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Lorna Byrne

Himmelspfade

Engel weisen uns den Weg

Aus dem Englischen von Astrid Ogbeiwi

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Die britische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Stairways to Heaven« bei Coronet, Hodder & Stoughton, einem Unternehmen von Hachette UK, London
© 2011 der deutschsprachigen Ausgabe
Kailash Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
© 2010 Lorna Byrne
Lektorat: Bettina Lemke
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-06463-1
V003
www.kailash-verlag.de

Ich widme dieses Buch allen, die auf Gott und die Engel gehört und ihre Aufgabe erfüllt haben.

Kapitel 1

Meine Freunde, Begleiter und Lehrer

Ein Engel trat zwischen den Bäumen hervor, und das Licht, das ihn umgab, wurde immer heller. Der Engel hatte eine menschliche Gestalt. Er war groß und elegant, und er strahlte von innen heraus. Sein Gesicht war goldfarben, und seine Augen leuchteten wie Perlen, durch die das Licht hindurchschimmerte. Seine Kleidung umspielte locker seinen Körper, aber wenn er sich bewegte, veränderte sich nicht eine einzige Falte. Um die Taille hatte er eine goldene Schärpe gebunden, und um den Hals trug er eine Kette aus runden Goldgliedern, an der ein großer Saphir-Anhänger hing. Wie bei allen Engeln berührten auch seine Füße den Boden nicht. Goldene Vögel umflatterten ihn, und auch am Boden war er von allen möglichen Vögeln umgeben – von Krähen und Dohlen und zahlreichen kleinen Vögeln, darunter Rotkehlchen, Spatzen, Finken und Meisen.

Plötzlich schossen unglaubliche Licht- und Energiestrahlen explosionsartig aus dem Saphir in alle Richtungen. Im gleichen Moment flogen die kleinen Vögel vom Boden auf und bewegten sich auf den Engel zu. Dann flogen sie in die Strahlen des smaragdgrünen Saphirs hinein und verschwanden schließlich in dem Edelstein.

Nun kam der Engel auf mich zu, breitete seine Flügel aus und bewegte sie sanft. Sie waren sehr groß und unglaublich schön. Ich konnte jede einzelne vollendete Feder sehen. Sie hatten unterschiedliche Größen – von riesengroß bis winzig klein. Alle waren weiß, aber jede hatte einen zarten goldenen Schimmer. Nicht immer haben Engel Flügel, und nicht immer wirken ihre Flügel so, als wären sie aus Federn, doch ich wusste, dass dieser Engel anders war. Denn es war der Vogelengel. Zum letzten Mal hatte ich ihn kurz vor dem Tod meines Mannes Joe gesehen. Joe war erst vor ein paar Monaten gestorben, und er fehlte mir schrecklich. Als ich den Vogelengel sah, saß ich ganz alleine auf einem Baumstamm in einem Wald in der Nähe meines Hauses und freute mich unbändig darüber, dass er gekommen war, um mich zu trösten.

Der Vogelengel kniete sich vor mich hin und legte seine riesigen Flügel um mich. Ich konnte seine Flügel auf meinem Körper spüren. Ich schmiegte mich eng an den Vogelengel an und empfand eine tiefe innere Ruhe. Dann flüsterte ich ihm zu: »Danke, dass du gekommen bist, um mich zu trösten.«

Ebenfalls flüsternd erwiderte er: »Immer wenn du einen Vogel siehst, möchte ich, dass du an mich denkst und lächelst.« Ich spürte, wie der Vogelengel langsam seine Umarmung löste. Dann legte er seine Hand unter mein Kinn und hob meinen Kopf etwas an. Er lächelte mir zu, und seine Augen strahlten voller Zärtlichkeit und Liebe. Sein Gesicht leuchtete golden. Weitere Worte waren gar nicht nötig.

Der Vogelengel erhob sich langsam, verabschiedete sich von mir und ließ meine Hand los. Allmählich wich er immer weiter zurück und wurde dabei riesengroß. Wieder öffneten sich seine Flügel und begannen, rasch und leicht in einem Rhythmus zu schlagen, der wie eine Trommel klang. Nun flog der Vogelengel langsam nach oben, um dann noch einmal in der Luft schwebend innezuhalten. Das strahlende Licht um ihn herum war voller Vögel. Schließlich verschwanden der Vogelengel und alle Vögel in diesem Licht.

Ich sehe ständig Engel. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich zu irgendeiner Zeit einmal keine Engel gesehen hätte. Als ich nach meiner Geburt die Augen öffnete, waren sie sofort da – auch wenn ich damals nicht wusste, dass es sich um Engel handelte. Wenn ich als Baby in meinem Kinderbettchen lag, sah ich sie in der Nähe meiner Mutter. Ich spielte mit ihnen, versuchte, sie zu fangen, aber es gelang mir nie. Ich sehe sie so deutlich wie meine Tochter, wenn sie mir zum Beispiel am Esstisch gegenübersitzt, und ich spreche mit ihnen wie mit anderen Leuten, aber ich kann auch ohne Worte mit ihnen kommunizieren. Es hat noch keinen Tag gegeben, an dem ich keine Engel gesehen hätte. Dass ich sie sehe, ist für mich das Normalste der Welt. Engel sind meine besten Freunde und treuesten Begleiter. Als ich noch recht klein war, sagten mir die Engel, dass ich das, was ich sah, als Geheimnis bewahren solle. Deshalb erzählte ich damals noch nicht einmal meinen Eltern oder Geschwistern etwas davon. Ich weiß nicht, warum Gott mich auf diese Weise auserwählt hat. Ich halte mich nicht für etwas Besseres als andere Menschen. Als ich noch Kind war, sagten die Ärzte meinen Eltern sogar, ich sei »retardiert«, zurückgeblieben. Ich bin sicherlich nicht vollkommen. Ich bin ein ganz normaler Mensch und noch dazu ein ganz normaler Mensch mit Lernschwierigkeiten. Aber Er hat mich auserwählt, und Er hat Seine Engel geschickt, um mich etwas zu lehren. Immer wenn ich einen Engel sehe, möchte ich innehalten und ihn einfach nur betrachten. Ich spüre dann die Gegenwart einer ungeheuren Kraft.

In meiner Jugend nahmen die Engel meist eine menschliche Gestalt an, was mir den Umgang mit ihnen erleichterte. Heute ist das längst nicht mehr nötig. Die Engel, die ich sehe, haben nicht immer Flügel, aber wenn sie welche haben, bin ich häufig über deren Formen verblüfft. Zuweilen sind sie wie lodernde Flammen, haben aber dennoch eine klare Kontur und Festigkeit. Die Flügel mancher Engel sind gefiedert wie etwa die des Vogelengels.

