelang die Nusstorte nicht.
Eigentlich war es eine Köstlichkeit, von der Emilie behauptete, sie könne sie »blind« backen. Doch an jenem Nachmittag war der Teig innen klebrig und an den Rändern verbrannt, und der Karamell war hart wie Toffeebonbons.
Emilie entschuldigte sich nicht. Sie knallte einfach den Teller mit der Nusstorte neben die Teekanne auf das viel zu volle Küchenregal, schnitt finster ein paar Stücke, zündete sich eine Zigarette an und drehte sich zum Rauchen um, weg von Gustav und Anton.
Als sie zu Ende geraucht hatte, wandte sie sich an Anton und sagte: »Beim letzten Mal hast du uns gar nichts von dir erzählt. Was macht eigentlich dein Vater?«
Anton war dabei, sein Stück Nusstorte zu essen, fand es aber schwierig. Er klaubte sich ein Klümpchen klebrigen Teig aus dem Mund und legte es auf seinen Teller. »Er ist Bankier«, sagte er.
»Das sind aber sehr schlechte Manieren«, sagte Emilie Perle und blickte missbilligend auf das Klümpchen Nusstorte. »Wie lang bist du schon in der Schweiz?«
»Was haben Sie gesagt, Frau Perle?«, fragte Anton.
»Ich wollte wissen, wie lange deine Familie schon in der Schweiz lebt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Zwiebel ist eher ein deutscher als ein Schweizer Name. Vielleicht seid ihr ja im Krieg aus Deutschland gekommen?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht.«
»Oder aus Österreich. Vielleicht mit Hilfe anderer? Ich denke, du weißt, dass es eine Menge Leute gab, so wie Gustavs Vater, die es verfolgten Familien aus Deutschland überhaupt erst möglich machten, sich ein neues Leben in der Schweiz aufzubauen. Vielleicht wurde deiner Familie auf diese Weise geholfen?«
Anton starrte Emilie an. Sie zog schon an der nächsten Zigarette und blies den Rauch zum offenen Fenster. Anton blickte weg und wandte sich an Gustav. »Können wir jetzt spielen gehen?«, fragte er.
»Erinnerst du dich an Deutschland?« Emilie blieb hartnäckig.
Anton schüttelte den Kopf. Gustav sah, dass er rot geworden war, so wie jedes Mal vor seinen Tränenausbrüchen. Irgendwie wusste er, dass es wegen der missglückten Nusstorte zu diesem seltsamen Gespräch über Deutschland gekommen war.
*
In Gustavs Zimmer setzte Anton sich auf das schmale Bett und starrte auf die Holzkommode, den Biedermeierstuhl, den Flickenteppich, den metallenen Papierkorb und die Karte von Mittelland – die einzigen Gegenstände, die dieser kleine Raum enthielt. Er sagte nichts.
Gustav stand am Fenster und schob seine Eisenbahn hin und her. Einige Minuten lang herrschte Schweigen im Zimmer, und dieses Schweigen hatte für Gustav etwas Schmerzliches. Er öffnete das Fenster und hoffte, auf dem Dach würden, so wie manchmal, die Stadttauben gurren. Die Geräusche von Vögeln, überhaupt von allen Tieren, konnten gelegentlich tröstlich sein. Doch von den Tauben war nichts zu hören. Gustav ging an die Kommode und holte die Zigarrenkiste mit seinem »Schatz« heraus. Er stellte die Kiste neben Anton aufs Bett.
»Schau mal«, sagte er. »Ich wollte es dir schon letztes Mal zeigen. Das ist mein Schatz.«
Anton beugte sich über den Inhalt der Kiste. Er war immer noch rot im Gesicht, und Gustav sah eine Träne seine Wange hinabrollen. Er wusste, dass er eigentlich etwas sagen sollte, hatte aber keine Ahnung was.
Anton ließ die Sammlung von Büroklammern, Blütenblättern und Nägeln durch die Hände gleiten. Dann nahm er den goldenen Lippenstift, drehte ihn auf und betrachtete ihn. Er wischte sich die Träne mit der Hand weg, musterte den Lippenstift einen Moment und malte seine Lippen dann langsam pflaumenfarben an. Gustav fand den Anblick von Anton mit seinen dunkel bemalten Lippen so seltsam, dass er einfach lachen musste. Es war ein hektisches Lachen, schrill und ängstlich. Anton lächelte.
»Hast du einen Spiegel?«, fragte er.
»Nein.«
»Ich möchte wissen, wie ich aussehe.«
»Du siehst komisch aus.«
»Ich möchte es selbst sehen.«
»Wir können ins Badezimmer gehen.«
Sie liefen über den Flur. Jetzt lachten beide, die Furcht war aus Gustavs Lachen verschwunden; ihr Gelächter trieb sie ins Badezimmer, das, wie sie plötzlich merkten, voller Dampf war, und in all dem Dampf erkannten sie Emilie, die in der Wanne lag. Sie hatte die Augen geschlossen, ihr feuchter Kopf ruhte auf dem Wannenrand. Wenn Emilie müde oder wütend war, tat sie das gerne, ließ sich ein Bad ein, so heiß, dass der ganze Raum voller Dunst war, und lag dann nackt in der warmen Wolke. Als Gustav und Anton jetzt ins Badezimmer gestürmt kamen, schrie sie. Sie nahm die Seife, schleuderte sie gegen die Jungen und traf Gustav am Arm. Er wusste, dass es eigentlich nicht sehr weh tat, trotzdem schien es ihm für einen Moment der schlimmste Schmerz zu sein, der ihm jemals zugefügt worden war. Anton starrte Emilie an, ihre dünnen Arme, die auf dem Wannenrand lagen, und ihre mageren Brüste, und Gustav wusste, dass das, was sein Freund da tat, unerhört war. Er stieß ihn aus der Tür, folgte ihm rasch, knallte die Tür hinter sich zu und eilte zurück in den, wie ihm schien, sicheren Hafen seines Zimmers.