Erscheinen Engel in Menschengestalt – egal ob mit oder ohne Flügel –, gehören ihre Augen zu ihren faszinierendsten Merkmalen, denn Engelsaugen unterscheiden sich stark von Menschenaugen. Sie sind viel lebendiger, so voller Leben, Licht und Liebe – als enthielten sie die Essenz des Lebens selbst –, ihr Strahlen erfüllt mich ganz und gar.

Noch nie habe ich den Fuß eines Engels den Boden berühren sehen. Wenn ein Engel auf mich zukommt, nehme ich eine Art »Energiepuffer« zwischen dem Boden und seinen Füßen wahr.

Jeder Mensch hat einen Schutzengel, ganz gleich, welcher Religion oder Nationalität er angehört oder welche Hautfarbe er hat – das gilt auch, wenn er keiner Religion angehört und an gar nichts glaubt. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Menschen gesehen, der keinen Schutzengel gehabt hätte. Ganz egal also, ob Sie daran glauben oder nicht – Sie haben einen Schutzengel an Ihrer Seite, der versucht, Ihnen zu helfen. Ihr Engel ist ein Geschenk Gottes.

Ich sehe Schutzengel als etwa einen Meter hohe Lichtsäulen, circa drei Schritte hinter »ihrem« Menschen. Manchmal öffnet ein Schutzengel dieses Licht für mich und zeigt sich mir in menschlicher Gestalt – in einer sehr schönen, vollkommenen menschlichen Gestalt. Das passiert meistens, wenn ich unterwegs bin. Engel sind weder männlich noch weiblich, aber zuweilen nehmen sie die Gestalt eines Mannes oder einer Frau an. Manchmal haben die Engel Flügel, manchmal auch nicht. Meistens sehe ich nur das Licht der Schutzengel, denn wenn sie sich ständig für mich öffnen und sich mir zeigen würden, dann wäre das zu viel, und ich könnte kein normales Leben mehr führen.

Ihr Schutzengel verlässt Sie nicht einen Augenblick lang. Schon vor Ihrer Geburt war er bei Ihnen, und er wird bis nach Ihrem Tod bei Ihnen bleiben. Er ist da, um Ihnen zu helfen. Ihr Schutzengel liebt Sie. Sie bedeuten ihm sehr viel. Für ihn sind Sie der wichtigste Mensch auf der ganzen Welt, und er muss alles für Sie tun, was er nur kann. Ihr Schutzengel ist der Torhüter Ihrer Seele, und er kann andere Engel einlassen. Lehrengel zum Beispiel, die Experten auf bestimmten Gebieten sind. Für alles unter der Sonne gibt es einen Lehrengel, scheuen Sie sich deshalb nie, einen um Hilfe zu bitten. Engel sind meine Freunde, meine Begleiter und meine Lehrer. Manche sind sehr oft bei mir, insbesondere der Engel Michael, der Engel Hosus und der Engel Elija.

Beim Engel Michael handelt es sich um den Erzengel Michael, aber als ich ihm als kleines Kind zum ersten Mal begegnete, wusste ich das noch nicht. Er ist am häufigsten bei mir – abgesehen von meinem Schutzengel, über den ich nicht sprechen darf. Der Engel Michael erscheint mir stets in Gestalt eines gut aussehenden Mannes. Sein Alter wechselt, liegt aber immer zwischen 20 und 40 Jahren.

Der Engel Hosus erschien mir zum ersten Mal in der Schule. Er tritt in Gestalt eines altmodischen Lehrers auf – mit einer langen Robe und einem komischen Hut. Er verfügt über großes Wissen und eine tiefe Weisheit und ist zuweilen sehr ernst, aber er kann mich auch wunderbar aufheitern. Bereits vor vielen Jahren schenkte er mir Selbstvertrauen, als ich mir in der Schule so dumm vorkam, dass ich das Gefühl hatte, überhaupt nicht dazuzugehören. Heute hilft er mir, wenn ich schreibe und Interviews gebe.

Der Engel Elija tritt an Wendepunkten meines Lebens auf. Elija erscheint immer in der gleichen Gestalt. Er ist sehr groß, hat breite Schultern und eine rostrot-bernsteinfarbene Haut. Er ist sehr energisch und stark, außerdem kann er wütend werden und scheint stets auf dem Sprung zu sein. Er schenkt mir Kraft und Stärke, wenn ich in meinem Leben kämpfen muss. Über alltägliche Dinge plaudere ich mit dem Engel Michael und dem Engel Hosus, aber nicht mit Elija.

Manchmal darf ich menschliche Seelen sehen. Wenn das geschieht, fühle ich mich immer sehr privilegiert. Die Seele, die ihren Sitz im Körper hat und ihn ganz ausfüllt, tritt dann daraus hervor. Die meisten Seelen bleiben während des Schlafs im Körper, aber hin und wieder bewegen sie sich ein kleines Stück aus dem Körper hinaus. So wie die Seele sich mir zeigt, hat sie Ähnlichkeit mit dem Menschen, gleicht ihm jedoch nicht völlig. Sie hat nicht all dieselben Merkmale, sondern sieht vielmehr so aus, wie der Mensch aussehen würde, wenn er körperlich vollkommen wäre. Wenn mir eine Seele gezeigt wird, bedeutet es, dass etwas Spirituelles geschieht, selbst wenn der betreffende Mensch das vielleicht gar nicht bemerkt. Wenn ich so etwas sehe, werde ich von einer großen Freude, einer tiefen inneren Ruhe und der Gewissheit erfüllt, dass Gott sich um alles kümmert.

Tagtäglich sehe ich auch Geister – die Geister von Menschen, die gestorben und in den Himmel gegangen sind. Viele Menschen glauben, die Anwesenheit eines Geistes bedeute, dass etwas nicht in Ordnung sei. Aber das ist nicht generell so. Oft kommt ein Geist zurück, um einen geliebten Menschen zu unterstützen. Manchmal kommen die Geister auch nur, weil es ihnen Freude macht, eine Zeit lang wieder in dieser Welt zu sein. Als kleines Kind spielte ich regelmäßig mit dem Geist meines Bruders Christopher. Christopher starb, bevor ich geboren wurde. Er half mir, den Unterschied zwischen Geistern und Engeln zu verstehen. Manchmal behauptet jemand, seine verstorbene Großmutter sei ein Engel. Ein Schutzengel kann zwar zulassen, dass der Geist der Großmutter diesen Menschen aufsucht, um ihn zu beraten und zu unterstützen, aber die Großmutter ist kein Engel. Kein Mensch, der auf dieser Erde gelebt hat, wird je ein Engel werden.

Kapitel 2

Elijas Prophezeiung erfüllt sich

Als ich zehn Jahre alt war, begegnete mir der Engel Elija zum ersten Mal. Ich stand mit meinem Vater an einem Fluss beim Angeln und ließ meine Gedanken schweifen. Da kam der Engel Elija über das Wasser auf mich zu. Ich hatte noch nie einen Engel übers Wasser gehen sehen und war ganz fasziniert davon. Dann zeigte Elija mir eine Vision – es war, als würde er einen Vorhang beiseiteziehen. Ich sah einen gut aussehenden jungen Mann, der eine baumbestandene Straße entlangging. Während ich ihn betrachtete, erklärte mir Elija, dass ich mich in diesen jungen Mann namens Joe verlieben würde. Außerdem würden wir heiraten und Kinder bekommen. Allerdings, so sagte mir Elija, würde Joe krank werden, sodass wir nicht zusammen alt werden könnten.

Ich nehme es Elija übel, dass er mir das damals gesagt hat. Ich war erst zehn Jahre alt, und es erscheint mir sehr unfair, dass er mir sagte, wir würden nicht zusammen alt werden. Es kam genau so, wie der Engel Elija es mir vorhergesagt hatte. Joe bewarb sich um eine Arbeit in der Tankstelle meines Vaters – wo auch ich arbeitete –, wir verliebten uns ineinander, kauften ein kleines Cottage in Maynooth und heirateten. Schon vor unserer Hochzeit kränkelte Joe ein wenig. Ich war hin- und hergerissen, manchmal bat ich Gott und die Engel inständig darum, dafür zu sorgen, dass es ihm besser ginge, dann wieder war ich wütend auf sie, weil sie zuließen, dass alles so geschah.

Nach unserer Hochzeit hatte Joe ein gesundheitliches Problem nach dem anderen. Im Laufe der Jahre wurde er Diabetiker, dann griff der Diabetes sein Herz an, und schließlich musste er sogar am Herzen operiert werden. In seinen letzten zehn Lebensjahren war er die meiste Zeit ans Bett gefesselt. Gegen Ende seines Lebens erlitt er mehrere Schlaganfälle. Doch trotz Joes Krankheiten waren wir sehr glücklich miteinander und bekamen vier Kinder: Christopher, Owen, Ruth und Megan, unsere Jüngste. Joe starb am Morgen des 26. März 2000 bei uns zu Hause und hielt somit sein Versprechen, bis zu Ruths und meinem Geburtstag am Vortag am Leben zu bleiben. Er war erst 47 Jahre alt. Unser jüngstes Kind war gerade vier.

In Joes letzten Lebenswochen beobachtete ich, dass die Engel ihn in eine geistige Decke hüllten, wenn er in seinem Sessel saß. Die Decke war hell und sah aus, als sei sie aus Baumwolle. Sie steckten sie um ihn herum fest. Die Engel gingen sehr liebevoll und sanft mit ihm um. Ich konnte sehen, dass sie versuchten, ihm gegen das Wundliegen zu helfen und seine Schmerzen zu lindern. Immer wieder mühte sich Joe ab, von seinem Sessel aufzustehen. Er wollte es unbedingt aus eigener Kraft schaffen. Ich durfte ihm nicht beispringen. Ich sah, dass die Engel ihm halfen, sich aufrecht hinzusetzen, dass sie ihn beim Gehen begleiteten und ihn dabei unterstützten, das Gleichgewicht zu halten, wenn er ins Schlafzimmer oder ins Bad ging. So sorgten sie dafür, dass er nicht stürzte. Manchmal sah das so witzig aus, dass ich einfach lächeln musste. Doch trotz der Hilfe, die die Engel ihm zuteilwerden ließen, stand ich immer auf und ging hinter Joe her. Manchmal drehten sich die Engel dann um und sagten, es sei alles in Ordnung, sie würden schon zurechtkommen. Und einmal sagte mir Joes Schutzengel, es sei sehr wichtig für Joe, sich seine Würde zu bewahren.

In der Nacht bevor Joe starb, wachte ich oft auf. Er schlief neben mir im Bett, und ich drehte mich zu ihm, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Ich wusste, dass die Engel Joes Seele sehr bald mitnehmen würden. Joes wunderschöner Schutzengel, der ihn sein ganzes Leben lang und ganz besonders in den letzten Jahren so liebevoll umsorgt hatte, war nicht mehr wie üblich hinter ihm. Er hatte Joes Körper durchdrungen und hielt nun unglaublich hell leuchtend dessen Seele. Als ich das erste Mal aufwachte, sagte mir der Schutzengel, ich dürfe Joe nicht berühren, um ihn nicht zu stören. Jedes Mal wenn ich aufwachte, sah ich Joe mit Tränen in den Augen an. Und jedes Mal sagte mir sein Schutzengel, ich solle weiterschlafen, worauf ich tatsächlich augenblicklich wieder einschlief. Aber eine knappe Stunde später war ich wieder wach. Schließlich wurde ich etwa um sieben Uhr morgens vom Engel Michael geweckt. Joe atmete nicht mehr. Seine Seele sah wunderschön und vollkommen aus und bewegte sich in Begleitung seines Schutzengels bereits auf ein wunderschönes Licht zu, auf eine Himmelsleiter. Ich wollte ihm zurufen: »Joe, komm zu mir zurück. Ich brauche dich!«

Voller Verzweiflung wollte ich Gott darum bitten, Joe zu gestatten, noch ein wenig dazubleiben, aber ich wusste, dass ich das nicht konnte, denn die Antwort hätte Nein gelautet. Der Erzengel Michael berührte meine Lippen, sodass ich nicht sprechen konnte. Das Zimmer war nun voller Engel. All meine Freunde und Lehrer waren da, aber das tröstete mich nicht. Die Tränen rannen mir über die Wangen. Ich fühlte mich völlig benommen, als ich Joes Körper in den Armen hielt. Ich spürte, wie Michael eine geistige Decke um mich legte. Er flüsterte mir ins Ohr, dass ich die Kinder und einen Rettungswagen rufen solle.

Auch wenn man bereits weiß, dass ein geliebter Mensch bald sterben wird, und selbst wenn er sehr krank ist, wird es dadurch kein bisschen leichter. Ich war völlig am Boden zerstört. Es zerriss mir das Herz, und den Schmerz und das Leid meiner Kinder zu sehen, machte alles nur noch schlimmer für mich. Die Kinder versuchten, mich zu trösten, und ich versuchte, sie zu trösten. Und obwohl wir von Engeln umgeben waren, litten wir nicht weniger.