»Es tut mir leid«, sagte er zu Anton. »Ich habe nicht gehört, dass sie das Wasser aufgedreht hat, um zu baden.«
Anton wischte sich den Lippenstift mit dem Handrücken ab. Dann ging er ans Fenster und blickte hinunter zu dem Kirschbaum im Hof. Gustav rieb sich den Arm, wo ihn die Seife getroffen hatte. Er stellte sich vor, wie die Seife im Badezimmer auf dem Linoleum herumglitschte und seine Mutter ohne Seife in der Badewanne festsaß.
»Was ist mit dem Kirschbaum passiert?«, fragte Anton nach einer Weile.
»Wie? Was soll passiert sein?«
»Er ist nicht mehr weiß.«
»Nein«, sagte Gustav. »Dinge sind immer nur ein Weilchen weiß.«
*
Emilie verabschiedete sich um sechs Uhr nicht von Anton und tauchte auch nicht auf, um seinen Vater zu begrüßen, als der ihn abholen kam. Sie war in ihr Zimmer gegangen und dort geblieben. Die Tür hatte sie abgeschlossen.
»Wie geht es deiner Mutter, Gustav?«, erkundigte sich der Bankiersvater höflich.
»Danke, gut«, sagte Gustav.
»Sie ist doch hoffentlich nicht krank?«
»Nein. Ich glaube, sie schläft.«
»Oh, dann sollten wir still sein. Was ist mit deinem Gesicht passiert, Anton?«
»Nichts, Vater.«
»Nun, das ist aber ein sehr buntes Nichts!«
»Es ist meine Schuld«, sagte Gustav. »Das war der Lippenstift, den ich gefunden habe. Soll ich einen Waschlappen zum Abwischen holen?«
»Ja, das wäre keine schlechte Idee. So kann er nicht nach Hause.«
Gustav ging ins Badezimmer und drehte den Heißwasserhahn an. Der Dampf von Emilies Bad hatte sich aufgelöst, aber in dem beengten Raum roch es klamm und unangenehm, was Gustav irgendwie peinlich war. Er befeuchtete rasch einen Waschlappen und kehrte zu Anton und seinem Vater zurück. Der Vater schrubbte Antons Gesicht unsanft ab. Zum ersten Mal fiel Gustav auf, wie groß der goldene Siegelring war, den Herr Zwiebel an seinem breiten Ringfinger trug.
Schließlich sagte Antons Vater: »Meine Frau und ich haben uns gefragt, ob du nicht Lust hättest, mal zu uns zum Tee zu kommen?«
Freude durchschoss Gustav, zusammen mit etwas anderem, das sich nach Furcht anfühlte, ohne dass er es Furcht nennen mochte. »Vielen Dank«, sagte er.
»Frag bitte deine Mutter. Du kannst nach der Schule mit Anton zu uns kommen, und entweder meine Frau oder ich bringen dich im Wagen zurück.«
»Vielen Dank«, sagte Gustav noch einmal.
»Du darfst mir beim Klavierspielen zuhören«, sagte Anton. »Ich kann jetzt schon beinah den schnellen Teil von Für Elise. Und ich lerne gerade ein Schubert-Lied. Schubert ist doch schwierig, nicht, Vater?«
»Ja, das stimmt. Aber das sind viele Dinge, oder was meinst du, Gustav?«
»Ja. Aber meine Mutter sagt, man muss immer weitermachen, so lange, bis man sie beherrscht.«
»Sehr richtig«, sagte Herr Zwiebel. »Vollkommen richtig.«
*
Später am Abend erschien Emilie mit frisch gewaschenen Haaren, die ihr ernstes Gesicht umrahmten. Sie sagte zu Gustav, der ganze Nachmittag, nicht nur der Vorfall im Bad, sei für sie sehr schwierig gewesen.
»Das tut mir leid, Mutti. Wir wussten nicht, dass du in der Badewanne warst«, sagte Gustav.
»Es ist nicht nur das!«, giftete Emilie. »Es ist einfach so, dass die Anwesenheit dieses Kindes in unserer elenden kleinen Wohnung für mich sehr schmerzlich ist.«
»Wieso?«
»Wenn du größer bist, werde ich versuchen, dir alles zu erklären. Jetzt bitte ich dich nur, ihn nicht mehr hierher einzuladen. Jedenfalls für eine Weile.«
Gustav starrte seine Mutter an. Sie hatte ein Glas mit Anislikör vor sich stehen und trank sehr schnell daraus.
Immer wenn Gustav sich später an diesen Augenblick erinnerte, fiel ihm wieder ein, dass ihn ein Gefühl überwältigender Müdigkeit überkommen hatte – einer Müdigkeit, die mit all den Dingen zu tun hatte, die er nicht verstand. Er wusste noch, dass er die Augen geschlossen hatte. Und das Bild von Emilie mit ihren frisch gewaschenen Haaren und dem Glas mit der wolkigen Flüssigkeit kam und ging; es kam und ging, wie Dinge es taten, wenn er kurz vorm Einschlafen war.