Als der Rettungswagen kam, versuchten die Sanitäter vergeblich, Joe wiederzubeleben. Ich stand daneben und beobachtete sie schockiert und zitternd. Immer wieder sagten sie: »Es klappt nicht.« Schließlich legten sie ihn entmutigt auf eine Trage, trugen ihn zum Rettungswagen und brachten ihn ins Krankenhaus. Christopher und ich folgten ihnen in einem Taxi. Owen und Ruth blieben zu Hause bei Megan, die schlief und noch nicht wusste, was mit ihrem Vater geschehen war.

Im Krankenhaus wurden Christopher und ich in einen kleinen Warteraum geführt. Ab und zu konnte ich einen Blick auf Christophers Schutzengel erhaschen, der ihn in den Armen hielt und ihn tröstete. Der Engel Michael hielt die ganze Zeit meine Hand. Die Zeit verging, und ich habe keine Ahnung, wie lange wir so dasaßen und warteten. Dann ging die Tür auf, und eine Ärztin kam herein, um uns zu sagen, was ich bereits wusste. Joe war tot. Sie sagte, es tue ihr sehr leid, aber sie hätten nichts mehr für ihn tun können.

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich nach Hause gekommen bin. Zutiefst niedergeschlagen saßen wir alle um den Küchentisch herum und tranken Tee, der uns aber nicht trösten konnte. Megan saß ganz aufgelöst auf meinem Schoß und schluchzte immer wieder: »Ich möchte meinen Papi sehen.« Sie hatte tief geschlafen, als ihr Vater an diesem Morgen gestorben war. Nicht einmal die Hektik der Rettungskräfte hatte sie aufgeweckt. Ich wusste, dass ihr Schutzengel nicht zugelassen hatte, dass sie aufwachte. Sie war erst vier Jahre alt und konnte noch nicht verstehen, was geschehen war. Sie konnte nicht verstehen, dass ihr Vater in den Himmel gegangen war.

Ich erinnere mich, dass ich mich irgendwann im Laufe des Tages einmal fragte, wo Megan war. Als ich sie suchte, fand ich sie im Schlafzimmer unter der Decke im Bett ihres Vaters. Ihr Schutzengel stand tröstend über sie gebeugt und beruhigte sie. Später richtete sich ihr Zorn dann gegen mich. Sie war wütend, weil ich sie an diesem Morgen nicht geweckt hatte.

Immer wieder kamen Leute zu uns nach Hause und sprachen uns ihr Beileid aus. Die älteren Kinder und ich berieten, ob wir Joe vor der Beerdigung nach Hause holen oder ihn im Bestattungsunternehmen in Maynooth aufbahren lassen sollten. Wegen Megan beschlossen wir, dass das Bestattungsunternehmen wohl das Beste wäre. Christopher rief den Bestatter an und regelte alles mit ihm. Als ich in den Raum kam, in dem Joe aufgebahrt lag, sah ich in der Mitte seinen offenen Sarg. Rund um den Sarg standen Engel. Ich war erleichtert und dankte den Engeln wortlos dafür, dass sie Joe nicht allein ließen. In dem Sarg lag zwar nur Joes menschlicher Körper – das wusste ich –, aber ich war den Engeln trotzdem dankbar für den kleinen Trost.

Ich war am Boden zerstört, obwohl ich wusste, dass Joes Seele noch lebte und in Begleitung seines Schutzengels in den Himmel gegangen war. Ich wusste, dass er jetzt bei seiner Familie, meinem Vater und Freunden war, die vor ihm gegangen waren. Ich wusste, dass nur unser menschlicher Körper stirbt. Weil wir eine Seele haben, leben wir weiter. Doch obwohl ich mir all dessen bewusst war und es glaubte, war ich völlig benommen vor Kummer.

Owen hob Megan hoch, sodass sie Joe im Sarg liegen sah. In diesem Moment öffnete sich das Licht um Megans Schutzengel einen Augenblick lang, und er sagte wortlos zu mir: »Megan versteht noch nicht, dass ihr Vater in den Himmel gegangen ist.« Danach ging Megan im Raum umher, während wir anderen schweigend dastanden und Joe ansahen. Ruth meinte, er sehe so friedlich aus.

Als wir wieder zu Hause waren, fragten die Jungs und Ruth Megan, ob sie ihrem Papi ein Geschenk in den Sarg legen wolle, bevor er am nächsten Tag in die Kirche gebracht würde. Daraufhin ging sie in ihr Zimmer und malte ein Bild für ihren Vater.

Am späten Nachmittag des folgenden Tages gingen wir zum Bestattungsinstitut. Bevor der Sarg geschlossen wurde, wollten wir Joe noch ein letztes Mal sehen. Als wir dort ankamen, war der Bestatter bereits da. Der Raum war voller Engel, und das Licht hinter jedem meiner Kinder öffnete sich und gab den Blick auf ihre Schutzengel frei. Aber das war mir kaum ein Trost. Ich fühlte mich völlig benommen, und ich wusste, dass es meinen Kindern ebenso ging. Alle versuchten wir, füreinander und besonders für Megan stark zu sein. Ruth und ich legten Joe einen Rosenkranz um die Hände. Megan stand auf ihren Zehenspitzen und hielt sich mit einer Hand am Sarg fest, um den Körper ihres Vaters sehen zu können. Sorgfältig legte sie das Bild, das sie gemalt hatte, und ihren gelben Lieblingsteddy neben ihn. Wir gaben ihm alle eine Erinnerung mit in den Sarg: Christopher legte ihm eine Schachtel Zigaretten und einen Satz Spielkarten hinein – weil sie immer so gerne miteinander Karten gespielt hatten. Owen legte ihm sein Gaelic-Fußballtrikot und seinen roten Liverpool-Schal hinein, und Ruth schenkte ihm einen Ring und einen Brief. Als ich sah, wie meine Kinder sich von ihrem Vater verabschiedeten und ihm ihre kostbaren und mit viel Liebe ausgewählten Geschenke in den Sarg legten, glaubte ich, mein Herz würde zerspringen. Sie waren so blass, und in ihren Augen standen Tränen. Ich fühlte mich völlig hilflos und unfähig, sie zu trösten.

Am Abend zuvor hatte ich im Bett einen Brief an Joe geschrieben. Während ich schrieb, schluchzte ich ganz leise, damit mich niemand hörte. Der Erzengel Michael saß neben mir auf dem Bett, aber ich ignorierte ihn. Da rief er mich beim Namen, und ich sah ihn an, brachte aber kein Wort heraus. Michael berührte meine Hand und sagte: »Ich werde Joe diesen Brief im Himmel bringen.«

Als ich nun meinen Brief in den Sarg zu Joe legte, flüsterte der Engel Michael mir ins Ohr: »Ich werde dafür sorgen, dass Joe im Himmel alles erhält, was ihr in den Sarg gelegt habt, Lorna.«

Die Kinder und ich konnten es kaum ertragen, dass wir Joes menschlichen Körper nie wiedersehen würden, sobald der Sarg erst einmal geschlossen war. Es war so unglaublich schwer für uns – das ist es für alle, die einen geliebten Menschen verloren haben, das weiß ich. Versuchen Sie wie ich damals auch, daran zu denken, dass der geliebte Mensch nicht tot ist, sondern dass er ewig lebt, weil wir alle eine Seele haben. Wir werden unsere Lieben wiedersehen, wenn es für uns an der Zeit ist, zu sterben und diesen menschlichen Körper hinter uns zu lassen.

Kapitel 3

Ein Klageschrei

Die Zeit nach Joes Tod war sehr belastend für mich. Ich versuchte, mit der Situation fertigzuwerden, aber trotz all der Unterstützung durch Gott und die Engel war es sehr schwer für mich. Ohne die Engel, mit denen ich reden konnte, hätte ich die Stille im Haus nicht ertragen. Fast immer, wenn ich allein im Haus war oder wenn Megan in ihrem Bettchen schlief, besuchten mich die Engel. Es gab auch Zeiten, in denen ich sie nicht um mich haben wollte. Dann schickte ich sie weg und sagte ihnen, dass sie mich in Ruhe lassen sollten. Doch sie gingen nie weit weg, und hin und wieder erhaschte ich trotzdem einen flüchtigen Blick auf einen Engel.

Megan vermisste Joe schrecklich und weinte viel. Manchmal kam sie zu mir und wollte in den Arm genommen werden, weil sie sehr traurig war. Eines Tages, als Megan sich mit ihren Spielsachen beschäftigte und ich die Wäsche bügelte, fing sie leise an zu weinen. Ich unterbrach meine Tätigkeit und schaute auf. Das Zimmer füllte sich mit Engeln, und das Licht um Megans Schutzengel öffnete sich. Ihr Engel sah mich an, und wir sprachen wortlos über den Schmerz und die Trauer meiner kleinen Tochter. Ich eilte zu Megan, um sie zu trösten, und als ich sie umarmte, stieß sie weinend einen lauten Klageschrei aus, der aus ihrer tiefsten Seele kam. Ich hatte noch nie einen so durchdringenden, hohen und lang anhaltenden Schrei gehört. Er war zutiefst angsteinflößend und ging mir durch und durch. Einen Augenblick lang vibrierten die Fensterscheiben, und ich befürchtete schon, dass sie alle zerspringen würden. Ich rief die Engel um Hilfe an. Plötzlich wurde es ganz still um uns – mit Ausnahme von Megans Klageschrei. Können Sie sich eine unendliche Stille vorstellen, die nur von einem gellenden Schrei eines Kindes durchdrungen wird? Megans Kummer war so überwältigend, dass dieses kleine Wesen ihn fast nicht ertragen konnte. Die Engel umarmten uns, und wir waren dabei von hellen, weißen Lichtern umgeben. Schon bald konnte ich spüren, dass Megan sich durch die Wärme und Liebe der Engel allmählich beruhigte. Sie verstummte, und eine unglaubliche Stille trat ein. Dann schwand das Licht der Engel langsam wieder, und das Zimmer kehrte in den Normalzustand zurück. Während ich noch auf dem Boden saß und Megan festhielt, schlief sie in meinen Armen ein.

Nach einer Weile trug ich sie zur Couch und deckte sie sanft zu. Leise ging ich aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Ich rief meine Engel. Michael kam ins Zimmer, gefolgt von Hosus, Elija und vielen anderen. Aufgebracht fragte ich sie: »Was hatte das gerade zu bedeuten?«

»Setz dich, Lorna«, sagte Michael. »Du musst bedenken, dass Megan ihren Vater 24 Stunden am Tag um sich hatte. Ihr ganzes Leben lang war er immer da. Sie vermisst ihn schrecklich.«

»Wird sie noch einmal so schreien?«, fragte ich zutiefst verunsichert und setzte mich an den Tisch.

Der Engel Hosus, der am Fenster stand, erwiderte: »Ja, das wird sie. Wir können das nicht verhindern.«

»Warum nicht?«, fragte ich und stand vom Tisch wieder auf.

Hosus kam auf mich zu und blieb vor mir stehen. »Das gehört zu Megans Leben, Lorna, zu dem, was sie in ihrer Entwicklung durchmachen muss.«

Ich sah Hosus und all die anderen Engel an. »Ich verstehe. Es ist nur so schwer, ihren Schmerz mitanzusehen. Einmal habe ich beobachtet, wie Megans ganze Energie schlagartig verschwand, als sie die Schlafzimmertür öffnete und sah, dass ihr Vater nicht da war. Ein anderes Mal malte sie ein Bild und rannte damit ins Wohnzimmer, um es ihm zu zeigen, weil sie dachte, er säße wie üblich in seinem Sessel vor dem Kaminfeuer.«

Ich war schrecklich traurig. »Ich glaube, ich kann ihr nur sehr viel Liebe geben, mehr kann ich wohl nicht tun. Ich weiß, dass die Schutzengel von Christopher, Owen und Ruth unglaublich viel für sie tun und mit den Schutzengeln ihrer Freunde in Verbindung stehen. Ihre Freunde sind ihnen eine große Stütze. Würdet ihr ihren Schutzengeln bitte von mir danken?«

»Natürlich«, antwortete der Engel Michael und ergriff meine Hand. »Ihre Freunde hören auf ihre Engel.« Und damit verschwanden die Engel wieder.

Im September des gleichen Jahres wurde Megan in Maynooth eingeschult. Sie ging in dieselbe Grundschule, in die auch Ruth gegangen war, und Ruth hatte ihr bereits alles über die Schule und die Lehrer erzählt. Ich freute mich, dass Megan nun in die Schule ging, aber ich machte mir auch Sorgen, wie es ihr wohl ergehen würde. Manchmal kam sie sehr traurig und aufgewühlt nach Hause. Ihre Freunde hatten erzählt, was sie am Wochenende mit ihren Eltern unternommen hatten. Und dann fragten sie Megan, wo sie am Wochenende mit ihrem Vater und ihrer Mutter gewesen sei. Es fiel ihr schwer, ihren Freunden zu sagen, dass ihr Vater gestorben war und sich im Himmel befand. Und dann gab es Tage wie den Vatertag, zu dem alle Kinder in der Klasse Glückwunschkarten für ihre Väter bastelten. Ich befürchtete, dass all dies zu viel für Megan war, und ich betete zu Gott und den Engeln und bat sie um Hilfe.

Die Engel versuchten, auch mich aufzuheitern. Eines kalten Wintermorgens hatte ich Megan wie immer zur Schule gebracht und war bereits wieder auf dem Heimweg. Ich ging gerne am Kanal in Maynooth entlang, denn dort war es ruhiger als an der Straße. Dieser Abschnitt des Royal Canal hat mir schon immer gefallen, denn dort gibt es stets etwas zu sehen: jede Menge Enten, und auf einer Insel in der Mitte des künstlich angelegten Hafens nistet ein Schwanenpaar. Normalerweise befindet sich dort immer nur dieses eine Schwanenpaar, außer in der Zeit, nachdem Junge geschlüpft sind. Manchmal überlebt allerdings kein einziges Junges. Als ich an jenem Tag dort entlangging, war nur das eine Schwanenpaar da. Am Anfang meines Nachhausewegs waren mir ein paar Leute entgegengekommen, aber als ich nun auf dem kleinen Pfad weiterging, hatte ich den Landstrich offenbar für mich allein. Ich bog am Rande des Hafens um die Ecke und erblickte dort sehr viele Schwäne – es waren circa 20. Das überraschte mich, aber ich machte mir deswegen keine weiteren Gedanken. Doch dann forderte ein Engel mich auf, stehen zu bleiben.

Plötzlich veränderte sich das Wasser des Kanals und wurde ganz glasig. »Was geschieht hier?«, fragte ich die Engel, die sich um mich herum versammelt hatten. »Seht nur, in welches Licht die Schwäne getaucht sind. Sie leuchten und werden immer weißer.« Einer der Schwäne glitt elegant auf mich zu. Dann bemerkte ich, dass die anderen ihm folgten. Sie schwammen einer hinter dem anderen in einem geschwungenen Bogen. Ich schaute genauer hin, und es sah so aus, als bildeten sie den Buchstaben S. Fasziniert beobachtete ich sie. Als der Anführer das Ufer erreicht hatte, kam er über das Gras watschelnd zu mir. Die übrigen Schwäne folgten ihm einer nach dem anderen. Ich fragte mich, was da wohl gerade vor sich ging. Ich trat einen Schritt zurück und stand nun in der Mitte des Wegs. Einige Schwäne stellten sich im Kreis um mich herum. Sie waren so nah, dass sie mich beinahe berührten. Um diesen Kreis bildeten die anderen Schwäne einen weiteren Kreis – bis auf zwei. Diese beiden Schwäne standen außerhalb der Kreise – einer hinter mir und einer vor mir – als hielten sie Wache. Die Schwäne in den Kreisen richteten ihre Körper hoch auf und streckten ihre Hälse zum Himmel, sodass sie mich überragten. Sie breiteten ihre starken Flügel aus und schlugen sanft damit. Sie gaben wunderschöne, melodiöse Töne von sich und bewegten ihre Flügel im Takt dazu. Ihr Gesang hatte einen hohen, aber sanften Klang, der hypnotisch und beruhigend wirkte. Ich war verzaubert. Trotz ihrer Größe und der enormen Kraft, die Schwäne haben, empfand ich keinerlei Angst. Ich rührte mich nicht, denn sie standen so dicht bei mir, dass ich befürchtete, einen von ihnen umzustoßen und zu verletzen, wenn ich auch nur die leiseste Bewegung machte.

Ich habe keine Ahnung, wie lange wir so dastanden, aber schließlich drehte sich der Schwan um, der vor mir Wache gestanden hatte, ging zum Ufer und ließ sich ins Wasser gleiten. Die Schwäne im äußeren Ring folgten ihm in einer anmutigen Formation wie Schauspieler, die von einer Bühne abgehen. Die Schwäne, die im inneren Kreis dicht bei mir gestanden hatten, gingen zuletzt. Fasziniert beobachtete ich, wie sie ihren Körper aus der gestreckten Haltung elegant wieder absenkten, ohne mich zu berühren, dann einen Schritt zurücktraten und zum Wasser gingen. Schließlich waren alle Schwäne wieder im Wasser und glitten elegant auf dem Kanal dahin.

Alles war wieder normal. Ich bedankte mich bei den Engeln. An diesen Anblick denke ich seitdem jedes Mal, wenn ich an diesem Kanalabschnitt entlanggehe. Die Engel haben mir gezeigt, wie stark die Verbindung zwischen den Menschen und Gottes anderen Geschöpfen ist. Und sie haben mich wieder einmal daran erinnert, wie wunderbar diese Welt ist.

Eines Morgens, als Megan in der Schule war, machte ich einen Spaziergang zur Lady Chapel, einer wunderbaren kleinen Marienkirche. Heute kann man nicht mehr auf dem gleichen Weg zu Fuß dorthin gehen, da die Straßen mittlerweile viel zu stark befahren sind. Aber damals waren sie noch ruhiger – ich glaube, an jenem Morgen fuhr nur ein einziges Auto an mir vorbei. Es war ein frostiger Morgen, aber es regnete nicht, und hin und wieder lugte die Sonne für einen kurzen Moment hinter den Wolken hervor. Ich genoss die frische Luft, und während ich so vor mich hinging, betete ich zu Gott und bat ihn um ein paar Wunder. Mir ging viel im Kopf herum. Meine Gedanken kreisten natürlich besonders um Megan, aber auch um andere Menschen, die mich in den letzten Wochen aufgesucht hatten.

Ich war gerade nach links in eine kleinere Straße eingebogen, da hörte ich jemanden meinen Namen rufen, und eine Stimme sagte mir, ich solle mich beeilen. Ich sah auf und erblickte in einiger Entfernung eine wunderschöne Engelfrau. Ich erkannte sie sofort, obwohl sie noch weit weg war. Es war die Engelfrau Elisha. Sie befand sich in der Mitte der Straße und sah einfach wunderschön aus – es war, als stünde sie mitten im Sonnenlicht. Ich rannte zu ihr. »Wo warst du, Elisha?«, fragte ich sie, als ich sie erreichte. Sie antwortete mir nicht, sondern ging ein kurzes Stück neben mir her. An einem Feldweg blieben wir stehen. Das Licht der Sonne schien auf uns beide herab, und ich spürte die Kälte nicht mehr. Ich sah die Engelfrau an. Sie hatte sich nicht verändert. Als sie mir das erste Mal erschienen war, war sie aus dem Spiegel in der Toilette der Autowerkstatt in Rathmines getreten, wo ich damals arbeitete. Es fällt mir sehr schwer, sie zu beschreiben. Sie hatte eine menschliche Erscheinung, zugleich aber schien sie aus wunderschönen Lichtfedern zu bestehen.

Mit ihrer rechten Hand hob Elisha mein Kinn leicht an, dann fragte sie mich: »Erinnerst du dich noch an die Familie Brennan, die zu dir kam, als Joe noch lebte, Lorna?« Ich nickte. »Erinnerst du dich auch noch daran, was Oma Brennan dir angeboten hat?« Ich nickte wieder. »Gott möchte, dass du ihr Angebot annimmst.«

Ich war geschockt. Die Familie Brennan hatte sich vor einigen Jahren hilfesuchend an mich gewendet. Damals war Joe sehr krank gewesen. Als die Brennans bei mir waren, forderten die Engel mich auf, Joe der Familie vorzustellen. Das war höchst ungewöhnlich. Die Engel erlaubten mir nur sehr selten, Joe miteinzubeziehen. Joe wollte die Brennans eigentlich lieber nicht kennenlernen, denn es ging ihm damals sehr schlecht, und er konnte kaum gehen. Aber ich überredete ihn. Wir saßen alle miteinander am Küchentisch: Maura Brennan, ihre Mutter – die ich immer Oma Brennan nannte –, Mauras Mann und vier ihrer Kinder. Kurz darauf erfuhr ich, dass es in der Familie noch mehr Kinder gab. Die Brennans hatten auch etwas zu essen mitgebracht. So saßen wir nun also am Tisch, aßen gemeinsam und unterhielten uns. Bevor sie an jenem Abend gingen, luden sie Joe und mich und unsere drei Kinder (Megan war damals noch nicht geboren) an einem Sonntag ein paar Wochen später zu sich zum Abendessen ein.

Nachdem sie gegangen waren, sagte Hosus zu mir: »Du wirst dich mit dieser Familie anfreunden. Sie wird in Zukunft eine wichtige Rolle für dich spielen, Lorna. Ihr werdet wunderbare Freunde werden, und eure Freundschaft wird für beide Familien sehr wertvoll sein.« Hosus sollte recht behalten – es war der Beginn einer langen Freundschaft, einer meiner wenigen Freundschaften, denn die Engel haben mich immer davon abgehalten, enge Kontakte zu schließen. Ich verstehe eigentlich nicht, warum.

Elisha hatte mich gefragt, ob ich mich an Oma Brennans Angebot erinnerte. Natürlich erinnerte ich mich daran. An jenem ersten Sonntag vor vielen Jahren waren wir zu den Brennans zum Abendessen gegangen. Nach dem Essen hatte Oma Brennan mir ein altes Bauernhaus in der Nähe gezeigt, das ihr gehörte. Sie bot mir das Haus als Geschenk an. Sie meinte, dass wir in Zukunft ja vielleicht einmal umziehen wollten. Damals wohnte ein alter Mann darin, der aber an diesem Tag nicht da war. Oma Brennan erklärte mir, sie könne uns das Haus nicht überlassen, solange der Mann noch darin wohne, aber wenn er eines Tages nicht mehr da wäre, würde sie es uns herzlich gerne schenken.

»Wäre es nicht wunderbar, wenn ihr auch hier in Johnstown wohnen würdet – nur ein paar Häuser von uns entfernt?«, fragte sie. »Ich möchte das so gerne für dich und Joe tun, Lorna. Das ist ein Versprechen, und ich breche meine Versprechen nie!« Ich verliebte mich sofort in das alte Bauernhaus. Es erinnerte mich an das alte Haus in Old Kilmainham, in dem ich als Kind gewohnt hatte. Das Dach war eingestürzt, aber dennoch war es mir immer in guter Erinnerung geblieben. Vielleicht kommt meine Liebe zu alten Häusern ja von diesem allerersten Zuhause. Joe gefiel, dass Oma Brennans Haus wunderbar ruhig war.

Und nun schlug die Engelfrau Elisha mir vor, das Angebot anzunehmen und mit Megan in dem alten Bauernhaus zu wohnen. Verwirrt sah ich sie an. »Ich bin ein bisschen schockiert, Elisha. Da müssen doch sehr viele Dinge bedacht werden. Und was ist mit meinen drei anderen Kindern? Ich weiß, dass sie schon ziemlich erwachsen sind, aber ich kann doch nicht das Haus verkaufen und sie ohne Dach über dem Kopf stehen lassen. Außerdem habe ich das alte Bauernhaus schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. In welchem Zustand ist es überhaupt?«

Elisha erwiderte: »Von außen sieht das Haus immer noch gleich aus, und es ist ein sehr schönes Haus. Aber von innen ist es leider in einem schlechten Zustand. Es ist nicht bewohnbar, und alle Rohre und elektrischen Leitungen müssen neu verlegt werden. Das ist schrecklich viel Arbeit.« Sie lächelte mir aufmunternd zu. »Du solltest Oma Brennan anrufen und ihr sagen, dass du das Haus nimmst. Umziehen wirst du erst in etwa einem Jahr. Und in der Zwischenzeit wird noch sehr viel geschehen.«

Ich lachte, als Elisha das sagte, und sie lachte mit. Ihr Lachen klang wie Wasser, das sanft über Kiesel plätschert. Elisha und ich gingen gemeinsam die Straße entlang und sprachen noch ein wenig über andere Dinge. Dann verschwand sie wieder. Aber ich rief die Brennans nicht an! Am darauffolgenden Samstagmorgen waren Megan und ich unterwegs zu einer Teestube, wo wir Creme-Donuts essen wollten. Ich hielt sie bei der Hand, während wir so durch Maynooth spazierten. Plötzlich kamen einige weiße Engel auf uns zu. Weiße Engel gibt es zuhauf. Überall wo Menschen sind, gibt es Hunderte von ihnen. Sie sind jederzeit bereit, uns auf jede erdenkliche Art und Weise zu helfen. Im Gegensatz zu Lehrengeln, die Experten auf einem bestimmten Gebiet sind, zum Beispiel im Bereich der Medizin oder darin, wie man Prüfungen besteht – für jede erdenkliche Fähigkeit gibt es einen Lehrengel –, sind weiße Engel keine Spezialisten, aber sie sind in vielerlei Hinsicht eine große Hilfe. Sie wirken sehr hell, deshalb nenne ich sie weiße Engel. Sie sind unterschiedlich groß. Manchmal sind sie riesig und dann wieder etwa so groß wie die Menschen, in deren Nähe sie sich aufhalten. Die kleinsten, die ich je gesehen habe, waren so groß wie die Kinder, bei denen sie waren.

An diesem Morgen in Maynooth war ich verblüfft, so viele weiße Engel zu sehen. Tausende von ihnen befanden sich dicht gedrängt auf der Straße. Sie schienen von überall her zu kommen. Alles schien beinahe stillzustehen. Ein helles Auto bewegte sich kaum noch vorwärts. Auf dem Fahrersitz saß ein Mann, aber er wirkte wie erstarrt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen ein Mann und eine Frau. Es sah so aus, als wollten sie eigentlich vorwärtsgehen, denn sie hielten beide einen Fuß in der Luft, aber sie bewegten sich überhaupt nicht. Ich stand neben Megan. Das Licht um Megans Schutzengel öffnete sich und strahlte so hell, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich wusste sofort, was jetzt passieren würde.

Megan fing unkontrollierbar zu schluchzen an. Ich kniete mich neben sie und tröstete sie mit allen liebevollen Worten, die mir einfielen. Ich nahm sie in die Arme und sagte ihr, dass sie nicht weinen müsse. Eine Sekunde lang war Megans Klageschrei leise, aber dann schwoll er an, bis er ohrenbetäubend laut war. Ich war sicher, dass man ihn kilometerweit hören konnte. All meine Liebe würde jetzt nichts mehr nutzen, das wusste ich. Megan würde deshalb nicht aufhören zu schreien. Ich rief Gott und die Engel an und bat sie inständig: »Bitte, helft ihr!«

Die weißen Engel, die uns umgaben, fingen an zu singen. Es war ein hoher, sanfter und lieblicher Gesang, geradezu hypnotisch. Der Gesang beruhigte Megan. Ihr Klageschrei wurde leiser, und schließlich verstummte sie ganz. Zutiefst erleichtert drückte ich sie fest und bedankte mich bei Gott und den Engeln. Die Stille, die Megans Wehklage umgeben hatte, war gebrochen. Ich hörte Bremsen quietschen, dann wurde eine Autotür zugeschlagen, und ein Mann rief: »Ist ihr was passiert?«

Nun hörte ich die Schritte des Mannes und der Frau, die ich vorher gesehen hatte. Sie rannten von der gegenüberliegenden Straßenseite auf uns zu.

»Ist ihr was passiert?«, fragte der Mann aus dem Auto noch einmal. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Erneut wurde alles still. Die drei hilfsbereiten Menschen bewegten sich auf einmal wie in Trance. Ich sah, dass die weißen Engel sie berührten. Nach wenigen Sekunden war alles wieder normal, und der Mann und die Frau gingen wieder auf die andere Straßenseite hinüber. Die Engel, die bei ihnen waren, drehten sich um und lächelten mir zu. Offenbar hatten sie dafür gesorgt, dass die Leute vergaßen, was sie gehört hatten. Ich dankte Gott und den Engeln, dass an diesem Morgen so wenige Menschen unterwegs waren. Die Stadt wirkte ziemlich verlassen. Megan und ich setzten unseren Weg zur Teestube fort. An der Tür stand der Engel Hosus und berührte Megans Kopf, als wir hineingingen.

Die Ereignisse dieses Tages nahmen mir die Entscheidung im Hinblick auf Johnstown ab. Ich wusste, dass ich Megan aus Maynooth wegbringen musste. Die Erinnerungen dort waren einfach zu viel für sie. Sie brauchte einen Neuanfang.

Ein paar Tage später rief Oma Brennan mich an, um mir zu sagen, dass das alte Bauernhaus in Johnstown jetzt leer stehe. Der alte Mann sei gestorben, und das Haus gehöre nun mir, wenn ich es haben wolle. Ich sagte ihr, dass ich es gerne annehmen wolle, und bedankte mich sehr bei ihr. Oma Brennan freute sich über meine Entscheidung, und auch ich freute mich, wenngleich ich angesichts dessen, was diese Entscheidung alles mit sich brachte, etwas angespannt war. Ich erklärte ihr, dass ich noch ein wenig Zeit benötige. Wir unterhielten uns noch etwas und verabschiedeten uns dann.

Kapitel 4

Die Güte der Engel

Ich habe mein Privatleben und die Arbeit, um die Gott und die Engel mich gebeten haben, stets voneinander getrennt. Menschen, die in der Zeit kurz nach Joes Tod zu mir kamen, ahnten nichts von meinem Verlust. Ein paar Wochen danach war ich eines Abends mit der schlafenden Megan allein im Haus, als es an der Tür klopfte. Draußen stand ein Mann. Als ich ihn hereinbat, flüsterte mir ein Engel ins Ohr, dass ich Ja zu dem sagen solle, worum der Mann mich bitten würde. Ich erkannte die Stimme des Engels – es war Hosus. Der Mann erzählte mir, er sei auf dem Rückweg nach Dublin in Maynooth vorbeigekommen, habe an mich gedacht und wolle mir dafür danken, dass ich ihm und seiner Familie so großartig geholfen habe. Er fragte mich außerdem, ob ein Freund von ihm, dem es sehr schlecht gehe, zu mir kommen dürfe und ob das vielleicht schon in den nächsten Tagen möglich sei.

Ich zögerte, aber da der Engel Hosus mich gebeten hatte, Ja zu sagen, tat ich es. Wir vereinbarten, dass der Mann mich am nächsten Tag anrufen würde, um einen Termin auszumachen. Er bedankte sich bei mir und verabschiedete sich dann.

Als er auf das Gartentor zuging, erschienen zwei Engel, einer zu seiner Linken, der andere zu seiner Rechten. Sie sagten mir ohne Worte, dass dieser Mann einen tiefen Glauben an Gott und die Engel habe und sehr auf sie höre. Als er seine Autotür öffnete, drehte er sich um und winkte mir zu. Aber mir war sehr schwer ums Herz. Als ich wieder ins Haus ging und die Küchentür öffnete, saß Hosus am Küchentisch. Ich ließ mich auf einen Stuhl neben ihm sinken. Die Tränen rannen mir übers Gesicht, und ich sagte: »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ist es nicht zu früh für mich, schon wieder Leute zu empfangen?«

Hosus ergriff meine Hand, sodass ich von Mut und einem Gefühl innerer Ruhe erfüllt wurde, dann sagte er: »Es ist deine Lebensaufgabe, Gottes Werk zu tun, Lorna. Heerscharen von Gottes Engeln sind bei dir, um dir zu helfen, und deswegen kannst du es auch!« Hosus wischte meine Tränen mit seiner Hand fort, dann verschwand er.

Am nächsten Tag rief mich der Mann an, und sein Freund kam am darauffolgenden Abend zu mir.